Gesundheitszentren als Orte politischen Handelns und gesellschaftlicher Veränderung zu verstehen, liegt für die meisten Menschen nicht unbedingt nahe. Gesundheitsversorgung wird eher als Serviceleistung wahrgenommen und Arztpraxen als Orte, die man nur krank aufsucht. Zwar ist im Prinzip bekannt, dass sich Arbeitsbedingungen, soziales Umfeld und finanzielle Möglichkeiten auf die Gesundheit auswirken. Selten werden jedoch die «sozialen Determinanten von Gesundheit» (Weltgesundheitsorganisation) explizit zum Gegenstand von Gesundheitsarbeit gemacht.[1] Im Folgenden stellen wir alternative Gesundheitszentren vor, die eine solche soziale Gesundheitsarbeit zum Gegenstand haben. Ausgehend von diesen Beispielen diskutieren wir, wie zukünftige Gesundheitssysteme aussehen können und inwiefern bestehende Gesundheitszentren Wege dorthin öffnen: Was ist ihr Potenzial für eine gesamtgesellschaftliche Transformation?
Gesundheit und Transformation
Gesundheit[2] stand in Europa lange Zeit nicht im Fokus sozialer Bewegungen. Mit der zunehmenden Ökonomisierung und Privatisierung der Krankenversorgung und den dramatischen Folgen der Sparpolitik für die Gesundheit der Menschen vor allem in den krisengeschüttelten Ländern in Südeuropa hat sich dies geändert. Die Notwendigkeit für Veränderung – im Gesundheitssystem und darüber hinaus – ist vielen Menschen deutlich geworden.
Es gibt unterschiedliche Theorien, wie sich eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung erreichen lässt. Um das Veränderungspotenzial der von uns untersuchten Gesundheitszentren einzuschätzen, beziehen wir uns auf das Konzept der Transformation, wie es im und rund um das Institut für Gesellschaftsanalyse (IfG) der Rosa-Luxemburg-Stiftung entwickelt wurde. Es verweist auf die Idee «revolutionärer Realpolitik» von Rosa Luxemburg, die damit den falschen und unproduktiven Gegensatz zwischen Revolution und Reform überwindet. Reform und Revolution, so Luxemburg, sind nicht «verschiedene Methoden», sondern «verschiedene Momente in der Entwicklung».[3] Demnach muss auch eine tiefgreifende Umwälzung der Verhältnisse unter den gegebenen Bedingungen beginnen und mit konkreten Verbesserungen der Lebenssituation der Menschen einhergehen. Im günstigen Fall lassen sich so Handlungsspielräume erweitern und neue Praxen entwickeln, die es ermöglichen, Schritt für Schritt und nachhaltig eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu bewirken. Das bedeutet auch, realpolitische Schritte und Reformen auf ihr in diesem Sinne revolutionäres Potenzial hin zu befragen. Zwar gilt es, an den konkreten und alltäglichen Sorgen und Nöten der Einzelnen anzusetzen, sie aber zu einem übergreifenden Projekt zu verallgemeinern. Nur dann kann es gelingen, Brüche mit den bestehenden Kräfteverhältnissen herbeizuführen.
Um einen solchen Übergang zu gestalten, bedarf es politischer Praxen, die die bisherigen Akteure und Handlungsstrategien infrage stellen – sogenannter Einstiegsprojekte.[4] Es geht darum, Hierarchien in Zweifel zu ziehen und Orte zu schaffen, in denen eine kollektive Wissensproduktion stattfinden und partizipative Entscheidungsfindung erprobt werden kann. Solche Praxen fordern die herrschende «Ökonomie der Zeit» (Marx) unmittelbar heraus – sie sind unvereinbar mit Profitdruck, Konkurrenz und Existenzangst im Kapitalismus. Um diese Erkenntnis in der Mehrheitsgesellschaft zu etablieren, müssen konkrete Alternativen erlebbar werden.
Wie also können Wege beschritten werden hin zu einer Gesellschaft, in der Wirtschaft, Politik und Kultur solidarisch und durch partizipative Demokratie organisiert sind? Wie könnten konkrete Alternativen im Gesundheitsbereich aussehen? Lassen sich solche Einstiegsprojekte auch auf alternative Strukturen der Daseinsvorsorge wie zum Beispiel Gesundheitszentren übertragen?
Transformatorische Konzepte im Gesundheitsbereich
Gesundheit spielt in den Debatten um Transformation selten eine Rolle. Vermittelt über Diskussionen um Care – also um Pflege und Sorgearbeit – werden gesundheitspolitische Fragen jedoch thematisiert. Hier wird das Projekt einer «bedürfnisorientierten solidarischen Care Economy» vorgeschlagen. Es geht um «eine Reorientierung auf öffentliche Gesundheit, Erziehung und Bildung, Forschung, soziale Dienste, Ernährung(ssouveränität), Pflege und Schutz unserer natürlichen Umwelten».[5] Der Care-Bereich biete unter anderem deshalb strategische Eingriffspunkte, weil sich hier Menschen erreichen lassen, «die bisher nicht in linken Strukturen zu Hause sind, die sich insgesamt von ‹Politik› nicht viel versprechen».[6] Gabriele Winker schlägt eine feministische Transformationsstrategie hin zu einer Care Revolution vor, die «die grundlegende Bedeutung der Sorgearbeit ins Zentrum stellt und darauf abzielt, das gesellschaftliche Zusammenleben ausgehend von menschlichen Bedürfnissen zu gestalten».[7] Auf dem Weg zur «Demokratisierung und Selbstverwaltung des Care-Bereichs» verweist sie unter anderem auf die Rolle von stadtteilbezogenen Gesundheitszentren, die über die ärztliche Versorgung hinausgehen und beispielsweise auch Gemeinschaftsküchen oder Wohngenossenschaften umfassen.[8] Hier zeigen sich Bezüge zur Theorie der sozialen Infrastruktur,[9] die die Reorganisation öffentlicher Güter und der Daseinsvorsorge ins Zentrum eines gesellschaftlichen Umbaus stellt. Krampe et al. schlagen vor, lokale Gesundheitszentren aufzubauen, in denen vor allem Pflegekräfte eine tragende Rolle spielen. Zugleich würden damit Gesundheitsgefährdungen im Stadtteil besser aufgefangen. Die Gesundheitszentren könnten in regionalen und überregionalen Gesundheitsplattformen zusammengeführt werden.[10]
Allen Ansätzen ist gemein, dass sie das Öffentliche, die Gemeingüter ins Zentrum stellen und im Umgang mit ihnen ein «Commoning»[11] zu etablieren suchen, ein kollektives Kümmern um das Gemeinsame. Wie kann also «Gesundheit als Commons» gedacht und praktiziert werden? Einige Erklärungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bieten hierfür interessante Referenzpunkte.
Gesundheit
für alle – aber wie?
Eine Basisgesundheitsversorgung (Primary Health Care/PHC), die «Gesundheit für alle» garantieren sollte, wurde in der Erklärung der WHO von 1978 mit fünf Prinzipien skizziert. Diese sind Gleichheit und Gerechtigkeit, Partizipation, ein interdisziplinärer Ansatz, regional, technisch und kulturell angepasste Methoden sowie ein umfassender Gesundheitsbegriff, der Gesundheitsförderung, Krankheitsverhütung, Behandlung und Rehabilitation einschließt. Dabei sollen sogenannte GemeindepflegerInnen, Gesundheitszentren und multisektorale Stadtteilarbeit die Basis der Versorgung bilden. Zentral ist dem hier geprägten und im Folgedokument ausformulierten Konzept der «Gesundheit für alle» die Umorientierung von der Verhütung von Krankheit zur Förderung von Gesundheit (Ottawa Charta 1986). In der Praxis wurde der Ansatz jedoch zunehmend verwässert und neoliberal umgedeutet: Vertikal implementierte Gesundheitsprogramme traten an die Stelle horizontaler, partizipativ entwickelter Ansätze. Individuelle Verhaltensprävention trat an die Stelle von gesellschaftlicher Verhältnisprävention.
Hält man am Leitbild der Basisgesundheitsversorgung fest und stellt es in den Kontext der dargestellten Ansätze der Transformationsforschung, so lassen sich Gesundheitszentren als wichtige Orte der Daseinsvorsorge bestimmen. Es entsteht das Modell eines Gesundheitszentrums, das partizipativ auf allen Ebenen sowie stadtteil- und bedarfsorientiert arbeitet, in dem ein multiprofessionelles Team einem umfassenden Gesundheitsverständnis Rechnung trägt und Fragen von Umwelt und Care-Arbeit in den Mittelpunkt rückt. Die Zentren erscheinen als Laboratorien für gesellschaftliche Veränderung.
Alternative Gesundheitszentren – drei Beispiele aus Europa
In unserer Studie haben wir drei alternative Gesundheitsinitiativen in Griechenland, Belgien und Österreich untersucht und auf ihr transformatorisches Potenzial hin befragt. Ausgangspunkt und prominentestes Beispiel war die Solidarische Klinik in Thessaloniki (Solidarity Social Medical Center/SSMC), deren Arbeit in der (linken) deutschen Öffentlichkeit vielfach vorgestellt wurde. Entstanden als Initiative zur medizinischen Versorgung von MigrantInnen und Geflüchteten ohne Versicherung, wurde das Zentrum im Zuge der Krise zum Anlaufpunkt für immer mehr Bevölkerungsgruppen. Alle EinwohnerInnen ohne Krankenversicherung können dort eine medizinische Grundversorgung erhalten. Die Klinik versteht sich als Teil der Bewegung gegen die Austeritätspolitik und ist eingebunden in antirassistische und antifaschistische Bewegungen sowie in Netzwerke solidarischer Ökonomie. Das basisdemokratisch organisierte Kollektiv legt wert auf Unabhängigkeit vom Staat, von der EU und der Kirche, von politischen Parteien und vom Markt – es basiert allein auf Solidarstrukturen, Freiwilligenarbeit und Spenden.[12]
Auch wenn das griechische Beispiel aus Platzgründen hier nicht weiter ausgeführt werden kann, bietet es doch eine interessante Vergleichsfolie zu den anderen Fallbeispielen. Sie zeigen unterschiedliche Wege einer alternativen ambulanten Versorgung auf – jenseits der verschärften Bedingungen der Krise, aber ebenfalls konfrontiert mit Kostendruck und getragen vom Versuch der solidarischen Organisierung.
Der Stadtteil im
Fokus – das Sozialmedizinische Zentrum in Graz, Österreich
Das Sozialmedizinische Zentrum (SMZ) im Grazer Stadtteil Liebenau vereint primärmedizinische Versorgung, soziale Arbeit, Gesundheitsförderung, Gemeinwesenarbeit, Musiktherapie sowie psychosoziale und rechtliche Beratung unter einem Dach. Gegründet 1984, ist es das erste und bis heute einzige Zentrum dieser Art in Österreich. Die Gründer waren geprägt von der kritischen Medizinerbewegung und den Erfahrungen marxistisch-leninistischer K-Gruppen. Einen Bezugsrahmen für ihre Arbeit fanden sie in den genannten Erklärungen der WHO zur Basisgesundheitsversorgung. Dieser Ansatz bietet Raum für breitere Allianzen und ermöglicht zugleich eine systemkritische Arbeit unter dem Motto «Gesundheit für alle». Das SMZ zielt zwar darauf ab, solidarische Netzwerke und Selbstermächtigung zu fördern. Eine linke solidarische Bewegung, die dessen Arbeit konkret unterstützt hätte, gab es jedoch bei Gründung – und gibt es bis heute – nicht.
Im SMZ arbeitet ein multiprofessionelles Team stadtteilorientiert und mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung. Dazu gehören eine ärztliche Gemeinschaftspraxis mit zwei Fachärzten, einem Weiterbildungsassistenten und zwei medizinischen Fachangestellten, des Weiteren zwei MitarbeiterInnen für Gemeinwesenarbeit und Gesundheitsförderung, eine Musiktherapeutin und eine Sozialarbeiterin. Eine gelernte Juristin ist zuständig für Verwaltung und Finanzen. Hinzu kommt die Familienberatungsstelle Graz Süd mit einer Rechtsberatung, ärztlicher, psychotherapeutischer und Sexualberatung sowie sozialarbeiterischer Beratung. Über mehrere Jahrzehnte waren auch SoziologInnen, PhysiotherapeutInnen und ein ambulanter Pflegedienst Teil des SMZ. Rechtlicher Träger aller Bereiche ist der Verein für praktische Sozialmedizin, dessen Vorstand alle fünf Jahre gewählt wird.
Die beiden Ärzte und Gründer des Zentrums haben Weiterbildungen in den Bereichen Psychotherapie, Arbeits-, Sucht- und Umweltmedizin absolviert. Sie betreiben eine pharmakritische, psychosomatische Medizin, in der sie sich bewusst Zeit für die PatientInnen nehmen und dafür finanzielle Einbußen in Kauf nehmen. Die Sozialarbeiterin kooperiert eng mit den Ärzten und ist für die sozialrechtliche Beratung zuständig; sie hilft bei Behördengängen oder Wohnungsproblemen. Zusammen mit der Musiktherapeutin und zwei MitarbeiterInnen für Gemeinwesen und Gesundheitsförderung ist sie viel im Stadtteil unterwegs. Das Team geht dorthin, wo die Menschen leben, lernen oder arbeiten – entsprechend hat das SMZ Außenstellen in verschiedenen Bezirken aufgebaut. Es betreibt außerdem Öffentlichkeitsarbeit mit einer regelmäßig erscheinenden Zeitschrift und einer Veranstaltungsreihe.
Während sich die Gemeinschaftspraxis durch reguläre Gelder der Sozialversicherung trägt, werden soziale Arbeit und Betrieb der Familienberatungsstelle aus öffentlichen Geldern der Sozialministerien finanziert. Alle anderen Bereiche werden mit ein- bis dreijährigen Verträgen mittels (zeitaufwendiger) Projektanträge finanziert.Knotenpunkt für die Arbeit des Teams ist die wöchentliche, verpflichtende Teamsitzung, wo die MitarbeiterInnen bei gleichem Mitspracherecht Ideen und Probleme einbringen können. Hinzu kommen monatlich stattfindende interdisziplinäre Fallkonferenzen. Bei Bedarf wird eine Helferkonferenz einberufen, in der PatientInnen, Angehörige und Betreuende gemeinsam eine individuelle Situation besprechen und die für die PatientIn beste Lösung suchen.Entscheidungen, die das Zentrum betreffen, werden meist im Konsens gefällt. Es gibt jedoch bewusst akzeptierte Hierarchien. So fungiert einer der Ärzte von Beginn an als Vorstandsvorsitzender. Wichtige oder dringende Entscheidungen werden von den Ärzten gefällt. Zum einen spiegelt das die finanzielle und rechtliche Verantwortung der Ärzte wider, zum anderen möchten viele MitarbeiterInnen diese Verantwortung nicht mittragen. PatientInnen sind hier – im Unterschied zu den beiden anderen Projekten – nicht in die interne Arbeit des Zentrums eingebunden.
Die Arbeit im Stadtteil ist jedoch beteiligungsorientiert. Sie findet auf vier Ebenen statt: zunächst in der Einzelfallarbeit insofern, als durch den interdisziplinären und ganzheitlichen Ansatz immer die Lebens- und Arbeitsbedingungen mitreflektiert werden; außerdem in den wöchentlichen Gruppenangeboten wie geselligen Brunchs, Gartenarbeit, Kochen, Musizieren oder Walken, die mit den AnwohnerInnen gemeinsam entwickelt werden. Hier sollen soziale Netze gestärkt und Gesundheit gefördert werden. Die AnwohnerInnen schätzen den niedrigschwelligen Kontakt zu den SMZ-MitarbeiterInnen.
Darüber hinaus hat das SMZ lokale Gesundheitsplattformen initiiert, um Gesundheit im Stadtteil tatsächlich sektorenübergreifend und partizipativ zu verhandeln. Bei der größten, der Gesundheitsplattform Liebenau, treffen sich sechsmal im Jahr VertreterInnen von Bürgerinitiativen, der Kirche, Schulen, Seniorenvereinen, Parteien oder dem Bezirk. Die Plattform ist offen für alle AnwohnerInnen und konnte schon diverse konkrete Erfolge im Stadtteil erzielen, beispielsweise die Umwidmung von Grünflächen in Industriegebiete verhindern und die Feinstaubbelastung reduzieren. Sie war ein Katalysator für soziale Bewegungen im Stadtteil und hat diverse Bürgerbündnisse hervorgebracht. Schließlich macht das SMZ eigene politische Arbeit und ist in vielen kommunalen Netzwerken aktiv. Es hat sich erfolgreich gegen ein Energiekraftwerk und die Umleitung des anliegenden Flusses Mur sowie den Abriss einer Wohnsiedlung eingesetzt und den Arbeitskampf gegen die Schließung der ansässigen Zweiradproduktion unterstützt. Im Zuge dieser Aktivitäten war es auch in die kritische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Stadtteils involviert – dabei wurde unter anderem die Geschichte eines lokalen Zwangsarbeiterlagers aufgedeckt. Zusätzlich ist das Zentrum mit den Grazer Universitäten vernetzt und hat viele Forschungsprojekte der partizipativen Sozialforschung initiiert oder unterstützt.
Das SMZ ist mit seinem stadtteilorientierten Ansatz ein Pionier- und Leuchtturmprojekt in Österreich. Im Gegensatz zum folgenden Beispiel – dem belgischen Médecine pour le peuple – konnte es jedoch kein landesweites solidarisches Netzwerk aufbauen.
Gesundheitsversorgung
zwischen Partei und Bewegung – Médecine pour le peuple in Belgien
Médecine pour le peuple (MPLP) betreiben in Belgien insgesamt elf Gesundheitszentren, die an die 30.000 PatientInnen versorgen – immerhin fünf Prozent der belgischen Bevölkerung. Die Organisation hat ihren Ursprung in der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre und der damals gegründeten marxistischen Arbeiterpartei Belgiens (Parti du Travail de Belgique/PTB). Das erste Gesundheitszentrum entstand 1971 aus der Solidaritätsarbeit für streikende Hafenarbeiter. Obwohl MPLP aus der Partei hervorgegangen sind und ihre politischen Positionen teilen, sind sie wirtschaftlich und organisatorisch unabhängig. Die Gesundheitszentren arbeiten nach drei Prinzipien: Sie sollen den kostenfreien Zugang aller zu einer hochwertigen medizinischen Versorgung sicherstellen, die gesellschaftlichen und ökonomischen Einflussfaktoren auf Gesundheit thematisieren, dabei die Forderungen und Bedürfnisse von PatientInnen und BürgerInnen einbeziehen und diese umfassend beteiligen. Die Mitarbeit in den Zentren setzt keine Parteimitgliedschaft voraus, es wird allerdings eine gewisse politische Loyalität und Nähe zur Partei erwartet.
Seit dem Jahr 2000 wird die Arbeit durch ein solidarisches Umlageverfahren, das sogenannte Forfait-System finanziert. Auf Grundlage einer Vereinbarung mit den staatlichen Sozialversicherungsträgern erhält jedes Gesundheitszentrum – gemessen an der Zahl der dort registrierten PatientInnen – monatlich einen festen Betrag aus deren Kassen. Diese werden unabhängig davon, ob die Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden, an die Gesundheitszentren ausgezahlt. Die PatientInnen selbst müssen – im Gegensatz zu vielen anderen Einrichtungen des belgischen Gesundheitswesens – keine Zusatzzahlungen leisten. Alle MitarbeiterInnen sind fest angestellt und beziehen einen kollektiv vereinbarten Lohn. Das Gehalt der ÄrztInnen liegt dabei deutlich unter dem Durchschnitt ihrer KollegInnen in Belgien, jedoch über dem der anderen MitarbeiterInnen im Zentrum. Das an dieser Stelle eingesparte Geld wird für nachbar- und bürgerschaftliches Engagement verwendet, etwa für gesundheitsfördernde Bildungsangebote, oder in politische Kampagnen investiert, die die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen ins Visier nehmen.
In den Zentren wird eine medizinische Grundversorgung angeboten. Das Team setzt sich aus ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen, VerwaltungsmitarbeiterInnen und mindestens einer weiteren Fachkraft, etwa einer ErnährungswissenschaftlerIn, PsychotherapeutIn oder PsychologIn, zusammen. Um einem ganzheitlichen Ansatz gerecht zu werden, sind pro Behandlung durchschnittlich 20 Minuten vorgesehen. Die angebotenen Dienste sind vor allem für diejenigen gedacht, die besonders bedürftig sind. Deshalb befinden sich die Zentren in Vierteln, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und viele Menschen ohne Papiere leben. Dadurch, dass ehrenamtliche HelferInnen an sämtlichen Aktivitäten von MPLP beteiligt sind, haben sich ihre Zentren auf der kommunalen Ebene zu wichtigen Gemeinschaftsprojekten entwickelt.
MPLP setzen auf das Konzept der partizipativen Demokratie. Angelegenheiten, die alle elf Zentren betreffen, wie etwa Finanzierungsfragen oder bundesweite Kampagnen, werden in einem nationalen, alle zwei Wochen tagenden Koordinierungskreis entschieden. Über ihre alltägliche Arbeit bestimmen die lokalen Zentren selbstständig auf Basis der jeweiligen Bedingungen und Bedürfnisse. Die Verbindungen zwischen den Zentren und der PTB sind eher indirekt. Die Partei macht keine direkten Vorgaben, viele MitarbeiterInnen sind jedoch Parteimitglieder, häufig sogar in den Gemeinde- und Stadträten aktiv. Die enge Verbindung zwischen Organisation und Partei bietet die Möglichkeit, öffentliche Debatten über strukturelle Probleme des Gesundheitswesens anzustoßen und dafür zu sorgen, dass sich die entsprechenden politischen Stellen damit befassen.
Die medizinische Arbeit ist bei MPLP in verschiedener Hinsicht eng mit politischer Arbeit verknüpft. Gesundheitsprobleme, die in einem Zentrum auftreten, werden zu den strukturellen Faktoren in der örtlichen Community ins Verhältnis gesetzt. Ein Schwerpunkt besteht darin, sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, wobei die Bandbreite der Aktivitäten von Beratungstätigkeiten über die Organisierung von Aufklärungskampagnen bis hin zur Mobilisierung der Betroffenen reicht. Auch betreiben die Zentren Forschung zu Umweltfaktoren und den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung. Die Ergebnisse dienen häufig als Grundlage für Kampagnen und werden genutzt, um politischen Druck aufzubauen. Ein Beispiel ist eine Kampagne für Preissenkungen bei Medikamenten. Die MPLP versorgen auch MigrantInnen ohne Papiere, die in Belgien offiziell keinen Zugang zum Gesundheitswesen haben. Das oben erwähnte Finanzierungsverfahren ermöglicht es, einen Teil der staatlichen Zuwendungen zu deren Gunsten «umzuverteilen».
Médecine pour le Tiers Monde (M3M), eine Partnerorganisation von MPLP, betreibt Projekte in Palästina, im Libanon und auf den Philippinen und ist somit Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung. Zuletzt initiierten die Organisationen eine Solidaritätskampagne für Griechenland und gegen die neoliberalen Austeritätsmaßnahmen. Um Leute zu mobilisieren, werden zu solchen Anlässen lokale Informationsveranstaltungen organisiert und die Menschen vor Ort aufgesucht: Mitglieder gehen von Tür zu Tür, in die Fabriken und Unternehmen und üben Solidarität mit Streikenden.
Emanzipatorische Gesundheitszentren als Einstiegsprojekte in eine gesamtgesellschaftliche Transformation?
Alle drei Initiativen – das SSMC in Thessaloniki, das SMZ in Graz und MPLP in Belgien – bieten unabhängig von den unterschiedlichen Entstehungs- und Kontextbedingungen erfahrbare Alternativen zu dominanten Formen der Gesundheitsversorgung. In Deutschland gibt es unseres Wissens keine vergleichbaren Projekte. Ansätze, die diesen Initiativen am nächsten kamen, sind nahezu alle gescheitert.[13] So wurden etwa die Polikliniken der DDR durch die marktkonformen Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) ersetzt.
Um – anknüpfend an die zu Beginn skizzierte Debatte zu gesellschaftlicher Transformation – einzuschätzen zu können, ob die dargestellten Gesundheitsprojekte als «Einstiegsprojekte» und Vorbild für andere Ländern dienen können, bedarf es einer weiteren Beschäftigung mit ihren Organisationsstrukturen und Funktionsweisen. Allerdings lassen sich an dieser Stelle bereits einige Prinzipien und Kriterien benennen, die uns in diesem Zusammenhang besonders relevant erscheinen: solidarisches Handeln, eine Orientierung an Bedürfnissen, ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit, die Fähigkeit zur Verbreiterung und Verallgemeinerung sowie die Bereitschaft, den Bruch mit dem Alten zu wagen.
Solidarisches
Handeln
Das Gesundheitswesen ist traditionell von starken Hierarchien und einem großen Machtgefälle zwischen den beteiligten Akteuren geprägt. Die hier vorgestellten Initiativen verfolgen in diesem Feld einen emanzipatorischen Anspruch. PatientInnen und AnwohnerInnen kommt gemeinsam mit den MitarbeiterInnen eine aktive Rolle zu, und Gesundheitsversorgung wird als ein «Gemeingut» begriffen. Aus passiven HilfeempfängerInnen werden aktiv Handelnde, die man zur Selbstbestimmung ermutigt. Die ÄrztInnen, die hier recht eng mit anderen Fachkräften kooperieren, lernen, die Dogmen ihrer eigenen Disziplin infrage zu stellen, ebenso ihre Rolle im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft. Der Aufbau von solch egalitären Beziehungen erfordert eine andere «Ökonomie der Zeit» (Marx). Es geht nicht länger um Gewinnmaximierung, sondern darum, Vertrauensverhältnisse zu schaffen und solidarische Beziehungen aufzubauen.Die vorgestellten Initiativen hinterfragen immer wieder die Legitimation des dominanten Gesundheitssystems und greifen die ihm zugrunde liegenden Machtstrukturen an. Diese Schritte hin zu mehr Gleichheit und gegenseitiger Solidarität können als Voraussetzung für weitere, radikale gesellschaftliche Transformationen betrachtet werden. Nur durch veränderte, stärker auf Gleichberechtigung setzende Beziehungen zwischen den Akteuren im Gesundheitswesen und den Menschen und Communitys, die sie versorgen, wird ein gemeinsamer politischer Kampf mit einer emanzipatorischen Ausrichtung überhaupt vorstellbar.
Bedürfnisorientierung
statt Ökonomisierung
Alle dargestellten Initiativen begreifen Gesundheit und Gesundheitsversorgung als öffentliches Gut und bekämpfen dessen zunehmende Kommodifizierung. Sie gehen von den Bedürfnissen der PatientInnen und Communitys aus und betrachten diese als Handelnde im Feld gesundheitlicher Versorgung. Auch den Anliegen des Personals versuchen sie – auf je unterschiedliche Weise – gerecht zu werden.
Das Finanzierungsmodell der Solidarischen Klinik in Thessaloniki orientiert sich am stärksten an einem Commons-Modell. Jede direkte Zusammenarbeit mit Staat und Markt wird abgelehnt – die benötigten Mittel stammen von AnwohnerInnen und anderen privaten Spendern. Auf diese Weise findet ein auf Solidarität und Gegenseitigkeit basierender Austausch von Ressourcen und Leistungen statt, bei dem besonders auf gleichberechtigte Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten geachtet wird.Auch die MPLP richten ihre Arbeit am «Bedarf von unten» aus. Nicht nur, dass die Gesundheitszentren in ehemaligen Industriebezirken mit hoher Arbeitslosigkeit angesiedelt sind, auch das Finanzierungsmodell ermöglicht eine gewisse Umverteilung von Ressourcen hin zu den Bedürftigen und zu Community-Projekten. Außerdem wird Wert auf eine gerechte Entlohnung gelegt.
Das SMZ in Graz schließlich entwickelt seine Stadtteilarbeit ebenfalls zusammen mit den Menschen vor Ort und thematisiert im Rahmen der sektorenübergreifenden Gesundheitsplattformen die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung. Auch wenn die PatientInnen (anders als bei den solidarischen Kliniken) nicht aktiv in die internen Abläufe und Entscheidungen des Zentrums eingebunden sind, so sind sie in diesem Arrangement doch Akteure, die über ihre eigene gesundheitliche Versorgung mitbestimmen.
Ein
ganzheitliches Verständnis von Gesundheit
In der wissenschaftsorientierten Medizin dominiert das Leitbild der Fragmentierung und Enteignung: Der menschliche Körper wird in zusammenhanglose Untersysteme zerteilt und der Behandlungsprozess ist ein auf das einzelne Symptom reduzierter medizinischer Akt. Die PatientInnen werden nicht eingebettet in ihren jeweiligen sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Kontext betrachtet – sondern es dominiert die bürgerliche Vorstellung vom «autonomen Individuum».Der Ansatz der Gesundheitszentren unterscheidet sich grundsätzlich davon. Hier ist die Community, die gesellschaftliche Eingebundenheit der Einzelnen, der zentrale Referenzrahmen. Individuum und Gesellschaft werden als wechselseitig vermittelt verstanden. In dieser Sichtweise erscheint Gesundheit als ein sozioökonomisch-biophysikalischer Komplex, dessen Förderung nur mit einem ganzheitlichen und interdisziplinären Ansatz gelingen kann. Dieser erfordert eine Umstellung der beteiligten Akteure und sektorenübergreifende Aktivitäten auf allen Ebenen – auf der lokalen, regionalen und internationalen.
Das SSCM in Thessaloniki gehört zu einem breiten Solidaritätsnetzwerk, das fast alle Aspekte des Lebens umfasst: von der Ernährung über das Wohnen bis hin zu Umweltfragen. Im Zuge ihres Kampfes gegen die Demontage des griechischen Gesundheitssystems haben sie national und weltweit Kontakte geknüpft. Eine Organisation wie die MPLP zeigt, dass solch ein Netzwerk über die Zeit wachsen und sich weiterentwickeln kann, ohne seinen progressiven Ansatz und Anspruch zu verlieren. Zusammen mit ihrer Partnerorganisation Médecine pour le Tiers Monde (M3M) sind MPLP im internationalen Peopleʼs Health Movement und verschiedenen anderen progressiven Netzwerken aktiv.
Die sektorenübergreifenden Plattformen, die das SMZ in seiner Nachbarschaft in Graz eingerichtet hat, stehen ebenfalls für einen ganzheitlichen Ansatz in der Gesundheitspolitik. Sie können als exemplarisch gelten für das, was Winker in ihrem Konzept der Care Revolution als Care-Räte bezeichnet, oder für das, was im Konzept sozialer Infrastrukturen[14] als regionale Gesundheitsplattform beschrieben wird. Die lokalen Strukturen wirken der zunehmenden Anonymisierung und Zentralisierung von Entscheidungen entgegen und stärken den Bezug auf das Gemeinsame. Damit geht von diesen Initiativen für ein anderes Gesundheitswesen eine transformatorische Kraft aus, die alle Lebensbereiche berühren kann.
Verbreitern
und Verallgemeinern
Die Frage, inwieweit die vorgestellten Gesundheitsinitiativen Ansätze bieten, die verallgemeinerbar wären und damit Einstiege in Transformation darstellen könnten, ist letztlich nicht konzeptionell zu beantworten, sondern in erster Linie eine Frage verbindender Praxen. Eine Reihe von Herausforderungen und Bedingungen lassen sich formulieren. Alle drei Initiativen sind zunächst stark von ihrem jeweiligen Entstehungszusammenhang geprägt und haben eine unterschiedlich große geografische Reichweite. Nicht alle sind in politische Netzwerke eingebunden.
Bei den MPLP in Belgien scheint besonders die Rolle der PTB in diesem Prozess von Bedeutung. Die Anbindung an die Partei sowie die damit verbundenen Kontinuität der Arbeit hat die Ausweitung der Gesundheitszentren über ganz Belgien befördert und sichert die politische Eingebundenheit der MitarbeiterInnen, sowie eine gemeinsame Zielstellung. Das SSCM wiederum ist Teil eines Netzwerkes von ähnlichen Projekten in ganz Griechenland, von denen die meisten aus der Krise heraus entstanden. Ihr großer Vorteil ist: Auch wenn sich diese in ihren Ansätzen zum Teil unterscheiden, so haben sie doch begonnen, gemeinsame politische Ziele zu entwickeln, und verstehen sich als Teil einer breiten solidarischen Bewegung.
Diese Art von Bewegung fehlt in Österreich. Das SMZ hat im Stadtteil Liebenau zwar viel bewegt und ist dort gut verankert. Es gibt jedoch keine mit Griechenland vergleichbaren überregionalen solidarischen Netzwerke. Das Zentrum ist nicht Teil einer kritischen Bewegung und hat kein gemeinsames politisches Fundament. Damit bleibt es stark an das Engagement von Einzelpersonen gebunden. Mit der anstehenden Pensionierung der Gründer wird sich zeigen, ob das SMZ es schaffen kann, die Fortsetzung seiner kritischen Arbeit zu gewährleisten.
Den Bruch wagen
Neben der politischen Reichweite und der Verallgemeinerbarkeit ist des Weiteren zu fragen, inwieweit in den vorgestellten Projekten bereits ein Bruch mit dem Bestehenden angelegt ist. Von allen drei Initiativen, die wir in unsere Untersuchung einbezogen haben, lässt sich sagen: Sie haben unter den gegebenen Bedingungen versucht, etwas ganz Neues zu schaffen, anstatt sich am Alten festzuhalten. Ob sie damit schon eine Öffnung für weiterreichende Entwicklungen erkennen lassen, die zu einer Abkehr von der allgemeinen Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und anderer Gesellschaftsbereiche beitragen, darüber lässt sich streiten.
So vertreten Brie und Klein die Ansicht, dass ein Bruch mit dem Kapitalismus in solchen lokalen Initiativen zunächst unmöglich sei angesichts der geringen Ressourcen.[15] Gleichwohl können sie dazu beitragen, eine Transformation vorzubereiten, indem sie Alternativen überhaupt erfahrbar machen. Dazu gehört dann auch, langfristig einen Teil der privilegierten Bevölkerungsgruppen auf die eigene Seite zu ziehen, darüber Mehrheiten zu verschieben und zugleich Ressourcen auszuweiten, die Zeit und Raum für die Verbreiterung von transformativen «Einstiegsprojekten» schaffen. Die hier vorgestellten Initiativen konnten einen solchen Verallgemeinerungsprozess nur partiell durchlaufen. Vielmehr haben sie ihre Aktivitäten und Anstrengungen darauf konzentriert, alternative Räume (gewissermaßen Parallelwelten) zu schaffen, in denen progressive Konzepte umgesetzt werden können. Dabei setzen sie auf unterschiedliche Partner und Strategien.
Die belgische Organisation MPLP ist ganz offensichtlich ganz eng verwoben mit staatlichen Strukturen und nutzt eine linke Partei, um politische gesellschaftlichen Wandel zu bewirken. Dagegen steht der Ansatz der solidarischen Kliniken in Griechenland. Ihre bewusst praktizierte Unabhängigkeit von Staat, politischen Parteien, Markt und Kirche nimmt vorweg, wie sich die Beteiligten eine zukünftige Gesellschaft vorstellen: als eine basisdemokratische Verwaltung der Gemeingüter in den Händen der Community. Das SMZ wiederum hat die lokale Begrenzung nicht überschritten, stellt aber in dem unterprivilegierten Wohnviertel eine wichtige Anlaufstelle für die AnwohnerInnen dar. Es ist ein Ort des Austauschs und der Selbstermächtigung, in dem der Anspruch formulierbar wird, selbst Akteur der eigenen Gesundheit und der dafür maßgeblichen lokalen und gesellschaftlichen Bedingungen zu sein.
Ausblick: TAMARA statt TINA
Um transformative Prozesse anzustoßen, ist es zentral, das Neue und Andere erleb- und erfahrbar zu machen, denn der Mangel an Perspektiven sichert nach wie vor einen passiven Konsens zum Bestehenden.[16] Der Erfolg der hier vorgestellten Gesundheitsinitiativen und -zentren besteht unserer Ansicht nach vor allen Dingen darin: Sie haben es geschafft, für alle Beteiligten – MitarbeiterInnen wie NutzerInnen –, Alternativen zum herrschenden System der medizinischen Gesundheitsversorgung umzusetzen und damit Alltagspraxen zu entwickeln, die für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung von Bedeutung sind. Die unterschiedlichen Projekte zeigen, dass es innovative Ansätze und realpolitische Lösungen für bestehende Probleme geben kann. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag dazu, das TINA-Syndrom («There Is No Alternative»/«Es gibt keine Alternative») zurückzudrängen und ein TAMARA-Gefühl («There Are Many And Realistic Alternatives»/«Es gibt eine Vielzahl von machbaren Alternativen») zu erzeugen. Sie machen praktisch erlebbar, wie zukünftige, nachhaltige Systeme der Gesundheitsversorgung aussehen könnten, und bereiten den Weg für transformative Prozesse im Gesundheitsbereich.
Wenn wir die dargestellten Gesundheitszentren unter der Fragestellung betrachten, ob sie Momente einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung sein können, so sind neben den bereits genannten Kriterien und Herausforderungen noch weitere zu berücksichtigen. Zunächst einmal muss das Überleben der bereits existierenden Initiativen gesichert werden. Zudem wäre dafür zu sorgen, dass die daran Beteiligten trotz ihrer hohen Arbeitsbelastung den Blick nicht verlieren für weiterreichende Veränderungen und dazu beizutragen, dass ähnliche Projekte an anderen Orten entstehen können. Zudem wohnt allen vorgestellten und ähnlichen Initiativen grundsätzlich die Gefahr inne, von institutionellen Logiken vereinnahmt zu werden und das herrschende System langfristig zu stabilisieren. Daher kommt es darauf an, zu verhindern, dass die Projekte emanzipatorischer Gesundheitsversorgung mit ihrem innovativen Potenzial nicht mit der Zeit vom neoliberalen Kapitalismus integriert werden. Welche Maßnahmen und Schritte dafür geeignet sind, kann jedoch nur in der Praxis und konkreten Auseinandersetzungen herausgefunden werden.Konzeptionell bietet neben der Commons-Diskussion der Ansatz, Gesundheit als Sorgebeziehung zu verstehen und sie in einer Care-Ökonomie zu verorten, wahrscheinlich den vielversprechendsten Ansatz, um breite gesellschaftliche Diskussionen zu initiieren und Bündnisse zu schließen, die notwendig sein werden, um grundlegende sozialpolitische Änderungen durchzusetzen. Verankert zu sein in einer Struktur mit einem transformatorischen Anspruch – sei es Bewegung oder Partei – scheint uns darüber hinaus zentral zu sein, um eine nachhaltige politische Wirkung zu erzielen. Die richtige Balance im Sinne einer «revolutionären Realpolitik» zu finden, bleibt dabei eine gewaltige Herausforderung. Auch wenn die drei von uns untersuchten Gesundheitsinitiativen in Belgien, Griechenland und Österreich nicht alle Anforderungen an «transformatorische Einstiegsprojekte» erfüllen mögen, stehen sie doch beispielhaft dafür, wie das «»Andere aussehen könnte. Mit unserem Beitrag wollen wir sie bekannter machen und dazu ermutigen, ähnliche Projekte aufzubauen.
Fußnoten
[1]
Dieser Artikel basiert auf einer umfassenderen vergleichenden Studie zu
Gesundheitszentren in Griechenland, Österreich und Belgien, die demnächst
veröffentlicht wird.
[2]
Gesundheit soll hier nicht als normatives Konzept verstanden werden. Auch geht
es nicht um ein individualisiertes Verständnis, das Schönheits- und
Verhaltensideale diktiert, gemäß der neoliberalen Logik, alle Sphären des
Lebens marktkonform zu gestalten. Wir beziehen uns vielmehr auf das kollektiv
entwickelte Verständnis des People’s Health Movement: «Gesundheit ist eine
soziale, ökonomische und politische Aufgabe und ist vor allem ein
Menschenrecht. […] Gesundheit für Alle bedeutet, mächtige Interessen
herauszufordern, […] und politische wie ökonomische Prioritäten drastisch zu
verschieben.» Vgl.: www.phmovement.org/sites/www.phmovement.org/files/phm-pch-german.pdf.
[3]
Zitiert nach Brand, Ulrich u. a. (Hrsg.): ABC der Alternativen 2.0. Von
Alltagskultur bis Zivilgesellschaft, Hamburg 2012, S. 253.
[4]
Vgl. Brangsch, Lutz: «Der Unterschied liegt nicht im Was, wohl aber in dem
Wie». Einstiegsprojekte als Problem von Zielen und Mitteln im Handeln linker
Bewegungen, in: Brie, Michael (Hrsg.): Radikale Realpolitik. Plädoyer für eine
andere Politik, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Texte,
Berlin 2009, S. 39‒51.
[5]
Candeias, Mario: Passive Revolution vs. sozialistische Transformation,
herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Papers, Berlin 2010, S.
21.
[6]
Fried, Barbara/Dück, Julia: Caring for Strategy, in: LuXemburg.
Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1/2015, S. 85.
[7]
Winker, Gabriele: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft,
Bielefeld 2015.
[8] Winker: Care Revolution, S. 165 ff.
[9]
Krampe, Eva-Maria u. a.: Soziale Infrastruktur im Gesundheitsbereich, Frankfurt
am Main 2010, unter: www.links-netz.de/K_texte/K_links-netz_gesundheit.html.
[10]
Krampe u. a.: Soziale Infrastruktur, S. 100 f.
[11] Vgl. Bollier, David: Think Like a Commoner. A
Short Introduction to the Life of the Commons, Gabriola Island 2014.
[12] Vgl. Benos, Alexis: Austerity kills. Warum die
Solidarischen Kliniken auch Orte einer Reorganisierung der Linken sind, in:
LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1/2014, S. 58 f. und Candeias,
Mario/Völpel, Eva: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur
Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland, Hamburg 2014,
S. 155 f.
[13]
Vgl. Hoffmann, Ute u. a.: Gruppenpraxis und Gesundheitszentrum – Neue Modelle
medizinischer und psychosozialer Versorgung, Frankfurt am Main/New York 1982.
[14]
Vgl. Krampe u. a.: Soziale Infrastruktur im Gesundheitsbereich.
[15]
Vgl. Brie (Hrsg.): Radikale Realpolitik; Klein, Dieter/Brangsch, Lutz:
Einstiegsprojekte in einen alternativen Entwicklungspfad, Berlin 2004, unter:
www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/3Klein.pdf.
[16]
Vgl. Candeias: Passive Revolution vs. sozialistische Transformation.
Kirsten Schubert ist Ärztin, Mitglied des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdäa) und aktiv in einem Netzwerk, das kollektive, stadtteilorientierte Gesundheits- und Sozialzentren in Berlin und Hamburg aufbaut.
Renia Vagkopoulou ist Ärztin und spezialisiert auf globale Gesundheit mit einem Fokus auf soziale Bewegungen. Sie ist ebenfalls Mitglied des vdää und in demselben Netzwerk wie Kirsten Schubert zum Aufbau von stadtteilorientierten Gesundheits- und Sozialzentren in Berlin und Hamburg aktiv.
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Der Text erschien zuerst in «UmCare – Gesundheit und Pflege neu organisieren», herausgegeben von Barbara Fried und Hannah Schurian, August 2017 (RLS MATERIALIEN Nr. 13; 2., überarbeitete Auflage). Der vollständige Band kann hier heruntergeladen werden: https://www.rosalux.de/publikation/id/8432/um-care