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„Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt aussehen?“

März 2022 • Martha Wegewitz

Die fem*MAP BERLIN 2049 – Ergebnis eines kollektiven Mappingprozesses“ - CUD, TU Berlin

Die fem*MAP BERLIN 2049 – Ergebnis eines kollektiven Mappingprozesses“ - CUD, TU Berlin

Alternativen, SorgendeStadt#Alternativen #SorgendeStadt

Diese Frage haben sich Stadtplanerinnen am Lehrstuhl für Städtebau und Urbanisierung der Technischen Universität Berlin in Kooperation mit der alpha nova & galerie futura aufbauend auf einen Text von Felicita Reuschling gestellt. In einem Mapping-Projekt im Sommer 2020 haben sie sich zusammen mit Studierenden und Künstler*innen verschiedenen Aspekten dieses Themas gewidmet. Ein Gespräch mit Martha Wegewitz, neben Julia Köpper und Dagmar Pelger eine der Initiatorinnen des Projekts, über die stadtplanerischen Komponenten einer Sorgenden Stadt.

Leben wir denn in einer sexistischen Stadt?

Ja, man kann sich das in der konkreten Architektur vielleicht garnicht so vorstellen, aber Geschlechterverhältnisse spielen ja überall in der Gesellschaft eine Rolle und sind deshalb natürlich auch in die städtischen Strukturen eingeschrieben. Die meisten Planungen von Städten wurden natürlich von Männern durchgeführt und sind auch auf die Bedürfnisse von Männern ausgelegt. Schon historisch, aber auch in der neueren Geschichte, wenn man sich zum Beispiel überlegt, wie das in den 50ern und 60ern mit der "autogerechten Stadt" und dem Verhältnis von Arbeiten und Wohnen war. Da war die Planung auf den Alltag der arbeitenden Männer ausgelegt. Im ganz Konkreten sind es auch schon Wohnungsgrundrisse, die eine patriarchale familiäre Struktur widerspiegeln und die Abwertung reproduktiver Arbeit zementieren.  So setzt sich das in allen möglichen Bereichen der Planung fort, also dass eigentlich immer dieses Geschlechterverhältnisses überall zum Tragen kommt. Das findet heute in der Architekturlehre oder auch in der Stadtplanung nicht so viel Beachtung, da fehlt es an gesellschaftlichen und politischen Analysen und Positionierungen.

Ein wichtiges feministisches Thema ist die Sorgearbeit, was im Projekt ja auch eine Rolle gespielt hat. Was hat Care mit Stadtplanung zu tun?

Im Rahmen des Projekts hat sich eine Studierendengruppe über ein Mapping im Stadtteil Wedding mit Räumen und Formen des Sorgetragens auf der Kiez-Ebene beschäftigt. Da wird eigentlich klar, dass Raum, das Verfügen und die Gestaltung von Raum, natürlich viel damit zu tun hat, wie Sorgearbeit durchgeführt werden kann. Jetzt rein infrastrukturell, aber natürlich auch bestimmt durch die Eigentumsverhältnisse und eben die Gestaltung. In der Recherche ging es viel um selbstorganisierte Sorge, die dort in diesem Kiez die unvollständigen Strukturen von staatlicher und auch von privatwirtschaftlicher Versorgung mit Betreuungs- und Sorgeangeboten ergänzt. Dabei wurde klar, dass vor allem diese vergemeinschaftliche Sorgearbeit vor allem im Planungsdiskurs keine Rolle spielt. Es ist ganz interessant, dass eigentlich kaum Räume bereitstehen, um gemeinsam Sorge tragen zu können. Das kommt daher, dass sowieso kaum Räume für nicht-kommerzielle Zwecke zur Verfügung stehen, und es durch die erhöhten Preise vor allem für Gewerberäume ja immer weniger werden. Die meisten Menschen haben natürlich auch in den teuren kleinen Wohnungen keinen Platz, um gemeinsames Sorgetragen zu organisieren. Da wird ein starker Zusammenhang deutlich, zwischen Stadtplanung oder der Steuerrung von Raumversorgung und der Möglichkeit überhaupt andere Formen der Sorgearbeit möglich zu machen.

Sind im Mapping-Prozess auch Orte oder Momente sichtbar geworden, die bereits auf solche anderen Formen verweisen?

In dem Mapping-Prozess und der damit verbundenen Recherche, die wir über längere Zeit durchgeführt haben, kommen immer wieder solche Orte auf. Wir haben das feministische Raumsysteme genannt, die es innerhalb der sexistischen Stadt gibt, die aber auf etwas anderes schon hinausweisen. Ein Stück weit zumindest.

Eine Gruppe von Studierenden hat sich mit Vernetzungen von queeren Orten beschäftigt und da wurde eigentlich deutlich, dass es schon ein großes Netzwerk gibt, das sich auch gegenseitig unterstützt, auch gegenseitig ökonomisch oder durch Material und Werbung, aber eben auch über verschiedene Angebote und konkrete Räume so ein anderes Raumsystem schafft, das eine andere Lebensweise außerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie und die damit notwendig werdenden anderen Formen des Sorgetragens beispielsweise für Kinder oder queere ältere Menschen ermöglicht.

Natürlich sind diese Orte dann auch immer bedroht, gerade in der aktuellen Situation durch den Immobilienmarkt und die steigenden Mietpreise. Das sind ja oft keine kommerziellen Orte. Und da ist die Frage, ob es da überhaupt eine Vorwärtsbewegung gibt. Es ist ein kleiner Einblick in das Andere, was möglich ist, aber auch das ist fragil.

Kommen wir über solche Räume zu einer Sorgenden Stadt?

Über Räume oder einen planerischen Blick werden wir die Verhältnisse natürlich nicht komplett verändern, vor allem nicht ohne die Eigentumsfrage zu stellen. Auch das grundsätzliche Problem der unbezahlten Sorgearbeit können wir nicht allein darüber lösen. Aber es muss überhaupt mal eine Möglichkeit zur Veränderung geben, zur anderen Organisierung, einer Vergemeinschaftung von Sorgearbeit. In der aktuellen Stadt ist sowas nur denkbar, wenn man Infrastrukturen und Räume dafür hat, sich überhaupt anders zu organisieren und zu strukturieren für so eine andere Form des Sorgetragens. Räume, die auch nicht-kommerziell bereit gestellt werden. Solange es solche Möglichkeitsräume überhaupt nicht gibt, wird erst recht keine Veränderung passieren. Selbstverständlich hat das dann immer sehr viel mit der gesellschaftlichen und der staatlichen Struktur zu tun, aber was man zumindest in einer kleinen Andeutung in den Communities sieht, ist dass es durch die Bereitstellung von Raum, von Infrastrukturen eine Verbesserung geben kann oder zumindest eine Möglichkeit, etwas anders zu machen.

 

Am kollektiven Arbeitsprozess des Mappings waren beteiligt:

Juliana Garcia Leon, Jörn Gertenbach, Maximilian Hinz, Tildem Kirtak, Katrina Neelands Malinski, Natasha Nurul Annisa, Jessica Voth (TU Berlin), Peter Máthé, Anna Rodriguez Bisbicus, Lara Stöhlmacher (UDK Berlin).

Julia Köpper, Dagmar Pelger, Martha Wegewitz, Prof. Jörg Stollmann (Chair for Urban Design and Urbanisation, TU Berlin).

In Kooperation mit Katharina Koch and Sylvia Sadzinski (alpha nova & galerie futura).

 

Martha Wegewitz ist Stadtforscherin und Urban Designerin. Sie arbeitet zu den Schwerpunkten kooperative Prozesse in der Stadtentwicklung, räumliche Selbstorganisationsprozesse und gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung. Sie beschäftigt sie sich im Rahmen von Lehre, Forschung und Aktivismus mit Obdach- und Wohnungslosigkeit sowie feministischen Analysen von Stadt, Raum und Planung.

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„Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt aussehen?“ Diese Frage haben sich Stadtplanerinnen am Lehrstuhl für Städtebau und Urbanisierung der Technischen Universität Berlin in Kooperation mit der alpha nova & galerie futura aufbauend auf einen Text von Felicita Reuschling gestellt. In einem Mapping-Projekt im Sommer 2020 haben sie sich zusammen mit Studierenden und Künstler*innen verschiedenen Aspekten dieses Themas gewidmet. Ein Gespräch mit Martha Wegewitz, neben Julia Köpper und Dagmar Pelger eine der Initiatorinnen des Projekts, über die stadtplanerischen Komponenten einer Sorgenden Stadt.

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Visionieren mit Popcorn

Bildung in Rosa #7

Dezember 2021 • Nina Borst • Songül Bitiş

Alternativen#Alternativen

Hier geht es zum Podcast!

Wir sprechen mit Diane Izabiliza und Sookee über eigene Bildungserfahrungen, die Bedeutung widerständiger und subkultureller Formate und die Notwendigkeit gemeinsamen Visionierens.

Lasst euch überraschen von den spannenden Perspektiven - und lasst euch mitreißen von der Energie die entsteht, wenn wir gemeinsam über Visionen nachdenken, reinfühlen, konkretisieren, verwerfen und darüber in Kontakt kommen. Wir sprechen über die Erfahrungen unserer Gäste auf ihren Bildungswegen und über kulturelle Bildung, die für beide eine große Rolle spielt. Macht es euch schön mit uns und seid dabei.

Diane Izabiliza arbeitet an der Schnittstelle zwischen Bildung, Kultur und Wissenschaft. Sie ist staatlich anerkannte Erzieher*in, Sozialarbeiterin, Kulturwissenschaftlerin und seit Januar 2021 Co-Leiterin des Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung Berlin. Ihr Dokumentarfilm „Die Mauer ist uns auf den Kopf gefallen“ Women of Color und ihre Perspektiven auf den Mauerfall erschien 2018.

Sookee (*1983) ist Musikerin, Antifaschistin und Mutter. Sie hat mit ihrer langjährigen Erfahrung in diskriminierungssensiblen und machtkritischen Diskursen begriffen, dass das Monothematische dem Multiperspektivischen Platz machen muss, wenn gesellschaftliche Veränderung das Vorzeichen unserer Handlungen sein soll. So ist sie Gastgeberin der intergenerationalen Gesprächsreihe „Abends warm“ und schreibt Kolumnen für das „Veto-Magazin“ und „Links bewegt“. Sie ist seit über 15 Jahren in der Rap-Szene aktiv und beendete im März 2020 nach nunmehr 6 Alben, zahlreichen Kollaborationen und unzähligen Auftritten offiziell ihr Schaffen im Rahmen musikindustrieller Verwertungsprozesse. Als „Sukini“ ist sie 2019 musikalisch in kinderkulturelle Sphären gewechselt und macht seither Lieder, die sich große und kleine Leute gemeinsam erschließen können

#Alternativen

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Wir sprechen mit Diane Izabiliza und Sookee über eigene Bildungserfahrungen, die Bedeutung widerständiger und subkultureller Formate und die Notwendigkeit gemeinsamen Visionierens.

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Die Community als Ressource

Dezember 2021 • Tine Haubner und Silke Van Dyk

Foto: Ismael Paramo/Unsplash

Foto: Ismael Paramo/Unsplash

Krise, Alternativen#Krise #Alternativen

Der Gegenwartskapitalismus steckt nicht nur in einer ökonomischen, sondern längst auch in einer ökologischen, politischen und sozialen Funktionskrise, worauf Gegenwartsdiagnosen der „multiplen“ oder „Vielfachkrise“ hinweisen (z.B. Demirovic et al. 2011). Spätestens seit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008ff. besteht zudem wenig Zweifel an einer fundamentalen Hegemonie- und Legitimationskrise des Neoliberalismus. Die multiplen Krisendynamiken verdichten sich zudem zu einer fundamentalen Krise der sozialen Reproduktion: Jahrzehnte der Privatisierung, Deregulierung und Kommodifizierung haben private und öffentliche Sorgekapazitäten erodieren lassen, auf die der Kapitalismus mit seiner strukturellen „Sorglosigkeit“ (Aulenbacher et al. 2015) konstitutiv angewiesen ist. Die Krise der sozialen Reproduktion wird zusätzlich vom Wandel der Familien- und Geschlechterverhältnisse und der Alterung der Gesellschaft vorangetrieben und schlägt sich in Zeiten, da immer weniger Frauen ganztägig als „heimliche Ressource der Sozialpolitik“ (Beck-Gernsheim 1991: 66) zur Verfügung stehen, in wachsenden Sorgeengpässen nieder. Hat sich der neoliberale Kapitalismus also gewissermaßen selbst zu Tode gesiegt – wie manche Autor*innen im Lichte dieser Dynamiken mehr prognostizieren als diagnostizieren?

Nein, argumentieren wir in unserem gerade erschienenen Buch „Community Kapitalismus“. Der Kapitalismus stellt vielmehr aufs Neue seine enorme Wandlungsfähigkeit unter Beweis, nimmt vom radikalen Individualismus Abstand und treibt die Suche nach gemeinschaftsförmigen Krisenlösungen und gemeinschaftsbasierter Solidarität – als neuer Ressource der Sozialpolitik – voran. Der ‚Ego-Gesellschaft‘ scheint die Puste auszugehen und allenthalben ist von Gemeinschaft und Community die Rede: Die Bundesregierung bewirbt Konzepte „sorgender Gemeinschaften“ als neues Paradigma einer nachhaltigen Sozial- und Pflegepolitik, „Bürgerkommunen“ gelten als lokalpolitische Reformmodelle der Zukunft, freiwilliges Engagement, Gabentausch und kollektive Sharing Economy-Projekte florieren. In digitalen Netzwerken gilt die Devise „community is the brand” (Botsman/Rogers 2010: 199), Facebook-Gründer Mark Zuckerberg preist sein Netzwerk als Meta-Community und soziale Infrastruktur der Zukunft.

Unbezahlte Arbeit war und ist, so wird erneut deutlich, das Lebenselixier des Kapitalismus. Und je weniger selbstverständlich unbezahlte Arbeit im Privathaushalt – eingebettet in eine entsprechende Geschlechterordnung – erbracht wird, desto größer wird die Bedeutung informeller Sorgearbeit außerhalb der Familie, die in Zeiten der Krise der sozialen Reproduktion zum Gegenstand politischer Steuerung und Aktivierung avanciert: Vor diesem Hintergrund ist die Entstehung einer Konfiguration zu beobachten, die wir Community-Kapitalismus nennen, deren politische und moralische Ökonomie sich durch eine Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage und die Verknüpfung von nicht regulär entlohnter Arbeit (im Folgenden: Post-Erwerbsarbeit) und Gemeinschaftspolitik auszeichnet.

Natürlich sind nicht regulär entlohnte Arbeitstätigkeiten jenseits von Privathaushalten kein neues Phänomen und auch die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen wirft seit mehreren Jahrzehnten neue Fragen der Organisation von (Für-)Sorge auf. […] Und doch ist die aktuelle Situation von neuer Qualität. Einerseits verbindet sich die – unterschiedlichen Dynamiken geschuldete – Krise der sozialen Reproduktion mit der fundamentalen Legitimations- und Hegemoniekrise des Neoliberalismus, zugleich befördert die rasante technologische Entwicklung digital gestützte, neue Vergemeinschaftungen, durch die die Grenzen von Arbeit und Freizeit, von Öffentlichkeit und Privatheit in neuer Weise fluide werden. Im Lichte dieser heterogenen Entwicklungen hat der Community-Kapitalismus, so unsere These, das Potenzial hegemoniefähig zu werden, denn er bietet eine Antwort auf die multiplen (Krisen-)Dynamiken der Gegenwart. Er verbindet Lösungen für die Reproduktionskrise mit einer legitimationsstiftenden Antwort auf die Hegemoniekrise des Neoliberalismus und schafft einen Deutungsrahmen, der zentrale Muster der zunehmend einflussreichen digitalen Vergemeinschaftungen aufgreift. Zudem ist der Anti-Etatismus, der in der Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage steckt, anschlussfähig an Akteure sehr unterschiedlicher politischer Provenienz. Auf der Ebene der Subjekte antwortet die Anrufung von Gemeinschaft und Gemeinsinn auf ein reales Begehren nach Verbundenheit und Solidarität nach der jahrelangen Konjunktur des Hyper-Individualismus und Sozialabbaus. Das Regieren durch Community reizt etwas an, das vielen Menschen im Alltag wichtig ist. Es befördert ein aktives ‚Mittun‘, ohne dass damit eine dezidierte Bejahung der gesellschaftlichen Neuverhandlung des Sozialen als fürsorgliche Gemeinschaft verbunden sein muss.

Die wissenschaftliche Literatur ist ebenso wie der politische und mediale Diskurs reich an Lob für die Zivilgesellschaft und das Engagement von Freiwilligen und Umsonstarbeitenden; der Lobpreis von Gemeinschaft und Gemeinsinn ist allgegenwärtig. Unser Buch will diese breit verankerte Affirmation aufbrechen und stellt eine Kritik des Community-Kapitalismus dar. Es ist keine Kritik an Freiwilligen und Engagierten, keine Kritik an alltäglichen Formen der Solidarität unter Nachbar*innen und Freundinnen, keine Kritik an Selbstorganisation und Alternativökonomien. Es ist eine Kritik der politischen und moralischen Ökonomie des Community-Kapitalismus, die auf der Ausbeutung von Posterwerbsarbeit, der Informalisierung und De-Professionalisierung von Arbeit, der Umdeutung der sozialen Frage in eine Frage fürsorglicher Gemeinschaften und der Überführung sozialer Rechte in soziale Gaben beruht.

Die Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage

In unserem Buch betrachten wir [in den vorherigen Kapiteln] die empirischen Beispiele der Posterwerbsarbeit im Bürgerschaftlichen Engagement, in der Laienpflege, der Nachbarschaftshilfe, den digitalen Netzwerken und der Prosumer[i]-Aktivität. Sie alle zeigen, dass eine pauschale Charakterisierung des Gegenwartskapitalismus als grenzenlose Ökonomisierung des Sozialen zu kurz greift. Wir erleben vielmehr eine Neuausrichtung der sozialen Reproduktion, in der die Grenzen von Markt, Staat, Familie und Zivilgesellschaft mit ihren jeweiligen Steuerungslogiken neu vermessen werden, so dass nicht entlohnte Arbeit und Fürsorge – auch und besonders jenseits traditioneller Familienkonstellationen – an Bedeutung gewinnt.

Die Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage operiert, wie wir am Beispiel der Freiwilligenarbeit und des Pflegeengagements zeigen, mit zwei Ansatzpunkten: einmal im Sinne einer Verschiebung bzw. Neuakzentuierung der gesellschaftlichen Sektoren, das heißt der Auslagerung von Aufgaben, die vorher entweder in der Familie, in staatlicher und kommunaler Verantwortung oder durch den Markt organisiert waren, in die Zivilgesellschaft. Zum anderen stellt die Verzivilgesellschaftlichung eine Art „‘Fitnesstraining‘ der Zivilgesellschaft“ (Kocyba 2004: 20) dar. Sie zielt auf die Responsibilisierung und Aktivierung der Bürger*innen durch symbolische Würdigung, materielle Förderung und staatliches Unterlassen. Es findet damit ein doppelter – sektoren- wie subjektorientierter – Zugriff auf zivilgesellschaftliche Ressourcen statt. Zum einen durch die Stärkung des so genannten dritten Sektors, zum anderen durch die Re-Adressierung der Subjekte im Sinne einer neuen Verantwortungsteilung zwischen Staat und Bürger*innen. Dieser Zugriff auf die Zivilgesellschaft geht dabei in auffälliger Weise mit der De-Thematisierung ihrer politischen Dimension einher.

Die Abspaltung des Politischen schreibt zugleich ein wesentliches Moment des Neoliberalismus fort, der gerade darauf zielt(e), Bürger*innen nicht primär als Subjekte mit politischen und sozialen Rechten, sondern als ökonomische Akteure und Humankapital zu adressieren, wobei es nun verstärkt auch um das Sozialkapital der Gemeinschaft geht. Exemplarisch lässt sich dies am Beispiel der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe seit 2015 zeigen: Während Engagierte, die Geflüchtete mit Nahrungsmitteln und Schlafplätzen versorgen oder medizinische Hilfe und Übersetzungsdienste organisieren mit Würdigungen und Preisen geradezu überschüttet werden, ist parallel die zunehmende Kriminalisierung von politischen Aktivitäten gegen Abschiebungen wie auch der zivilgesellschaftlichen Seenotrettung zu beobachten. In dieser entpolitisierenden Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage oszilliert Gemeinschaft als Anwesend-Abwesendes. Es werden ihre Stärken beschworen, es wird ihr Verlust in der spätmodernen Gesellschaft beklagt und sie bleibt als Bezugsgröße auffällig unterbestimmt. Die Zivilgesellschaft wird in diesem Sinne sowohl als (H)Ort der Gemeinschaft(en) identifiziert, deren vorhandene Potenziale es stärker zu nutzen gelte, wie auch als (H)Ort der – noch ausstehenden – Gemeinschaftsbildung und damit als Akteur der Hervorbringung der avisierten Ressource. In beiden Fällen greift die positive Aufladung von Gemeinschaft und die Sakralisierung von Engagierten im Kontrast zur entfremdeten Gesellschaft und der Kälte politischer Rationalität: „In unserer gemeinsamen Vorstellung ist der Freiwillige wohlig warm, während der Aktivist entweder zu kühl intellektuell oder zu heißblütig agiert. In unserer gemeinsamen Vorstellung liest der nette, angenehme Freiwillige Vorschulkindern vor, während der Aktivist Streikposten aufstellt und schreit.“ (Eliasoph 2013: 43)

Quo Vadis Community – wie sehen Alternativen aus?

Der Community-Kapitalismus bietet mit seiner Kombination aus Post-Erwerbs- und Gemeinschaftspolitik eine Antwort auf die multiplen Krisen der Gegenwart. Die politische Ökonomie des Community-Kapitalismus beruht auf der doppelten (direkten, profitgenerierenden und indirekten, kostensparenden) Ausbeutung von Post-Erwerbsarbeit. Damit antwortet sie auf das grundsätzliche Dilemma von Sorge- und Reproduktionsarbeit, zugleich unverzichtbar und begrenzt profitabel zu sein. Post-Erwerbsarbeit ist dabei nicht einfach nur kostengünstig oder billig, sondern eingebettet in eine moralische Ökonomie der positiven ‚Aufladung‘ von Freiwilligkeit und Gemeinsinn. So werden die prekarisierenden, ausbeutenden, Unsicherheit und Abhängigkeit stiftenden Implikationen dieser Reproduktionsstrategie verschleiert. Durch die gemeinschaftliche Affizierung der Post-Erwerbsarbeit gelingt eine Umdeutung von Arbeit in Nicht-Arbeit, die nicht nur ihre Ausbeutung ermöglicht, sondern nach Jahren des Hyper-Individualismus, der Ökonomisierung und der Kultur der Eigenverantwortung zugleich auf eine verbreitete Sehnsucht nach Formen nicht entfremdeter Arbeit sowie der Kooperation und gemeinschaftlichen Sorge antwortet. Wir erleben gewissermaßen die gleichzeitige Ausbeutung von Verwundbarkeit und Verbundenheit.

Wie kann eine Alternative zum Community-Kapitalismus aussehen, die die wechselseitige Verbundenheit von Menschen stärkt, ohne ihre Autonomie einzuschränken? Eine, die den Fallstricken gemeinschaftsbasierter Fürsorge entgeht, ohne unkritisch den Sozialstaat mit seinen normierenden und exkludierenden Implikationen anzurufen und die – vor allem – eine solidarische Antwort auf die zerstörerischen Folgen von Privatisierung, Kommodifizierung und Deregulierung bietet? Und wie kann eine institutionelle Einbettung von Gegenseitigkeit und Solidarität im Alltag gelingen, ohne dass alternative Projekte als kostengünstige Ressource ausgebeutet werden oder die emanzipatorischen Potenziale von Selbstorganisierung durch Regulierung zunichte gemacht werden?

Die erste Antwort lautet: abhängige Arbeit zum Lebensunterhalt ist als Arbeit zu regulieren und zu entlohnen. Unbezahlte Tätigkeiten sollten nicht vorschnell, ohne Prüfung ihrer potenziell informalisierenden, prekarisierenden, de-professionalisierenden Implikationen als positive Alternativen zur Erwerbsarbeit aufgeladen oder aber als feminisierte Gratisressource abgewertet werden. Dafür gilt es die moralische Ökonomie des Community-Kapitalismus im Blick zu behalten und zu fragen, wo die Affirmation von Gemeinschaftlichkeit und Gemeinsinn zur Folge hat, dass ausgebeutete Post-Erwerbsarbeit der Gegenwart als Vorgriff auf eine nicht-monetarisierte Tätigkeitsgesellschaft der Zukunft erscheint. Wo ist Unterstützung im Alltag tatsächlich Arbeit, die nach Maßgaben des Arbeitsrechts und Mindestlohns zu beurteilen ist? Wo ersetzen Freiwillige fehlende Fach-Pflegekräfte oder den öffentlichen Nahverkehr? Wo leisten Prosumer die Arbeit von Produktentwickler*innen und Werbefachleuten? Wo organisieren Nachbarschaftsinitiativen die Grünpflege oder Langzeitarbeitslose im Bundesfreiwilligendienst die Ganztagsbetreuung an Schulen? Wo werden soziale Rechte und Sicherheiten unterlaufen, indem Arbeit in Hilfe, Freizeit, Freiwilligkeit, Gemeinsinn oder Liebe umdefiniert wird?

Die zweite Antwort betrifft die Organisation von sozialer Daseinsvorsorge und Infrastruktur: Hier ist es ein Ansatzpunkt, die etablierte Polarität von ‚privat(wirtschaftlich)‘ und ‚öffentlich‘ aufzubrechen und das Öffentliche dahingehend neu zu denken, dass die Rolle des Staates als bislang „tendenzieller Monopolist des Öffentlichen“ (Schultheiß 2012: 11) im Zusammenspiel mit zivilgesellschaftlichen Kräften neu bestimmt wird. Konkret bedeutet dies, die neoliberale Strategie der Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage, die auf Outsourcing, Ressourcennutzung und Entpolitisierung setzt, umzukehren. Dies würde bedeuten, im Sinne eines Insourcing, zivilgesellschaftliche Akteure als Miteigentümer*innen und handlungsmächtige Gestalter*innen in die Organisation der öffentlichen Daseinsvorsorge und Infrastruktur zu integrieren. Dafür gilt es, die historisch fest verankerte Entgegensetzung von (Sozial-)Staat und Zivilgesellschaft zu überwinden, ohne der neoliberalen Praxis ihrer Zusammenführung im Sinne einseitiger Staatsentlastung und neuer Subsidiarität zu folgen.

Derzeit sind verschiedene, erste Suchbewegungen nach einer neuen, solidarischen, partizipativen, öffentlichen Alltagsökonomie und Infrastruktur zu beobachten, die so unterschiedliche Namen tragen wie „Alltäglicher Kommunismus“ (Streeck 2019), „Fundamentalökonomie“ (Foundational Economy Collective 2019) oder „Infrastruktursozialismus“ – und die über die kleinen Netze lokaler Gemeinschaften hinausweisen. Was all den Ansätzen bisher fehlt, ist eine systematische Analyse der Konfiguration, die wir Community-Kapitalismus nennen. Erst wenn wir diese Struktur, ihre Treiber, Träger*innen und Dynamiken durchdringen – und wir hoffen, dazu einen Beitrag zu leisten–, sind wir davor gefeit, ausgebeutete Posterwerbsarbeit der Gegenwart als Vorgriff auf eine nicht-kapitalistische Tätigkeitsgesellschaft der Zukunft zu missdeuten. Und erst wenn wir konsequent die Eigentumsfrage stellen und nach der Verfügungs- und Gestaltungsmacht fragen, kann es gelingen, die instrumentelle Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage in das emanzipatorische Projekt der Vergesellschaftlichung des Öffentlichen zu überführen. Einen solchen Weg zu beschreiten, bedeutet nicht, informelle Hilfe und Unterstützung, freiwilliges Engagement und nachbarschaftliche Solidarität im Hier und Jetzt zu verweigern. Es ist vielmehr ein „rebellisches Engagement“ (van Dyk et al. 2016) gefragt, das nicht nur stillschweigend sorgt und unterstützt, sondern unbequem und laut seine eigenen Grenzen und die Vereinnahmung als Ressource des neoliberalen Staats problematisiert – um den Weg für eine selbst verwaltete, solidarische Infrastruktur und Daseinsvorsorge zu bereiten.

Fußnote

[i] Prosumer, zusammengesetzt aus „consumer“ und „producer“ beschreibt Konsument*innen, die die Güter, die sie nutzen, (mit)produzieren, etwa als Ko-Designer von personalisierten Produkten, aber auch im Bereich der Energieproduktion und Landwirtschaft.

Literatur

Aulenbacher, Brigitte/Bachinger, Almut/Décieux, Fabienne (2015): „Gelebte Sorglosigkeit. Kapitalismus, Sozialstaatlichkeit und soziale Reproduktion am Beispiel des österreichischen ‚migrant-in-a-family-care‘-Modells, in: Kurswechsel, 1/2015, S. 6-14.

Beck-Gernsheim, Elisabeth (1991): „Frauen – die heimliche Ressource der Sozialpolitik“, in: WSI-Mitteilungen 2/1991, S. 58–66.

Botsman, Rachel/Rogers, Roo (2010): What's mine is yours. How collaborative consumption is changing the way we live, London.

Demirovic, Alex/Dück, Julia/Becker, Florian/Bader, Pauline (Hg.) (2011): Vielfachkrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus, Hamburg.

van Dyk, Silke/Dowling, Emma/Haubner, Tine (2016): Rebellisches Engagement ist gefragt. In:Blätter für deutsche und internationale Politik. 62 (2), S. 37–40.

Eliasoph, Nina (2013): The politics of volunteering. Cambridge.

Foundational Economy Collective (2019): Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Berlin.

Kocyba, Hermann (2004): „Aktivierung“, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, S. 17-22

Schultheiß, Franz (2012): „Im Dienste öffentlicher Güter“, in: Mittelweg 36, 21, S. 9-21.

Streeck, Wolfgang (2019): „Der alltägliche Kommunismus“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 64 (6), S. 93-105.

Silke van Dyk und Tine Haubner haben gemeinsam das 2021 im Verlag Hamburger Edition erschienene Buch „Community-Kapitalismus“ verfasst, aus dem hier Auszüge zu lesen sind.

Tine Haubner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und beschäftigt sich mit der Soziologie der Arbeit, unter anderem mit Reproduktions- und Sorgearbeit, mit Prekarisierung und sozialer Ungleichheit.

Silke van Dyk ist Professorin für Politische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie forscht unter anderem zu sozialer Ungleichheit und Eigentumsverhältnissen, zu Alter und Demografie und zur Soziologie der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaats.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/die-community-als-ressource

#Krise #Alternativen

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Die Community gilt als warmer Ort in einer kalten Gesellschaft. Oft steckt in ihr aber unbezahlte Arbeit, die ein Lebenselixier des Kapitalismus ist. Der Community-Kapitalismus verschärft Ausbeutung und setzt Fürsorge und soziale Gaben an die Stelle von sozialen Rechten, kritisieren Silke van Dyk und Tine Haubner in ihrem neuen Buch „Community-Kapitalismus“ (erschienen 2021 im Verlag Hamburger Edition), aus dem hier Auszüge zu lesen sind.

Foto: Ismael Paramo/Unsplash

  • #Krise
  • #Alternativen

Eine andere Migrationspolitik ist möglich!

Online-Plattform «Moving Cities»

Februar 2022

Die Startseite der Website Moving Cities

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Migration, Alternativen#Migration #Alternativen

Über 700 europäische Städte setzen sich aktiv für eine solidarische Migrationspolitik ein. Finden Sie heraus, wie die Städte versuchen, die regressive Politik der Nationalstaaten und der EU zu verändern und wie sie - mit Hilfe der Zivilgesellschaft - an der Verbesserung ihrer lokalen Migrationspolitik arbeiten.

Die Website Moving Cities stellt ein Mapping bereit, das detaillierte Recherchen über 28 fortschrittliche solidarische Städte und ihre Strategien zur Aufnahme von Migrant:innen und Geflüchteten in zehn europäischen Ländern bietet.

Link zur Website:  Moving Cities | Moving Cities (moving-cities.eu)

#Migration #Alternativen

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  • #Migration
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#Mobilität #Alternativen
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Klimaschutz, gute Arbeit und eine notwendige Verkehrswende bleiben zu allen Zeiten relevant. Eine bedeutende Rolle in einer klimaneutralen Gesellschaftsordnung spielt der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV). ver.di hat mit den Beschäftigten im ÖPNV in Vorbereitung der eigentlich im Sommer 2020 anstehenden Tarifrunde begonnen gute Arbeit, Klimaschutz und die Finanzierung des öffentlichen Sektors zusammenzudenken.

Wie muss ein ÖPNV gestaltet sein, damit er eine echte Alternative zum Individualverkehr ist? Welche Rahmenbedingungen brauchen Beschäftigte in einem solchen ÖPNV? Welche Finanzierungsmodelle gibt es, damit ein attraktiver ÖPNV als Grundversorgung für alle funktioniert?

Veranstaltet von: Arbeit und Leben Niedersachsen | Bildungswerk ver.di | Bildungszentrum Heimvolkshochschule Hustedt e.V. | DGB Bezirk Niedersachsen Bremen Sachsen-Anhalt | GEW Hannover | IG Metall Hannover | Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften | Kulturzentrum Pavillon | Landesarmutskonferenz | Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen | Stiftung Leben & Umwelt / Heinrich-Böll-Stiftung Niedersachsen | Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen e.V. | ver.di Bezirk Leine/Weser

Claudia Soraya / Unsplash

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Bildung und gesellschaftliche Arbeitsteilung

September 2021 • Alex Demirović

Foto: Jeswin Thomas / Unsplash

Foto: Jeswin Thomas / Unsplash

Alternativen#Alternativen

Stell dir vor, alle könnten Abitur machen. Wie würde dann entschieden, wer welche Jobs übernimmt? Aus sozialistischer Perspektive muss Bildungsgerechtigkeit mit der Frage nach einer demokratischen Teilung der Arbeit verbunden werden.

Das Bildungssystem in Deutschland ist ungerecht und begünstigt soziale Ungleichheit. Die Mechanismen, die dies bewirken, sind zahlreich: Die überkommene Dreigliedrigkeit des Schulsystems legt Schüler*innen frühzeitig auf bestimmte Bildungs- und berufliche Ausbildungswege fest und trägt damit zur Reproduktion der Klassenverhältnisse bei. Die Schulen sind unterfinanziert und werden durch Mittelzuweisung auch noch in den Wettbewerb um Lehrer*innen und Schüler*innen gezwungen. Klassen sind zu groß. Es gibt zu wenig Lehrkräfte, diese sind vielfach nicht gut genug ausgebildet, viele von ihnen arbeiten prekär. Auch durch ihre örtliche Lage, Lehrangebote oder soziale Zusammensetzung verstärken oder erzeugen Schulen soziale Ungleichheit. Besonders betroffen sind Schüler*innen aus Familien von Alleinerziehenden, aus Arbeiter*innen- und migrantischen Familien. Das Paradigma, ein Durchschnittsmaß von Bildungsgleichheit (gemessen an vereinheitlichenden Notenskalen) anzulegen, verhindert differenzierte Praktiken; ebenso der Prüfungszwang oder der Umstand, dass Kinder und Jugendliche an Entscheidungen über Schulorganisation, Lernrhythmen, Unterrichtsgestaltung, Gegenstandsbereiche oder Leistungsbewertung kaum beteiligt werden. Kritik an der Benachteiligung vieler Schüler*innen gibt es seit Langem, und obwohl sich seit den 1920er Jahren einiges verändert hat und zahlreiche Bildungsreformen versucht wurden, besteht das Grundübel fort und reproduziert sich ständig von Neuem – nicht zuletzt aufgrund der Widerstände von konservativen Eltern- und Lehrer*innenverbänden, der Wirtschaft und Parteipolitiken.

Chancengleichheit für wen?

Die Schule verursacht soziale Ungleichheit nicht, aber sie reproduziert sie und pflanzt sie tief in die Körper der Kinder und Jugendlichen ein. Da in der demokratischen Gesellschaft alle gleich und frei sein sollen, widerspricht diese institutionell verstärkte Ungleichheit dem meritokratischen Anspruch auf Leistungsgerechtigkeit. Tatsächlich sind die Menschen nicht gleich. Sie haben verschiedene Fähigkeiten und Interessen und gerade das Ausrichten an einem administrativen Gleichheitsmaßstab stellt eines der Hauptprobleme der Schule dar. Die bürgerliche Lösung für diesen Widerspruch ist ›Chancengerechtigkeit‹. Unterstellt wird, dass die Schule allen Schüler*innen gleiche Ausgangsbedingungen zur Verfügung stellt, sodass sie im Leistungswettbewerb in gleicher Weise ihre Fähigkeiten entwickeln und unter Beweis stellen können.

Chancengerechtigkeit verspricht, dass Individuen entsprechend ihren Fähigkeiten und ihren Leistungen eingeschätzt und den Schulzweigen zugeordnet werden. Die Zahl derer, die diese ›Chance‹ ergreifen können, ist heute größer als früher: In Deutschland schloss in den vergangenen Jahren mit etwas mehr als 50 Prozent der größere Teil eines Jahrgangs die Schule mit dem Abitur ab (Hauptschule 2015: 15 Prozent). Das ist im Vergleich zu den 1960er Jahren ein erheblicher Fortschritt. Dennoch werden Kinder von Arbeiter*innen, Alleinerziehenden oder aus migrantischen Familien beim Zugang zu einem höheren Schulabschluss oder zu einem Studium benachteiligt.

Auch wenn es teils gelingt, Bildungsungleichheit zu bekämpfen, bleibt sie eine mächtige Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft. In ihr kristallisieren sich viele Aspekte der Klassenherrschaft: Die bürgerliche Klasse kann ihre Distanz und Überlegenheit gegenüber den unteren Klassen markieren und Familien und Individuen der Arbeiter*innenklasse herabsetzen. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen dem Kommando und der Verfügung über die Arbeit anderer erscheinen aufgrund mangelnder Bildung als in der Natur der Individuen selbst verankert. Es scheint dann so, als käme ihnen ihre subalterne soziale Stellung durch ihre Natur zu, als seien sie von sich aus nicht zu höherer Bildung befähigt, weil ihnen die Intelligenz und die körperlichen und kulturellen Kompetenzen fehlten.

Für die sozialistische Linke bleibt es also ein sie geradezu definierendes programmatisches Ziel, für den Zugang zu Bildung und Wissen einzutreten und die bürgerliche Dünkelhaftigkeit, das elitäre Distinktionsbedürfnis und die Macht zu bekämpfen, mit der die bürgerliche Klasse Menschen in die subalterne Position der Ausbeutung hineinzwingt und individuell entwürdigt.

Dialektik der Bildungsgerechtigkeit

Obwohl der Zugang zu Bildung für das Lebensschicksal der Einzelnen von großer Bedeutung ist, bleiben die Auseinandersetzungen darum zäh. Das resultiert, so meine These, daraus, dass das Ziel der Bekämpfung der Bildungsungleichheit in einen zu wenig diskutierten Widerspruch führt. Im Sinn einer linken, sozialistischen Perspektive muss man vom Ende her denken: Was bedeutet das Ziel der Bildungsgerechtigkeit? Ist es hinreichend? Nach Lage der Dinge wäre Bildungsungleichheit formal beseitigt, wenn alle das Abitur auf einer guten Schule machen und ein Studium ihrer Wahl verfolgen könnten. Dies gilt als anstrebenswert, weil Abitur und Studium ein hohes Einkommen und einen besseren Schutz vor Arbeitsmarktrisiken versprechen. Bildungsdünkel könnte abgebaut werden. Zudem gewähren die Jahre des Studiums ein größeres Maß an frei verfügbarer Lebenszeit, und die höher qualifizierten Berufstätigkeiten versprechen sinnvoll erlebtes Arbeiten, größere Selbstbestimmung und die Möglichkeit zur Aneignung eines komplexen begrifflichen Weltverständnisses. Linke Bildungspolitik besteht deswegen vorrangig darin, sozial diskriminierende Faktoren aller Art zu beseitigen, die Individuen zu fördern und allen zu ermöglichen, einen hohen Bildungsabschluss zu machen. Das klingt jedoch einfacher, als es ist. Diejenigen, die gut ausgebildet sind, werden der Tendenz nach einen ausbildungsangemessenen, akademischen Beruf mit einem höheren Einkommen ausüben wollen. Doch die technische Arbeitsteilung gibt das nicht her, sie bietet für viele Absolvent*innen von Hochschulen keine angemessenen Tätigkeiten. Auch werttheoretisch ist eine solche Erwartung nicht plausibel. Denn ein möglicherweise entstehendes Überangebot an Akademiker*innen weist darauf hin, dass zu viel gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in die Produktion komplex zusammengesetzter Arbeitskraft investiert wurde. Dies muss im Kapitalismus zu einer Entwertung von Qualifikationen führen, es entsteht Druck auf die Löhne und die sozialen Standards (zeitlich befristete Verträge, längere Arbeitszeiten). Gleichzeitig aber fehlen in anderen relevanten Bereichen der technischen Arbeitsteilung zahlreiche Arbeitskräfte.

Dass Bildungssystem und Arbeitsmarkt sich hart reiben, hat in hohem Maße mit der kapitalistischen Organisation der gesellschaftlichen Arbeit zu tun. Dies bedeutet, dass die Arbeiten nach zwei Logiken verteilt werden: nach der Logik der Werterzeugung einerseits und nach der Logik der Nützlichkeit der Arbeiten andererseits. Letztere betrifft die technisch-funktionalen Aspekte und die Kooperation, also die Kombination spezialisierter, sich in der Arbeitsteilung ergänzender Arbeitskräfte. Sie ergibt sich aus der besonderen Art und Weise, wie Menschen die Natur aneignen und ihr Verhältnis untereinander organisieren. Für viele Tätigkeiten werden keine hochschulisch erworbenen Kompetenzen benötigt, sondern praktische, häufig technische Fähigkeiten: eine Mauer zu ziehen, Zement zu mischen, eine Straße zu asphaltieren, ein Dach zu decken, ein Stromkabel zu verlegen, eine Straßenbahn zu fahren, Kleider zu schneidern oder zu ändern, Brot zu backen, ein Tier zu schlachten, einen Garten oder Felder zu pflegen. In alle diese Tätigkeiten geht ein enormes Wissen über Material und Werkzeuge und das inkorporierte Erfahrungswissen im Umgang mit Gegebenheiten und den kleinen, materialen Widerständigkeiten der Dinge ein. Es sind auch besondere körperliche Dispositionen (also Kraft, Geschicklichkeit, Ausdauer, Geduld) erforderlich, die es ermöglichen, diese anstrengenden, häufig schmutzigen, lauten Arbeiten auszuhalten und mit Planung und Sorgfalt durchzuführen. Diese Fähigkeiten lassen sich nicht oder nur in geringem Maß in einem Studium erwerben, ja, das Studium kann sogar die Ausbildung solcher Dispositionen verhindern.

Emanzipation nach dem Bild der Kulturmenschheit?

Zwischen dem Bildungssystem und der Struktur der technischen Arbeitsteilung können also Widersprüche entstehen. Der Tendenz nach wird Ersteres gezwungen sein, sich den Anforderungen zu fügen, die sich aus der Aneignung der Natur und der damit verbundenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung ergeben. Der Naturzwang, so scheint es, setzt sich demnach bis in die Gesellschaft und in die Individuen, ihr Wissen und ihren Körper hinein fort. Allerdings können die Individuen durch ihre Praktiken das Muster der funktionalen Arbeitsteilung auch verändern und neue Tendenzen in der Reproduktion der gesellschaftlichen Arbeit schaffen. So hat etwa der Wunsch von Frauen in der Mittelklasse und im Bürgertum, nicht auf Haus- und Sorgearbeit reduziert zu werden, dazu beigetragen, dass sie sich das Recht auf Studium und entsprechende Berufstätigkeiten erkämpft haben. Dies führt dann zu erheblichen Konflikten in den Unternehmen oder staatlichen Institutionen, weil Frauen die Erfahrung machen müssen, dass sie in ihrer Karriere behindert, schlechter bezahlt, gemobbt oder gar hinausgedrängt werden. Spannungen lassen sich auch in der gleichberechtigten Aufteilung der Haus- und Fürsorgearbeiten beobachten. Das Beispiel zeigt, dass Bildungssystem und Arbeitsmarkt nicht per se passförmig sind und sich autonome Tendenzen bemerkbar machen können, die zu Ungleichgewichten auf dem Arbeitsmarkt führen können.

Es ist nicht unmöglich, die Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auch von der Seite der Bildung her umzubauen, und das geschieht ja auch ständig. Aber es handelt sich um eine Art ›stilles‹ Kräfteverhältnis – formelle Bildung ist darin nur ein Faktor. Insgesamt bestimmen die Notwendigkeiten in der Aneignung von Natur und die Organisation und Verwaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse weitgehend die Bildungsprozesse. Da diese Notwendigkeiten aber unter der Herrschaft kapitalistischer Produktionsverhältnisse organisiert werden, bestimmen Gesichtspunkte der Kapitalverwertung die Bildung, den Wert der Ware Arbeitskraft und die Verteilung der Arbeitsvermögen. Daraus resultiert, dass diejenigen mit höheren Bildungsabschlüssen (aufgrund einer höheren Wertzusammensetzung ihrer Arbeitskraft) tendenziell höhere Einkommen erzielen und in den Genuss von weiteren gesellschaftlichen Vorteilen kommen oder sogar den Aufstieg in die bürgerliche Klasse schaffen können – und dies, obwohl es oftmals zweifelhaft ist, ob ihre Tätigkeiten tatsächlich für den Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur notwendig sind. Sollte also Bildungsgerechtigkeit darin bestehen, dass alle in den Genuss dieser Vorteile kommen, dass also alle höhere Einkommen erzielen oder sich am bürgerlichen Kulturleben beteiligen können? Wird die Emanzipation der Menschen nach dem »Bilde der Kulturmenschheit« (Walter Benjamin) gedacht?

Über Bildungsgerechtigkeit hinaus

Nehmen wir einmal an, dass es anders wäre und von der Bildung her die Arbeitsteilung umgebaut würde, also nicht die kapitalistischen Unternehmen und der Arbeitsmarkt auf naturwüchsige Weise die Arbeitskräfte verteilen würden. Dann müsste eine Antwort auf die Frage gegeben werden, wer all die körperlichen Arbeiten erledigt, von denen die Rede war. Unter kapitalistischen Bedingungen erlaubt eine durch hohe Qualifikation ermöglichte hohe Produktivität und Wertschöpfung, die mühevollen und als sinnleer empfundenen Arbeiten räumlich zu verlagern oder, wenn das nicht geht, Menschen anzuheuern, die sie vor Ort ausüben: also Fließbandarbeiter aus der Türkei, Pflegerinnen von den Philippinen, Maurer aus Polen oder Erntehelferinnen aus Rumänien. Es liegt auf der Hand, dass dies aus sozialistischer Sicht keine Lösung des Problems ist. Denn so wird die Bildungsungerechtigkeit neokolonial an Menschen irgendwo auf der Welt weitergereicht. Irgendwann einmal allerdings wäre dieses Modell der Verlagerung ebenfalls erschöpft, denn auch unter diesen Arbeiter*innen entsteht erfahrungsgemäß nach wenigen Generationen der Wunsch nach Bildungsgerechtigkeit und danach, am Wissen und am Wohlstand teilzuhaben. Aber die Notwendigkeit, anstrengende körperliche Arbeiten zu erledigen, besteht in einem wenn auch sich verändernden Umfang fort. Die kapitalistische Gesellschaft löst das Problem jeweils temporär, indem sie auch hoch qualifizierte Menschen in prekäre Arbeitsverhältnisse zwingt.

Für eine linke Diskussion über Bildungsgerechtigkeit stellt sich die Frage, wie mit diesem Problem der gesellschaftlich notwendigen einfachen körperlichen Arbeit umzugehen ist. Auf der einen Seite gibt es den sehr berechtigten Bildungsanspruch, der dazu führen könnte, dass viele Menschen sich intensiv bilden, ohne dass dies zur materiellen Reproduktion der Individuen direkt beitragen würde. Aber irgendjemand muss die stofflichen und manuellen Arbeiten erledigen, die für die individuelle Reproduktion aller notwendig sind (der Markt oder vermeintlich natürliche Merkmale wie ein niedriger IQ und entsprechend geringere Ausbildung stehen für die Allokation nicht mehr zur Verfügung). Wenn in einer sozialistischen Perspektive also nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Lebensschicksal eines Teils der Bevölkerung immer weiter die anstrengende körperliche Arbeit sein wird, und wenn für eine Überwindung der Trennung von Kopf- und Handarbeit als eine zentrale Form von Klassenherrschaft argumentiert wird, dann muss über die Frage der Bildungsgerechtigkeit hinausgegangen und zwangsläufig die Frage nach der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gestellt werden.

Arbeitsteilung re:organisieren

Es ist naheliegend, dass viele funktionale Tätigkeiten ausgeübt werden müssen, weil sie im Gesamtgefüge der Arbeitsteilung notwendig sind. Aber es stellt sich die Frage, wie sich entscheidet, was als notwendig gilt. Unter kapitalistischen Bedingungen fällt die Entscheidung in der Konkurrenz zwischen Kapitaleigentümer*innen, die Waren anbieten oder den Arbeitsprozess nach Profitabilitätsgesichtspunkten zergliedern, um ihn effizienter zu gestalten und mehr lebendiges Arbeitsvermögen anzueignen. Dies strukturiert die gesellschaftliche Arbeitsteilung bis in die technische Arbeitsteilung und die Kompetenzen der Individuen hinein. Diejenigen, die über die Produktionsmittel verfügen, entscheiden darüber, welche Tätigkeiten benötigt und wie sie jeweils spezialisiert werden. Es können auf diese Weise umfangreich gesellschaftliche Arbeiten entstehen, die zwar für die Erzeugung kapitalistischen Reichtums erforderlich sind, die jedoch in anderer Hinsicht ganz sinnlose Tätigkeiten darstellen, weil sie zur Erhaltung der Gesellschaft wenig beitragen oder sogar ihre Zerstörung fördern. So können Tätigkeiten in der Werbung oder im Marketing als weitgehend überflüssig betrachtet werden; der Umfang der Gesamtarbeit in der Automobilfertigung ist zu groß und könnte deutlich eingeschränkt werden; Tätigkeiten in der Rüstungsindustrie könnten weitgehend entfallen, weil sie Ressourcen unproduktiv binden; viele Tätigkeiten im Managementbereich dienen allein der Kontrolle der Arbeiter*innen, sie sind überflüssig und sinnlos; das gilt auch für die Tätigkeit der Produzent*innen und Händler*innen von synthetischen Drogen oder für diejenigen, die Derivategeschäfte tätigen und auf Preisentwicklungen von Nahrungsmitteln spekulieren. Hingegen sind aus stofflichen Gründen die Tätigkeiten derjenigen, die Menschen befördern, Kleidung herstellen, Lebensmittel in Regale einräumen oder Kranke und Alte pflegen, die diese Prozesse organisieren und die entsprechenden Qualifikationen vermitteln – sie alle sind für die Gesellschaft offensichtlich erforderlich. Es muss also geprüft werden können, was eine Gesellschaft benötigt. Und es muss die Freiheit geben, eine solche Überprüfung vorzunehmen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten, die Arbeitsteilung umzubauen. Dies bedeutet, dass nicht die privatkapitalistischen Produktionsmittelbesitzer*innen und die staatlichen Apparate nach Prinzipien des Profits entscheiden, sondern es nach Gesichtspunkten der gesamtgesellschaftlichen Arbeit (einschließlich der Fürsorge- oder Verwaltungstätigkeiten) zu demokratischen Entscheidungen unter Beteiligung aller Mitglieder der Gesamtarbeiter*in kommen kann. Das ist folgenreich, weil dann auch geprüft werden muss, ob neue Spezialisierungen erforderlich sind oder spezialisierte Arbeitsvermögen wegfallen können. Auch muss geklärt werden, wie diejenigen, die diese nun überflüssig gewordenen Funktionen bisher ausgeübt haben, sich auf neue Weise in die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung einfügen, ohne ein Risiko individuell ›ausbaden‹ zu müssen, dass das Ergebnis der bisherigen Arbeitsteilung ist.

Die demokratische Überprüfung kann demnach ergeben, dass die bisherige gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung nicht ökonomisch ist und viele Tätigkeiten überflüssig oder sogar schädlich sind. Mit einem Umbau der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Kooperation kann das zur Verfügung stehende gesellschaftliche Gesamtarbeitsvermögen anders qualifiziert und verteilt werden. Dies kann dann vor allem dazu führen, dass überhaupt weniger gearbeitet werden muss.

Morgens fischen, dem Essen kritisieren

Aber dies gibt noch keine Antwort auf das Problem der Bildung. Bislang habe ich unterstellt, dass mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit die entwickelten Gesellschaften so reich sind, dass sie breite Bildungsprozesse ermöglichen können, ohne dass die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung schon unmittelbar in den Bildungsprozess selbst einbezogen wird. Es könnten dann in einem gewissen Maß das Bildungssystem und die Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung aneinander vorbei funktionieren. Das heißt, viele Menschen würden einige Jahre studieren und sich erst später in die bestehende Arbeitsteilung eingliedern. Dies ist auch heute der Fall.

Wenn nun im Sinne der Bildungsgerechtigkeit alle am Bildungsprozess teilhaben würden, dann gibt es zwei Möglichkeiten, mit den stofflich notwendigen Arbeiten umzugehen. Beide Möglichkeiten schließen ein, dass

a // nicht alle Individuen alles machen können, sondern sich spezialisieren müssen, Arbeitsteilung also notwendig ist; dass

b // Individuen mit dem Erwerb von Bildung keinen Anspruch auf eine bestimmte, andere übergeordnete Berufstätigkeit erheben können; und dass

c // höhere Bildung nicht mit höheren Einkommen entgolten wird (anders gesagt: dass das Wertgesetz für die Ware Arbeitskraft der Tendenz nach außer Kraft gesetzt wird).

Bildung wäre keine Funktion einer herrschaftlichen Form von Arbeitsteilung mehr und würde also den Zugang zu Titel, Stelle und Einkommen nicht mehr regeln.Im ersten Fall würden die Individuen nach einem eigeninteressierten Bildungsprozess weitere berufliche Kompetenzen erwerben, die ihnen erlauben, gesellschaftlich notwendige Arbeiten auszuüben. Sie hätten dann studiert, aber ein erheblicher Teil ihres weiteren beruflichen Lebens wäre von den Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bestimmt. Es gäbe dann in Archäologie diplomierte Straßenbahnfahrer*innen oder in Gender Studies promovierte Bademeister*innen – berufliche Tätigkeit und Bildungssystem würden sich entkoppeln. Etwas in dieser Art haben wir auch heute, aber es handelt sich um Situationen, die als prekäre Ausnahmen verstanden werden und eine Lebensplanung nicht erlauben. Das könnte anders gestaltet werden. Die deutlich geringere Arbeitszeit würde es ermöglichen, neben einer solchen notwendigen Arbeit auch noch weitere Tätigkeiten auszuüben. Es müssten entsprechende gewohnheitsförmig eingespielte Verteilungsmuster des menschlichen Arbeitsvermögens bestehen oder Planungsinstanzen (vergleichbar etwa der Berufsberatung der Bundesagentur für Arbeit) geschaffen werden, die den Bedarf nach spezialisierten Arbeiten erfassen, Tätigkeiten koordinieren und die Kontinuität von Kompetenzen gewährleisten.

Im anderen Fall würden die Bildungsinstitutionen, der Bildungsprozess und die bisher institutionalisierten bürgerlichen Biografiemuster (also Kindergarten, Grundschule, weiterführende oder Berufsschule, Studium, 35–45 Jahre Erwerbsleben, Rente) überprüft und verändert. Starre, institutionalisierte Lebensabschnitte könnten durchlässiger oder aufgelöst werden. Auch die schulische Ausbildung und die Teilnahme an der gesellschaftlichen Arbeit (und auch politisches Entscheiden müsste als gesellschaftliche Arbeit verstanden werden) würden durchlässig und wären nicht identisch mit bestimmten Lebensphasen. Dies würde nicht nur erlauben, dass verschiedene Tätigkeiten nebeneinander verfolgt werden und dass es zu einer Anreicherung von Kompetenzen kommt, auch häufige Wechsel zwischen Phasen körperlicher Arbeit, Muße und Bildung wären denkbar. Um den Tätigkeiten hinsichtlich der Zusammensetzung von geistiger und körperlicher Arbeit zu entsprechen, könnten Tätigkeitsbündel geschaffen werden, die jeweils körperlich belastende Arbeiten mit anderen Arbeiten kombinieren. Die Notwendigkeit, zur gesellschaftlich notwendigen Arbeit beizutragen, würde sich jedenfalls für die Einzelnen nicht mehr länger zu einer Art naturhaftem Lebensschicksal verfestigen und in der Zähigkeit des Alltags ihre Freiheit vernichten.

Alex Demirović ist Philosoph und Sozialwissenschaftler und hierzulande einer der eingriffslustigsten linken Intellektuellen. Er lehrte unter anderem an den Universitäten in Frankfurt am Main und Berlin, ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Stiftung und Gründungsmitglied dieser Zeitschrift.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/bildung-und-gesellschaftliche-arbeitsteilung

#Alternativen

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Diejenigen mit höheren Bildungsabschlüssen erzielen tendenziell höhere Einkommen erzielen und kommen in den Genuss von weiteren gesellschaftlichen Vorteilen. Für viele Tätigkeiten werden jedoch keine hochschulisch erworbenen Kompetenzen benötigt. Für eine linke Diskussion über Bildungsgerechtigkeit stellt sich die Frage, wie mit dem Problem der gesellschaftlich notwendigen einfachen körperlichen Arbeit umzugehen ist. Wenn also nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Lebensschicksal eines Teils der Bevölkerung immer weiter die anstrengende körperliche Arbeit sein wird, dann muss über die Frage der Bildungsgerechtigkeit hinausgegangen und die Frage nach einer demokratischen Arbeitsteilung gestellt werden.

Der Autor zeigt: Starre, institutionalisierte Lebensabschnitte könnten durchlässiger oder aufgelöst werden. Es könnte auch dazu führen, dass überhaupt weniger gearbeitet werden muss. Häufige Wechsel zwischen Phasen körperlicher Arbeit, Muße und Bildung wären denkbar.

Foto: Jeswin Thomas / Unsplash

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Der Umstieg vom Auto auf den öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) ist aus Gerechtigkeitsgründen unumgänglich. Doch wer soll in Zukunft den ÖPNV finanzieren? Die Frage gewinnt zunehmend an Brisanz, da der Finanzierungsbedarf in den nächsten Jahren deutlich steigen dürfte – nicht nur weil der Nahverkehr massiv ausgebaut werden soll, sondern auch, weil verschiedene Akteure ihn ticketfrei gestalten wollen. Die zusätzlichen Finanzierungskosten können nicht nur auf die Bürger*innen abgewälzt werden. Deswegen wird in der Fachwelt in den letzten Jahren verstärkt diskutiert, neue Finanzierungsinstrumente einzuführen. Eine Nahverkehrsabgabe und andere Instrumente, die die sozial-ökologische Mobilitätswende möglich machen, werden in dieser Publikation vorgestellt. Als Beispiele werden die Debatten in Berlin und Bremen dargestellt. Insbesondere das Bremer Beispiel liefert praktische Inspiration: Dort liegt der Vorschlag auf dem Tisch, die Ticketfreiheit über eine Erhöhung der Grundsteuer zu finanzieren. Das hat insbesondere mit der profilierten Nichtregierungsorganisation «Einfach Einsteigen» und mit einer progressiven SPD in Bremen zu tun. In der Hansestadt könnte der Nulltarif in den nächsten Jahren tatsächlich Wirklichkeit werden.

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Oft ist Schule mühevoll und einschüchternd, eher Lernfabrik als Lebensraum. In kaum einem Land entscheidet die soziale Herkunft so sehr über den Bildungsweg wie in Deutschland. Wenn Schulen auch noch in einem Leistungswettbewerb stehen, erscheinen Kinder mit schlechteren Startbedingungen als «Problem». Die Ungerechtigkeit ist enorm.

Die Zeitschrift «LuXemburg» 2/2021 bringt frischen Wind in die Bildungsdiskussion: Was sind die großen und kleinen Schritte hin zu einer Schule für alle? Was fordern Schüler:innen und wie können Lehrer:innen von ihnen lernen? Warum ist Schule für Kinder aus Arbeiter:innen- und Migrant:innen-Familien oft ein Spießrutenlauf? Wie steht es um die berufliche Bildung? Wie können Lehrer:innen, Eltern und Schüler:innen gemeinsam für bessere Bedingungen kämpfen?

Die Ausgabe sucht, was SCHULE MACHEN kann, zeigt Klassenzimmer, in denen kooperativ und ohne Druck gelernt wird sowie Schulgebäude, die lebendiger Anlaufpunkt für das soziale Leben in der Nachbarschaft sind.

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Eingriffe im Sinne der größeren Flächengerechtigkeit im Verkehr sind möglich und rechtlich zulässig, lautet das Ergebnis dieses Gutachtens. Damit könnte der Umbau von Straßen und Städte mit Vorfahrt für den öffentlichem Nahverkehr, Fahrrad- und Fußverkehr schneller vorangetrieben sowie mehr Platz für Grün, Erholung, Spiel und Begegnung geschaffen werden.

Dies kann durch die Ausweisung autofreier innenstädtischer Zonen gelingen. Umfangreiche Straßenumbauten sind unnötig. Straßen könnten zunächst mit einfachen Pollern für den (Durchgangs-)Verkehr gesperrt, die entsprechenden Zonen mit Verkehrsschildern ausgewiesen werden.

Rebellische Kommunen und Bezirke könnten die Grenzen der Gesetzeslage austesten. Die Rechtslage ist nicht unumstritten und durchaus zu verbessern – aber schon jetzt können Maßnahmen in die Wege geleitet werden. Eines der prominentesten Beispiele hierfür sind die sogenannten Pop-up-Radwegen in Berlin.

Friedrichstraße Berlin-Mitte im September 2020 für Autos gesperrt und als Radweg mit umgebenden Aufenthaltsflächen gestaltet. Foto: Leonhard Lenz, Wikimedia Commons, CC0

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Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurden plötzlich jene in «systemrelevanten Berufen» – zum Beispiel Ärzt*innen, Reinigungskräfte, IT-Systemadministrator*innen und Kraftfahrer*innen, Lehrer*innen und Kranken- und Altenpfleger*innen, Kassierer*innen – viel beklatschte Held*innen. Seither wird darüber diskutiert, mit welchen Maßnahmen solche Tätigkeiten aufgewertet werden können – sowohl was die Bezahlung als auch die öffentliche Wertschätzung angeht.

Das Ergebnis dieser Studie: Eine zielgerichtete und nachhaltige Aufwertung systemrelevanter Arbeit kann am besten erreicht werden durch eine Kombination aus Sonderzahlungen und substanziellen Lohnerhöhungen, begleitet von einer Stärkung der Tarifbindung sowie Maßnahmen zur Zurückdrängung des Niedriglohnsektors. Ebenso wichtig sind Maßnahmen gegen Lohnungleichheiten zwischen Männern und Frauen, wozu eine Ausweitung der Partnermonate beim Elterngeld, ein Ausbau der Kinderbetreuung sowie die Förderung flexibler Arbeitszeitmodelle gehören.

Foto: Logan Weaver / Unsplash

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Getrieben von der Möglichkeit, durch den Betrieb eines Krankenhauses Gewinne zu erzielen, aber auch vom Risiko, bei negativen Bilanzen den Bestand der Abteilung oder des gesamten Krankenhauses zu gefährden, sind betriebswirtschaftliche Kennzahlen zu den wichtigsten Zielsetzungen jeder Krankenhausleitung avanciert. Um dieser Situation planerisch entgegenzuwirken, müssen die Krankenhausplanung und das Landesrecht zu Steuerungsinstrumenten ausgebaut und als solche genutzt werden. Ganz nebenbei wäre so zudem ein Instrument entwickelt, um (auf Landesebene) der Gewinnerzielung im Gesundheitsbereich entgegenzuwirken; also eine profit- gegen eine bedarfsorientierte Gesundheitsversorgung für alle zu tauschen. Ohne darauf zu warten, bis der Kampf für ein anderes Finanzierungsmodell bundesweit gewonnen ist. Wie aber ist dies möglich?

Auf diese Frage formuliert das vorliegende Rechtsgutachten Antworten.

Claudio Schwarz / unsplah

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Welchen Beitrag leisten Genossenschaften zur gesellschaftlichen Transformation? Sind sie ein Baustein im Prozess hin zur Überwindung kapitalistischer Verhältnisse? Ein «dritter Weg» zwischen Privateigentum und Vergesellschaftung? Oder sind sie Wohlfühlinseln, die die Verhältnisse stabilisieren, anstatt sie zu verändern?

Der erste Teil (Kapitel 1 bis 3) der Broschüre beschreibt, welche Prozesse in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen haben, dass sich viele Genossenschaften von ihrer Ursprungsidee entfernt haben. Im zweiten Teil (Kapitel 4 bis 6) wird beleuchtet, worin trotz alledem die Potenziale der Genossenschaften bestehen und welche Rahmenbedingungen nötig sind, damit ihre gemeinwirtschaftliche Funktion wieder zum Tragen kommen kann. Eines ist dabei klar: Diese Veränderungen können nicht «von oben» verordnet werden, sondern müssen durch aktive Mitglieder in den Genossenschaften und auf der Straße – gemeinsam mit den stadtpolitischen Initiativen – erkämpft werden. Darum gibt der abschließende Teil Hilfestellungen, wie Mitglieder in Genossenschaften aktiv werden können (Kapitel 7).

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#Migration #Alternativen
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Eine andere Migrationspolitik ist nicht nur möglich, sie passiert schon! Dies zeigten lokale Politiker*innen, Zivilgesellschaft, und Forscher*innen bei der Launch-Veranstaltung der Webseite www.moving-cities.eu . Sie ist als Instrument für Kommunen und zivilgesellschaftliche Organisationen gedacht, die auf der Suche nach Anregungen und Strategien zur Veränderung ihrer lokalen Migrationspolitik sind.

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Kommunen, häufig Träger staatlicher Leistungen und Institutionen wie Stadtwerke oder Krankenhäuser, geraten immer mehr finanziell unter Druck und müssen sich dem «Privatisierungsdruck» und den «Sachzwang»-Argumentationen erwehren oder sogar beugen. Dass dies aber kein politisches Dogma ist, zeigen zahlreiche Rekommunalisierungen. Die Broschüre gibt einen Überblick über die Entwicklung von Rekommunalisierungen (internationale wie bundesweit) sowie über die rechtlichen Rahmenbedingungen. Aus verschiedenen Branchen (Wasser, Energie, Abfall, Krankenhäuser, Wohnen, Verkehr etc.) werden Beispiele der Rekommunalisierung in Deutschland und damit verbundene Herausforderungen dargestellt. Als Argumentationshilfe richtet sich die Broschüre gleichermaßen an kommunale Amts- und Mandatsträger*innen, lokalpolitisch engagierte Menschen in Vereinen / Initiativen sowie interessierte Menschen, die sich konkret mit öffentlicher Daseinsvorsorge auseinandersetzen möchten.

Dresden; Foto: Martin Fahlander / Unsplash

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Die durch das Corona-Virus verursachte Krise hat zugespitzt gezeigt, wie extrem mangelhaft das System der sozialen Infrastrukturen ist, sei es im Bereich der Gesundheitsämter oder sonstiger krisenrelevanter kommunaler Stellen, in der Pflege oder im Bildungsbereich. Wollen wir, dass unsere Gesellschaft für kommende Krisen besser gewappnet und insgesamt lebenswerter, (geschlechter-)gerechter und solidarischer ist, dann müssen soziale Infrastrukturen deutlich ausgebaut und verbessert werden. Dies muss Hand in Hand gehen mit den notwendigen Schritten einer sozial-ökologischen Wende. Das alles kostet viel Geld. Deshalb wird es entscheidend sein, signifikante Umverteilungsmaßnahmen und ein Ende der Schuldenbremse zusammen zu verfolgen. Gemeinsam mit anderen Akteuren muss es darum gehen, Strategien, Projekte und Aktionen zu entwickeln, um das Thema einer progressiven und solidarischen Finanz- und Umverteilungspolitik stärker auf die Agenda zu setzen.

Foto: Oliver Sand / Unsplash

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Wie geht Sozialstaat feministisch?

August 2020 • Sabine Skubsch

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

Krise, Feminismus, Hausarbeiterinnen, Migration, Alternativen, Pflege#Krise #Feminismus #Hausarbeiterinnen #Migration #Alternativen #Pflege

Feministischen Bewegungen ist es über viele Jahrzehnte hinweg gelungen, die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit gesellschaftlich zum Thema zu machen. Spätestens mit der Coronakrise ist diese Frage auch im medialen Mainstream angelangt. Wie eine solche Umverteilung von Care-Arbeit zu erreichen wäre, dazu werden in linken Debatten unterschiedliche Ansätze diskutiert – vom bedingungslosen Grundeinkommen über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Arbeitszeitverkürzung, sozial- und familienpolitische Maßnahmen oder einen Ausbau sozialer Infrastrukturen. Was ist aus feministischer Sicht zentral? Und was muss verändert werden, damit Sorgearbeit genauso wertgeschätzt wird, wie die Güterproduktion und der Erwerbsarbeit nicht länger nachgeordnet wird?

„Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ kreist um die Erwerbsarbeit

Das Konzept „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ wird nach wie vor von allen Parteien (mit Ausnahme der AfD) propagiert. Es deckt sich mit dem Wunsch der meisten jungen Paare, die - zumindest in der Theorie – weniger Erwerbsarbeit machen und sich die Kindererziehung teilen wollen. Bei sozialstaatlichen Maßnahmen zur „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ steht insbesondere die Sorge der Arbeitgeberverbände um das zukünftige Arbeitskräftepotenzial im Vordergrund. Der auf Wachstum basierende Kapitalismus ist heute mehr denn je auf gut ausgebildete Arbeitskräfte angewiesen. Die Wirtschaft braucht Frauen, die arbeiten, und sie braucht Menschen, die eine gut ausgebildete nächste Generation heranziehen, was historisch den Frauen zugewiesen wurde. Ziel der staatlichen Familienpolitik ist es daher, die Geburtenrate zu steigern, qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen und die „stille Reserve“, also Frauen mit kleinen Kindern, für die Wirtschaft zu mobilisieren. Ganz in diesem Sinne wirkt das von der ehemaligen Familienministerin Ursula von der Leyen eingeführte Elternzeitgesetz[1] als eine bevölkerungspolitische Maßnahme (vgl. Schultz 2012).

Gut ausgebildeten Frauen gibt es einen Anreiz, Kinder zu bekommen und vollzeitnah zu arbeiten. Gleichzeitig haben die sogenannten „Vätermonate“[2] einen enormen kulturellen Wandel in Bezug auf die geschlechtliche Rollenverteilung bewirkt.

Vor 20 Jahren war es in vielen Branchen noch undenkbar, dass Männer in Teilzeit arbeiten oder Elternmonate nehmen. Der Neoliberalismus ersetzte das „Mann-als-Ernährer-der-Familie-Ideal“ durch das „Alle-Erwachsenen-müssen-arbeiten-Modell“[3] .

Frauen wurden zwar von der Abhängigkeit vom Ehemann befreit, aber an die Stelle der abhängigen Hausfrau wurde die rund um die Uhr aktive Familienmanagerin gesetzt. In der Coronakrise hat sich die Widersprüchlichkeit neuer Arbeitsformen, wie Homeoffice, gezeigt. Durch ständige Erreichbarkeit und Multitasking werden vor allem Mütter dauerhaft überfordert. Unter dem Motto „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ werden Maßnahmen auf den Weg gebracht, die die Zumutung der Mehrfachbelastung abschwächen sollen.

Grundsätzlich infrage gestellt wird diese Politik jedoch nicht, schließlich bleibt sie orientiert an den Erfordernissen der Erwerbsarbeit. Bei der Kinderbetreuung beispielsweise geht es stets darum, dass die Mütter zur Arbeit gehen können. Die Kita-Öffnungszeiten erlauben nicht, zu einer politischen Versammlung oder zum Tanzen zu gehen. Völlig unglaubwürdig klingt das Versprechen von „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ für Frauen in schlecht bezahlten Jobs, bei denen es, obwohl sie ständig hin- und herhasten, einfach nicht zum Leben reicht. Wenig verwunderlich ist es dann, wenn diese Frauen Parteien, die ihnen nicht mehr zu bieten haben, den Rücken kehren.

Inwieweit ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) zu einer gerechten Verteilung der Sorgearbeit beitragen kann, ist in feministischen Diskussionen umstritten. So würde es zwar finanziellen Spielraum für Eltern schaffen, die Arbeit untereinander anders verteilen wollen. Einen Anreiz genau das zu tun, bietet es aber nicht. Da das BGE-Konzept vom Aspekt der sozialen Absicherung ausgeht und die Frage der Verteilung der Arbeit ausklammert, könnte es genauso gut dazu genutzt werden, die traditionelle Rollenverteilung zu stabilisieren.

Verkürzung der Arbeitszeit geht in die richtige Richtung

Die Forderung nach einer Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ist in vielen feministischen Debatten (zu Recht) ein realpolitischer Favorit. Verbündete finden sich in den Gewerkschaften und bei Politiker*innen und Parteien, die das Soziale und die Arbeit in den Vordergrund stellen. Einen Ansatz dazu entwirft Bernd Riexinger in seinem Buch „Neue Klassenpolitik“. Riexinger unternimmt dabei den Versuch einer Abkehr von einer Definition der Arbeiterklasse, die den männlichen Vollzeit-Industriearbeiter als das Normale konstruiert. Die heutigen Lohnabhängigen sind weiblicher, migrantischer und häufig im Dienstleistungsbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu finden, so seine Klassenanalyse. Als realpolitisches Ziel formuliert Riexinger ein „neues Normalarbeitsverhältnis“ von 28 bis 35 Stunden.

Diese Forderung geht in die richtige Richtung, aber sie spricht vor allem Beschäftigte mit einem auskömmlich bezahlten, unbefristeten Vollzeit-Arbeitsverhältnis an. Für die Mehrheit der Frauen sind aber prekäre, schlecht bezahlte oder Teilzeitarbeitsverhältnisse seit langem die Realität. Wie Menschen, die anderthalb Jobs brauchen, um mit dem unzureichenden Lohn über die Runden kommen, die sich mit Minijobs und Teilzeit rumschlagen und sich nichts mehr wünschen als einen unbefristeten Vollzeit-Job, für diese Forderung mobilisiert werden sollen, bleibt eine Herausforderung.

Es klafft noch eine weitere politische Lücke zwischen Bernd Riexingers eindringlicher Beschreibung der heterogenen prekären Arbeitswelt und der Forderung nach einer „neuen Normalarbeitszeit“. Weder eine Kassiererin mit Minijob, noch eine befristet beschäftigte Sozialarbeiterin oder eine Beschäftigte in einer Großküche fühlt sich angesprochen, wenn sie am „atypischen Rand“ verortet wird. Auch bleibt letztlich für sie unklar, wie eine Umverteilung von Arbeit so aussehen kann, dass eine „Normalarbeit“ im Sinne des „neuen Normalarbeitsverhältnis“ für sie in erreichbare Zukunft rückt.

Eine feministische Erzählung muss deshalb die gesellschaftlich notwendige „systemrelevante“ Arbeit aufwerten. Diese muss sich an dem ungeheuren Produzentenstolz messen, der früher im Bergbau vorherrschte und den man heute in der Automobilindustrie findet. Der ver.di-Tarif-Slogan „Wir sind es wert“ geht in diese Richtung. Im Pflegebereich empfinden die Beschäftigten beispielsweise ein hohes Maß an Gebrauchswertstolz und sind sich der Lebensnotwendigkeit ihrer Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes voll bewusst – nur so erklären sich die endlosen Überstunden, die unter den gegenwärtigen Bedingungen nötig sind, um ihren Job den eigenen Ansprüchen gemäß auszufüllen. Statt diesen Produzentenstolz neoliberal ausbeuten zu lassen, gilt es ihn in kämpferisches Selbstbewusstsein zu wenden, wie es den Aktiven in den Auseinandersetzungen der Berliner Charité gelungen ist.

Um offensive Kämpfe führen zu können, muss sich linke Politik auch für Rahmenbedingungen einsetzen, die dies ermöglichen. Wie soll sich sonst eine wachsende Anzahl von prekären (insbesondere weiblichen) Arbeitnehmer*innen von einer linken Politik angesprochen fühlen, die an Regularien anknüpft, die für sie noch nie gegolten haben. Die Forderung nach einer Stärkung der Betriebsräte verfängt bei vielen auch deshalb nicht, weil das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) so gestrickt ist, dass Betriebsräte im Wesentlichen die Interessen der Stammbelegschaft vertreten. Klassenbewusste Politik muss dafür eintreten, dass der Betriebsbegriff im BetrVG so geändert wird, dass alle abhängig Beschäftigten in Betriebsräten vertreten sein können. Eine feministische Klassenpolitik muss auch in solchen Fragen in die Offensive kommen.

Nicht nur Lebensrisiken absichern, sondern das ganze Leben in den Mittelpunkt stellen

Anfang 2020 hat die LINKE ein „Konzept für einen demokratischen Sozialstaat der Zukunft“ vorgestellt, in dem die feministische Forderung nach einer Neuverteilung der Sorgearbeit aber leider nicht Gegenstand ist. Das LINKE Sozialstaatkonzept zielt auf einen „aktiven Sozialstaat, der die Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Pflegebedürftigkeit und Behinderung sowie Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit solidarisch absichert“. Schwangerschaft, Geburt, Kindererziehung und Alter sind aber keine „Lebensrisiken“, es sind Phasen unseres Lebens, in denen wir (mehr als sonst) auf die Sorge anderer angewiesen sind. Wenn Krankheit und Alter „Lebensrisiken“ sind, was ist dann der Normalzustand? Der fitte, gesunde, nichtbehinderte, eher männliche Arbeitnehmer zwischen 18 und 60? Aus feministischer Perspektive braucht es einen Paradigmenwechsel: Alle Menschen sind – mal mehr, mal weniger – auf die Sorge anderer angewiesen. Kriterium für gutes Leben ist, in einer Situation der Hilfsbedürftigkeit versorgt zu werden und ebenso für andere Sorge zu leisten, ohne unangemessene Opfer bringen zu müssen (vgl. Winker 2015).

In die Strategiedebatte der LINKEN Anfang 2020 mischte sich ein im Zuge feministischer Vernetzung in der Partei entstandenes „Feministisches Autor*innenkollektiv“ ein. In ihrem Papier wird eine sozialpolitische Richtung angedeutet, die das ganze Leben in den Mittelpunkt rückt. Dabei geht um viel mehr, als nur ein paar feministische Korrekturen. Nämlich um „eine Gesellschaft, deren Ökonomie sich an den gemeinsam ermittelten Bedürfnissen orientiert, nicht an Wachstum und Profit. Eine Gesellschaft, in der Kinder, Alte und Kranke nicht wegorganisiert werden müssen. ... Statt von der Erwerbsarbeit ausgehend zu überlegen, wie diese zum Leben passt, schlagen wir vor, von der Frage auszugehen, wie wir leben wollen, und daraus abzuleiten, wie wir folglich produzieren und arbeiten müssen und welche Arbeiten wir brauchen.“ Nur, wenn wir einen echten Perspektivwechsel vollziehen und ganz anders auf die zu regelnden Dinge blicken, kommen auch neue Lösungen in den Blick. Lösungen, die „das ganze Leben“ (Frigga Haug) zum Gegenstand auch sozialpolitischer Überlegungen haben.

Feministische Positionen in der Sozialstaatsdiskussion

Erwerbs- und Sorgearbeit müssen dann nicht „vereinbart“, sondern beide müssen verändert und umverteilt werden. Schritte in diese Richtung sind: Erhöhung der bisherigen zwei auf zwölf „Vätermonate“ wie es die LINKE fordert[4] und ein vom Einkommen unabhängiges Elterngeld. Das von der SPD geforderte Familiengeld[5] geht schon in diese Richtung.

Gleichzeitig müssen sozialstaatliche Anreize zur Beibehaltung der traditionellen Rollenverteilung beseitigt werden: Kein Ehegattensplitting, das Familien, in denen einer viel und der andere wenig oder gar nichts verdient, steuerlich bevorzugt; dafür ein stärkere Gewichtung der Sorgearbeit bei den Rentenansprüchen; keine beitragsfreie Mitversicherung bei der Krankenversicherung; stattdessen eine Bürgerversicherung für alle und eine Pflegeversicherung, die die gesamten Pflegekosten abdeckt. Familien stehen oft vor dem Dilemma, dass entweder die hohen Zuzahlungen für Pflegeheime alle Ersparnisse aufbrauchen oder meist die Frauen die Pflege zu Hause übernehmen müssen – häufig unterstützt durch Migrantinnen, die in einer tolerierten Informalität einen relevanten Teil der häuslichen Pflege leisten.

Eine weitere wichtige Säule ist die Stärkung der öffentlichen sozialen Infrastruktur. Bildung (Kitas und Schulen), Gesundheit und Pflege gehören zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Ein entscheidender Kampf um die Zukunft des Sozialstaats wird gegen die profitorientierte Privatisierung von Krankenhäusern, Kitas und Pflegeheimen geführt werden müssen. Die Daseinsvorsorge muss in Kommunales oder anderes Gemeinschaftseigentum zurückgeführt werden und allen kostenlos oder gegen geringes Entgelt zur Verfügung gestellt werden.

Sozialstaat, Solidarität und Demokratie am Beispiel von Senior*innenbetreuung und Pflege

Eine feministische Sozialstaatsdiskussion kann sich nicht auf die paternalistische Vorstellung beschränken, dass der Staat alles - möglichst zum Wohle der Bürger*innen - regeln soll. Sozialstaatliche Maßnahmen dürfen die Menschen nicht auf Objekte der Fürsorge reduzieren, sondern müssen zur Beteiligung anregen, mit dem Ziel ein solidarisches Miteinander zu fördern. Beispiele dafür sind die Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen Wohn-, Produktions- und Verteilungsgenossenschaften, die auf Selbsthilfe und Kooperation beruhen. In den 1960er und 1970er Jahren bildeten sich überall selbstverwaltete Kitas, selbstinitiierte Stadtteilhilfen, Arbeitskollektive, die leider oft die neoliberalen Reformen nicht überlebten.

Eine feministische Sozialstaatsdebatte muss mit der Diskussion um solidarische Praxen verbunden werden. Es geht nicht nur um soziale Absicherung, sondern um Mitgestaltung und Partizipation in allen Lebensabschnitten: Selbstbestimmung in der Geburtshilfe, altersgemäße Beteiligung von Schüler*innen an der Strukturierung des Schulalltags, selbstverwaltete genossenschaftliche Wohnprojekte und schließlich auch ein gutes selbstbestimmtes Leben im Alter. Die Kampagne der LINKEN zu Gesundheit und Pflege stößt bei den Beschäftigten auf viel Anerkennung. Aber linke Pflege-Politik kann sich nicht auf die Ansprache der bezahlten Beschäftigten in der Pflege beschränken. Sie muss auch die Alten und Kranken und diejenigen, die zu Hause pflegen (fast ausschließlich Frauen) adressieren. Wie selbstbestimmte Behindertenpolitik schon lange fordert, müssen Menschen, die stark auf die Sorge anderer angewiesen sind, als Subjekte ernst genommen werden. Für viele ältere und behinderte Menschen war es in der Coronazeit unbefriedigend, dass sie zwar durch Isolationsmaßnahmen geschützt, aber nicht nach ihren Wünschen gefragt wurden. Wochenlanger Lockdown in Pflegeeinrichtungen ohne Kontakt zu den Angehörigen haben viele Bewohner*innen als „eingesperrt sein“ empfunden.

Um in solchen Fällen angemessene Lösungen zu finden, muss die soziale Infrastruktur demokratisiert werden. Carenehmer*innen und deren Angehörige genauso wie Caregeber*innen müssen an Entscheidungen sozialer Institutionen beteiligt werden. Gabriele Winker schlägt hierfür den Aufbau von „Care-Räten“ vor, in denen Personen, die bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit leisten und empfangen, vertreten sind. Sie sollen Öffentlichkeit für Missstände in Pflege, Erziehung und Sozialem schaffen und politische Vorschläge für gute Pflege, Betreuung und Erziehung aus Sicht der Betroffenen erarbeiten. Perspektivisch sollen diese Care-Räte in alle kommunalen Entscheidungen, die die Daseinsvorsorge betreffen, eingebunden werden. Statt kommerzieller Pflegeheime müssen Kommunen (finanziert vom Bund) eine wohnortnahe stadtteil- oder dorfbezogene Versorgung für Senior*innen schaffen. Dazu gehören selbstorganisierte Projekte wie Mehrgenerationen-Wohnen, Alters-WGs oder genossenschaftlich organisierte Pflegedienste.

Der Wunsch nach solchen Projekten ist allerorten vorhanden. Oft scheitern sie aber an der Finanzierung und an fehlender Planungskompetenz. Zur Unterstützung muss die öffentliche Hand eine Struktur von Projektmanager*innen, Betriebswirt*innen und Sozialarbeiter*innen zur Verfügung stellen. Ein gutes Beispiel für eine wohnortnahe Infrastruktur hat die Bürgergemeinschaft Eichstetten in einer ländlichen Region am Kaiserstuhl geschaffen. Das Motto lautet: „Wenn die Menschen nicht mehr zum Leben gehen können, muss das Leben eben zu den Menschen kommen.“ Ziel ist, den Bewohner*innen alle Dienste anzubieten, die es ermöglichen bis ins hohe Alter ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben im Ort zu führen.

Herausforderungen einer feministischen Sozialstaatsdiskussionen

Der Feminismus hierzulande ist weitgehend weiß, mittelständisch und akademisch geprägt. Es fehlen Repräsentantinnen der migrantischen und autochthonen Arbeiterinnen, die abends die Büros putzen oder morgens die Brötchen verkaufen. Um dies zu ändern, ist es nötig, allen in Deutschland lebenden Menschen – Geflüchtete und Illegalisierte eingeschlossen – einen Zugang zum sozialstaatlichen Netz zu verschaffen. Dies nicht zu tun, ist nicht nur unsozial, sondern reproduziert dauerhaft ethnische Abwertungen und belässt migrantische Frauen in ihren vielfältigen Abhängigkeiten zwischen Ehemann und prekärer oder nicht-legaler Beschäftigung. Der Kapitalismus, der alles zur Ware macht, kommodifiziert zunehmend die Haus- und Sorgearbeit.

Die Coronakrise hat zumindest dazu geführt, dass die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte wahrgenommen werden. Dass in den Küchen und im Reinigungsdienst der profitorientierten Krankenhäuser und Pflegeheime sowie in Privathaushalten meist weibliche und migrantische Arbeitskräfte oft unter Mindestlohn und ohne die geltende rechtliche Absicherung beschäftigt werden, wird aber verdrängt. Feministinnen fordern mehr Repräsentation von Frauen, was richtig ist. Mehr Frauen sollen verantwortliche Positionen und die Hälfte der Abgeordnetenplätze (Paritégesetz) besetzen. Feministisches Ziel kann aber nicht sein, dass während mehr Frauen in die Parlamente einziehen, andere weiterhin schlecht entlohnt und mit kaum Teilhabemöglichkeiten putzen, kochen und pflegen. Forderungen nach stärkerer Vertretung von Frauen drohen neoliberal abzudriften, wenn nicht gleichzeitig die Frage der ungleichen Verteilung der Sorgearbeit, der sozialen und der rechtlichen Ungleichheit angegangen wird.

Fußnoten

[1] Elterngeld bekommen Mütter und Väter, wenn sie nach der Geburt des Kindes nicht oder nur noch wenig arbeiten wollen. Die staatliche Unterstützung beträgt 300 Euro bis 1.800 Euro im Monat, abhängig vom Netto-Verdienst, das der zu Hause bleibende Elternteil vor der Geburt des Kindes hatte.

[2] Das Elterngeld wird maximal 14 Monate lang gezahlt, wenn sich beide an der Betreuung beteiligen. Jedes Elternteil muss dafür mindestens zwei Monate zu Hause bleiben.

[3] In zweifacher Hinsicht ist der vielfach genutzte Ausdruck „Doppelverdiener-Familie“ irreführend: erstens, weil er auf das Ideal der Familie mit dem Mann als Ernährer Bezug nimmt und zweitens, weil er suggeriert, ein Haushalt hätte nun das Doppelte des zum Leben benötigten Einkommens.

[4] „Zwölf Monate Elterngeldanspruch pro Elternteil (bzw. 24 Monate für Alleinerziehende), der individuell und nicht übertragbar ist.“(Sozialstaatsprogramm DIE LINKEN)

[5] Familienarbeitszeit-Modell: nach dem Elterngeldbezug soll es drei Jahre lang eine Subvention geben, wenn beide Eltern ihre Arbeitszeiten angleichen (bei Alleinerziehenden sind partnerunabhängig 80 Prozent die Richtschnur).  

Literatur

Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution, Bielefeld

Sabine Skubsch lebt in Karlsruhe und ist Diplompädagogin und Lehrerin. Sie ist Betriebsrätin bei einem freien sozialen Träger und aktiv im Landesvorstand der LINKEN in Baden Württemberg. Außerdem ist sie Mitglied in der Frauenredaktion von Das Argument und in der Redaktion der Zeitschrift LuXemburg.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wie-geht-sozialstaat-feministisch

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

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Feministischen Bewegungen ist es über viele Jahrzehnte hinweg gelungen, die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit gesellschaftlich zum Thema zu machen. Spätestens mit der Coronakrise ist diese Frage auch im medialen Mainstream angelangt. Wie eine solche Umverteilung von Care-Arbeit zu erreichen wäre, dazu werden in linken Debatten unterschiedliche Ansätze diskutiert – vom bedingungslosen Grundeinkommen über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Arbeitszeitverkürzung, sozial- und familienpolitische Maßnahmen oder einen Ausbau sozialer Infrastrukturen. Was ist aus feministischer Sicht zentral? Und was muss verändert werden, damit Sorgearbeit genauso wertgeschätzt wird, wie die Güterproduktion und der Erwerbsarbeit nicht länger nachgeordnet wird?

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Reichtum des Öffentlichen

Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht

August 2020

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen beinharte Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor. Die Unternehmen versuchen, ihre Verluste zu sozialisieren. Nach den öffentlichen Schulden drohen eine Neuauflage von Austeritätspolitiken ebenso wie neue Angriffe der Arbeitgeberseite.

Die Verteidigung des Sozialstaats geht also in eine neue Runde. Doch sie sollte nicht als Abwehrkampf geführt werden, als ein Versuch, das Bedrohte zu konservieren. Stattdessen ist es Zeit, den Sozialstaat gründlich zu erneuern und seine alten Fehler zu beheben. Doch wie sieht ein Sozialstaat aus, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist? Wie lässt sich verhindern, dass sich die Spaltung der Subalternen weiter vertieft? In Krisen drohen die Kapitalfraktionen ihre Spielräume auf Kosten der Lohnabhängigen zu erweitern. Wie kann eine Alternative dazu aussehen? Und wo wird jetzt schon dafür gekämpft?

Krise an zwei Fronten

Bisher war die Finanzierung des Sozialstaates an wirtschaftliches Wachstum gebunden. In einem hart erkämpften historischen Klassenkompromiss wurden Sozialleistungen auf der Grundlage stetigen Wachstums finanziert und schrittweise ausgebaut. Dies war ein Kompromiss, der lange nicht zulasten der Profite ging. Als die Profitrate zu fallen begann, wurde er mit der neoliberalen Offensive seit Beginn der 1980er Jahre einseitig aufgekündigt. Der Sozialstaat geriet mehr und mehr unter Druck. Angesichts von Globalisierung und Transnationalisierung galt ein starker Sozialstaat als Negativfaktor im internationalen Wettbewerb (auch wenn inzwischen im Sinne des „social investment state“ eine produktivistische Neuorientierung erfolgt ist; vgl. Dowling 2016). Die Begründung: Unter dem Kostendruck der Konkurrenz könnten eben nicht alle Wohltaten finanziert werden. Nach und nach wurden die Systeme sozialer Sicherung ausgehebelt und neoliberal umgebaut. Mit dem sogenannten New Public Management gerieten betriebswirtschaftliche Kriterien zum Maßstab des Handelns auf sämtlichen Feldern des Sozialsystems (vgl. Wohlfahrt 2015).

Seitdem kriselt der Sozialstaat an zwei Fronten: Einerseits haben Jahrzehnte der neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik den Bereich sozialer Infrastrukturen und öffentlicher Dienste finanziell und personell ausgezehrt – vom Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Bereich über die Wohnraumversorgung bis hin zu Kultur und Mobilität. Es fehlt an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, aber auch an Verwaltungspersonal, Steuerprüfer*innen oder Planer*innen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beziffert die Lücke schon jetzt auf über eine Millionen Arbeitskräfte und bei weiter dynamisch wachsendem Bedarf auf bis zu vier Millionen (Ötsch u.a. 2020).

Andererseits führte die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu einem längst überwunden geglaubten Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut.[1] Die Ursachen sind vielfältig und hängen doch zusammen: Deregulierung der Arbeitsmärkte und endemische Ausbreitung von Niedriglöhnen und unfreiwilliger Teilzeit, Privatisierung und Ausdünnung der sozialen Infrastrukturen, steigende Mieten sowie eine ungerechte Besteuerungspolitik, die hohe Einkommen sowie große Vermögen begünstigt. In der Folge sehen sich Millionen Menschen mit unsicheren Zukunftsaussichten konfrontiert: Aufgrund von Arbeitslosigkeit, aufgrund von Soloselbständigkeit oder Mini- und Midi-Jobs erwerben immer weniger Menschen ausreichende Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen – unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen. Aber selbst dann, wenn Ansprüche bestehen, reicht das Leistungsniveau oftmals nicht länger für ein Leben ohne Armut. Mit Niedriglöhnen oder erzwungener Teilzeit lässt sich keine vernünftige Rente erwirtschaften oder gar privat vorsorgen. Für große Teile der Bevölkerung bieten die bestehenden Sicherungssysteme keine Perspektive mehr – das Sicherungsversprechen des Sozialstaates verliert an Glaubwürdigkeit und muss grundlegend erneuert werden.

Kein Zurück zum „alten“ Sozialstaat

Wer den Sozialstaat erhalten will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sich seine Gestalt wandeln muss. Um für die neu zusammengesetzte Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts attraktiv zu sein, muss das Konzept von Sozialstaatlichkeit erweitert und verändert werden. Dazu gilt es, linke Kritiken an seiner bisherigen Verfasstheit aufzunehmen.

Der Sozialstaat war immer gekoppelt an spezifische Produktions- und Lebensweisen, an ein bestimmtes Geschlechterregime und an das damit verbundene Modell von Erwerbsarbeit und Reproduktion. Feminist*innen haben die Norm des männlichen Alleinverdieners im fordistischen Wohlfahrtsstaat kritisiert. Soziale Absicherung ist darin an (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit und an eine weitgehend lückenlose Erwerbsbiografie gebunden. Gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, die historisch an Frauen delegiert und in den Verantwortungsbereich der privaten Haushalte verlagert wurde, erfährt weder Anerkennung noch soziale Absicherung. Damit ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit systematisch in das fordistische Wohlfahrtssystem eingeschrieben. Es verstärkt zudem mit seinem patriarchalen Familienmodell die Abhängigkeit von Frauen und benachteiligt queere Menschen. Obgleich sich die Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse inzwischen deutlich gewandelt haben, bleiben die Verkopplung von sozialer Absicherung und Erwerbstätigkeit sowie die Privilegierung eines heteronormativen Ehe- und Familienmodells bestehen. Deswegen: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Erneuerung des Sozialstaates.

Die meisten Leistungen des Sozialstaates sind außerdem an nationale Zugehörigkeit gebunden. Es profitieren von ihnen nur diejenigen, die über eine bestimmte Staatsbürgerschaft verfügen oder über die offizielle Lohnarbeit sozialversichert sind. Geflüchtete, Personen im Asylverfahren und insbesondere Illegalisierte haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, obwohl Letztere in Sektoren wie Hausarbeit, Pflege, Bau, Landwirtschaft, Sexarbeit, Hotellerie, Gastgewerbe oder Reinigungsgewerbe einen elementaren Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung leisten (vgl. Behr 2010). Über das Aufenthaltsrecht wird migrantische Arbeit abgewertet, viele sind gezwungen, besonders schlechte Löhne und unsichere Bedingungen zu akzeptieren, was sich nicht nur in geminderten Leistungsansprüchen niederschlägt, sondern außerdem eine gesellschaftliche Aufwertung der genannten Arbeiten (Hausarbeit, Pflege etc.) erschwert. Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse werden dadurch verschärft.

Aber auch auf Migrant*innen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wirkt sich der bestehende Sozialstaat diskriminierend aus. Sie leiden besonders häufig unter unterbrochenen Erwerbsbiografien und Phasen informeller, schlechter bezahlter oder generell prekärer Beschäftigung, was geringere Anwartschaften zur Folge hat. Nicht erst angesichts wachsender Migrationsbewegungen muss diese Selektivität des Sozialstaats in Bezug auf die nationale Herkunft überwunden werden. Es bedarf hier einer grundlegenden Erneuerung, um ihn für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Eine große Aufgabe.

Die linke Kritik am fordistischen Sozialstaat hat schließlich deutlich gemacht, dass er – trotz seiner zweifellos positiven Funktion der Absicherung und Umverteilung – auch paternalistische Züge trägt und zur Passivität anhält. Das bürokratische, starre und auf Kontrolle orientierte Hilfesystem ist nicht nur an bestimmte Erwerbsmodelle und Lebensformen gebunden, sondern wirkt an vielen Stellen entmündigend. Der Ausschluss vieler Leistungsempfänger*innen von gesellschaftlicher Teilhabe wird so – trotz sozialer Abfederung – letztlich fortgeschrieben.

Zwar sind etliche, von Luc Boltanksi und Ève Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnete Einwände der neuen Linken später vonseiten neoliberaler Gegner*innen des Sozialstaats aufgenommen und entsprechend enteignet worden. Dennoch steckt hier ein für linke Zukunftsentwürfe unhintergehbarer Impuls: Ein Zurück zu den korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats des 20. Jahrhunderts ist keine Alternative, nicht nur wegen gewandelter Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse, sondern auch wegen seines ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Mit einer Erneuerung sozialer Sicherungssysteme ist darum auch die Aufgabe ihrer grundlegenden Demokratisierung verbunden.

Wo die Herausforderungen liegen

Die sozialen Sicherungssysteme stehen vor mehreren neuen Herausforderungen, die mit alten Konzepten nicht gelöst werden können.Sozial "abgehängte" Räume: Die Folgen der Erosion des Sozialstaates zeigen sich besonders prägnant auf der sozialräumlichen Ebene. Soziale Ungleichheit verschärft sich und dokumentiert sich zunehmend in Postleitzahlen, teils entstehen „abgehängte" Räume mit extrem lückenhafter Infrastruktur in benachteiligten Vierteln der Städte und in peripheren Zonen jenseits der Städte. Das trifft am stärksten marginalisierte Gruppen und erzeugt Konkurrenz um bereits knappe Ressourcen. Rechte Sicherheits- und Ordnungsdiskurse, die die Bedrohung einer vermeintlich homogenen Lebensweise der Einheimischen heraufbeschwören, können hieran anschließen. Da ein Großteil der Sozialleistungen von den Kommunen erbracht wird, wachsen zudem die sozialräumlichen Disparitäten zwischen Städten und Regionen.

Krise der Reproduktion: Das fordistische Geschlechter-, Reproduktions- und Familienmodell hat sich stark verändert – ohne dass jedoch Geschlechteregalität oder soziale Rechte für alle erreicht wurden. Heute dominiert nicht länger das Alleinernährer-, sondern das sogenannten Adult-Worker-Modell. Der Zwang, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, trifft nun alle gleichermaßen und verändert auch das Sorgeregime. Zwar werden immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die früher fast ausschließlich privat und unentgeltlich geleistet wurden, heute auch als Erwerbsarbeit erbracht – dies gilt etwa für Pflege und Erziehungsarbeit. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge werden die öffentlichen Angebote jedoch massiv ausgedünnt, was Überlastung, Stress und Erschöpfung zur Folge hat. Care-Arbeit ist auch als Lohnarbeit immer noch mehrheitlich eine Domäne von Frauen und Migrant*innen und wird somit deutlich schlechter bezahlt als andere Tätigkeiten. Ohne Geschlechtergerechtigkeit und ohne ein Ende der Abwertung von migrantischer Arbeit kann es also keine Erneuerung des Sozialstaates geben.

Die Zunahme bezahlter Sorgearbeit und ihre zunehmend privatwirtschaftliche Organisierung wirft auch die Frage neu auf, wo die Grenzen einer kapitalistischen Inwertsetzung von Fürsorge liegen. Ausgehend hiervon ist auch zu klären, ob nicht wichtige gesellschaftliche Aufgaben dem Markt gänzlich entzogen werden müssen, ob und inwieweit also eine Vergesellschaftung oder auch Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge notwendig ist.

Migration: Mit der Zunahme weltweiter Migration stellt sich die alte Frage nach dem Zugang zu bis dato vor allem nationalstaatlich organisierten Sicherungssystemen neu. Die Gesellschaften des Nordens sind noch stärker als bisher zu Einwanderungsgesellschaften geworden. Eine Abschottung gelingt nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche wie dem Anspruch nach Solidarität und Antirassismus. Ein in erster Linie als Versicherungssystem konzipierter Sozialstaat setzt allerdings jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anwartschaften voraus, die mit einer gestiegenen Bewegungsfreiheit und globaler Migration kaum kompatibel sind. Der Ausschluss vieler migrantischer Arbeitskräfte von sozialen Sicherungsleistungen ermöglicht die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sozialstaatliche Rechte müssen deswegen neu gedacht und von einem restriktiv regulierten Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht sukzessive gelöst werden.

Globale Ungleichheit: Das Einkommensgefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern hat zwar über die letzten Jahrzehnte abgenommen. Dies liegt aber vor allem am Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren wie China oder Südkorea oder von sogenannten Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Indien. Andere Länder sind im Prozess neoliberaler Globalisierung weiter zurückgefallen. Krieg und Zerstörung, Ressourcenausbeutung, unfaire Handelsabkommen, ungerechte weltwirtschaftliche Beziehungen und eine Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung in globalen Produktionsketten zerstören die Lebensperspektiven von Millionen. Die dadurch verursachte Ausbeutungsdynamik zwischen Nord und Süd wirft die Frage nach der Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen in den reichen Ländern mit besonderer Schärfe auf. Gleichzeitig hat die Schere zwischen Arm und Reich auch in den wohlhabenderen Gesellschaften ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung selbst. Die wachsende Ungleich unterminiert damit die Fundamente des sozialen Gewebes.

Klimakrise: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme klassenspezifischer Ungleichheiten und einem drastisch steigenden CO2-Ausstoß. Der Anteil, den die Reichen an den weltweiten Emissionen haben, wächst überproportional stark, während der Anteil der Ärmsten rückläufig ist. Dieses Missverhältnis gilt generell auch für die einzelnen Gesellschaften (Kleinhückelkotten u.a. 2016). Mehr Gleichheit ist also nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen notwendig.Die Folgen kapitalistischen Wachstums haben zu einer planetarischen ökologischen Krise geführt, die weitere soziale Verwerfungen sowie eine Zuspitzung der Reproduktionskrise und zunehmende Migrationsbewegungen nach sich zieht und immer mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Damit sind diese Entwicklungen zu nicht mehr hintergehbaren Herausforderungen auch für unser Verständnis von Sozialstaat geworden. Zugleich wird deutlich: „Der Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet“ (Urban). Wenn solidarische Formen der Krisenbearbeitung nicht durchgesetzt werden können und es nicht zu einer Umverteilung von Ressourcen sowie zu einer Verallgemeinerung sozialer Rechte kommt, sind eine Zunahme von Verteilungskonflikten und eine Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse absehbar.

Damit geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Sie betrifft die kommunale, nationale und transnationale Ebene. Doch um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss der Sozialstaat auch finanziert werden. Angesichts der ökologischen Krise kann dabei nicht umstandslos an die Tradition des sozialstaatlichen Kompromisses auf Basis von noch mehr Wachstum angeknüpft werden. Einerseits müssen Unternehmen und Vermögende deutlich stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Andererseits muss das Verhältnis von Steuern und Beiträgen neu austariert werden, um die Abhängigkeit einer sozialen Absicherung von der Erwerbsarbeit zu überwinden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden.

Soziale Infrastrukturen: kostenfrei und demokratisch

Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können. Das zeigt sich auch in den Diskussionen um die Zukunft sozialer Absicherung und die Perspektiven des Sozialstaats im 21. Jahrhundert. Was also wären positive Entwürfe, die die Anliegen der vielfältigen Bewegungen des Protests bündeln könnten? Von den zunehmenden Arbeitskämpfen insbesondere im Bereich Pflege und Erziehung über die Mietenproteste, die Anti-Privatisierungs-Bündnisse bis hin zu den neuen antirassistischen Protesten und der Klimabewegung: Wie könnten gemeinsame Forderungen aussehen, die die unterschiedlichen Anliegen einer pluralen Linken und verschiedenen Teilen der Subalternen aufnehmen und sinnvoll miteinander verbinden?Seit einigen Jahren dreht sich die Debatte – angestoßen von einem Diskussionszusammenhang rund um Joachim Hirsch (2003) und das Frankfurter links-netz (2012) – verstärkt um die Bedeutung sozialer Infrastrukturen als Teil einer postneoliberalen Sozialpolitik. Der Ansatz stellt die sozialen Dienstleistungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Transformation. Nach vielen Jahren neoliberaler Politiken ist hier zum einen der Mangel besonders offensichtlich, zum anderen ist dies der einzige Sektor, der in den Industrieländern ein beträchtliches (klima- und ressourcenneutrales) Beschäftigungspotenzial verspricht.

Statt also Sozialleistungen wie bisher nur über einen Mix aus Versicherungsmodellen und steuerfinanzierten Ansprüchen jeweils individuell abzusichern, besteht die Idee, „soziale Infrastrukturen“ zum Kern eines neuen Sozialstaats zu machen darin, soziale Dienstleistungen konsequent auszubauen und für alle frei – also auch entgeltfrei – zugänglich zu machen. Das betrifft die Gesundheitsversorgung genauso wie den Bereich der (Weiter-)Bildung, der Erziehung und Betreuung, das Recht auf bezahlbares Wohnen und auf Mobilität genauso wie den Zugang zu Energie, Trinkwasser oder zum Internet. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt also – anders als etwa bei einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht primär auf der monetären Absicherung des individuellen Konsums, sondern auf dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, also auf dem kollektiven Konsum.[2]

Alles entgeltfrei? Ja und nein. Vorstellbar wäre beispielsweise, auf allen genannten Feldern eine entgeltfreie Grundversorgung zu ermöglichen und für die Befriedigung darüber hinaus gehender individueller Bedürfnisse, Vorlieben oder Leidenschaften die Menschen ganz oder teilweise bezahlen zu lassen. Für den Bereich der Energieversorgung, die ein modernes menschliches Grundbedürfnis darstellt, würde das Folgendes bedeuten: Die Grundversorgung ist im Rahmen sozialer Infrastrukturen abgedeckt. Wer mehr Energie verbraucht, zahlt dafür, und Vielverbraucher zahlen deutlich mehr, der Preis steigt also progressiv an. Dieses Prinzip ist auf unterschiedliche Bereiche anwendbar (vgl. Schachtschneider/Candeias 2013): Zur Kasse gebeten wird, wer viel verbraucht. Das hieße ein entgeltfreies Pro-Kopf-Trinkwasserkontingent, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen und Luxusautos; entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, die Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle gebührenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, (dauerhaftem) sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums, Vergesellschaftung großen Immobilienbesitzes und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.

Ein solches Konzept wäre nicht nur ein Beitrag zum Abbau von sozialen Ungleichheiten, sondern auch ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise. Investitionen in soziale Dienstleistungen sind ökologisch sinnvoll, da die Arbeit mit Menschen kaum Umweltzerstörung mit sich bringt und deren Ausweitung neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet auch als Ausgleich für die Jobs, die in den rückzubauenden Bereichen klimaschädlicher Industrien verloren gehen werden. Dieser Ansatz hilft nicht nur bei der Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit, sondern auch bei der der (unbezahlten) Reproduktion. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen wird professionelle Care-Arbeit aufgewertet und erhält zusätzliche Ressourcen. Zugleich lässt der Erwerbsdruck nach, da die Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse garantiert ist. Damit steht mehr Zeit für Sorge und Selbstsorge sowie für die Arbeit am Gemeinwesen und politisches Engagement bereit. Nicht zuletzt bietet sich hier auch eine Chance, die für die emanzipative Gestaltung von Geschlechterverhältnissen genutzt werden kann: Der Blick wird stärker auf die reproduktiven Funktionen und Tätigkeiten gerichtet: Was erhält und sichert unser gemeinsames Leben? Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die stärkere Entkopplung der sozialen Teilhabe vom Erwerbsstatus und von der Lebens- oder Familienform – also individuelle Ansprüche für jede und jeden, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft.

Der Ausbau sozialer Infrastrukturen stärkt auch eine solidarische und demokratische Gesellschaft, denn Angst und Unsicherheit vor den notwendigen gesellschaftlichen Umbrüchen werden gemindert. Zugleich erscheinen die diskriminierenden Sozialstaatskonzepte der Rechten weniger attraktiv, wenn Marginalisierung, Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit bekämpft werden. Das Konzept sozialer Infrastrukturen erlaubt es also nicht nur, linke Sozialpolitik jenseits des fordistischen Wohlfahrtstaates neu zu denken. Die Forderung nach einer entgeltfreien, sozialökologischen Grundversorgung für alle, die hier leben (unabhängig von Pass, Geschlecht, Postleitzahl oder sonstigem Status), kann als verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe und eines gesellschaftlichen linken, sozialökologischen solidarischen Pols in der Gesellschaft dienen.

Soziale Infrastrukturen zielen darauf, weite Teile der Daseinsvorsorge dem Markt (wieder) zu entziehen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das bedeutet konkret, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen. Mit der Rekommunalisierung beispielsweise von privatisierten Krankenhäusern, Altenheimen, Kindertagesstätten, Wohnraum oder privaten Mobilitätsdienstleistungen ist nicht zuletzt die Frage der Eigentumsform gestellt – wie insbesondere die Kampagnen gegen überhöhte Mieten zuletzt deutlich gemacht haben. Hier können Umverteilung und soziale Gerechtigkeit mit Forderungen nach Demokratisierung und Emanzipation verbunden werden. Denn jenseits der Eigentumsfrage gilt es, neue Formen der Beteiligung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Soziale Infrastrukturen in öffentlicher Hand bedeutet auch, diese umfassend zu demokratisieren, sie in die Hände der Produzent*innen und Nutzer*innen zu legen. An vielen Stellen wird bereits über Gesundheits- oder Care-Räte diskutiert. Auch regionale Mobilitäts- und Transformationsräte stehen auf der Tagesordnung. Wir könnten so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen und erste Schritt in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus gehen (vgl. Redaktion prager frühling 2009).

Ein strategischer Vorschlag zur richtigen Zeit

Wie lässt sich so ein Umbau öffentlicher Dienstleistungen durchsetzen? Fest steht, das Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn unterschiedliche Akteure darin ihre Interessen wiederfinden. Die Idee kostenfreier, demokratischer Infrastrukturen kann unserer Ansicht nach Spielräume für linke Politik eröffnen: Soziale Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, Spaltungen zu überwinden und solidarisch zu bearbeiten, weil sie egalitäre Zugänge für unterschiedliche Teile der Subalternen bieten. In funktionierenden sozialen Infrastrukturen kommt die Idee eines anderen kollektiven Wohlstands zum Ausdruck, die imstande ist, gemeinsame Interessen an einem öffentlichen Reichtum überhaupt erst zu artikulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. Candeias 2019, 6). Außerdem bietet sich die Chance, aus fruchtlosen, von Gegensätzen geprägten linken Debatten herauszukommen, und zwar hinsichtlich mehrerer Streitfragen:

Das bedingungslose Grundeinkommen: Von diesem Grundeinkommen erhoffen sich beispielsweise Erwerbslose, Soloselbstständige und prekär Beschäftigte mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten dagegen weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Die Idee „sozialer Infrastrukturen“, verbunden mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, kann hier neue Perspektiven aufzeigen und neue Bündnisse ermöglichen.

Die Wachstumsfrage: Auch an diesem Punkt steckt die linke Debatte fest: zwischen Positionen von Degrowth-Anhänger*innen und denen keynesianisch inspirierter Vertreter*innen qualitativen Wachstums. Dabei streitet niemand ab, dass bestimmte Bereiche schrumpfen müssen, etwa die mit hohem Stoffumsatz verbundene industrielle Produktion, und andere zunächst wachsen müssen, wie die gesamte Care-Ökonomie und eben die sozialen Infrastrukturen, bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Ein solches qualitatives Wachstum ist übergangsweise notwendig, nicht zuletzt aufgrund der Lücken in vielen Bereichen der Reproduktion. Auch alternative industrielle Produktion ist notwendig – dies gilt vor allem für Länder des globalen Südens, aber auch hier für ressourcen- und klimaschonende Innovationen. Ein simpler Gegensatz von Wachstums- versus Postwachstumspositionen ist daher kontraproduktiv. Es muss um ein Einschwenken auf einen mittelfristigen Kurs einer „Reproduktionsökonomie“ (Candeias 2011) gehen, in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr stofflich wachsen. Soziale Infrastrukturen stünden im Zentrum einer solchen Reproduktionsökonomie.

Sie wären damit auch die wichtigste Säule für eine neue öffentliche Ökonomie, ohne die eine sozialökologische Transformation kaum möglich sein wird. Es gibt nur wenig Ansätze, die einer öffentlichen Produktionsweise eine eigene ökonomische Qualität zugestehen. Ausnahmen sind zum Beispiel die Ansätze eines "Public Value" (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder einer "Sozialwirtschaft" (Müller 2005 u. 2010). Dafür notwendig wäre eine andere gesellschaftliche Buchführung, die vorhandene wie benötigte Ressourcen gebrauchs- und bedarfsorientiert ins Verhältnis setzt und die die Frage ins Zentrum stellt, zu welchem Zweck und wie wir diese Ressourcen eigentlich einsetzen wollen. Eine solche gesellschaftliche Buchführung könnte eine von kapitalistischen Werttransfers unabhängige Grundlage für eine öffentliche Produktionsweise bieten. Der Sozialstaat wäre dann nicht nur kompensatorisch für den Ausgleich sozialer Verwerfungen und als Stabilisator in Zeiten von Krise zu denken, sondern wäre selbst Element einer solchen öffentlichen Ökonomie. Er wäre die Grundlage einer anderen Form des Produzierens und Reproduzierens, die mit dem Begriff grüner Infrastruktursozialismus umschrieben werden kann.

Verbindende Klassenpolitik für den grünen Infrastruktursozialismus…

Für anstehende sozialökologische Transformationskonflikte ist eine ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur ein Sicherheitsversprechen, das notwendig gewordenen Veränderungen das Bedrohliche nimmt und eine positive Zukunft denkbar werden lässt. Viele Bewegungen und die LINKE haben sich in den letzten Jahren bereits am Konzept der sozialen Infrastrukturen orientiert und es zu einem verbindenden Projekt werden lassen. Hier treffen sich Fragen der Umverteilung mit denen nach Freiheitsrechten und Demokratie, Fragen der Klassenpolitik mit Fragen der Anerkennung und Ermöglichung von Diversität und verschiedenen Lebensweisen.

Auch von anderer Seite wird der Frage sozialer Infrastrukturen (endlich) neue Bedeutung zugemessen: Eine neue "Fundamentalökonomie", wie Wolfgang Streeck es im Anschluss an eine englische Autorengruppe nennt (Foundational Economy Collective 2019), ist ein Bezugspunkt auch für sozialdemokratische Intellektuelle (vgl. u.a. SPW 2019), für Gewerkschaften wie die IG Metall, ver.di, die Eisenbahn- & Verkehrsgewerkschaft oder die GEW, aber auch für Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch für die Umweltbewegung und -verbände.

Die Bedingungen für große progressive Entwürfe sind gerade nicht gut, es stehen beinharte Auseinandersetzungen um die immensen Kosten der Krise bevor. Zugleich hat die Corona-Krise viele vermeintlich feststehende Wahrheiten infrage gestellt und aufgezeigt, dass politische Reaktionsmuster ins Wanken geraten können. Innerhalb kürzester Zeit war es nicht nur möglich, im Sinne der Pandemieprävention die Wirtschafts- und Konsumkreisläufe ganzer Gesellschaften herunterzufahren und damit – zumindest vorübergehend – das Primat der Politik vor das der Ökonomie zu setzen. Es ist im Zuge der Krisenbekämpfung auch möglich geworden, große staatliche Finanzvolumina zur Stützung von Unternehmen, Erwerbstätigen und öffentlichen Infrastrukturen sowie zur Ankurbelung der Konjunktur zu mobilisieren und dafür die "schwarze Null" von heute auf morgen über Bord zu werfen. Auf der Ebene der europäischen Regierungen wurde zudem das Verbot der gemeinsamen Verschuldung geschliffen. Das alles bedeutet für den weiteren Fortgang der Krise noch gar nichts, wie erwähnt stehen beinharte Verteilungskämpfe bevor. Es zeigt aber doch, dass das bisher scheinbar so fest verankerte marktliberale TINA-Prinzip[3] in einer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung aufgeweicht wurde. Unter der Wucht der Pandemie gewannen nicht nur eine andere Finanz- und Schuldenpolitik, sondern allgemein eine vorausschauendere, staatliche Steuerung und Intervention an Attraktivität. An solchen Tabubrüchen gilt es anzusetzen. Es sind kleine erweiterte Spielräume für eine gesellschaftliche Linke, die es zu nutzen gilt, um neue, um andere Pfade denkbar zu machen und zu erkämpfen (vgl. IfG & Friends 2020).

…und wo sie heute schon stattfindet

Um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen wird von vielen Akteuren bereits konkret gekämpft. Am sichtbarsten ist dies momentan wohl im Gesundheitswesen der Fall. In der ab September anlaufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (ÖD) wird es um eine Aufwertung der Pflege gehen. Bund und Länder haben angekündigt, dass es angesichts der Krise nichts zu verteilen gibt. Trotz des größten Rettungspakets der Geschichte soll es für die „systemrelevanten“ Berufe also bei einer symbolischen Anerkennung bleiben. Für höhere Löhne in der Pflege, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Personalquoten wird schon seit Langem gestreikt und gekämpft. Die Forderung nach einer bedarfsorientierten Finanzierung und nach mehr Personal in diesem wichtigen Bereich des Gesundheitswesens könnte zu einem Kristallisationspunkt von Kämpfen sowohl von Beschäftigten als auch von Nutzer*innen sozialer Infrastrukturen werden. Im Sinne eines Infrastruktursozialismus geht es außerdem darum, diese wichtigen Funktionen in gesellschaftliche Verantwortung zurückzuholen – also um eine Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Ähnlich steht es um Bildung und Erziehung, auch hier wird im Rahmen der Tarifrunde ÖD für eine Aufwertung und für bessere Angebote gestritten. Und auch hier hat die Pandemie schonungslos offengelegt, wie schlecht dieser elementare Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausgestattet ist – und zwar sowohl was das qualifizierte Personal angeht als auch die physische und digitale Hardware. Um in den Bereichen Bildung, Erziehung und soziale Arbeit verlässliche soziale Infrastrukturen für alle durchzusetzen, bedarf es neben einer besseren tariflichen Entlohnung des Personals des Ausbaus von Kitaplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten. Zudem wird vonseiten der Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, der Partei DIE LINKE und anderen schon seit Längerem für die bundesweite Abschaffung von Kitagebühren gestritten. Mit diesen Maßnahmen könnte die in Deutschland besonders dramatisch ausgeprägte Bildungsungleichheit verringert und mehr Teilhabe und Demokratie möglich werden.

Parallel zur Tarifrunde im ÖD werden erstmals bundesweit die Tarife im öffentlichen Nahverkehr verhandelt. Neben einer Entlastung durch mehr Personal geht es um einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Angesichts der zugespitzten Klimakrise ist das Letztere ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Fridays for Future, ver.di, die LINKE und andere wollen diese Auseinandersetzungen als gemeinsames Projekt angehen. Konkrete Schritte, um „Mobilität für alle“ als soziale Infrastruktur zu entwickeln, gibt es in einigen Städten schon: Der Einstieg in einen generellen Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist ein kostenloses Jahresabo für Schüler*innen, Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, kombiniert mit der Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle anderen. Dies soll den notwendigen Umstieg vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel erleichtern. Damit der steigende Bedarf an öffentlichen Nah- und Fernverkehrsmitteln überhaupt gedeckt werden kann, muss das Schienennetz ausgebaut und muss eine alternative Produktion von Straßenbahnen, E-Bussen, Zügen, U-Bahnwaggons etc. angeschoben werden. Zumindest Teile davon könnten in öffentlichen Unternehmen realisiert werden und wären damit ein weiterer Baustein der oben skizzierten öffentlichen Ökonomie.

Im Bereich Wohnen & Miete ist die Auseinandersetzung schon weiter. Hier geht es um die Verteidigung eines gesetzlichen Mietendeckels, wie er bisher in Berlin beschlossen wurde, und darum, ihn auf andere Bundesländer auszuweiten. Auch hier wird konkret über Vergesellschaftung diskutiert. Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co hat dies zum Ziel. Um die Menge an bezahlbarem Wohnraum zu erhöhen, wird der Bau von Sozialwohnungen in großer Zahl über eine „neue Gemeinnützigkeit“ ins Auge gefasst. Auch die Gründung einer öffentlichen Bauhütte, also eines Verbunds von Gewerken in öffentlicher Hand, wäre nützlich, um sich von der Bauindustrie unabhängig zu machen.

Auch in feministischen Debatten und Kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit spielt der Ausbau sozialer Infrastrukturen seit Jahren eine wichtige Rolle. Die internationale Bewegung für einen feministischen Streik und Debatten um eine feministische Klassenpolitik stellen die Aufwertung und Entlastung entlohnter wie unbezahlter Sorgearbeit ins Zentrum. Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit zielt auf eine Ausweitung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen, genauso wie hierzulande das queer-feministische Netzwerk Care Revolution. Dort organisieren sich unentlohnt Sorgende zusammen mit professionellen Care-Arbeiter*innen und denjenigen, die als Patient*innen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Gute Arbeitsbedingungen und Ausstattung in Kitas, Ganztagsschulen, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz reduzieren die Überlastung insbesondere von Frauen und ermöglichen eine Aufwertung wie eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit (vgl. Fried/Schurian 2016).

Kämpfe um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren in der weltweiten Bewegung für solidarische Städte gebündelt (vgl. Christoph/Kron 2019). Städte und Kommunen werden hier als Terrain gesehen, um eine demokratische Teilhabe und den Zugang zu lebenswichtigen Leistungen und Infrastrukturen für Geflüchtete und Illegalisierte lokal zu ermöglichen. New York City hat als erste Stadt eine “City Card” eingeführt, eine Art kommunales Personaldokument, das den Zugang zu städtischen Leistungen wie Gesundheit und Bildung ermöglicht sowie den Besuch von Bibliotheken und Museen, aber auch die Eröffnung eines Bankkontos und Abschluss eines Mietvertrags. Darüber hinaus bietet die "City Card" Schutz vor racial profiling, Polizeigewalt und Abschiebung – sie wird von der lokalen Polizeibehörde anerkannt und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Papiere. Auch in Europa wird an vielen Orten über eine "City Card" diskutiert. Zürich und Bern gehen hier voran,[4] aber auch in Berlin denkt die LINKE über die Einführung eines solchen Ausweisdokumentes nach (vgl. Frank 2019).

In Sachen Finanzierung braucht es Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen. Absehbar ist bereits jetzt, dass die Argumente und Konzepte der Austerität spätestens nach der nächsten Bundestagswahl mit Wucht durchschlagen werden. Spätestens dann wird genauer darüber verhandelt werden, wie und von wem die zur Pandemiebekämpfung aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden sollen. Das alles findet unter anderem vor dem Hintergrund der weiterhin ungelösten Altschuldenproblematik der Kommunen in Höhe von derzeit geschätzt rund 45 Milliarden Euro statt.Die Kommunen aber sind die Orte, an denen die Menschen ganz maßgeblich ihre Alltagserfahrungen sammeln und ihre Leben gestalten. Weitere Einschränkungen in weiten Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge werden der Entdemokratisierung, dem Frust und der Akzeptanz destruktiver Konzepte der Rechten sowie weiteren Klassenspaltungen Vorschub leisten. Umgekehrt kann der Ausbau sozialer Infrastrukturen, wie beschrieben, nicht nur Ungleichheiten bekämpfen, sondern eben auch mehr Demokratie und Teilhabe (auch vormals in der Öffentlichkeit unterrepräsentierter Gruppen) ermöglichen.

Für all das braucht es starke Initiativen von unten, die für eine solche Perspektive weitere kampagnenfähige und öffentlichkeitswirksame Kristallisationspunkte identifizieren, an denen es sich lohnt, auf verschiedenen Ebenen (kommunal, national, europäisch etc.) gleichzeitig produktive Konflikte aufzumachen und voranzutreiben. Dafür müssen auch und vor allem diejenigen gewonnen werden, die unter den derzeitigen Mängeln der sozialen Infrastrukturen am stärksten leiden.

Es wird entscheidend sein, ob es bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr gelingen wird, einen sozialökologischen Block zu formen, der Aufwertung und Ausbau sozialer Infrastrukturen zum Fluchtpunkt eines gemeinsamen Projekts macht (das auch nach der Wahl noch Bestand hat). Denn nur mit massivem gesellschaftlichen Druck und einer Bündelung von Kräften lassen sich konsequente Schritte in diese Richtung durchsetzen – Schritte in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus.

Fußnoten

[1] Die soziale Ungleichheit fällt nach neuesten Zahlen noch drastischer aus, als bislang angenommen: Demnach besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland rund 35 Prozent statt, wie bislang angenommen, 22 Prozent des Nettovermögens, die oberen zehn Prozent 67,3 statt 58,9 Prozent (Bartels u.a. 2020).

[2] Dies bedeutet nicht, die Bedeutung und Errungenschaft des klassischen Sozialversicherungsmodells zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Eine demokratischere, solidarischere Gesellschaft muss auch das Sozialversicherungswesen in den Blick nehmen, ausbauen und universalisieren, um die individuellen Risiken und Brüche im Lebenslauf besser abzusichern. Das heißt unter anderem, dass Elemente einer Mindestsicherung (etwa eine Mindestrente, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, oder eine Kindergrundsicherung etc.) gegenüber leistungsbezogenen Anwartschaften verstärkt werden und die Versicherungspflichten ausgeweitet werden müssen. Denkbar wären hier eine umfassende Erwerbstätigenversicherung (unter Einbeziehung auch von Beamt*innen, Freiberufler*innen, Selbstständigen etc.) im Rentensystem sowie eine Bürgerversicherung aller im Gesundheitswesen und eine solidarische Pflegevollversicherung.

[3] TINA: There Is No Alternative.

[4] Vgl. www.zuericitycard.ch/ und https://wirallesindbern.ch/city-card/.

Literatur

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Mazzucato, Mariana/ Josh Ryan-Collins, 2019: Putting value creation back into ‘public value’: From market fixing to market shaping. UCL Institute for Innovation and Public Purpose, Working Paper Series, IIPP WP 2019-05, https://www.ucl.ac.uk/bartlett/public-purpose/wp2019-05

Müller, Horst, 2005: Sozialwirtschaft als Systemalternative, in: Ders. (Hg.): Das PRAXIS-Konzept im Zentrum gesellschaftskritischer Wissenschaft, Norderstedt, 254-289

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Ötsch, Rainald/Heintze, Cornelia/Troost, Axel, 2020: Die Beschäftigungslücke in der sozialen Infrastruktur, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_2-20_Beschaeftigungsluecke.pdf

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Schachtschneider, Ulrich/Candeias, Mario, 2013: Kontrovers: Ökologisches Grundeinkommen vs. soziale Infrastruktur und kollektiver Konsum, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/kontrovers-oekologisches-grundeinkommen-2/

SPW – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 2019: Von der Kapitallogik zur gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie, Heft 235, www.spw.de/xd/public/content/index.html?sid=heftarchiv&year=2019&bookletid=176

Streeck, Wolfgang, 2019: Vorwort, in: Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M., 7–32

Wohlfahrt, Norbert, 2015: Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen – Die Ökonomisierung sozialer Dienste, in: LuXemburg 1/2015, www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-geschaeft-mit-grundbeduerfnissen/

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.

Moritz Warnke ist Referent für Soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur dieser Zeitschrift. Er ist im Landesvorstand der Berliner LINKEN und vertritt den Landesverband in der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«.

Eva Völpel arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für Wirtschaftspolitik.

Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist im Netzwerk Care Revolution aktiv und arbeitet zu Fragen von Sorgearbeit und Feminismus.

Hannah Schurian ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg. Sie ist Redakteurin dieser Zeitschrift.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/reichtum-des-oeffentlichen

#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor, so dass weitere Einschränkungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu befürchten sind. Zeit, den Sozialstaat und seine Finanzierung gründlich zu erneuern, schreiben die Autor:innen. Dabei geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Der Artikel zeigt, vor welchen Herausforderungen die sozialen Sicherungssysteme stehen, wie ein Sozialstaat aussehen kann, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist und wo schon jetzt ganz konkret um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen gekämpft wird.

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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Warum wurden Pflegestellen reduziert? Wieso bringen Geburtsstationen Minus und Hüft-OPs ein Plus? Woher kommt der wirtschaftliche Druck in den Krankenhäusern, was wären bedarfsgerechte Alternativen? Antworten gibt die Broschüre vom Bündnis «Krankenhaus statt Fabrik». Das Bündnis wendet sich gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und besonders gegen das System der Fallpauschalen (DRG) in Krankenhäusern. Es will aufklären, um eine breite öffentliche Debatte über dieses bewusst installierte marktwirtschaftliche Steuerungsinstrument führen zu können.

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Vom Drehen der Städte

Bürgerentscheide drängen zum Ausbau der Radinfrastruktur

Mai 2020 • Denis Petri

Mobilität, Organisierung, Alternativen, Berlin#Mobilität #Organisierung #Alternativen #Berlin

Auf Deutschlands Straßen dominiert noch immer das Auto. Die Akteure in Politik und Verwaltung konnten oder wollten daran in den vergangenen Jahrzehnten wenig ändern. Deswegen muss die Verkehrswende von unten durchgesetzt werden. Dafür sind der Berliner Radentscheid im Jahr 2015 und die daraus entstandene Changing-Cities-Bewegung mit kommunalen Radentscheiden in ganz Deutschland angetreten. Es geht um lebenswerte Städte, Mobilität für alle und konkreten Klimaschutz. Die Bürger*innen fordern ein, was seit 40 Jahren eine planerische Binsenweisheit ist: die lebenswerte Stadt der kurzen Wege mit sicheren Schulwegen für Kinder, mit einem belebten Einzelhandel und – in einer alternden Gesellschaft immer wichtiger – einer Befreiung vom Angewiesensein aufs Auto. Denn seit Jahrzehnten ist belegt, dass Verkehrsinfrastrukturen genau den Verkehrinduzieren, für den sie geschaffen wurden. Neue Autobahnen führen zu mehr Autoverkehr und damit auch zu mehr Stau, die Eröffnung der Bahnschnellfahrstrecke Berlin-München hat binnen kürzester Zeit voll besetzte Züge produziert. Anders gesagt: Für mehr Radverkehr müssen wir mehr (sichere und bequeme) Radwege bauen. Und das sollten wir, denn der Radverkehr ist ein wichtiger Baustein in der Mobilitätswende. Ein Fahrrad benötigt nur einen Bruchteil des Platzes, den ein Auto einnimmt. Fahrradfahrten produzieren weder Stickstoffoxide noch Feinstaub, kein CO2 und keinen Lärm. Studien zeigen, dass die meisten unserer Alltagswege in einer fahrradkompatiblen Distanz liegen und auch 90 Prozent aller Einkäufe in einen Fahrradkorb oder in Fahrradtaschen passen.

Volksentscheid Fahrrad: Berlin dreht sich!

Während man in Kopenhagen oder in den Niederlanden bereits vor 40 Jahren anfing, konsequente Radverkehrsplanung zu betreiben – übrigens an beiden Orten zunächst widerwillig aufgrund von Bürgerprotesten –, blieb es in der Bundesrepublik meist bei Sonntagsreden. Ergebnis: In Kopenhagen liegt der Anteil des Radverkehrs am innerstädtischen Verkehr bei 60 Prozent. Laut Untersuchungen fahren Kopenhagener*innen Fahrrad, weil es schnell, bequem und sicher ist. In Berlin ist man davon weit entfernt. 2013 verabschiedete der Berliner Senat zwar eine Radverkehrsstrategie mit ein paar guten Ansatzpunkten und die verfügbaren Mittel für den Radverkehr wurden auf immerhin 3,80 Euro pro Kopf und Jahr aufgestockt – das reicht jedoch vorne und hinten nicht. Zum Vergleich: Der Nationale Radverkehrsplan empfiehlt mindestens 10 Euro, in Kopenhagen sind es 20 Euro. Aber selbst dieser geringe Betrag wurde nicht abgerufen. Es war versäumt worden, die personellen und strukturellen Voraussetzungen in der Verwaltung zu schaffen. Gleichzeitig gab es aus den Verbänden, die sich in Berlin für Umweltbelange bzw. nachhaltige Verkehrsverhältnisse einsetzen, zwar richtige Forderungen, jedoch keine Strategie, wie man diese jenseits entpolitisierter Beteiligungsformate forcieren könnte. In dieser Situation trat Ende 2015 die Initiative Volksentscheid Fahrrad Berlin, eine Gruppe verbandsunabhängiger Aktivist*innen, mit ehrgeizigen Zielen an: breite Radwege an allen Hauptstraßen, ein Netz aus Nebenstraßen für den Radverkehr, 200 000 neue Abstellanlagen und 100 Kilometer Radschnellwege, außerdem eine schnelle Mängelbeseitigung, die Schaffung von Verwaltungseinheiten für den Radwegeausbau, bessere Kommunikation und umfassende Transparenz. All dies goss die Initiative in einen Gesetzentwurf. Damit nicht erneut gute und hehre Ziele auf die lange Bank geschoben werden, sah der Gesetzentwurf vor, dass dies alles binnen acht Jahren umzusetzen ist. Die Ziele wurden SMART konzipiert (also spezifisch, messbar, aktivierend, realistisch und terminiert) und sollten so die Verwaltung zu zielgerichtetem Arbeiten verpflichten. Die Grundidee lautete: Alle sollen sicher und entspannt Fahrrad fahren können. Berlin soll zur Fahrradstadt werden und dabei auch einen neuen Standard setzen. Über das Gesetz sollten die Berliner*innen in einem Volksentscheid zeitgleich zur Bundestagswahl 2017 abstimmen können. Den Initiator*innen des Volksentscheids gelang es, in gut drei Wochen für die Sammlung von über 100 000 Unterschriften zu mobilisieren. Nie zuvor waren in Berlin so viele Unterschriften in so kurzer Zeit gesammelt worden. Das zu erreichende Quorum liegt bei 20 000 in sechs Monaten. Mit diesem Erfolg gelang es der Initiative, die ungerechten Verkehrs- und Platzverhältnisse auf Berlins Straßen mit Nachdruck infrage zu stellen und für Aufmerksamkeit – im Wahlkampf und darüber hinaus – zu sorgen. Der Erfolg beruhte auf vier Umständen: erstens auf einer offensiven Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit, zweitens auf einer generalstabsmäßig organisierten Unterschriftensammlung, an der Hunderte mitwirkten, drittens auf einem Match zwischen einer für viele als untragbar empfundenen Verkehrssituation und einem zunehmenden Bedürfnis, Verkehrspolitik politisch zu denken und zu gestalten, sowie viertens auf der Zusammensetzung des Unterstützerkreises. Es konnten nämlich nicht allein die »üblichen Verdächtigen«, also Umweltorganisationen, gewonnen werden (tatsächlich standen davon einige dem Volksentscheid eher skeptisch bis ablehnend gegenüber), sondern darüber hinaus wirtschaftspolitische Expert*innen und Stadtplaner*innen genauso wie Schüler*innen und Seniorenvertretungen.

Der Weg zum Mobilitätsgesetz

Mit diesem breiten gesellschaftlichen Bündnis und den 100 000 Unterschriften im Rücken gelang es dann 2016, im Zuge des Regierungswechsels zu rot-rot-grün ein Mobilitätsgesetz unter Einbeziehung der Ziele des »Volksentscheids Fahrrad« im Koalitions¬vertrag zu verankern. Der Initiative, die mit einem Radgesetz angetreten war, ist die Verabschiedung eines umfassenden Verkehrswendegesetzes zu verdanken. Das Berliner Mobilitätsgesetz besteht aus mehreren Teilen, wobei der allgemeine und der Radverkehrsteil partizipativ unter Mitwirkung der Verkehrsverwaltung (politische Leitung und permanent Angestellte), der Koalitionsfraktionen und der Zivilgesellschaft (Volksentscheid Fahrrad, ADFC Berlin, BUND Berlin) erarbeitet wurden. Bereits vor der Abstimmung über den Gesetzesentwurf wurden erste Voraussetzungen für den Ausbau der Radinfrastruktur geschaffen: Für die Radverkehrsplanung hat man zwei Stellen pro Berliner Bezirk bereitgestellt, in der Hauptverwaltung gibt es nun eine Koordinierungsstelle und eine Planungsgruppe für den Radverkehr, während für bezirksübergreifende Projekte, zum Beispiel Radschnellverbindungen, eine neu gegründete landeseigene Infrastrukturgesellschaft namens InfraVelo GmbH zuständig ist. Das Gesetz selbst gibt dem Infrastrukturausbau Form und Richtung. Bis 2030 sollen alle Berliner Hauptstraßen mit Radwegen ausgestattet sein, die zum Beispiel durch Poller oder Blumenkästen vom Autoverkehr getrennt sind. Es sollen ein Netz aus Fahrradstraßen, aus dem der motorisierte Durchgangsverkehr herausgehalten wird, entstehen sowie 100 000 Fahrradabstellplätze. Das Gesetz folgt dem strategischen Leitbild der Vision Zero, das vorsieht, schwere Personenschäden im Straßenverkehr auf null zu reduzieren und das Sicherheitsempfinden von Nichtautofahrer*innen bei der Planung von Infrastruktur zu berücksichtigen (was insbesondere für ältere Radfahrer*innen von Bedeutung ist). Zudem ist der Vorrang für den Umweltverbund in der Verkehrsplanung nun gesetzlich festgeschrieben. Das im Juni 2018 verabschiedete Berliner Mobilitätsgesetz könnte, was den Inhalt und die Art und Weise der Entstehung angeht, vorbildlich für andere Bundesländer sein. Die Inhalte der bislang verabschiedeten Teile decken sich in weiten Teilen mit denen des Gesetzentwurfes der Initiative und entsprechen den verkehrspolitischen Notwendigkeiten in Bezug auf den Ausbau des Radverkehrs. Was einzelne Forderungen angeht, die nicht erfüllt wurden (etwa die nach einer höheren Anzahl von Fahrradabstellplätzen), wird die Zunahme des Radverkehrs bald eine entsprechende Nachfrage herbeiführen und damit den Druck auf die Politik erhöhen.

Blockaden, Hürden und Verzögerungen

Die Berliner Verwaltung war (und ist bis heute) allerdings nicht komplett bereit für dieses Gesetz. Der verkehrspolitische Paradigmenwechsel stößt im Apparat teils auf offenen Widerstand. Neben aktiver Obstruktion einiger Personen und Verwaltungseinheiten wird die Umsetzung des Gesetzes aber vor allem durch die Berliner Verwaltungspraxis gebremst. Für Außenstehende wirkt es oft so, als sei stets jemand anderes verantwortlich. Dies gilt allerdings nur solange, bis sich eine Stelle tatsächlich für zuständig erklärt. Danach beginnt häufig ein regelrechtes Kompetenzgerangel. Noch immer haben die politisch Verantwortlichen im Senat und in den Bezirken es versäumt, Strukturen zu schaffen, die in der Lage sind, die anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Dabei ist unklar, ob sich die Verantwortlichen der Größe der Aufgaben nicht bewusst sind, sie sich in den sprichwörtlichen Berliner Verhältnissen so eingerichtet haben, dass drohendes Scheitern mit einem Achselzucken hingenommen wird, oder ob es ihnen an politischem Willen oder an der Fähigkeit mangelt, die Verkehrswende wirklich in die Tat umzusetzen. Deswegen besteht faktisch noch immer eine erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlich gebauten Infrastruktur und den Anforderungen des Gesetzes – und zwar sowohl in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht. Noch immer werden Radwege zu schmal gebaut, werden Kreuzungen so gestaltet, dass selbst hartgesottene Radfahrer*innen diese nur mit stark erhöhtem Puls überqueren, wird der Rad- und Fußverkehr regelmäßig »vergessen« oder auf Restflächen »zusammengepfercht«, während dem Autoverkehr weiterhin der rote Teppich ausgerollt wird. Es sind bislang keine Verfahren entwickelt worden, um die benötigten Baumaßnahmen zu systematisieren, und es gibt auch fast zwei Jahre nach Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes keine funktionierenden Projektsteuerungsstrukturen für die Umsetzung. Gleichzeitig wird der Aufgabenrückstau immer größer, sodass bereits jetzt rund 700 Meter Fahrradinfrastruktur täglich neu bereitgestellt werden müssten, um die Vorgaben des Gesetzes zu erfüllen.

Druck von unten

Die Administration wird dabei immer wieder »von unten« unter Druck gesetzt. Die Initiative Volksentscheid Fahrrad hatte 2016 den Verein Netzwerk Lebenswerte Stadt gegründet. Mit der Umbenennung in Changing Cities im Jahr 2017 wurde die Arbeit professionalisiert und diversifiziert. Eine Geschäftsstelle unterstützt seitdem die Gründung von Netzwerken und Gruppen in den Berliner Bezirken. Diese Aufbauarbeit war nötig, weil sich abzeichnete, dass ein Gesetz allein nicht genügen wird. Die Aktivistengruppen sind noch immer damit beschäftigt, die politischen und administrativen Akteure anzutreiben, Radverkehrsförderung und Verkehrswende mit der gebotenen Konsequenz zu verfolgen. Zu den regelmäßig stattfindenden Aktionen gehören eine offensive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie öffentliche Proteste, darunter Demonstrationen auf Hauptstraßen mitten im Berufsverkehr, um auf getötete Radfahrer*innen hinzuweisen oder um vom Senat angekündigte »Sofortmaßnahmen« einzuklagen, die oft Wochen oder Monate auf sich warten lassen. Ferner geht Changing Cities immer wieder in Vorleistung: mit eigenen Vorschlägen für das Radverkehrsnetz, mit fachlich-stadtplanerischer Expertise, mit gemeinsamen Aktionen, die die Verkehrswende erlebbar machen, zum Beispiel autofreie Tage in Einkaufsstraßen. Für viele Fälle, in denen eine noch immer im Gestern verharrende Verwaltung nur ein »Geht nicht!« oder ein »Das ist zu kompliziert« bereithielt, wurden Lösungen präsentiert und durchgesetzt: geschützte Radspuren, modale Filter (Poller) gegen den motorisierten Durchgangsverkehr und vieles andere mehr. Auf diese Weise sind bislang allein in Berlin bei Changing Cities rund 30 000 unbezahlte Arbeitsstunden in die Verkehrswende geflossen. Auch künftig wird das Engagement auf hohem Niveau weitergehen, um die Umgestaltung Berlins zur lebenswerten und menschenfreundlichen Metropole zu beschleunigen. Trotz der Behinderungen und des politischen Führungsversagens können wir festhalten: Berlin wird ganz sicher in zehn Jahren anders aussehen und deutlich fahrradfreundlicher sein. Es wurden finanzielle Mittel bereit- und Planer*innen eingestellt sowie organisatorische Einheiten mit entsprechendem Gewicht geschaffen. Die Frage bleibt jedoch, ob dies ausreichend ist und wie weit wir 2030 gekommen sein werden, vor allem, wenn man die Fortschritte in Berlin mit denen in anderen europäischen Städten vergleicht. In Städten wie Madrid, Paris, Barcelona, Oslo oder Helsinki wird nämlich schon längst an einer weitgehend vom privaten Autoverkehr befreiten Stadt geplant, in der die Menschen bei hoher Aufenthaltsqualität mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Fahrrad oder zu Fuß ihre Mobilitätsbedürfnisse erfüllen können.

Vom Berliner Radentscheid zur Changing-Cities-Bewegung

Auch wenn Berlin in vielerlei Hinsicht noch hinter anderen europäischen Metropolen hinterherhinkt, hat die Berliner Initiative Volksentscheid Fahrrad eine bundesweite Bewegung angestoßen. Bereits im Frühjahr 2016 startete der Radentscheid Bamberg, gefolgt vom Radentscheid Darmstadt, dem Radentscheid Frankfurt am Main und vielen weiteren kommunalen Radentscheiden. Der Initiative Aufbruch Fahrrad NRW gelang es 2019, über 200 000 Unterschriften zu sammeln und ihre Forderungen im Landtag vorzutragen. Inzwischen gibt es fast 30 solcher Gruppen in Deutschland. Sie formulieren klare Forderungen und Ziele, setzen zeitliche Rahmen und bemühen sich darum, das Radfahren für immer mehr Menschen attraktiv zu machen. In der Regel gelingt es ihnen, in kurzer Zeit die Quoren für Bürgerentscheide zu knacken und das in Städten verschiedenster Größe, von Berlin bis Marl. Dies zeigt, dass die Bürger*innen an vielen Stellen bereits weiter sind als die Kommunalpolitiker*innen und -verwaltungen. Mit Stand Januar 2020 haben über 700 000 Menschen für einen Radentscheid unterschrieben. Das sind rund 1,5 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland und damit ein nicht zu unterschätzendes Wählerpotenzial. Die Initiativen von Radentscheiden vernetzen und tauschen sich regelmäßig aus. Ziel ist, mit dem in den lokalen Kampagnen erprobten Baukasten an Forderungen, Methoden, Instrumenten und Aktionsformen den nächsten Bundestagswahlkampf zu beeinflussen. Zentrale Forderungen sind ein bundesweit flächendeckendes, qualitativ hochwertiges Radverkehrsnetz, die Weiterentwicklung der Straßenverkehrsordnung hin zu mehr Fahrradfreundlichkeit, konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit sowie die Re-Internalisierung der immensen gesamtgesellschaftlichen Kosten des privaten Kraftverkehrs, der derzeit jährlich pro Fahrzeug mit rund 2 000 Euro direkt (z. B. über Straßenbau, Steuersubventionen, Kaufprämien) und indirekt (z. B. in Form von Gesundheits- und Umweltschäden) gesellschaftlich subventioniert wird. Rund vier Jahre Radentscheid- und Changing-Cities-Bewegung haben verdeutlicht, dass die Verkehrswende von unten vorangetrieben werden kann und muss, da die vorhandenen politisch-administrativen Strukturen ohne diesen Impuls nicht dazu fähig sind. Mit direktdemokratischen Instrumenten, die von einer offensiven, auf positive Ziele orientierten Kampagnenarbeit begleitet werden, können die diskursiven und politischen Grundlagen für eine bessere, flächengerechtere und damit auch sozialere Verkehrspolitik gelegt werden. Dabei geht es um das Bohren dicker Bretter: Von der Straßenverkehrsordnung bis zu den Planungsrichtlinien ist das automobile System tief eingegraben und der Rad- und Fußverkehr an den Rand gedrängt. Die Verkehrswende von unten, wie sie Changing Cities angestoßen hat, ist der richtige Bohrer für dieses dicke Brett. Es kann nicht der einzige sein. Für die Klimagerechtigkeit und auch die Sicherstellung der Mobilität der Zukunft sind die Förderung des Radverkehrs und die Umverteilung des Verkehrsraums allerdings systemrelevant.

Changing Cities und alle existierenden Radentscheid-Initiativen leisten gern Unterstützung beim Anschieben eines eigenen kommunalen Radentscheids. Mehr Infos unter: https://changing-cities.org bzw. info@changing-cities.org

Denis Petri ist Stadtforscher, Campaigner und Aktivist für eine Verkehrswende von unten. Er ist im Changing Cities e. V. aktiv (unter anderem als Vorstand) und hat in Berlin den Volksentscheid Fahrrad vorangetrieben.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/vom-drehen-der-staedte

#Mobilität #Organisierung #Alternativen #Berlin

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Auf Deutschlands Straßen dominiert noch immer das Auto. Die Akteure in Politik und Verwaltung konnten oder wollten daran in den vergangenen Jahrzehnten wenig ändern. Deswegen muss die Verkehrswende von unten durchgesetzt werden. Dafür sind der Berliner Radentscheid im Jahr 2015 und die daraus entstandene Changing-Cities-Bewegung mit kommunalen Radentscheiden in ganz Deutschland angetreten. Es geht um lebenswerte Städte, Mobilität für alle und konkreten Klimaschutz. Was 2015 in Berlin seinen Anfang nahm, ist eine bundesweite Bewegung geworden: Bürgerentscheide drängen die kommunalen Verwaltungen zum Ausbau der Radinfrastruktur. Denis Petri, der im Changing Cities e. V. aktiv ist und in Berlin den Volksentscheid Fahrrad vorangetrieben hat, berichetet über die erfolgreiche Organisierung.

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Personalnot im Krankenhaus

Warum gegen die jahrzehntelange Misere nur eine neue Personalbemessung hilft

März 2020 • Volker Gernhardt

Bild: Jodie Covington / Unsplash

Bild: Jodie Covington / Unsplash

Krankenhaus, Pflege, Krise, Alternativen#Krankenhaus #Pflege #Krise #Alternativen

Der aktuelle extreme Mangel an Pflegekräften, die resultierenden Bettensperrungen und die immer wieder regional aufflammenden Streiks von Pflegekräften mit dem Ziel bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen, sind nichts Neues in der gesundheitspolitischen Landschaft Deutschlands. Bessere Arbeitsbedingungen sind eng verknüpft mit festen, nachvollziehbaren Stellenschlüsseln für die stationäre Pflege. Diese wurden bereits 1993 einmal erfolgreich mit Inkrafttreten der PPR (PflegePersonalRegelung) durchgesetzt, nach kurzer Zeit aus finanziellen Gründen ausgesetzt und werden heute in einer überarbeiteten, aktualisierten Fassung als PPR 2.0 angestrebt.Wie dringend erforderlich eine ordentliche, nachvollziehbare Personalbemessung im pflegerischen Bereich der stationären Gesundheitsversorgung ist, erfahren wir derzeit unter den zugespitzten Bedingungen einer sich rapide ausbreitenden Virenerkrankung mit Sars-CoV/2 (Coronavirus). Das deutsche Gesundheitswesen wird seitens der politisch Verantwortlichen als besonders gut dargestellt, auch in Bezug auf die Bewältigung einer Pandemie. Denn man sei in der Lage, auch relativ kurzfristig zusätzliche Intensivbetten aufzustellen. Aber wo soll das Personal herkommen, um diese Betten zu betreiben? Schon ohne Ankündigung zusätzlicher Intensivbetten können die vorhandenen Betten wegen des Mangels an Personal nicht zur Gänze betrieben werden. Entsprechende Meldungen kamen nahezu täglich in den letzten Monaten in der Presse. Um in der jetzigen Situation allein 50 weitere Intensivbetten zu betreiben, sind grob geschätzt mindestens 150 Krankenpflegekräfte (Vollkräfte) zusätzlich nötig, von denen mindestens ein gutes Drittel die Intensivzusatzausbildung absolviert haben sollte. Nimmt man den Gesundheitsminister Spahn beim Wort, so soll die Zahl der Intensivbetten in Deutschland verdoppelt werden. Derzeit werden rund 28.000 Intensivbetten betrieben. Eine Verdoppelung der Betten hieße auch, dass etwa das Vierfache an qualifiziertem Personal gebraucht würde, um diese Betten betreiben zu können. Wo aber sollen über 100.000 zusätzliche Krankenpflegekräfte herkommen? Hier wird deutlich, dass zusätzliche Intensivbetten im erforderlichen Ausmaß nicht zur Verfügung stehen und es zeigt im Weiteren die verfehlte Personalpolitik der vergangenen Jahre auf. Bedauerlicherweise ist diese Situation in der Bundesrepublik nichts Neues. Der Titel des SPIEGEL vom 21.11.1988 („Im Krankenhaus droht Lebensgefahr“) zeigt auf, dass wir bundesweit bereits mindestens einmal einen extremen Pflegenotstand zu beklagen hatten. Ganze Stationen konnten damals nicht mit Patient*innen belegt werden und OPs wurden geschlossen, da nicht ausreichend Pflegekräfte zur Verfügung standen. Die Proteste der Pflegekräfte wurden unüberhörbar und gipfelten in einer Protestversammlung in der Dortmunder Westfalenhalle am 28.Februar 1989, an der 20.000 Krankenpflegekräfte teilnahmen, begleitet von zahllosen regionalen Protestversammlungen im gesamten Bundesgebiet. Ursache war die Mitte der 80er Jahre verstärkt einsetzende Ökonomisierung des Gesundheitswesens durch Privatisierungen, Schließung ganzer Krankenhausstandorte, Ausgliederung von Dienstleistungen (Reinigung, Wäschereien, Essensversorgung usw.) und einem verstärkten Stellenabbau in der stationären Gesundheitsversorgung. Die damit einhergehende Arbeitsverdichtung insbesondere im Bereich der pflegerischen Versorgung führte im Zusammenspiel mit der traditionell schlechten Bezahlung von Pflegekräften zu einem extrem unattraktiven Berufsbild. Diese damals bereits absehbare Entwicklung wurde von der Politik bis zum sichtbaren Kollaps der Gesundheitsversorgung stoisch ignoriert. Erst der offensichtlich desolate Zustand in den Krankenhäusern und die heftigen Proteste von Krankenpflegekräften führte dann im Sommer 1990 zur Einsetzung einer Expert*innengruppe durch die Bundesregierung, mit dem Auftrag eine PflegePersonalVerordnung zu erarbeiten. Im Ergebnis entstand die sogenannte PPR (PflegePersonalRegelung) und wurde verbindlich am 1.1.1993 wirksam. Die Vorgaben der PPR sollten in mehreren Teilschritten bis 1996 erfüllt werden.

Mit Bedarfsmessung gegen die Personalnot? Der verlorene Kampf von unten

Inhaltlich betrachtet ist die PPR eine analytisch begründete Personalbedarfsbemessung. Der grundlegende Gedankengang war, alle pflegerischen Tätigkeiten, die erforderlich sind, um den gesundheitlichen Zustand von Patient*innen zu erhalten bzw. zu verbessern, zeitlich zu erfassen und mit empirisch ermittelten, durchschnittlichen Minutenwerten zu hinterlegen und damit den Pflegeaufwand in Minuten pro Tag festzulegen. Zählt man also die Bedarfe (in Minuten) an Pflege eines Tages von allen Patient*innen zusammen, so weiß man sehr genau, wieviel Minuten aufgewendet werden müssen, um den Pflegebedarf einer Station abzudecken. Da diese Ermittlung jeden Tag stattfinden sollte, kann man leicht den Bedarf für das gesamte zurückliegende Jahr errechnen und damit den Personalbedarf für das kommende Jahr prognostizieren. Dasselbe gilt für den Bezug auf eine Abteilung oder ein ganzes Krankenhaus. Eine Einschränkung liegt nur darin begründet, dass die PPR nur für somatische Stationen und erwachsene Patient*innen eingesetzt werden kann. Für Kinder und Neugeborene gab es eine weitere, spezielle PPR, für die psychiatrischen Abteilungen galt die PsychPV und die Intensivstationen wurden gesondert behandelt. Ab 1993 wurden dann jährlich neue Pflegestellen auf den Stationen geschaffen und besetzt. Ohne jeden Zweifel war die Einführung der PPR ein Erfolg für die Belange der Beschäftigten in der Pflege. Die Arbeitsbedingungen verbesserten sich durch einen Zuwachs an Pflegepersonal. Die öffentliche Debatte führte zu neuen Impulsen über das Berufsbild von Pflegekräften. Es wurde über ganzheitliche Pflege, Zimmerpflege und begleitende Pflege diskutiert und die sogenannte Funktionspflege wurde als überholt betrachtet. Funktionspflege ist das typische Ergebnis eines Mangels an Pflegekräften. Sie bedeutet, dass die Pflegekräfte einer Schichtbesetzung so eingeteilt werden, dass jeweils eine Pflegekraft eine bestimmte Tätigkeit z.B. das „Bettenmachen“ hintereinander bei allen Patient*innen durchführt. Eine andere Pflegekraft ist dann für eine andere pflegerische Tätigkeit, z.B. „Blutentnahme“ zuständig. Auf diese Weise geht der Kontakt, die Nähe und die Kommunikation zu den Patient*innen verloren, sie werden nicht mehr als Ganzheit erfasst, sondern eher als „Werkstück“ im Rahmen einer Fließbandtätigkeit. Diese Zergliederung pflegerischer Tätigkeiten konnte durch die Vermehrung der Pflegekräfte bei gleichzeitiger Diskussion über die Pflegeinhalte aufgehoben werden. Das Berufsbild Pflege gewann also deutlich an Attraktivität. Allerdings hielt dies nicht lange an. Denn schnell stellte sich heraus, dass die vollständige Erfüllung der Vorgaben durch die PPR erhebliche finanzielle Auswirkungen haben würde. Auf Drängen der Krankenkassen wurde die PPR bereits zum 1.1.1995 ausgesetzt. Damit hatten sich die Krankenkassen durchgesetzt. Hintergrund war eine gesellschaftliche Debatte über die Beitragssatzstabilität. Hier konnte sich die Arbeitgeber*innenseite gegenüber den von unten erkämpften Forderungen nach dauerhaften, nachvollziehbaren Personalzuordnungen durch die PPR durchsetzen. Den finanziellen Mehraufwand wollten weder die Kassen noch die Arbeitgeber*innen tragen. Die von den pflegerischen Basisaktiven mit zahlreichen Protesten und vielen Streiks erkämpften Fortschritte in den Arbeitsbedingungen auf den Stationen wurden nicht einfach nur eingeschränkt. Im Gegenteil, kaum waren die schlimmsten Auswirkungen des zurückliegenden Pflegenotstandes durch Einführung der PPR beseitigt und die Verhältnisse auf den Stationen „normalisiert“, leiteten Krankenkassen und Arbeitgeber*innen eine erneute Sparwelle im deutschen Gesundheitswesen ein. Bis 2008 wurden 50.000 Vollzeitstellen in der Pflege gestrichen. Weitere Privatisierungen und Ausgliederungen wurden von einem erheblichen Bettenabbau begleitet. Da die Zahl der Fälle sich nicht an dem Abbau der Betten orientierte, wurden die Verweildauern der Patient*innen erheblich reduziert. Die Arbeitsverdichtung auf den Stationen erreichte den Stand vor Einführung der PPR und dieses Mal kannten die Krankenhausträger ganz genau das Ausmaß des pflegerischen Notstandes und kalkulierten sogar damit. Da sich die PPR als ein Instrument erwiesen hatte, um den Personalbedarf messbar zu machen, wurde sie intern von nahezu allen Krankenhäusern als Instrument der Personaleinsatzplanung weiter genutzt und dies von vielen Krankenhäusern bis in die Gegenwart. Weil jedoch eine gesetzliche Verpflichtung weggefallen war, ist nie der tatsächlich ermittelte Bedarf an Personal, sondern ein deutlich geringerer eingesetzt worden. Der Personalmangel ist also schon seit den 90er Jahren ein kalkuliertes Vorgehen in den Klinken. Da die Bedarfsplanung intern weiter genutzt, aber nicht vollständig umgesetzt wird, ist den Klinikleitungen durchaus bewusst, dass sie massive Arbeitsverdichtungen in der Pflege vorantreiben. Die PPR macht mess- und sichtbar, wie viel Arbeit anfällt – und mit viel weniger Pflegekräften sie scheinbar umgesetzt wird.

Kostendruck und Investitionsstaus – die Verantwortung von Bund und Ländern

Der durch die Einführung der PPR entstandene finanzielle Mehraufwand war jedoch nicht der entscheidende Grund für die radikalen Sparmaßnahmen. Die gesetzlichen Krankenversicherungen hatten kein Ausgabenproblem, sondern ein Einnahmeproblem. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt waren die Ausgaben sehr stabil, während die beitragspflichtigen Einnahmen gegen Mitte der 90er Jahre zurückgingen. Um dies zu kompensieren, wurde nicht etwa die Einnahmesituation durch geeignete Maßnahmen entsprechend geändert, sondern die Ausgabenseite verantwortlich gemacht. Als ein Instrument, um die Ausgaben im Gesundheitswesen weiter zu reduzieren, wurde die Finanzierung der Krankenhäuser umgestellt. Galt bislang das Selbstkostendeckungsprinzip wurde ab 2004 eine an Fallpauschalen orientierte Finanzierung eingeführt. Nicht die notwendigen, bereits erfolgten Ausgaben wurden den Krankenhäusern von den Kassen rückerstattet, sondern es wurden pauschale Entgelte für bestimmte Fallarten, die sich an vorher festgelegten Durchschnittswerten orientierten, gezahlt. Damit wurde ein Teufelskreis eingeleitet. Gibt man für einen bestimmten Fall mehr Geld aus, als die Fallpauschale zulässt, so muss das Krankenhaus hier einsparen, um nicht unwirtschaftlich zu werden. Damit sinkt festgelegte Durchschnittswert dieser Fallpauschale weiter ab und weitere Einsparungen werden erforderlich. Wegen des hohen Personalkostenanteils in den Kliniken wurde natürlich gerade hier eingespart. Zudem wurde ein radikaler Abbau von Krankenhausbetten betrieben, der bis heute ungebrochen anhält und von einer erheblichen Arbeitsverdichtung in allen Bereichen des Krankenhauses begleitet wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt, welcher die Sparmaßnahmen im pflegerischen Bereich anheizte, war der erhebliche Mangel an Investitionsmittel für die Krankenhäuser. Die duale Finanzierung der stationären Gesundheitsversorgung beinhaltet die gesetzlich vorgeschriebene Finanzierung aller notwendigen investiven Kosten durch die Länder. Die Länder sind ihren Verpflichtungen sehr unterschiedlich und im Durchschnitt nur sehr eingeschränkt nachgekommen. Dies hat zu einem erheblichen Investitionsstau in den Krankenhäusern geführt – Expert*innen beziffern ein Volumen in Milliardenhöhe. Den meisten Krankenhäusern blieb daher nichts anderes übrig, als dringend anstehende Investitionen aus anderen Quellen zu finanzieren. Im Regelfall wurden die Finanzen aus dem Pflegesatzbudget herausgezogen. Damit wurden insbesondere die Personalkosten immer weiter reduziert, da diese den größten Anteil der verhandelten Budgets ausmachen. Auch die wegen mangelnder Investitionen gestiegenen Instandhaltungskosten mussten durch Reduzierung der Personalkosten kompensiert werden.

Neuer Protest in der Pflege – und ein neuer Anlauf der Bedarfsmessung?

Seit dem Jahr 2010 kommt es nun wieder bundesweit zu Protesten der Krankenpflegekräfte – und ein Ende ist bisher nicht in Sicht. Aus dem gewerkschaftlich initiierten Kampf um bessere Entlohnung entwickelte sich jedoch in der Zwischenzeit eine Auseinandersetzung um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal. Diese Forderung nach mehr Personal in den Krankenhäusern wurde von der Gewerkschaft Ver.di aufgegriffen und führte zu erbitterten Arbeitskämpfen, bis hin zum Erzwingungsstreik in großen Kliniken. Der erste große Erfolg wurde von den Kolleg*innen der Charité Anfang 2016 erzielt. Es wurde ein Tarifabschluss zwischen Verdi und der Charité Berlin erkämpft, welcher die einzusetzende Personalmenge (Krankenpflegekräfte) auf den Stationen regeln sollte. Galt bislang, dass die für eine bestimmte Arbeit eingesetzte Menge an Personal allein Angelegenheit der Arbeitgeber*innen ist, so gelang es hier erstmals, Stellenschlüssel tariflich festzuschreiben. Der erfolgreiche Arbeitskampf an der Charité stieß bundesweit weitere Auseinandersetzungen an diversen Kliniken an. Das Ziel war, bessere Arbeitsbedingungen durch Festlegung besserer Personalschlüssel auf den Stationen zu erkämpfen. Auch hier wurde eine Reihe von Erfolgen erstritten: Nach und nach konnten bundesweit an vielen Orten tarifliche Regelungen erkämpft werden. Sie erhalten jedoch sehr unterschiedliche Festlegungen zu Personalschlüsseln und zu den Sanktionen, die die Arbeitgeber bei Nichteinhaltung fürchten müssen.

Personalschlüssel tariflich oder gesetzlich regeln?

Der Mangel dieser und faktisch aller tariflicher Regelungen in Bezug auf Personalschlüssel, die in letzter Zeit erkämpft wurden, liegt in der Weigerung der Krankenkassen, solche Regelungen in den fallbezogenen Budgets zu berücksichtigen. Darum wird bereits länger darüber nachgedacht, eine gesetzliche Regelung zum Personalschlüssel im Pflegebereich durchzusetzen. Da eine gesetzliche Regelung gegen Personalnotstand in der Krankenpflege schon zu Beginn der 90er Jahre einmal erfolgreich durchgesetzt worden war, ist es nur folgerichtig diesen Ansatz aufzunehmen, zu aktualisieren und gesetzlich zu verankern. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Pflegerat und die Gewerkschaft Ver.di haben daher einen erneuten Anlauf genommen und eine aktualisierte Fassung der PPR unter dem Namen PPR 2.0 entwickelt. Diese liegt dem Bundesministerium für Gesundheit nun vor und dieses ist aufgefordert, dieses Personalbemessungsinstrument einzuführen.

Was regelt die neue Bedarfsermittlung in der Pflege?

Da in vielen Krankenhäusern die Daten zur Personalbemessung bis heute täglich erfasst werden, ist die Einführung der PPR 2.0 die wahrscheinlich einfachste Methode, Personalbemessung transparent und nachvollziehbar durchzuführen. Gerade wegen der täglichen Erfassung lässt sich auch unkompliziert die tägliche Menge an Pflegebedarf in Minuten ermitteln. Es ist dann nur ein kleiner Schritt dahin, die Gesamtanzahl des Pflegebedarfs in Minuten durch die Zahl der möglichen Arbeitsminuten pro Schicht zu dividieren. Im Ergebnis erhält man die Anzahl der notwendigen Köpfe des Pflegepersonals für diesen Tag. Dies ist eine sehr gute Grundlage, um die notwendige Schichtbesetzung des Folgetages zu prognostizieren. Hier muss angefügt werden, dass es insbesondere darauf ankommt, die Tagesbesetzung festzulegen. Ob die Früh- oder die Spätschicht gleich oder unterschiedlich zu besetzen sind, kann am besten an Hand der je unterschiedlichen Bedingungen vor Ort entschieden werden. Aus meiner Sicht und Erfahrung kann bereits nach drei Monaten einer derartigen Erhebung eine sehr genaue Prognose für den Bedarf an Vollkräften einer bestimmten Station für das Folgejahr erstellt und bei Pflegesatzverhandlungen vorgelegt werden. Ein weiterer, wichtiger Vorteil ist die Transparenz der Personalzuordnung auf den Stationen. Die Pflegekräfte kennen damit ganz genau die zu leistende Menge an Pflege und das Verhältnis der dazu eingesetzten Pflegekräfte. Damit werden ihre Forderungen nach mehr Personal auf eine nachvollziehbare, nicht widerlegbare Grundlage gestellt und können nicht mehr von den Pflegedienstleitungen in Frage gestellt werden und auf die Überforderung der einzelnen Mitarbeiter*innen geschoben werden. Die Einführung der PPR 2.0 wäre aus meiner Sicht ein großartiger Fortschritt, der tatsächlich den allgegenwärtigen Pflegenotstand nach und nach auflösen und den Beruf der Pflege wieder attraktiv machen könnte: für junge Menschen, die vor der Berufswahl stehen, aber auch für gestandene Pflegekräfte, die nach jahrelanger Überlastung ihre Arbeitszeit reduziert hatten. Denn sie würde den Status Quo deutlich verbessern: In einem von mir selbst ermittelten Beispiel einer unfallchirurgischen Station in einem Berliner Krankenhaus wurde deutlich, dass über ein halbes Jahr im Durchschnitt nur ca. 38% des laut PPR erforderlichen Personals vorhanden war. Dies ist kein Einzelfall, da vier stichprobenartig untersuchte weitere Krankenhäuser ähnliche Werte aufweisen. Auch bundesweit müssen ähnliche Größenordnungen unterstellt werden. Aus meiner Sicht wäre daher bereits eine Aufstockung des Pflegepersonals auf 70 % der PPR 2.0 ein großer Erfolg. Als ersten Teilschritt kann diese Marke durchaus dienen – wenn im Folgejahr auf 80% erhöht wird und dann jährlich steigend bis auf die volle Erfüllung der PPR 2.0. Es ist diese verlässliche, gesetzlich festgelegte Perspektive, die junge Menschen wieder motivieren könnte, einen Beruf im pflegerischen Bereich zu erlernen. Um dem Rechnung zu tragen, müssten auch die Ausbildungskapazitäten bundesweit drastisch erhöht werden. Die Betreuung der Auszubildenden auf den Stationen durch qualifizierte Praxisanleiter*innen mit entsprechender Freistellung ist ein weiterer wichtiger Baustein, um die stationäre Pflege als soziale und humane Aufgabe und damit als attraktiven Beruf wieder zu beleben. Es muss die Aufgabe der Politik, aber es wird auch die Aufgabe der kommenden Auseinandersetzungen sein, diesen Prozess zu begleiten und zum Erfolg zu führen.

Volker Gernhardt war viele Jahre Betriebsrat beim Klinikkonzern Vivantes und ist mittlerweile pensioniert.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/personalmangel-im-krankenhaus

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Der aktuelle extreme Mangel an Pflegekräften, die resultierenden Bettensperrungen und die immer wieder regional aufflammenden Streiks von Pflegekräften mit dem Ziel bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen, sind nichts Neues in der gesundheitspolitischen Landschaft Deutschlands. Bessere Arbeitsbedingungen sind eng verknüpft mit festen, nachvollziehbaren Stellenschlüsseln für die stationäre Pflege. Diese wurden bereits 1993 einmal erfolgreich mit Inkrafttreten der PPR (PflegePersonalRegelung) durchgesetzt, aber nach kurzer Zeit aus finanziellen Gründen ausgesetzt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Pflegerat und die Gewerkschaft Ver.di haben einen erneuten Versuch unternommen und für eine neue Personalbemessung eine aktualisierte Fassung der PPR unter dem Namen PPR 2.0 entwickelt.

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Der Text widmet sich den dringend notwendigen Reformen in der Altenpflege. Dem Pflegenotstand – also der unzureichenden Versorgung der Menschen mit Pflegebedarf, der mangelhaften Unterstützung pflegender Angehöriger und der schlechten Bezahlung der in der Pflege Beschäftigten trotz Arbeitsüberlastung – ist nur beizukommen, wenn sich sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Löhne in der Branche nachhaltig verbessern.

Die Autorin Pia Zimmermann betont, es brauche eine Pflegerevolution, um ein System zu entwickeln, in dem der Mensch im Mittelpunkt stehen. Dazu müsse die Finanzierung von Gesundheit und Pflege überarbeitet werden. Die skizzierte solidarische Pflegevollversicherung ist Bestandteil dieses Konzepts. Des Weiteren müssen zumindest die Renditen begrenzt werden, die mit Pflege gemacht werden können. Pflege ist keine Ware, sondern ein Grundrecht, das allen zugänglich sein muss.

Foto: Steven Hwg / Unsplash

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Raum nehmen! Warum wir eine feministische Verkehrsplanung brauchen

Mai 2020 • Janna Aljets

Foto: Ma Ti / Unsplash

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Mobilität, Feminismus, Alternativen#Mobilität #Feminismus #Alternativen

Straßenschluchten und Gehwege, U-Bahn-Stationen und Spielplätze scheinen allen Menschen der Stadt offenzustehen und universal zugänglich und verfügbar zu sein. Ein Fahrstuhl kann ebenso von allen genutzt werden wie der vierspurige Innenstadtring – oder etwa nicht? So unterschiedlich die Städte der Welt sind, so sehr ähneln sie sich in einer Sache: In ihnen materialisieren sich auch der männliche* Blick, die patriarchalen Verhältnisse und eine auf den männlichen* und weißen* »Normalbürger« zugeschnittene Produktions- und Lebensweise. Damit privilegieren sie wenige und negieren die Bedürfnisse vieler anderer.

Betrachtet man die heutige kapitalistische Stadt, ihren Verkehr und die (Im-)Mobilität ihrer Bewohner*innen aus einer feministischen intersektionalen Perspektive, so fällt eines auf: die Dominanz des Autos. Es ist der »Autozentrismus«, die Fokussierung und Privilegierung des Automobils, der die Mobilitätsbedarfe von Frauen*, aber auch von marginalisierten Gruppen systematisch vernachlässigt, zugunsten eines überholten Geschlechter- und Städtemodells. Anders ausgedrückt: In der Dominanz des Autos kulminieren die patriarchalen, rassistischen und klassistischen Herrschaftsverhältnisse, die unsere Städte und ihre Verkehrssysteme prägen. Eine intersektionale und nachhaltige Städte- und Verkehrsplanung muss diesen Zusammenhang in den Blick nehmen.

Das Auto als Ausdruck hegemonialer Männlichkeit

Es ist unstrittig, dass unser heutiges Verkehrssystem um das Auto als wichtigstem Verkehrsmittel herum aufgebaut ist. Dieser Autozentrismus geht aber weit über die Ausrichtung der Infrastruktur auf das Auto und die Dominanz des Industriezweigs hinaus. Er ist auch eine Geschlechterfrage. Wie kein anderes Konsumgut ist das Auto emotional aufgeladen und wird erfolgreich als das Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit, aber eben auch für Stärke, Dominanz, Kraft und Technik vermarktet – alles Begriffe, die Männlichkeit konstruieren und aufrechterhalten.

Bis heute wirkt das Bild nach, dass Pkw-Fahrer männlich und Beifahrer*innen weiblich sind und dass das Schrauben und Polieren den stolzen Vätern und »echten Männern« vorbehalten ist, die sich auf Technik verstehen. Oder, wie Dan Albert (2019) es formuliert: »Driver’s ID made teenagers into citizens; auto repair made boys into men.« Ein rücksichtsloses Verhalten von Männern im Verkehr spiegelt sich auch in den Unfallstatistiken wider: So sind Männer deutlich häufiger Verursacher von schweren und tödlichen Unfällen. Das trifft ebenso auf »Kavaliersdelikte« wie Trunkenheit, Raserei oder Falschparken zu (Statistisches Bundesamt 2018). Margarete Stokowski (2019) analysiert brillant, was die aufgeheizte Diskussion um Tempolimits in Deutschland mit angekratzter Männlichkeit zu tun hat: »Überall, wo es um Einschränkungen vermeintlich besonders männlicher Tätigkeiten geht, egal ob Fleischessen, Böllern oder schnelles Autofahren, stehen jedes Mal Bataillone von Politikern oder Journalisten bereit, die erklären, dass hier eine vermeintlich gottgegebene menschliche Freiheit mit völlig unvernünftigen, lustfeindlichen Beweggründen wegkastriert werden soll.«  Es ist fast lustig, wenn es nicht so traurig wäre.

In diesem Sinne müssen Motoren laut und schmutzig sein oder wenigstens in ihrer E-Variante ordentlich PS aufweisen. Autos werden zunehmend so gebaut, dass sie wie kleine Panzer die Straßen dominieren. Fahrräder und Fußgänger*innen müssen sich entschuldigend an ihnen vorbeizwängen, denn Straßen werden für Autos gebaut – und zwar ausschließlich für sie. Der für die Autobauer sehr lukrative SUV-Trend treibt diese Dominanz auf die Spitze. In gewisser Hinsicht erscheint er wie das Pendant zu »Manspreading« (Männer sitzen an öffentlichen Orten mit gespreizter Beinhaltung) und »Mansplaining« (herablassende Erklärung eines Mannes, der überzeugt ist, er wisse mehr als sein weibliches Gegenüber).

Der Raum wird sich genommen, ohne Rücksicht auf Verluste, auf andere Mitmenschen, auf Schwächere, Benachteiligte oder die Umwelt. Das Recht des Stärkeren wird hier bedingungslos ausgelebt, propagiert und gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Oder, wie es die Werbung für den Ford Mustang ausdrückt: »Denken Sie einmal nicht an Ihre Kinder.« Dieser katastrophale Trend, der die Unfallstatistiken und die Rendite von Autobauern in die Höhe treibt, zieht zudem eine Art Wettrüsten nach sich. Wenn immer mehr Zwei-Tonnen-Panzer auf den Straßen unterwegs sind, erscheint das Fahren normal großer Autos gegenüber den SUV nicht mehr sicher zu sein. Es braucht ein größeres Auto für das maximale Sicherheitsbedürfnis, was wiederum die Unsicherheit aller anderen verstärkt.

Dass auch immer mehr Frauen* große und umweltverschmutzende Autos fahren und dass gerade marginalisierte Männer oft darauf hinarbeiten, sich das dicke Auto als Statussymbol anzueignen, zeigt die Widersprüche auf, aber widerlegt das Argument in seiner Essenz nicht. Denn bei der Zurschaustellung hegemonialer Männlichkeit geht es nicht darum, »natürliche«, biologisch gegebene Eigenschaften auszuleben, sondern um gesellschaftliche Verhaltenserwartungen, um soziale Dominanz und symbolische Macht, die Weiblichkeit, aber auch andere Männlichkeiten abwertet – und zugleich einen Anpassungs- und Konkurrenzdruck erzeugt.

Verkehr wird von »echten Männern« gelenkt

Doch nicht nur der emotional aufgeladene Fetisch Auto macht den Verkehrssektor zu einer männlich dominierten Branche. So scheint der Verkehrssektor eine Bastion zu sein, auf deren Chefetagen weiße Männer noch unter sich sein können (die 1. Klasse in Flugzeugen und Bahnen mal ausgenommen) und wo andere Perspektiven kaum sichtbar sind und berücksichtigt werden. Die Dominanz dieser privilegierten weiß-männlichen Perspektive beginnt beim deutschen Verkehrsministerium, das seit seinem Bestehen keine einzige Ministerin hervorbrachte und auch sonst in den höhergestellten Positionen fast durchgehend männlich und weiß ist (Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2020).

Der Gender-Gap in der produzierenden Industrie ist auffällig und mit Zahlen belegt: In der Autoindustrie machen Frauen* schätzungsweise gerade einmal 14 Prozent der Belegschaft aus, was weit unter dem Durchschnitt anderer industrieller Branchen liegt. Der Frauen*anteil fällt zudem, je weiter die Besoldungsstufe bzw. Qualifikation steigt, in den Vorständen sucht man sie fast vergeblich.

Die Frauen*anteile variieren zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen: Bei den Automobilherstellern betrug der Frauen*anteil im Jahr 2008 lediglich zwölf Prozent, bei der Zuliefererindustrie zwischen 12,2 und 18 Prozent aller Beschäftigten (IG Metall 2010). Bis in die 1980er Jahre waren Frauen- bzw. Leichtlohngruppen vorhanden, die eine gesonderte (d. h. schlechtere) Bezahlung vorsahen (Deutscher Gewerkschaftsbund 2013).

Diese heute fast schon seltene männliche Exklusivität setzt sich in anderen Bereichen fort. So fällt die Verkehrs- und Stadtplanung in den Kommunen und Verwaltungen zum größten Teil in die Zuständigkeit von Männern und auch in den politischen Parteien finden sich wenige Frauen*, die zu diesem Thema sprechen. Sogenannte Verkehrsexperten sind fast immer Männer*, auf Fachkonferenzen nicken sich die wenigen anwesenden Frauen* bestärkend zu. So wundert es kaum, dass Verkehr weiterhin das Männerthema zu sein scheint.

Wohin führt die hegemoniale Männlichkeit im Verkehrssektor?

Mehr Frauen* und Vertreter*innen marginalisierter Gruppen in Machtpositionen garantieren noch keine geschlechtersensible Stadt- und Verkehrsplanung. Doch wenn diese Perspektiven in Gremien und Expertenrunden gar nicht vertreten sind, dominieren in der Verkehrsplanung zwangsweise die Transport- und Mobilitätsbedürfnisse vollzeiterwerbstätiger Männer*. Die moderne Stadtplanung bleibt damit ihrem fordistischen bias verhaftet: Sie entwirft und verwaltet Städte, die sich am männlichen Alleinverdiener und dessen Konsum- und Produktionsmustern orientieren. Damit werden Geschlechterbilder und Lebensweisen reproduziert und verfestigt, die eigentlich schon längst im Umbruch sind.

So gehen etwa die Straßenführungen zahlreicher Städte von langen Pendlerwegen zwischen Wohnort und Lohnarbeit aus, die einmal täglich vom implizit männlichen Erwerbstätigen zurückgelegt werden. Idealerweise im privaten Pkw auf der städtischen Autobahn. Zugeschnitten auf das Familien- und Mobilitätsideal der 1950er Jahre, das Städte nach dem Prinzip der »autogerechten Stadt« und der »freien Fahrt für freie Bürger« konzipierte. Straßen führen hin zur Arbeit, dem vermeintlichen Zentrum der produktiven Wirtschaft, und durchschneiden rücksichtslos Wohn- und Lebensbereiche.

Die Arbeiten, die in diesem Modell von Frauen* ausgeführt und als »weiblich« konstruiert werden, und die dazugehörigen Wege verlaufen weniger linear und noch weniger planbar. Care-Arbeit wie das Versorgen von Kindern und Älteren, das Einkaufen, das Abholen und Bringen umfassen sehr viel mehr Wegstrecken innerhalb eines Tages, die oft deutlich komplexer sind und idealerweise im direkten Wohnumfeld (Schule, Kita, Arzt, Supermarkt) stattfinden. Sorgearbeitende sind somit viel stärker auf kurze und sichere Fuß- und Radwege und auch auf einen gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) angewiesen. Und auch hier haben sie spezifische Bedürfnisse, etwa beim Transport: Eltern sind oft mit Kinderwägen unterwegs, die breitere Gehwege, flache Bordsteinkanten und leichte Ein- und Ausstiege beim ÖPNV erfordern – ebenso wie Menschen mit Behinderung (Murray 2018). All diese Bedürfnisse werden in einem rein männlichen Blick auf Städte- und Verkehrsplanung übersehen.Die Priorität wird dann auf schnelle Autostraßen gelegt anstatt auf eine gute Verzahnung und Erreichbarkeit verschiedener Verkehrsangebote im unmittelbaren Wohnumfeld.

Bewegung feministisch gedacht

Wie würden nun aber Verkehr und Mobilität aus feministischer und intersektionaler Perspektive umgestaltet werden? Während die toxische und hegemoniale Männlichkeit auf dem Prinzip des Stärkeren und damit auf Exklusivität basiert, muss es um Inklusivität und die Rücksichtnahme auf Schwächere und gesellschaftlich Benachteiligte gehen. Mobilität bedeutet die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Schon aus einem demokratischen Anspruch heraus muss sie allen zugänglich sein und ist Teil einer sozialen Daseinsvorsorge. Daraus ergeben sich vier Leitlinien einer radikalen Wende im Verkehrssektor:

1 // Mobilität für alle: Während Städte bisher für Autos und damit für die stärksten (und meist auch einkommensstärksten) Verkehrsteilnehmer*innen (um-)gebaut werden, müssten sie zugänglich für alle Menschen sein. Die Bewegungsfreiheit einiger darf nicht länger die Mobilität vieler anderer beschneiden. Mobilität muss unabhängig von Geschlecht, Einkommen oder Hautfarbe sicher, bezahlbar, barrierefrei sowie umweltfreundlich sein.Diese Ansprüche weisen deutlich auf kollektive Verkehrsmittel sowie auf Fahrrad- und Fußverkehr hin. Diese Transportmittel verbrauchen deutlich weniger Platz und Ressourcen, produzieren weniger Lärm und Luftverschmutzung. Zudem können sie in der Regel deutlich günstiger Mobilität für viele ermöglichen. Das allein schließt schon die bisher übliche Normalbewegungsform in einem Privat-Pkw mit Verbrennungsmotor aus.

2 // Sicherheit für alle: Bislang ist das Verkehrssystem auf die jungen und fitten sowie die Wohlhabenden zugeschnitten. Doch alte Menschen, Kinder und Menschen mit körperlichen Einschränkungen haben andere Bedürfnisse nach sicherer Mobilität. Nicht umsonst ist die Fahrrad-Infrastruktur ein Schlüsselindikator für eine gerechtere und inklusivere Mobilität. Je besser und sicherer diese ist, desto mehr Frauen*, Kinder und alte Menschen fahren Rad (El País 2019).  Zudem müssen insbesondere Frauen und People of Color im öffentlichen Raum mit der Angst vor Übergriffen oder Belästigung leben. Dunkle Tiefgaragen, schlecht beleuchtete Bahneingänge und Unterführungen können für sie zu Schreckensorten werden. Auch der ÖPNV bedeutet in dieser Hinsicht oft Stress – um das eigene Auto nicht zum einzig sicheren Rückzugsort werden zu lassen, den man sich leisten können muss, braucht es Konzepte, wie solche Räume für alle sicher werden können.

3 // Fokus auf Beziehungsarbeit: Nicht zuletzt müssen die Wege, die Sorgearbeit erfordern, stärker in den Blick kommen. Die »Mobility of Care« ist eine kompliziertere, kleinteiligere und multifunktionale Mobilität. Mobilität bedeutet hier auch Beziehungsarbeit, der Kontakt mit und zwischen Menschen ist essenziell. Es ist daher nicht erstaunlich, dass sich viele Frauen* wie auch ältere Menschen mehr öffentliche Räume für Begegnungen in den Städten wünschen (BBC 2019). Einfache und einladende Sitzgelegenheiten und Parks können Sorge- und Beziehungsarbeiten erleichtern und ermöglichen – und sie zugleich aus der Abschottung des »Privaten« holen. Wenn der städtische Raum von kommerziellen Flächen und Parkplätzen aufgefressen wird, werden diese Begegnungen unmöglich.

4 // Fehlerfreundlichkeit: Ein inklusiver Ansatz erfordert es, dass Verkehr fehlerfreundlicher wird. Fehlerfreundlich für Menschen, die nicht, noch nicht oder nicht mehr schnell laufen können oder nicht gut sehen oder hören oder sich schlichtweg nicht gut auskennen. Das kann längere Ampelschaltungen, breitere Radwege, barrierefreie Kennzeichnungen, Fahrstühle und vieles mehr mit sich bringen. Das bedeutet aber auch, das vermeintliche Recht der Schnelleren und Stärkeren aktiv und gezielt einzuschränken.

Voranbringen müsste eine feministische und intersektionale Verkehrswende diejenigen, die vom dominanten Autozentrismus am meisten betroffen sind und/oder schon jetzt an Alternativen arbeiten: Eltern, Fahrradaktivist*innen, Umweltschützer*innen, alte Menschen und Kinder. Es braucht hier noch stärker gemeinsamen organisierten Druck von unten, neue Allianzen sind hier denkbar und wünschenswert. Doch auch innerhalb etablierter Institutionen in Parteien, NGOs und Ministerien sowie in der Kommunalpolitik braucht es radikale Veränderungen. Ohne die Repräsentanz und die Stimmen von zum Beispiel Frauen und marginalisierten Communities ist keine geschlechtersensible und intersektionale Planung möglich.

Die (männliche) Dominanz der Autos in unseren Städten müsste zurückgedrängt werden. Zugleich wird das in jeder Stadt anders aussehen, denn Planung und Umsetzung des Wandels müssen mit den Menschen erarbeitet werden. Am Ende könnten von diesen Leitlinien tatsächlich alle profitieren: Eine andere Verkehrsplanung bedeutet mehr Zugang, Gerechtigkeit, Ruhe, Platz, frische Luft, Sicherheit und (Begegnungs-)Raum für alle.

Literatur

Albert, Dan (2019): Are We There Yet? The American Automobile Past, Present, and Driverless, New York.

BBC (2019): What would a city designed by women be like?

Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2020): Organigramm.

Deutscher Gewerkschaftsbund (2013): Gleiches Geld für gleichwertige Arbeit.

El País (2019): Las mujeres necesitan más los carriles bici que los hombres para pedalear.

Murray, Christine (2018): What would cities look like if they were designed by mothers?, in: The Guardian, 27.8.2018.

Statistisches Bundesamt (2018): Verkehrsunfälle. Unfälle von Frauen und Männern im Straßenverkehr.

IG Metall (2010): Frauenbeschäftigung in der Automobilbranche. Entwicklung und aktuelle Situation.

Vgl. https://twitter.com/M_arvinR_oss/status/1002102147843051521.

Janna Aljets ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung gegen Kohle, Autos und Macker aktiv und hat im Brüsseler Büro der RLS den Themenbereich zur Transformation der Automobilindustrie und der Verkehrswende aufgebaut.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/raum-nehmen-warum-wir-eine-feministische-verkehrsplanung-brauchen

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Mobilität bedeutet die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Schon aus einem demokratischen Anspruch heraus muss sie allen zugänglich sein und ist Teil einer sozialen Daseinsvorsorge. Betrachtet man jedoch die heutige Stadt- und Verkehrsplanung, so fällt eines auf: die Dominanz des Autos. Aus einer feministischen und intersektionalen Perspektive zeigt der Beitrag, wie die autogerechte Stadt die Mobilitätsbedarfe von Frauen* und marginalisierten Gruppen vernachlässigt, zugunsten eines überholten Geschlechter- und Städtemodells. Vier Leitlinien zeigen den Weg für eine radikale Wende, von der letztlich alle profitieren: Eine andere Verkehrsplanung bedeutet mehr Zugang, Gerechtigkeit, Ruhe, Platz, frische Luft, Sicherheit und (Begegnungs-)Raum für alle.

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Öffentlich zum Nulltarif

Mai 2020 • Judith Dellheim

Foto: Mark Cook / Unsplash

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Heute gibt es weltweit in etwa 100 Städten und Gemeinden einen Nulltarif im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), 60 davon liegen in Europa. In Deutschland ist öffentliches Fahren zum Nulltarif gegenwärtig im bayerischen Pfaffenhofen und seit 1. April auch in Mohnheim möglich. Tübingen will folgen. In Augsburg gibt es immerhin eine Light-Variante: Durch einen Nulltarif im engen Innenstadtbereich soll dieser vom Autoverkehr entlastet werden. Das Thema ist also auch hierzulande in der Diskussion und über 70 Prozent der Bevölkerung befürworten einen entgeltfreien ÖPNV. Zuletzt ist die Zahl der Städte und Gemeinden weltweit, in denen es einen Nulltarif gibt, schnell gewachsen. Die Motive für die Einführung sind von Ort zu Ort unterschiedlich, entsprechend divers sind die Erfahrungen mit diesem Instrument, das in den 1960er Jahren in den USA zum ersten Mal erprobt wurde und seither in diversen Ländern zum Einsatz kommt. Eine vergleichende Auswertung zeigt: Nulltarif ist nicht gleich Nulltarif – und ein Nulltarif macht noch keine Verkehrswende (vgl. Dellheim/Prince 2018; Brie/Dellheim 2020). Für ein solidarisches und ökologisch gerechtes Verkehrssystem ist der Nulltarif nur ein – wenngleich ein sehr wichtiger – Schritt.

Warum Nulltarif?

Es sind vor allem drei Entwicklungen, die aus der Sicht von immer mehr Menschen, Stadt- und Kommunalregierungen für den Nulltarif sprechen: zum einen die stark verschmutzte Luft in den Innenstädten, zum anderen die durch starken Autoverkehr beeinträchtigte Lebensqualität der Einwohner*innen und schließlich die Notwendigkeit, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um nationale Klimaziele zu erreichen. Der Autoverkehr führt in vielen Städten zu so massiven Staus, dass der individuelle und der gesellschaftliche Alltag beeinträchtigt werden. Das bedeutet Zeitverlust, Hektik und Stress, was wiederum steigende Aggressivität in den Städten zur Folge hat. Die Reduzierung von Staus war dementsprechend ein wichtiges Motiv für die Einführung des ÖPNV-Nulltarifs im schwedischen Avesta, in Tórshavn auf den dänischen Färöer-Inseln, im polnischen Bełchatów oder jüngst im US-amerikanischen Kansas City. Auch Luxemburg hat zum 1. März 2020 aus den genannten Gründen den Nulltarif im gesamten öffentlichen Personennahverkehr eingeführt. An vielen Orten kommt ein weiterer Faktor hinzu: der Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Dieser spielt beispielsweise in den etwa 20 Städten in Polen eine zentrale Rolle, die seit 2010 einen Nulltarif eingeführt haben. Zuvor mussten arme Kinder oft lange zur Schule laufen oder waren auf die Hilfe von Autobesitzer*innen angewiesen. Für alte Menschen war ein Arztbesuch teils unerschwinglich. Immer wieder wurde aber auch in wohlhabenderen und touristisch beliebten Kommunen der Nulltarif eingeführt, weil damit dort die autofreien Innenstädte mit Geschäften, Cafés und Restaurants an Attraktivität gewinnen.

Nulltarif ist nicht gleich Nulltarif

Vom Nulltarif ist immer dann die Rede, wenn in einem Gebiet an allen Wochentagen für die volle Betriebsdauer der gesamte ÖPNV unentgeltlich genutzt werden kann. Allerdings gibt es unterschiedliche Modelle, die auch unterschiedliche politische Implikationen haben. In der estnischen Hauptstadt Tallinn beispielsweise gilt der Nulltarif lediglich für die offiziell dort gemeldeten Einwohner*innen, während im französischen Dunkerque alle frei fahren können. Damit ist nicht nur die Frage der allgemeinen Zugänglichkeit, etwa für Personen ohne Papiere, aufgeworfen, sondern auch die brisante Frage, wie hier Daten generiert und verwaltet werden: Hält man jedes Mal die Einwohnerkarte an einen Sensor, kann ein individuelles Mobilitätsprofil erstellt werden. Was geschieht damit, wem gehören die Daten? Mehr oder weniger zufällige Kartenkontrollen oder auch die gegenseitige Beobachtung der Fahrgäste können wiederum Tendenzen rassistischer und ethnischer Diskriminierung verstärken. Und gelten Geflüchtete als Einwohner*innen oder nicht? Dass der Nulltarif nicht per se ein emanzipatorisches Projekt ist, zeigt das Beispiel der lettischen Hauptstadt Riga, wo es eine rechte Stadtverwaltung war, die den ÖPNV-Nulltarif nur für Einwohner*innen eingeführt hat. Ein weiteres Beispiel ist die nordrhein-westfälische Kommune Monheim, wo der kostenlose »Monheim-Pass« durch die sprudelnden Steuereinnahmen einer aggressiven Standortpolitik refinanziert wird. Konkret wurden dort durch die Halbierung des Gewerbesteuersatzes Firmen und Investoren aus anderen Kommunen abgeworben. Nicht nur hier zeigt sich: Der Nulltarif ist immer auch mit der Frage nach seiner nachhaltigen und solidarischen Finanzierung und Nutzung verbunden. Wird das Projekt aus den Überschüssen einer auf Steuerdumping basierenden Politik finanziert? Oder ist der Nulltarif Bestandteil einer sozialen Umverteilungspolitik, ein Beitrag zur Reduktion des Autoverkehrs und zur Verkehrswende? Letzteres gilt, wenn die Ausweitung der Nahverkehrsstrukturen beispielsweise durch höhere Gebühren für Parkplätze gegenfinanziert wird.

Nulltarif als Einstiegsprojekt

Der Nulltarif kann aber weit mehr sein als nur ein verkehrspolitisches Steuerungsinstrument: Er kann in eine Politik der Teilhabe und Demokratisierung öffentlicher Dienstleistungen eingebettet werden. Ein Beispiel hierfür ist Maricá im Bundesstaat Rio de Janeiro. Die brasilianische Stadt hat etwa 150 000 Einwohner*innen und ist bekannt für ihre attraktiven Strände. Vor der Einführung des Nulltarifs hatten allerdings viele Kinder und Jugendliche aus armen Stadtteilen den Atlantik noch nie zu Gesicht bekommen. In dem von Rechten dominierten Bundesstaat hat die Einführung des Nulltarifs nicht nur soziale, sondern auch demokratiepolitische Gründe. Durch die Lösung der Mobilitätsprobleme der Bürger*innen soll das Zusammenleben der Menschen insgesamt, sollen ihre sozialen und ökologischen Lebensbedingungen verbessert werden. Die Möglichkeit, sich unentgeltlich fortzubewegen, trägt dazu bei, die gesellschaftliche Teilhabe zu stärken, Menschen politisch zu aktivieren und Segregation zu überwinden. Insgesamt soll der Nulltarif auch zu einer Demokratisierung politischer Entscheidungsprozesse beitragen. Die Finanzierung der meist hochmodernen Busse in Maricá, die sogar über WLAN verfügen, wird aus öffentlichen Mitteln, insbesondere aus den Steuern der in der Region ansässigen Betriebe, getragen. Interessant ist, dass die ökonomisch wichtigsten Unternehmen der Region zur Energiewirtschaft gehören und ökologisch hochgradig zerstörerisch agieren. Die Stadt hat aber ein Konzept für den Ausstieg aus der fossilen Energie und den weiteren Ausbau des Öffentlichen. Dabei geht es sowohl um eine Ausweitung öffentlicher Mobilitätsangebote, wie beispielsweise unentgeltlich nutzbare Leihfahrräder, als auch um Bildungs-, Gesundheits- und Pflegeleistungen. Insgesamt sollen neue sinnvolle Arbeitsplätze entstehen, aus deren Steuereinnahmen dann auch die Finanzierungsgrundlage des ÖPNV verändert werden kann.

Eine widersprüchliche Geschichte

Dass »Nulltarif nicht gleich Nulltarif« ist und dass das Instrument durchaus widersprüchliche Wirkungen haben kann, gilt nicht erst seit heute, sondern seit der Geburtsstunde des Konzepts. Die Lebensdauer des Nulltarifs war oft kurz, das Instrument blieb politisch umkämpft und bedroht. Zudem war es vielerorts zu kleinteilig und isoliert, um zu einer nachhaltigen Wende im Verkehrssystem beizutragen. Es war ausgerechnet eine Stadt mit dem Namen Commerce in der Nähe von Los Angeles, die sich 1962 zum ersten Mal an einem Nulltarif im ÖPNV versuchte. In den 1970er, 1980er und 1990er Jahren folgten in den USA weitere Pilotprojekte. Die damaligen Protagonist*innen argumentierten ähnlich wie heute mit den sozialen Vorteilen, insbesondere mit der höheren Mobilität von Armen und Arbeitsuchenden. Auch seien die Abschaffung der Tarife und der Ausbau des ÖPNV wesentlich günstiger als die Investitionen in den Ausbau der Automobilinfrastruktur. Heute gibt es in etwa 30 Orten in den Vereinigten Staaten einen Nulltarif. Meist sind es kleine städtische oder auch städtisch-ländliche Gemeinden (z. B. Edmund/Oklahoma), Universitätsstädte wie Chapel Hill, North Carolina oder Bezirke mit Naturparks und Touristenresorts wie Crested Butte und Estes Park (beide in Colorado). Oftmals sind es aber gerade nicht sozial marginalisierte Gruppen, die vorrangig von diesen Nulltarifen profitieren, denn in den Universitätsstädten und touristisch attraktiven Kommunen können sich ohnehin nur Wohlhabende eine Wohnung im Zentrum oder in Zentrumsnähe leisten. Einen öffentlichen Regionalverkehr gibt es meist nicht oder nur zu unerschwinglichen Preisen. Nur selten sind kostengünstige Parkplätze am Stadtrand mit einem gut ausgebauten ÖPNV zum Nulltarif verbunden. Und auch wenn immer noch neue Städte und Gemeinden hinzukommen, wie aktuell Olympia, das seit wenigen Monaten einen Nulltarif hat, und Kansas, das ihn zum 1. Juni 2020 bekommt – von einer Erfolgsgeschichte in den USA kann keineswegs die Rede sein: In größeren Städten wie Mercer County/New Jersey und Denver/Colorado wurde der ÖPNV-Nulltarif wieder abgeschafft. Bei dramatisch wachsenden gesellschaftlichen Problemen, gesteigerter Autoproduktion und expandierendem Autoverkehr fehlte es am politischen Willen zu einer echten Mobilitätswende. Ähnlich steht es in Europa: Dort gab es das erste Nulltarif-Experiment 1971 in Colomiers, einem Vorort von Toulouse in Frankreich. Es folgten Rom und Bologna, jeweils im Kontext politischer Auseinandersetzungen, in denen eine starke Linke ihre konkreten Ideen für solidarische Lebensweisen für kurze Zeit hegemonial machen konnte. Mit ihrer Niederlage trat in Italien eine Steuer- und Finanzreform in Kraft, die solche Projekte fortan verhinderte. Auch im brandenburgischen Templin scheiterte die Fortsetzung des 1997 eingeführten Nulltarifs 2002 an der Finanzverfassung. Lange war Hasselt in Belgien das bekannteste europäische Beispiel. Die sozialdemokratische Stadtverwaltung hatte dort, in einer ausgewiesenen »Autostadt«, 1996 die Pläne für den Bau einer neuen Umgehungsstraße fallengelassen und stattdessen das ÖPNV-Netz ausgebaut. Aufgrund steigender Betriebskosten und politischer Veränderungen wurde das Projekt 2014 leider wieder beendet – acht Jahre waren zu kurz, um Mobilitätsmuster nachhaltig zu verändern, angeschaffte Autos stehenzulassen.

Den Umstieg organisieren

Die Einführung des Nulltarifs allein hat also noch keine ausreichende umweltpolitische Wirkung, auch führt sie nicht notwendigerweise – zumindest nicht kurzfristig – zu einer relevanten Senkung der CO2-Emissionen im Verkehr. Mit Blick auf Tallinn, Hasselt oder Templin wird oft darauf verwiesen, dass die Fahrgastzahlen vor allem dadurch in die Höhe schnellen, dass viele, die bislang kurze Strecken per Fahrrad und Fuß zurücklegten, nun in den ÖPNV »gelockt« werden. Genau das will die Erfurter LINKE, die am Nulltarif als Teil eines umfassenderen Stadtentwicklungskonzepts arbeitet, im Interesse der öffentlichen Gesundheit und des Umweltschutzes verhindern. Ihr Konzept setzt entsprechend auch darauf, Zu-Fuß-Gehen attraktiver zu machen, und auf ein intelligentes Bike- und Car-Sharing-System. Um Menschen dazu zu bewegen, tatsächlich aufs Auto zu verzichten, sind in diesem Sinne größere Anstrengungen notwendig. Einige Studien zeigen, dass erst hohe Parkgebühren und ein deutlicher Zeitgewinn des ÖPNV gegenüber dem Auto dazu führen, dass Menschen tatsächlich auf Bus und Bahn umsteigen. Für diese These spricht auch das Beispiel Tallinn mit seinen immerhin circa 430 000 Einwohner*innen: Bestimmte Bevölkerungsgruppen konnten auch schon vor 2013 den städtischen ÖPNV unentgeltlich nutzen. Eine spürbare Veränderung kam aber erst, als der Nulltarif auch auf die die Stadt durchfahrenden Regionalzüge ausgedehnt wurde. Abschließend lässt sich festhalten, dass ein gut ausgebauter kommunaler und regionaler ÖPNV zum Nulltarif insbesondere dann erfolgreich ist, wenn er in eine Politik integriert wird, die die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bürger*innen insgesamt im Blick hat, zugleich auf eine aktive Teilhabe der Einwohner*innen, insbesondere der sozial Marginalisierten, am gesellschaftlichen Leben zielt und bemüht ist, auch die Freizeit der Bürger*innen zu mehren. Sofern reale Alternativen für die öffentliche Beförderung gegeben sind, sind auch hohe Parkgebühren und »Auto-Diskriminierung« sozial gerecht. Dann kann ein ÖPNV mit Nulltarif oder mit stark gestaffelten Sozialtarifen ein verbindendes Projekt für all jene werden, die sich heute für die gerechte Lösung konkreter Mobilitätsprobleme und zugleich für ein selbstbestimmtes Leben in Würde, solidarischem Miteinander und intakter Natur für alle engagieren wollen. 

 

Literatur

Brie, Michael/Dellheim, Judith (Hg.), 2020: Nulltarif. Luxus des Öffentlichen im Verkehr: Widersprüchlicher Fortschritt einer Idee im ÖPNV, Hamburg (zum herunterladen)

Dellheim, Judith/Prince, Jason (Hg.), 2018: Free Public Transit. And Why We Don’t Pay to Ride Elevators, Montreal

Judith Dellheim ist Referentin für Solidarische Ökonomie im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist in verschiedenen Wissenschaftler*innen-Netzwerken und sozialen Bewegungen aktiv – unter anderem zum Thema Nulltarif im ÖPNV.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/oeffentlich-zum-nulltarif-ein-unentgeltlicher-nahverkehr-erleichtert-den-umstieg

#Mobilität #Alternativen

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Weltweit gibt es Städte, in denen die öffentlichen Verkehrsmittel unentgeltlich genutzt werden können. Nicht immer ist damit schon ein Schritt in Richtung Verkehrswende verbunden. Der Artikel zeigt an Erfahrungen verschiedener Städte, warum die Einführung des Nulltarifs allein noch keine ausreichende umweltpolitische Wirkung hat und nicht notwendigerweise – zumindest nicht kurzfristig – zu einer relevanten Senkung der CO2-Emissionen im Verkehr beiträgt.

Die Autorin hält abschließend fest, dass ein gut ausgebauter kommunaler und regionaler ÖPNV zum Nulltarif insbesondere dann erfolgreich ist, wenn er in eine Politik integriert wird, die die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bürger:innen insgesamt im Blick hat, zugleich auf eine aktive Teilhabe der Einwohner:innen, insbesondere der sozial Marginalisierten, am gesellschaftlichen Leben zielt und bemüht ist, auch die Freizeit der Bürger:innen zu mehren.

Foto: Mark Cook / Unsplash

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Bildung in Rosa

Juni 2021 • Songül Bitiş • Nina Borst

Alternativen#Alternativen

Alle Folgen und Material zum Weiterlesen: https://www.rosalux.de/bildunginrosa

 

Bildung in Rosa #8: Das Pädagogische ist politisch!

Wir sprechen mit unseren Sterne-Gästen Natascha Khakpour und Jan Niggemann über die Bedeutung von Bildung als politischer Praxis. Dazu gibt es eine Düsenfahrt in die Perspektiven Antonio Gramscis, der in seinen Gefängnisheften seine Überlegungen zu Bildung und Schule niederschrieb.  Nach der erfolgreichen Rebellion und einem epischen Konflikt um Macht, Teilhabe, Struktur, Subjekt, Verantwortungen und Allianzen öffnen sich Räume zum Schlafen, Gärtnern und eine ganz neue Perspektive auf Bildung.  Viel Spaß beim Zuhören! Das Pädagogische ist politisch!

Natascha Khakpour hat an der PH Freiburg zu Deutsch-Können als umkämpftes Artikulationsgeschehen promoviert und beschäftigt sich (auch weiterhin) mit Sprache, Rassismus und gesellschaftskritischen Perspektiven auf schulische Bildung. Nach den Stationen Wien und Freiburg ist sie derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau.

Jan Niggemann arbeitet als Universitätsassistent am Arbeitsbereich Bildungstheorie und Schulforschung der Uni Graz. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. Bildungstheorie, Pädagogische Autorität und Transformation von Bildung im Kontext sozialer Ungleichheit.

 

Bildung in Rosa #7: Visionieren mit Popcorn

In der letzten Folge dieses Jahres sprechen wir mit Diane Izabiliza und Sookee über eigene Bildungserfahrungen, die Bedeutung widerständiger und subkultureller Formate und die Notwendigkeit gemeinsamen Visionierens.

Lasst euch überraschen von den spannenden Perspektiven - und lasst euch mitreißen von der Energie die entsteht, wenn wir gemeinsam über Visionen nachdenken, reinfühlen, konkretisieren, verwerfen und darüber in Kontakt kommen. Wir sprechen über die Erfahrungen unserer Gäste auf ihren Bildungswegen und über kulturelle Bildung, die für beide eine große Rolle spielt. Macht es euch schön mit uns und seid dabei.

Diane Izabiliza arbeitet an der Schnittstelle zwischen Bildung, Kultur und Wissenschaft. Sie ist staatlich anerkannte Erzieher*in, Sozialarbeiterin, Kulturwissenschaftlerin und seit Januar 2021 Co-Leiterin des Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung Berlin. Ihr Dokumentarfilm „Die Mauer ist uns auf den Kopf gefallen“ Women of Color und ihre Perspektiven auf den Mauerfall erschien 2018.

Sookee (*1983) ist Musikerin, Antifaschistin und Mutter. Sie hat mit ihrer langjährigen Erfahrung in diskriminierungssensiblen und machtkritischen Diskursen begriffen, dass das Monothematische dem Multiperspektivischen Platz machen muss, wenn gesellschaftliche Veränderung das Vorzeichen unserer Handlungen sein soll. So ist sie Gastgeberin der intergenerationalen Gesprächsreihe „Abends warm“ und schreibt Kolumnen für das „Veto-Magazin“ und „Links bewegt“. Sie ist seit über 15 Jahren in der Rap-Szene aktiv und beendete im März 2020 nach nunmehr 6 Alben, zahlreichen Kollaborationen und unzähligen Auftritten offiziell ihr Schaffen im Rahmen musikindustrieller Verwertungsprozesse. Als „Sukini“ ist sie 2019 musikalisch in kinderkulturelle Sphären gewechselt und macht seither Lieder, die sich große und kleine Leute gemeinsam erschließen können

 

Bildung in Rosa #6: Wanted: Diskriminierungsskritische Lehrer*innen

In dieser Folge widmen wir uns der diskriminierungskritischen, insbesondere der rassismuskritischen Professionalisierung von Lehrer*innen. Es ist kein Geheimnis, dass an einem der wichtigsten Lernorte von Kindern und Jugendlichen gesellschaftliche Verhältnisse reproduziert werden. Auch für Lehrende können diese Verhältnisse sehr belastend sein und in Resignation, Überforderung und Ohnmacht enden. Um dem etwas entgegenzusetzen und die ausschließenden Strukturen sichtbar zu machen, sprechen wir mit unseren beiden Gästen über rassismuskritisches Wissen als unabdingbarer Teil der Professionalisierung von Lehrer*innen. Nur mit dieser Kompetenz kann Bildung ermöglicht werden.

Saraya Gomis lernt und lehrt und ist u.a. ehrenamtlich bei EOTO engagiert. Each One Teach One (EOTO) e.V. ist ein Community-basiertes Bildungs- und Empowerment-Projekt in Berlin. Im Jahr 2012 gegründet, eröffnete der Verein im März 2014 als Kiez-Bibliothek seine Türen und ist seither ein Ort des Lernens und der Begegnung. EOTO e.V. setzt sich gemeinsam mit anderen Organisationen für die Interessen Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland und Europa ein.

Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen, Schulforschung und Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft und Diversitätssensible Lehrer*innenbildung.

Darüber hinaus berät Karim Fereidooni die Bundesregierung im Kabinettsausschuss der Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus sowie im Unabhängigen Expert*innenkreis Muslimfeindlichkeit des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat. Außerdem berät er das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Nationalen Aktionsplans Integration zum Thema Integration durch Bildung.

 

Bildung in Rosa #5: Kinderarmut in Deutschland?!

Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt und dennoch ist mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut betroffen. Ebenso gilt in Deutschland, dass es eine hohe Abhängigkeit zwischen der sozialen Herkunft und Bildungschancen gibt. Familien und Kinder mit geringen materiellen Ressourcen werden auf unterschiedlichsten Ebenen systematisch von Bildung ausgeschlossen. Ein Kreislauf der Armut wird erzeugt und reproduziert.

Wir haben zwei Expert*innen eingeladen, um mit Ihnen ins Gespräch zu kommen und diesem öffentlich wenig präsenten Thema Gehör zu verschaffen. Begleitet und unterstützt hat uns auch in diesem Podcast Swantje vom Audiokombinat, der wir an dieser Stelle «vielen, vielen Dank» für den tollen support sagen wollen!

Gabriele Koné, Pädagogisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin im ISTA (Institut für den Situationsansatz): Koordination Vorurteilsbewusste Materialien- und Medienentwicklung

Michael Klundt (1973), seit 2010 Professor für Kinderpolitik im Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal und dort seit 2016 Leitung des Master-Studiengangs «Kindheitswissenschaften und Kinderrechte»; Mitglied im Beirat der Zeitschrift für Soziale Arbeit «Sozial Extra» und im Beirat des «Bundes demokratischer Wissenschaftler/innen» (BdWi);

 

Bildung in Rosa #4: Körper. Lernen. Spielen.

Wir reflektieren mit unseren beiden Gästen was Körper, Lernen und Spielen verbindet und sprechen über Scham, gesellschaftliche Machtverhältnisse und wie sich diese in unserem Körper wiederfinden. Wir sagen: «Scheiter heiter» und sprechen über «Fehler machen» und die Chance sich immer wieder neu entscheiden zu können. Wir denken spielerisch über Veränderungen nach und werfen unterschiedliche Perspektiven auf die Chancen und Grenzen von Widerständen.

Deniz Döhler, Deutsch-Türkischer Spiel-und Theaterpädagoge, Co-Gründer der gemeinnützigen AuJA Spielräume gUG (h.b.) - Erziehung und Förderung autistischer Kinder und Jugendliche. Co-Autor von AuJA  - Autismus akzeptieren und Handeln. Referent zu den Themen Autismus, Sprachbildung, interkulturelle Kommunikation, Improvisationstheater und Inklusion.

Dr. Aki Krishnamurthy, able bodied Frau of Color, Freundin, Schwester, Mutter, Tochter, Theateraktivistin, Feministin. Sie ist seit 2007 freiberufliche Empowermenttrainerin, Theater- und Tanzpädagogin meist mit dem spezifischen Fokus auf Geschlechterverhältnisse und/oder Rassismus in unterschiedlichen Kontexten (Südamerika, Kaukasus, Indien, Deutschland) und ist davon überzeugt, dass persönliche, soziale und politische Veränderungen von und mit dem Körper gedacht werden müssen. Sie war Promotionsstipendiatin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und promovierte an der Johann Goethe-Universität Frankfurt am Main und gewann den Dissertationswettbewerb des Barbara Budrich Verlags und den Cornelia Goethe Preis. Derzeit ist sie Referentin für Antirassismus und Empowerment an der Alice Salomon Hochschule Berlin.

 

Bildung in Rosa #3: Let’s talk about: Schule

Schule ist der institutionelle Ort, an dem wir viel Zeit verbringen und die eine wichtige Rolle für unsere Lern- und Teilhabeerfahrungen spielt. Denn klar ist: In der Schule werden viele (gesellschaftliche) Ein- und Ausschlüsse reproduziert. Wir kommen mit Lalitha Chamakalayil und Martina Zilla Seifert ins Gespräch und erfahren, wie eine Schule, die Teilhabe ermöglicht, aussehen kann. Was Teamarbeit damit zu tun hat. Wie Lernen und Teilhabe in Schule aussehen kann. Was Elter*n und Familienperspektiven auf Schule und Bildung sind.

Martina Zilla Seifert, 65 Jahre, 3 Kinder, angestellte Lehrerin - Schulleiterin der Gesamtschule Körnerplatz, Preisträgerschule Der Deutsche Schulpreis 2021 - Moderatorin für Kooperatives Lernen - Fortbildnerin im Bereich von Teamentwicklungsprozessen - vorschulische Tätigkeiten: Frauenbeauftragte in verschiedenen Organisationen u.a. Evangelische Kirche im Rheinland - Gewerkschaftssekretärin bei der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen

Lalitha Chamakalayil, Diplom-Psychologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Kinder- und Jugendhilfe, Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW. Arbeitsschwerpunkte: Verhältnisse sozialer Ungleichheit: Aushandlungen und Positionierungen; familiale Aushandlungsprozesse in der Migrationsgesellschaft; Eltern und Schule im Kontext gesellschaftlicher Ungleichheiten; Jugend und Übergänge; Prozesse von Inklusion und Exklusion: Rassismuskritik, Diversität, Genderfragen; Mütter/Eltern unter 20; qualitative Forschungsmethoden.

 

Bildung in Rosa #2: Inklusion - Was ist das eigentlich?

Freut euch auf eine schöne Achterbahnfahrt, in der wir einige Loopings bei der Herstellung von Niedrigschwelligkeit und Praxisbezug drehen, scharfe Kurven um internalisierte (verinnerlichte) Unterdrückung machen, den Kraftakt bei der Herstellung von Inklusion hinunterbrausend wieder zu den Fragen über den Wunsch und die Un*Möglichkeit alle abzuholen, aufsteigen.

Mai-Anh Boger ist von Haus aus (Behinderten-)Pädagogin und arbeitet derzeit an der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Philosophien der Differenz und Alterität, Psychoanalytische Pädagogik und Inklusion.

Theresa Straub promoviert an der Universität Innsbruck in Inklusiver Pädagogik und Disability Studies zum Thema Inklusions- und Exklusionsmechanismen in Bildungsbiografien behinderter Menschen in Deutschland und Österreich. Sie ist Promotionsstipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin.

 

Bildung in Rosa #1: Bildungsungleichheiten revisited

In der ersten Folge «Bildungsungleichheiten revisited» werfen die Gastgeberinnen Songül Bitiş und Nina Borst einen Blick auf Entwicklungen in Bezug auf Bildungsgerechtigkeit in den letzten 10 Jahren. Zu Gast sind Katrin Reimer-Gordinskaya, Kritische Psychologin und Koray Yılmaz-Günay, Bildner, Publizist und Aktivist. Die beiden sprechen über ihre persönlichen Erfahrungen mit Inklusion und analysieren die hartnäckigen Strukturen, die nach wie vor Bildungsungleichheiten hervorbringen und zementieren. Sie erzählen auch, was sie motiviert, trotzdem weiter an gerechterer Bildung zu arbeiten. Außerdem verraten sie ihre Visionen einer Bildung, an der möglichst viele Menchen teilhaben können.

#Alternativen

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In diesem Podcast geht es um Hoffnungen, Träume, Visionen, Erwartungen und Entwicklungen in Bezug auf Bildung. Wir erforschen gemeinsam wie wir inklusiver Bildung einen Schritt näherkommen können. Dabei lassen wir auch mögliche Widersprüche zu. In jeder Podcast-Folge sprechen wir mit unterschiedlichen Gästen, die ihre Perspektiven auf eine Bildung teilen, die nicht ausschließt, sondern einbezieht.Wir wollen von unseren Gästen wissen, was das Thema mit ihnen persönlich zu tun hat. Warum es sich lohnt für Bildung für alle zu kämpfen, zu streiten, zu werben und sich einzusetzen.

  • #Alternativen
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Die Studie beleuchtet verschiedene Ausprägungen der Ökonomisierung schulischer Bildung und analysiert deren Ursachen – wie die chronische Unterfinanzierung des Schulsystems, die ihren Niederschlag in baufälligen Schulgebäuden und im Lehrkräfte-Mangel findet. Außerdem werden die politisch forcierte Stärkung der Schulautonomie, die Auflösung der Schulbezirke, der Boom von Privatschulen und privaten Nachhilfeanbietern, die Ausweitung ökonomischer Bildung in den Lehrplänen und die Schulmarketingaktivitäten von Unternehmen thematisiert.

Die Studie zeigt, dass Bund und Länder den Digitalkonzernen mit dem 2019 verabschiedeten «DigitalPakt Schule» lukrative Absatzmärkte geschaffen haben, während pädagogische Konzepte fehlen. Es wird deutlich: Die zunehmende Ökonomisierung wird die Chancengerechtigkeit in der Bildung nicht verbessern. Wobei die Kritik am Status quo mit Positivbeispielen konstruktiv gewendet wird und mit acht schulpolitischen Forderungen abschließt.

  • #Alternativen
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Arbeiten an der Belastungsgrenze und wirtschaftliche Zwänge, die im Widerspruch zum medizinischen und gesellschaftlichen Bedarf stehen – das war vielen Beschäftigten im Krankenhaus auch vor Corona nicht fremd. Die grundsätzliche Tendenz, das Gesundheitswesen vorrangig als ein Marktsegment zu betrachten, das sich über Wettbewerb steuern ließe, ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Gleiches gilt für den Widerstand von Beschäftigten und ihren Verbündeten. Die Broschüre gibt Einblicke in Kämpfe um Gesundheit in anderen Ländern und zeigt dabei nicht nur Gemeinsamkeiten und Besonderheiten auf, sondern beleuchtet zugleich verschiedene Problemstellungen und Konfliktgegenstände, die sich oft in verblüffender Ähnlichkeit auch hierzulande wiederfinden. So sollen die Beiträge nicht zuletzt auch die Diskussion um Herangehensweisen und Strategien der Krankenhausbewegung in Deutschland bereichern.

  • #Krankenhaus
  • #Organisierung
  • #Pflege
  • #Alternativen
  • #Krise
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Wie können wir mit jungen Menschen rassismuskritische, offene solidarische und selbstreflektierte Positionen entwickeln? Die Autor_innen sind sich einig, dass die Bildungspraxis entscheidend ist: Es geht darum, wie Bildungsprozesse gestaltet werden und wie wir von- und miteinander lernen. Anders als in einem zunehmend neoliberal ausgerichteten Bildungssystem, das auf die Konformität von Menschen abzielt, lässt sich politische Bildung mit Inhalten füllen, die uns etwas bedeuten. Wir können dort Bildung organisieren, wo wir etwas verändern wollen am Status quo.

In der Broschüre (Heft 7 in der RLS-Reihe «Bildungsmaterialien») werden beispielhaft vier Bereiche und Methodenbausteine ausgewählt, die bildungspolitisch relevant und allgemein von großem Interesse sind: Jugendbildungsarbeit nach dem NSU; Klasse und Klassismus; Organisierung und selbstverwaltete Jugendclubs; Utopie in der politischen Bildung.

  • #Alternativen
  • #Organisierung
  • #Anti-Rassismus
  • #Migration
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Wie können wir unsere Organisationen demokratischer machen? Wie können wir Inklusion in der Praxis stärker in unserem Aktivismus verankern? Wie können wir als Aktivist*innen, Multiplikator*innen, politische Bildner*innen, Bürger*innen, Mitglieder von Bewegungen und Organisationen feministische Werte in unsere Arbeit und in unseren Alltag einbringen und umsetzen? Die munizipalistische Bewegung hat diese Fragen eingehend diskutiert und politische Vorschläge und Praxen entwickelt, um die Politik zu demokratisieren und dabei den Feminismus ins Zentrum zu rücken. Ergebnis dieser politischen Arbeit ist das vorliegende Toolkit, das als Inspiration, Diskussionsgegenstand und Praxishilfe dienen soll. Die Publikation bietet Einblicke in die Prozesse, Erfahrungen und Diskussionen der Bewegung und stellt zahlreiche praxiserprobte Werkzeuge vor, die in verschiedenen Städten aus der spezifischen munizipalistischen Erfahrung gewonnen wurden.

  • #Feminismus
  • #Organisierung
  • #Alternativen
#Alternativen
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Unser im Vergleich zu anderen Ländern immer noch weitgehend staatlich organisiertes und kontrolliertes Schulsystem wird zunehmend von wirtschaftlichen Interessen und Akteuren unterwandert. Diese These belegt Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt/Main, in seiner neuen Studie «Ökonomisierung schulischer Bildung – Analysen und Alternativen», die er im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung verfasst hat. ➤ Download: https://www.rosalux.de/publikation/id/42166/oekonomisierung-schulischer-bildung

Am 3. Juni 2020 wurde die Studie «Ökonomisierung schulischer Bildung» online vorgestellt und diskutiert, ob die Studienergebnisse eine Unterwerfung unter ökonomische Interessen bedeuten oder es sich um eine notwendige Anpassung an die Erfordernisse der Zeit handelt.

Podiumsdiskussion mit Tim Engartner (Autor der Studie «Ökonomisierung schulischer Bildung»), Ilka Hoffmann (im GEW-Vorstand für Schulen zuständig) und Jürgen Kaube (Herausgeber der FAZ, der sich in seiner Zeitung mit Bildung und Wissenschaft beschäftigt).

  • #Alternativen
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Die Beiträge der Broschüre lassen sich nicht in das Schema «Bist du für oder gegen Computer in der Schule?» pressen. Den Autor*innen geht es nicht um eindeutige, glatt gebügelte Antworten, sondern darum, Probleme zu benennen und Perspektiven für eine Bildung in Zeiten der Digitalisierung zu entwickeln.

„Jede technische Entwicklung, jede wissenschaftliche Entdeckung im Kapitalismus dient der Kapitalverwertung und meistens auch der Herrschaftssicherung. Doch zugleich enthält sie, wenn auch jeweils in unterschiedlichem Maße, Möglichkeiten der Vergesellschaftung und der Befreiung“, so Herausgeber Karl-Heinz Heinemann im Vorwort.

Foto: Stefan Meller / Pixabay

  • #Gewerkschaft
  • #Alternativen

Demokratisierung im Gesundheitswesen

Schafft ein, zwei, viele Gesundheitszentren

Mai 2017 • Kirsten Schubert

Die alte Kreis-Poliklinik in Pasewalk. Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

Die alte Kreis-Poliklinik in Pasewalk. Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

Krankenhaus, Pflege, Alternativen#Krankenhaus #Pflege #Alternativen

In kaum einem gesellschaftlichen Sektor ist die Frage der Mitbestimmung so heikel wie im Gesundheitswesen – geht es doch um unser aller Leib und Leben. Angesichts dessen scheint nachvollziehbar, den anerkannten Expert*innen des Fachs weitreichende Entscheidungskompetenzen einzuräumen: den Ärzt*innen. Ausgeprägte Hierarchien, wenig Interprofessionalität und kaum Mitbestimmungsmöglichkeiten der Patient*innen gelten als notwendiges Übel. Historisch hat sich in Deutschland ein stark segmentiertes Gesundheitssystem entwickelt, das – auch im internationalen Vergleich – besonders ärztezentriert ist. Da Ärzt*innen vieles über Krankheiten wissen, jedoch oft wenig über Gesundheit, kann eine wirkliche Veränderung des Gesundheitssystems nur gelingen, wenn man auch die Deutungshoheit über dieses sensible Thema demokratisiert und vergesellschaftet.

Die ›Produktion von Gesundheit‹ findet nicht nur in den Krankenhäusern, Arztpraxen und Reha-Einrichtungen statt, also dort, wo wir traditionell das Gesundheitswesen verorten. Vielmehr sind es die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, die den größten Einfluss auf Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit haben – also die Wohnverhältnisse, Fragen von Bildung, Erholung, Verkehr und Infrastruktur, Ernährung und natürlich der Arbeitsverhältnisse. Anders ausgedrückt: Für die Frage, ob jemand an Diabetes erkrankt oder an einem Herzinfarkt stirbt, ist sein sozioökonomischer Status entscheidender als die Qualität des Gesundheitssystems, das er nutzt. Ärmere Menschen sterben früher. Die Lebensspanne von Männern der niedrigsten Einkommensgruppe ist um elf Jahre kürzer als bei jenen der höchsten Einkommensgruppe (Der Paritätische Gesamtverband 2017).

Ärztedominierte Pseudo-Demokratie

Gesundheit ist also nicht nur ein hochpolitisches Thema, sondern auch anschlussfähig an Debatten um Wirtschaftsdemokratie, wie sie beispielsweise von Gewerkschaften geführt werden: Ein hohes Niveau an Partizipation und Mitbestimmung im Betrieb kann sich auf mehrfache Weise positiv auf die Gesundheit auswirken: durch direkte Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Einkommen, aber auch durch Stärkung von Gesundheitsressourcen wie beispielsweise die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.Doch wie sieht es mit der Demokratie im Gesundheitssektor selbst aus? Wer entscheidet, welche Medikamente wir bekommen, ob eine neue Behandlungsmethode (etwa in der Physiotherapie) von der Krankenkasse übernommen wird, oder ob die Gesundheitsversorgung in meinem Stadtteil ausreichend ist? Jenseits der gesetzlichen Rahmenbedingungen, die größtenteils im fünften Sozialgesetzbuch geregelt sind, werden solche Entscheidungen nicht im Bundesgesundheitsministerium gefällt, sondern von der sogenannten Gemeinsamen Selbstverwaltung – bestehend aus Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Der Staat gibt also lediglich den Rahmen vor und führt Aufsicht. Dieser Selbstverwaltungsapparat ist eine deutsche Besonderheit. Sie geht zurück auf die Sozialgesetze, die Reichskanzler Bismarck 1883 initiierte, und die dadurch begründete gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Diese sollten als Zuckerbrot die zuvor in Form der »Sozialistengesetze« geschwungene Peitsche ergänzen, revolutionäre Neigungen dämpfen und die Arbeiterschaft mit dem Kaiserreich versöhnen.

Unter der Ärzteschaft löste die Einführung der Krankenkassen aber großen Unmut aus. Sie sahen ihre Unabhängigkeit in Gefahr – insbesondere die Möglichkeit, direkt Honorare von den Patient*innen zu nehmen. Auch die von den Kassen gegründeten Ambulatorien (später Polikliniken) wurden von der Ärzteschaft als Bedrohung ihrer Selbstständigkeit und als Gefahr für die ärztliche Berufsidee wahrgenommen. Mit den Gesetzen von 1931 und 1932 wurden deshalb die KVen geschaffen, um der organisierten Ärzteschaft ein offizielles Organ zu geben. Während des Nationalsozialismus wurden diese von einer Interessenvertretung zu einem parastaatlichen Exekutivorgan. Ihnen obliegt unter anderem, eine bedarfsgerechte vertragsärztliche Versorgung in allen Regionen Deutschlands sicherzustellen. Ein gravierendes Demokratie- und Gerechtigkeitsdefizit des deutschen Systems wird hier insofern deutlich, als beispielsweise bis heute in wohlhabenden Stadtteilen mit vielen Privatpatient*innen eine größere Ärztedichte und teils eine Überversorgung herrscht, während in sozial benachteiligten Gegenden oder auf dem Land die Versorgung oft nicht sichergestellt werden kann. Viele dieser Aspekte sind in zahlreichen europäischen Ländern anders geregelt: Oft gibt es ein staatliches Gesundheitswesen, das durch Steuern finanziert ist und mit einem verbeamteten Gesundheitspersonal arbeitet.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung, setzt sich zusammen aus den KVen, den Krankenkassen und den Krankenhausgesellschaften beziehungsweise deren jeweiligen bundesweiten Spitzenorganisationen. Als gesetzliches Gremium entscheidet der G-BA rechtsverbindlich über den Leistungsanspruch der etwa 70 Millionen gesetzlich Versicherten und wird daher auch »kleiner Gesetzgeber« genannt. Stimmberechtigt sind darin fünf Vertreter*innen der Kostenträger, also der gesetzlichen Krankenkassen, fünf Vertreter*innen der Leistungserbringer, also der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und KVen, sowie drei unparteiische Mitglieder. Aus dem gesamten ambulanten Versorgungssektor sind in diesem Gremium nur Ärzt*innen stimmberechtigt, Patientenvertreter*innen haben zwar Antrags-, jedoch kein Stimmrecht. Die Entscheidungen des G-BA müssen dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) zur Prüfung vorgelegt werden. Dieses überprüft jedoch nicht die fachlichen Inhalte, sondern nur das rechtlich korrekte Zustandekommen der Entscheidungen. Obwohl der G-BA auch Heil-, Hilfs- und Arzneimittelrichtlinien verabschiedet, haben weder die davon betroffenen Berufsgruppen noch die Patient*innen ein Mitbestimmungsrecht. Auch sind die Ausschusssitzungen nicht öffentlich. Es handelt sich also im günstigsten Fall um eine ärztedominierte Pseudodemokratie.

Solidarische Praxen

Dass niemand ins Krankenhaus möchte sofern es sich vermeiden lässt, liegt hierzulande nicht nur daran, dass krank sein nicht schön ist. Personalmangel, intransparente und oft nach ökonomischen Kriterien gefällte Therapieentscheidungen sowie Ärztedominanz statt Interprofessionalität machen einen stationären Aufenthalt für viele Patient*innen und Angehörige zum Graus. Umso wichtiger, dass es Versuche gibt, hier nach Auswegen zu suchen: Das Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« wendet sich gegen die aktuelle Krankenhausfinanzierung durch Fallpauschalen und eine zunehmende Kommerzialisierung. Die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen für mehr Personal und Mitbestimmung sind ein Beispiel vorbildlicher Organisierung in diesem Bereich (vgl. Wolf 2016). Ein weiteres Beispiel liefert ein kleines Krankenhaus im brandenburgischen Spremberg. Nach einer drohenden Insolvenz übernahmen die Beschäftigten des Hauses den Betrieb. 51 Prozent der Gesellschafteranteile gehören nun einem Förderverein, in dem 70 Mitarbeiter*innen des Hauses Mitglied sind. Alle anderen sind Bürger*innen der Stadt. Das heißt, in allen zentralen Fragen, die das Krankenhaus betreffen, entscheiden sowohl die Angestellten als auch die potenziellen Patient*innen mit.

Auch in der ambulanten Versorgung gibt es einige Lichtblicke. Dennoch ist die Situation hier kompliziert. Historisch bedingt ist der Sektor extrem zersplittert. Üblicherweise wird die ambulante Versorgung mit der Arbeit der niedergelassenen Ärzt*innen gleichgesetzt. Apotheken, Heilmittelerbringer wie Physio- oder Ergotherapeut*innen und Hilfsmittel¬erbringer wie Sanitätshäuser werden meist nicht genannt. Ausgeblendet werden auch Pflegetätigkeiten, wie sie von ambulanten Pflegediensten, in der persönlichen Assistenz oder von pflegenden Angehörigen erbracht werden. Alle Akteure agieren getrennt voneinander, die einzige Schnittstelle sind die niedergelassenen Ärzt*innen. Mitbestimmung oder auch nur wechselseitige Abstimmung ist auf dieser Ebene nicht vorgesehen. Vielmehr sind alle als freiberufliche Unternehmer*innen organisiert, die sich in den letzten Jahren zunehmend auch im Wettbewerb auf dem Gesundheitsmarkt bewähren müssen.

Den sogenannten Sicherstellungsauftrag für den ambulanten Bereich haben seit 1955 die KVen: Sie haben damit quasi ein Versorgungsmonopol für die gesetzlich Versicherten im ambulanten Sektor. Dies führt oft dazu, dass sich ärztliche Interessen durchsetzen, statt dass es darum geht, die Versicherten optimal zu versorgen. In der Doppelfunktion als Ärzt*in und Kleinunternehmer*in ist angelegt, dass ökonomische Interessen die Versorgung beeinflussen – nicht nur im Kontakt zu Patient*innen, sondern auch durch die Gatekeeper-Funktion der Ärtz*innen gegenüber anderen Berufsgruppen im ambulanten Bereich. Mit den seit 2014 bestehenden Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) wurden zwar neue, kooperative Arbeitsformen geschaffen, diese zielen jedoch meist vor allem auf betriebswirtschaftlichen Erfolg und nicht auf eine verbesserte Patientenversorgung oder Mitbestimmung. Innovative Eigentumsformen oder Kooperationen existieren im ambulanten Bereich in Deutschland kaum.

In anderen Ländern hingegen gibt es einige interessante Ansätze. Am bekanntesten sind die solidarischen Kliniken in Griechenland. Entstanden, um auch nicht versicherten Menschen den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, mussten sie im Rahmen der Finanzkrise auch Menschen versorgen, die mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes die Krankenversicherung eingebüßt hatten. Es entstanden über 40 Praxen in ganz Griechenland, eingebunden in solidarische Stadtteilaktionen, vernetzt mit anderen Projekten auch außerhalb Griechenlands und entschlossen, mit der Gesundheitsversorgung auch politische Organisierung und kollektive Entscheidungsfindung neu und anders zu erproben.

In Belgien entstanden bereits in den 1970er Jahren Gesundheitszentren, die bis heute ein faszinierendes Modell politischer Arbeit in der öffentlichen Daseinsvorsorge bilden. Eng verbunden mit der Belgischen Arbeiterpartei PTB organisiert Médecine pour le Peuple (MPLP) elf Gesundheitszentren, in denen versucht wird, eine andere Medizin zu praktizieren und in denen der direkte Zusammenhang zwischen Gesundheit und Lebens- und Arbeitsbedingungen ein zentrales Thema ist. Patient*innen werden für politische Aktionen mobilisiert und in den Kampf gegen die krankmachenden gesellschaftlichen Bedingungen eingebunden: Umweltverschmutzung durch Metallfabriken, schlechte Arbeitsbedingungen, hohe Medikamentenpreise oder Feinstaubbelastung durch den großen Antwerpener Autobahnring.

Auch die Community Health Centres in Kanada zeigen, dass es anders gehen kann: Hier sind die Patient*innen als gewählte Mitglieder eines Lenkungsgremiums mit in die Entscheidungsstrukturen eingebunden.

Gesundheitskollektiv Berlin

Sowohl die skizzierten Missstände als auch die ermutigenden Erfahrungen aus anderen Ländern haben eine Gruppe von Leuten in Hamburg und Berlin motiviert, über konkrete Alternativen in der ambulanten Gesundheitsversorgung nachzudenken. Der erste Impuls kam vor mehr als fünf Jahren aus dem Umfeld des Hamburger Medibüros, etwas später entstand die Idee, auch in Berlin ein Gesundheits- und Sozialzentrum zu gründen. Eine zentrale Rolle bei diesen Überlegungen spielte die Frage, wie auch die sozialen Determinanten von Gesundheit im Sinne der Gesunderhaltung angegangen werden könnten. Warum nur die Krankenversorgung verbessern, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen krank machen? Das käme einer Sisyphosarbeit gleich. Gesundheitsprojekte müssen auch politische Projekte sein und, eng eingebunden in den Stadtteil, versuchen, die gesellschaftlichen Bedingungen im Sinne eines transformativen Community Organizing zu verändern.

Mittlerweile hat die Hamburger Gruppe die Poliklinik Veddel eröffnet: Hausärztliche Versorgung, Sozial- und Rechtsberatung sowie Stadtteilarbeit werden gemeinsam im Kollektiv besprochen und entschieden. Und auch in Berlin geht es mit großen Schritten voran. Unser Gesundheits- und Sozialzentrum wird voraussichtlich Ende 2018 eröffnet. Dann werden wir einen Neubau auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei im »roten Rollberg« in Neukölln beziehen. Im Sommer 2017 sollen die Bauarbeiten beginnen. Vor drei Jahren wurde die Organisationsgruppe in einem Wohnzimmer gegründet, inzwischen finden wöchentliche Plena in einem Kreuzberger Ladengeschäft statt. Fördergelder konnten eingeworben werden, und wir werden zunehmend auch von Politik und gemeinsamer Selbstverwaltung angesprochen. Die Ansprüche an das Projekt sind groß: Es soll durch Gemeinwesenarbeit, Community Organizing und partizipative Forschung im Kiez verankert sein und dort primärmedizinische Versorgung durch Pflege, Physio- und Ergotherapeut*innen, Hausärzt*innen und Kinderärzt*innen bieten, ebenso wie Sozial-, Rechtsberatung und Selbsthilfe vor Ort. Aktuell sind wir eine multiprofessionelle Gruppe bestehend aus Psychotherapeut*innen, Ärzt*innen, Leuten aus der Pflege, den Gesundheitswissenschaften, der Pädagogik und einigen weiteren Disziplinen. Unsere Aktivitäten bestehen bisher zu einem großen Teil aus Kiezarbeit: Treffen mit Akteuren aus dem Jugend- und Sozialbereich, Stände und Aktionen auf Kiezfesten und eine partizipative Sozialraumanalyse. Daneben sind wir vor allem mit der Konzeptentwicklung beschäftigt. Denn es gibt bisher keine Rechtsform, die ein interprofessionelles, stadtteilorientiertes Zentrum dieser Art ermöglicht. Die aktuellen rechtlichen Möglichkeiten fixieren die zentrale Rolle der Ärzt*innen und stellen wettbewerbsrechtliche Regelungen über Kooperation.

Es wird zunehmend offensichtlich, dass es eines komplett neuen Modells und den dafür notwendigen rechtlichen Änderungen bedarf, wenn wir unser Projekt in der geplanten Form umsetzen wollen. Beheimatet in der ›idyllischen Politarbeit‹, werden wir zunehmend mit standes- und parteipolitischen Interessen konfrontiert, sitzen in Medizinrechtskanzleien am Kurfürstendamm und planen Anträge bei staatlichen Fördertöpfen für innovative Gesundheitsprojekte. Um dabei nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, arbeiten wir an einem politischen Selbstverständnis, wir wollen ein Kollektivstatut erstellen und rote Linien festlegen. Ein politischer Beirat soll geschaffen werden, um unsere Arbeit kritisch zu begleiten.

Gelingt es uns tatsächlich, unser Modell wie geplant umzusetzen, hoffen wir damit ein transformatorisches Projekt schaffen zu können, das öffentliche Daseinsfürsorge demokratisiert: von der Entscheidungsfindung beim Gespräch zwischen Ärzt*in und Patient*in, über die Beteiligung von Patient*innen und Anwohner*innen im Lenkungsgremium bis hin zu einem Community Board, das Akteure im Stadtteil einbezieht.

Um nicht nur eine kleine »Insel der Vernunft« zu bleiben, gehört die Vernetzung in Deutschland und international zu unseren zentralen Anliegen. Mit unserem Hamburger Schwesterprojekt sind wir dabei, ein Poliklinik-Syndikat zu gründen, das nach dem Vorbild des Miethäusersyndikats möglichst viele selbstverwaltete Gesundheits- und Sozialzentren entstehen lassen soll.

Wir wollen einen Ort des Lernens schaffen, an dem gemeinsame Wissensproduktion und partizipative Entscheidungsfindung erprobt werden kann. Solche Gesundheits- und Sozialzentren können Orte politischen Handelns und gesellschaftlicher Veränderung sein. Es geht also um transformatorische Konzepte im Gesundheitswesen, um Einstiegsprojekte. Hierfür muss die Mammutaufgabe vollbracht werden, die Hegemonie der Ärztelobby zu brechen und Gesundheit zu einer gesellschaftlichen Aufgabe zu machen. 

Literatur

Der Paritätische Gesamtverband (Hg.), 2017: Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland, Berlin, www.der-paritaetische.de/armutsbericht/download-armutsbericht

Schubert, Kirsten/Vagkopoulou, Renia, 2016: Futuring Health Care, in: Fried/Schurian: Um-Care. Gesundheit und Pflege neu organisieren, Berlin, 41–52.

Wolf, Luigi, 2016: »Mehr von uns ist besser für alle!«, in: Fried/Schurian (Hg.): Um-Care. Gesundheit und Pflege neu organisieren, Berlin, 23–31.

Kirsten Schubert ist Ärztin, Gesundheitsaktivistin und Mitglied im Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ). Sie war Referentin bei medico international und arbeitet nun in einer Hausarztpraxis in Berlin. Ihr politisches Hauptprojekt ist derzeit der Aufbau eines Gesundheits- und Sozialzentrums in Berlin-Neukölln. Das GeKo ist das Schwesterprojekt einer Poliklinik-Initiative in Hamburg.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/demokratisierung-im-gesundheitswesen

Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

#Krankenhaus #Pflege #Alternativen

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Historisch hat sich in Deutschland ein stark segmentiertes Gesundheitssystem entwickelt, das – auch im internationalen Vergleich – besonders ärztezentriert ist. Da Ärzt*innen vieles über Krankheiten wissen, jedoch oft wenig über Gesundheit, kann eine wirkliche Veränderung des Gesundheitssystems nur gelingen, wenn man auch die Deutungshoheit über dieses sensible Thema demokratisiert und vergesellschaftet. Warum nur die Krankenversorgung verbessern, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen krank machen? Der Beitrag skizziert Missstände aber auch ermutigende Erfahrungen und Initiativen für alternative Formen der Gesundheitsversorgung. Eine zentrale Rolle spielt dabei, wie auch die sozialen Determinanten von Gesundheit im Sinne der Gesunderhaltung angegangen werden könnten.

Die alte Kreis-Poliklinik in Pasewalk. Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

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  • #Pflege
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Ein bundesweiter Mietendeckel ist verfassungsrechtlich möglich, verbessert flächendeckend den Schutz vor steigenden und überhöhten Mieten und leistet damit einen unverzichtbaren Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage. Zu diesen Ergebnissen kommt die Studie, die der Stadtsoziologe Andrej Holm und der Fachanwalt für Mietrecht Benjamin Raabe im Auftrag der Fraktion DIE LINKE im Bundestag und der Rosa-Luxemburg-Stiftung verfasst haben. Zugleich könnten die staatlichen Ausgaben für Mietzuschüsse an einkommensärmere Haushalte gesenkt werden. Allein in den 42 untersuchten Großstädten kann ein bundesweiter Mietendeckel mehr als einer Million Haushalten das Wohnen zu einer leistbaren Miete ermöglichen. Jeder siebte Haushalt würde so entlastet – in den besonders von der Wohnungsnot betroffenen Gebieten sogar jeder vierte. Um das gleiche Ziel zu erreichen, wären staatliche Mietzuschüsse, etwa durch Wohngeld, in Höhe von 5 Milliarden Euro pro Jahr nötig. Mit den vorgeschlagenen Regelungen kann erreicht werden, dass bezahlbarer Wohnraum erhalten und auch Menschen mit geringen Einkommen vor Verdrängung geschützt werden. Zudem zielen die Reformen darauf ab, Anreize zur Investition in den Wohnungsneubau anstelle von mietsteigernden Aufwertungen im Bestand zu setzen.

  • #Wohnen
  • #Krise
  • #Alternativen
Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0 1.0
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In den großen Städten explodieren die Mieten, bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Das birgt sozialen Sprengstoff. Dass es problematische Folgen hat, Wohnraum marktförmig zu organisieren, ist eine alte linke Erkenntnis. In der aktuellen Wohnungskrise ist sie vielen neu bewusst geworden.

Stadtpolitik ist aber auch ein Feld der politischen Hoffnung und des solidarischen Widerstands. In Hausgemeinschaften und Nachbarschaften, mit Kampagnen und Demonstrationen machen immer mehr Menschen gegen den Mietenwahnsinn mobil. Die Forderung nach Enteignung großer Immobilienkonzerne gewinnt ungeahnte Zustimmung. Diese Proteste haben die Wohnungsfrage wieder auf die politische Agenda gesetzt.

Wie kann eine Wohnungspolitik aussehen, die sich am Gemeinwohl orientiert, die Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausspielt, die inklusiv und zugänglich für alle ist? Dies beleuchtet diese Ausgabe der Zeitschrift «LuXemburg» 2/2019 zu Wohnungskrise und Stadtpolitik.

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#Alternativen #Gewerkschaft
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Der Bildungsbereich ist unentwegt ein Kampfplatz widerstreitender Interessen, die eine unmittelbare Auswirkung auf die Betroffenen: auf die in Lehr- und Lernverhältnissen stehenden Menschen haben.

Welche Kämpfe hat es in den letzten Jahren gegeben und welche Alternativen können einen neoliberal zugerichteten Bildungssektor wirksam entgegensetzt werden?

Dies beleuchtet Dr. Andreas Keller, Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), in seinem Vortrag im Rahmen der Konferenz «Bildung is a Battlefield! Lernen im neoliberalen Kapitalismus und Alternativen» in Berlin, 5.-6.7.2019.

GEW

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Fast alle sind irgendwann darauf angewiesen, gepflegt zu werden: sei es durch Krankheiten, körperliche Einschränkungen oder aufgrund des Alters. Dann brauchen wir Menschen, die uns im Alltag helfen, aber auch Aufmerksamkeit und Zeit schenken. In dieser Situation möchten wir würdevoll behandelt werden und selbst entscheiden, wer uns wie und wo pflegt – unabhängig von Herkunft, Wohnort oder Geldbeutel.

Die Realität sieht leider anders aus. Der «Pflegenotstand» ist zum medialen Schlagwort geworden. Viele machen sich Sorgen, dass sie oder ihre Angehörigen in Armut leben müssen, wenn sie Pflege benötigen. Und viele haben Angst, allein zu bleiben, wenn sie auf Unterstützung angewiesen sind. Diese Ängste sind auch Ausdruck eines löchrigen und sozial ungerechten Pflegesystems.

Diese Broschüre zeigt die Probleme und deren Ursachen im heutigen Pflegesystem in Deutschland auf, nennt Forderungen und Alternativen und sucht schließlich nach Ansätzen, wie sich diese durchsetzen lassen könnten.

  • #Pflege
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»Mehr als Abwesenheit von Krankheit...«

Über Lokale Gesundheitszentren als Orte politischer Praxis

April 2016 • Hannah Schurian im Gespräch mit dem Gesundheitskolletiv

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0

Krankenhaus, Alternativen, Selbstverwaltung, Berlin#Krankenhaus #Alternativen #Selbstverwaltung #Berlin

Wie ist eure Idee für ein Gesundheitskollektiv entstanden? Was war die Kritik am laufenden Versorgungssystem?

Wir sind eine Gruppe von Menschen in Gesundheits- und sozialen Berufen – u.a. ÄrztInnen, TherapeutInnen, Pflegekräfte, Pädagogen, Sozialarbeiter – aus Hamburg und Berlin, die sich seit zirka fünf Jahren für das Projekt engagieren. Der Ausgangspunkt war die Kritik an der unzureichenden ambulanten Versorgung von Menschen ohne Papiere. Das brachte einige Aktive aus dem Medibüro Hamburg dazu, sich mit weitergehenden Fragen zu beschäftigen: Wie sieht eine gute Gesundheitsversorgung für alle Menschen, unabhängig vom Versicherungsstatus aus? Wie müssen sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Gesundheit verändern? Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und aus dem Public Health-Bereich haben längst gezeigt, dass Lebens- und Arbeitsbedingungen langfristig entscheidender für die Gesundheit sind als die medizinische Versorgung – und das Gesundheit wesentlich mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit.

Im herrschenden System wird das aber völlig ausgeblendet. Hier sieht man oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. Es gibt eine starke Orientierung auf ‚Krankheit’: der Mensch wird aus seinem sozialen Zusammenhang gelöst und in Einzeldiagnosen zergliedert. Fatal ist die ökonomische und sogar profitorientierte Ausrichtung der medizinischen Versorgung. Das führt nicht nur dazu, dass beispielsweise medizinische Studien pharmafinanziert und folglich nicht unabhängig sind; auch Pflege und medizinische Behandlung werden zunehmend der Effizienzlogik und dem Ziel der Kostensenkung unterworfen. In der ambulanten Versorgung ist die Zersplitterung ein Problem: statt einer interdisziplinären Zusammenarbeit herrscht das unternehmerische Kalkül der einzelnen Fachärzte vor.

Vor diesem Hintergrund hat sich in Hamburg das Projekt Poliklinik gebildet. In enger Anlehnung an dieses Projekt haben wir vor zwei Jahren dann das Gesundheitskollektiv Berlin gegründet. Wir wollten die Gesamtheit der sozialen Determinanten der Gesundheit in den Blick nehmen und konkrete Alternativen aufzeigen.

Inwiefern lassen sich denn diese sozialen Determinanten in einem Projekt wie eurem beeinflussen?

Vorneweg: Der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geprägte Begriff »Soziale Determinanten der Gesundheit« ist ziemlich sperrig. Damit gemeint sind ganz einfach alle Bedingungen, in die ein Mensch hineingeboren wird und die das Leben ausmachen: die Stadt, die sozialen Netzwerke, die Kultur- Bildungsmöglichkeiten, die Arbeits- und Umweltbedingungen und die Existenzsicherheit. Entsprechend sind die sogenannten »Gesundheitschancen« bei sozial ausgegrenzten Menschen besonders niedrig. Das zu ändern, ist kompliziert: die Gesamtheit der gesellschaftlichen Strukturen lässt sich von uns nicht so einfach umkrempeln. Lokale Verhältnisse wie Verkehrsbeeinträchtigungen oder Mietsteigerungen können wir aber sehr wohl konkret aufgreifen. Hier kann die politische Arbeit im Stadtteil ein Anfang sein, um sich über die Kommune hinaus zu vernetzen und langfristig die Bedingungen für Gesundheit zu verbessern. Wir können zudem die Ressourcen der Menschen stärken, indem wir ihre sozialen Netzwerke, ihre Möglichkeiten von Selbstorganisierung und Widerstand fördern.

Und wie soll die Arbeit des Gesundheitszentrums konkret aussehen?

Unser zentrales Anliegen ist es die Menschen im Stadtteil – neben einer sehr guten medizinischen Versorgung – auch durch politische und soziale Arbeit sowie durch Beratung und partizipative Forschung zu begleiten. Die Krankenversorgung und Pflege soll sich an den Interessen der Nutzer_innen orientieren und für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein – unabhängig davon, ob sie privat, gesetzlich, oder nicht versichert, ob sie illegalisiert oder asylsuchend sind. Wir begreifen die Menschen als Teil ihres sozialen Netzes und ihrer Umwelt und wollen sie dementsprechend beraten.

Wichtige Impulse liefern uns gut funktionierende Gesundheitszentren in Österreich, Belgien, Kanada oder Finnland, aber auch die spendenbasierten solidarischen Kliniken in Griechenland. Wir denken, dass politische Teilhabe und Selbstorganisierung im Gesundheitswesen möglich und notwendig sind. Konkret würde das bedeuten, dass unser Zentrum ein selbstverständlicher Teil des Stadtteils ist, eine Anlaufstelle, wo die Menschen gerne hingehen: um die Rechtsberatung oder die Behandlungsangebote aufzusuchen, um sich in selbstorganisierten Gruppen zu treffen oder einfach nur Kaffee zu trinken. Die Bedürfnisse der NutzerInnen und StadtteilbewohnerInnen sind der Ausgangspunkt, um gemeinsam ihre Lebensumstände zu verbessern.

Wie soll das Zentrum intern organisiert sein: was sind Beteiligungsmöglichkeiten von PatientInnen und AnwohnerInnen?

Wie haben uns eine kollektive Struktur gegeben, um gleichberechtigt im Team zu entscheiden, ohne Chef oder Chefin. Die PatientInnen sollen sich aktiv einbringen und das Gesundheitskollektiv als Beraterin wahrnehmen, die Optionen eröffnet und Möglichkeiten darlegt. Dafür gibt es zum Beispiel regelmäßige gemeinsame Fallbesprechungen, nicht nur zu medizinischen Fragestellungen, sondern auch zu sozialen Themen. Darüber hinaus wollen wir die Menschen aus dem Stadtteil durch ein offenes Plenum einbeziehen und die Entscheidungen des Zentrums gemeinsam mit ihnen treffen. Das betrifft auch schon den Planungsprozess: Wir wünschen uns einen »bottom-up«-Prozess und wollen die Menschen in die Entwicklung des Konzepts einbinden, u.a. durch eine Sozialraumanalyse, Ideenwerkstätten und öffentliche Veranstaltungen. Sie sollen das Projekt als ihr eigenes begreifen und mitgestalten – es geht darum, das Gesundheitssystem als Gemeingut, als common, zu entwickeln. Das wird sicher nicht einfach: echte Beteiligung zu organisieren wird eine der größten Herausforderungen. Das wird nur gehen, wenn wir alle das Zentrum als Lernprozess und Lernort verstehen. Damit das gelingt, braucht es viel Zeit und selbstverständlich auch eine stabile Finanzierung.

Und wie weit seid ihr in der Planung? Wo findet ihr politisch oder finanziell Unterstützung?

Der Schritt von der Theorie zur Praxis steht sowohl in Berlin als auch in Hamburg noch bevor. Wir sind mitten in der Konzeptentwicklung, und müssen viele offene Fragen klären. Für einige Aufgaben, die die Kräfte ehrenamtlicher Arbeit deutlich übersteigen, konnten wir finanzielle Mittel von einer Stiftung einwerben und eine feste Stelle einrichten. Politisch suchen wir die Verbindung zu Gruppen im Kiez, aber auch zu wissenschaftlichen und sozialen Akteuren, die uns in diesem Prozess begleiten wollen. Das ist uns wichtig, um die weitergehenden politischen Perspektiven im Blick zu behalten.

Das wäre die nächste Frage: So ein Zentrum ist ja gewissermaßen eine Parallelwelt im bestehenden System. Unter welchen Bedingungen ließen sich solche Zentren verallgemeinern?

Es besteht theoretisch die Gefahr, dass wir zu einer kleinen ‚Insel’ im Gesundheitswesen werden. Das passiert, wenn wir mit der konkreten Arbeit so ausgelastet sind, dass wir den Blick über den eigenen Tellerrand nicht mehr schaffen. Hier wollen wir bewusst gegensteuern, indem wir uns von Anfang an als Teil eines politischen Netzwerks verstehen – als eine Art »Poliklinik-Syndikat«. Was das genau bedeuten kann, müssen wir noch weiter entwickeln. Wir sind verwurzelt in verschiedenen linken Gruppen sowie dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää), aber auch in internationalen sozialen Bewegungen wie dem People's Health Movement. Zudem haben wir uns über die letzten Jahre ein Netzwerk mit anderen Projekten in Europa aufgebaut, die zum Teil schon seit Jahrzehnten vergleichbare Arbeit leisten. Wir denken, das sind gute Voraussetzungen, um wirkliche Veränderungen anzustoßen und Gesundheit neu zu denken: als ein Teil des guten Lebens für Alle.

Diskutiert ihr schon über konkrete Standorte? Die Auswahl des Stadtteils wird ja einen großen Einfluss darauf haben, mit welchen Menschen und Anliegen ihr zu tun habt.

Es geht uns darum, gezielt benachteiligte Stadtteile zu unterstützen. Prekäre Lebensumstände und Probleme bei der Gesundheitsversorgung sind ausschlaggebend. So wollen wir in Berlin die Standortfrage idealerweise daran ausrichten, welche Regionen laut Sozialstrukturatlas unterversorgt sind. Allerdings ist es im Moment bekanntlich sehr zermürbend, Häuser und Wohnungen in der Großstadt zu finden. So sind wir schon von Beginn an gezwungen, die Planung auch mit Themen und Aktionen rund um ein »Recht auf Stadt« zu verknüpfen. Wir wollen auf keinen Fall wie ein Ufo in einem Kiez landen und den Menschen ihre begrenzten Freiräume wegnehmen. Stattdessen wollen wir Räume und Infrastrukturen schaffen, die für alle nutzbar sind und die NachbarInnen solidarisch in ihren Kämpfen, etwa um Wohnraum, unterstützen. In Berlin wird es erfreulicherweise immer wahrscheinlicher, dass wir unser Projekt im Rollbergkiez in Neukölln starten können. Unsere Utopie nimmt also langsam Form an!

Weitere Informationen zum Projekt:

Schubert, Kirsten und Renia Vagkopoulou, 2015: Futuring Health Care – Gesundheitszentren als Orte gesellschaftlicher Transformation, in: Fried, Barbara/Schurian, Hannah (Hg.), UmCare – Gesundheit und Pflege neu organisieren, Rosa-Luxemburg-Stiftung Materialien 13/2015, 41-53.

Webseite des Projekts: www.geko-berlin.de

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/interview-mehr-als-abwesenheit-von-krankheit

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