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#Feminismus #Gewerkschaft
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«Mehr braucht mehr!» - Unter diesem Motto geht die Gewerkschaft ver.di in diesem Frühjahr in die Auseinandersetzung für die Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten. Ihre Forderungen liegen auf dem Tisch - und mit ihnen die Hoffnung, zusammen mit feministischen Bewegungen für eine Aufwertung von Sorgarbeit zu streiten. Denn 83% der Beschäftigten in diesem Bereich sind weiblich. Sie stemmen unter oft schwierigen Bedingungen einen Löwenanteil der Arbeit in den Kitas und Horten, in der sozialen Arbeit und den Behinderteneinrichtungen. «Mehr braucht mehr» heißt für die Beschäftigten: mehr Verantwortung braucht mehr Personal, mehr Bildung braucht mehr Fachkräfte, mehr Verantwortung braucht mehr Gehalt!

Der Kampf um eine Aufwertung und Umverteilung von Sorgearbeit wird von feministischen Bewegungen schon lange geführt. Er ist nicht zu trennen vom Kampf für ausreichende und gute Kitas, soziale und Behinderteneinrichtungen und damit auch für mehr Freiheit vor allem für jene, denen Care-Arbeit wegen ihres Geschlechts ‚zugeschoben’ wird. Die Tarifauseinandersetzung, in der ver.di das Bündnis sucht, verspricht ein spannendes Möglichkeitsfenster zur Verschränkung gewerkschaftlicher und feministischer Kämpfe in einem Bereich feminisierter Arbeit.

Wie kann eine produktive Verbindung von Arbeitskampf und feministischer Bewegungen am 8. März und darüber hinaus gelingen? Eröffnet die Tarifrunde die Möglichkeit eines feminist turn der Gewerkschaften und eines union turn feministischer Bewegungen? Wie kann eine Unterstützung des Arbeitskampfes konkret aussehen – und wie können auch feministische Bewegungen davon profitieren?

Diese Fragen diskutieren Christine Behle, stellv. ver.di-Vorsitzende, als Stimme aus der Gewerkschafts- und Carolin Wiedemann als Stimme aus der queer-feministischen Bewegung.

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LUX.local: Rekommunalisierung

Podcast

Dezember 2021

Rekommunalisierung, Krankenhaus, Wohnen, Krise, Selbstverwaltung, Gewerkschaft#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

Auf der RLS-Webseite hören: rosalux.de/mediathek/media/element/1698

Auf Soundcloud hören: soundcloud.com/rosaluxstiftung/luxlocal-2-rekommunalisierung

Der Podcast beginnt zuerst mit einem Blick auf die politischen Entwicklungen in Österreich: Ende September 2021 wurde die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) die stärkste Partei bei den Gemeinderatswahlen in Graz und stellt nun mit Elke Kahr auch die Bürgermeisterin. Hanno Wisiak aus Graz berichtet über den Weg zu diesem Erfolg, die Themen der KPÖ vor Ort und über ihre Rolle in der Kommunalpolitik Österreichs. Im Anschluss dreht sich alles um Rekommunalisierung

Dr. Vera Weghmann verrät, ob sie insgesamt einen Trend zur Rekommunalisierung sieht und was die wichtigsten Erkenntnisse aus ihrer Arbeit an der neuen Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung» sind.

Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand von zwei ganz konkreten Beispielen: In den Kliniken in Nürnberg und Ingolstadt wurden Teile des Personals in privatrechtlich organisierte Servicegesellschaften (aber in öffentlicher Hand) ausgelagert und seitdem noch unterhalb der üblichen Pflegetarife in Krankenhäusern bezahlt. Die beiden Kommunalpolitiker*innen erzählen vom gemeinsamen Kampf von Personal und Gewerkschaften und davon, wie es gelingen kann, dass auch das Servicepersonal wieder tariflich bezahlt wird.

Die Gäste:

Hanno Wisiak arbeitet in der Öffentlichkeitsarbeit der KPÖ im Grazer Rathaus. Er ist Büroleiter des kommunistischen Gesundheitsstadtrats Robert Krotzer und ist derzeit stellv. Bezirksvorsteher des dritten Grazer Bezirks Geidorf. Er ist außerdem Mitglied des Landesvorstands und der Programmkommission der KPÖ Steiermark in Österreich.

Vera Weghmann ist die Autorin der neuen Broschüre „Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung“ der RLS. Sie arbeitet für Public Services International Research Unit (PSIRU) an der University of Greenwich in London. Die Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind öffentliche Dienstleistungen, Privatisierung und Rekommunalisierung sowie Arbeitspolitik und Gewerkschaften. Vera ist Co-Gründerin der unabhängigen Gewerkschaft United Voices of the World.

Kathrin Flach-Gomez ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Nürnberg und außerdem Landessprecherin der Partei DIE LINKE in Bayern.

Eva Bulling Schröter ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Ingolstadt und war zuvor Bundestagsabgeordnete für die PDS und DIE LINKE sowie bis 2020 Landessprecherin der Partei in Bayern.

Links und Hinweise zur Sendung:

Rekommunalisierung

Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung. Broschüre von Dr. Vera Weghmann

Rekommunalisierungen in Thüringen — Chancen und Risiken. Von Frank Kuschel für DIE THÜRINGENGESTALTER - Kommunalpolitisches Forum Thüringen e.V.

Klinikum zurück in die öffentliche Hand? Rechtsgutachten zu den rechtlichen Möglichkeiten einer Rücküberführung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg in öffentliches Eigentum. Von Joachim Wieland

Für starke Kommunen mit leistungsfähigen Betrieben in öffentlicher Hand. - Ein Leitfaden zur Rekommunalisierung  

Darüber hinaus

 Linke Akteure in den Städten und Gemeinden Zum Zustand der Demokratie und zur Rolle der Partei auf kommunaler Ebene. Von Katrin Nicke

Sammlung einführender Literatur und Websites zu Rekommunalisierung

Krise der Privatisierung – Rückkehr des Öffentlichen, Mario Candeias, Rainer Rilling, Katharina Weise (Hrsg.)

Von R wie Rettungspakete zu R wie Rekommunalisierung. Von Julia Dück

Es gibt viel zu tun – packen wir´s an - Der Erfolg von «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» ist erst der Anfang. Von Stefan Thimmel und Armin Kuhn

#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

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«Lux.local» ist der Kommunalpodcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Katharina Weise. In dieser Folge von «Lux.local» dreht sich alles um das Thema Rekommunalisierung. Dazu wird zuerst erklärt, was Rekommunalisierung, Daseinsvorsorge und Privatisierung bedeutet. Im Anschluss sind folgende Interviewgäste zu hören: Dr. Vera Weghmann, Autorin der Broschüre «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung», sowie Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter. Die beiden Stadträtinnen erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand konkreter Beispiele.

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Mit dieser Broschüre teilt das Autor:innenkollektiv CLIMATE.LABOUR.TURN ihre Erfahrungen mit Mitstreiter:innen in der Klimabewegung und der gesellschaftlichen Linken, um Motivation für den Aufbau zukünftiger sozial-ökologischer Allianzen freizusetzen. Betriebliche und ökologische Kämpfe zu verbinden stellt ihrer Meinung nach die Kernaufgabe all derer dar, die für eine klimagerechte Zukunft einstehen.

Im ersten Teil stellen sie gegenüber, wie die Mehrheit der Fridays-for-Future-Aktivist:innen die Politik zum Handeln bringen will und welche strategische Ausrichtung das Autor:innenkollektiv stattdessen für die Klimabewegung vorschlägt. Im zweiten Teil wird skizziert, wie 30 FFF-Ortsgruppen versucht haben, diese Strategie im Rahmen der ÖPNV-Kampagne in die Praxis zu übersetzen, und welche konkreten methodischen Schritte den Aufbau der Allianz begleitet haben.

Begleitender Artikel: Fridays for Future goes Arbeitskampf - https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/pronomen-busfahrerin/

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Krankenhausstreik: Do it yourself!

November 2021 • Fanni Stolz

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

Krankenhaus, Gewerkschaft, Organisierung, Pflege#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Pflege

Dienstag, 12. Oktober, 16:10 Uhr im Streiklokal am Krankenhaus in Neukölln. Das Handy vibriert: „IHR HABT GEWONNEN! Große Mehrheit der Teamdelegierten stimmt für das Eckpunktepapier zum TV Entlastung“. Es ist also geschafft. Der Jubel ist riesig. 147 Pflegekräfte des Berliner Klinikkonzerns Vivantes haben im Namen ihrer Teams dem vorläufigen Verhandlungsergebnis zugestimmt. Nun soll ein Tarifvertrag »Entlastung« ausgearbeitet werden, der Personalmangel und Dauerstress ein Ende bereiten soll. Wird die ausgehandelte Anzahl von Pflegekräften pro Station unterschritten, gibt es dann einen verbindlichen Freizeitausgleich – die bisher wohl besten Tarifregelungen zur Entlastung in Deutschland. Gestreikt wurde auch am anderen landeseigenen Krankenhaus, der Charité und bei den ausgegliederten Tochterunternehmen von Vivantes – und zwar über die Berufsgruppen hinweg. Auch dort wurden Einigungen erzielt.

Das Handy vibriert nun alle paar Sekunden. Von überall kommen Glückwünsche. Die Erleichterung ist groß. Denn der Weg hierher war nicht einfach und der Erfolg alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil: die Arbeitgeber bewegten sich lange nicht und der Arbeitskampf zog sich. Fünf Wochen (bzw. acht bei den ausgelagerten Servicebetrieben) – so lange wurde an deutschen Kliniken sehr selten gestreikt. Um zu verstehen, warum der Streik am Ende Erfolg hatte, muss man den ganzen Arbeitskampf betrachten, der lange vor dem ersten Streiktag begann. Schon lange vorher organisierten sich die Kolleg*innen und bauten eine Stärke auf, die nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ beeindruckt.

Ich habe mit einigen der Aktiven des Streiks gesprochen. Ihre Erzählungen machen deutlich: Die Berliner Krankenhausbewegung ist eine Geschichte der Selbstermächtigung. Die entstand nicht durch Zuruf, sondern indem systematisch demokratische Strukturen aufgebaut wurden. Die Kolleg*innen hatten ihren Arbeitskampf selbst in der Hand, was für eine Tarifauseinandersetzung nicht immer selbstverständlich ist: Sie bestimmten ihre Forderungen, sie waren an den Verhandlungen beteiligt, sie entschieden über das Ergebnis. Ihre Stärke und ihr Durchhaltevermögen waren Produkt ihrer eigenen Arbeit. Nur so konnte das Selbstvertrauen entstehen, das nötig war, um sich gegen die Härte der Arbeitgeber durchzusetzen.

„Man kennt sich jetzt im Krankenhaus“

Zwei Wochen später: Vor mir sitzt Camilla, sie ist seit 38 Jahren Pflegekraft im OP und seit 30 Jahren Ver.di Mitglied. Heute ist sie erkältet. Die Anspannung des Streiks lässt nach und die Erleichterung ist ihr deutlich anzumerken. Während unseres Gesprächs wandern ihre Blicke immer wieder auf die andere Straßenseite, wo sie an einigen der 34 Tage mit ihren Kolleg*innen am Streikposten stand. Nachdem Camilla zu Beginn der Kampagne zögerlich war, ist sie im Juli aktiv in die Bewegung eingestiegen und übernahm sogar an einzelnen Tagen die Streikleitung. Damit war sie eine der Personen, die entscheiden musste, welche Kolleg*innen streiken konnten und welche Notdienst leisten mussten. Denn durch eine sogenannte Notdienstvereinbarung stellten die streikenden Pflegekräfte sicher, das Patient*innen nicht gefährdet werden. Das funktioniert so, dass die Beschäftigten der einzelnen Stationen im Vorfeld ankündigen, wie viele Betten sie bestreiken werden. Damit geben sie der Klinikleitung die Chance, sich vorzubereiten und keine neuen Patient*innen aufzunehmen. Kommen zu viele Notfälle rein, sichern die Streikenden ab, zurück in den Dienst zu kommen. Die Klinikleitungen ließen sich auf dieses vielfach erprobte Modell nicht ein, so dass die Streikenden einseitig den Notdienst sicherstellten.

Camilla zeigt zum Streikposten und erzählt mir, wie sich dort Kolleg*innen aus dem ganzen Haus kennengelernt hat. Viele, die schon über Jahre hinweg im selben Krankenhaus arbeiteten, unterhielten sich dort das erste Mal. Der Streik umfasste fast alle Berufsgruppen, von der Pflege, über das Labor bis zur Reinigung. Heute grüßt man sich in der Pause, auf dem Weg zur Arbeit oder nach dem Feierabend. Man kennt sich jetzt im Krankenhaus, erzählt Camilla. Wo vorher Einzelkämpfer*innen waren, ist ein Zusammenhalt entstanden, der über das eigene Team oder die eigene Berufsgruppe hinausgeht.

Demokratie beginnt auf Station

„Wenn man erleichtert ist, vergisst man, wie schwer es war“, erzählt mir Louisa, Intensivpflegekraft an der Charité, als wir gemeinsam auf die letzten Monate blicken. Louisa ist 24 Jahre und studiert neben ihrer Arbeit an der Charité klinische Pflege. Schon lange wollte sie politisch aktiv werden, Missstände bekämpfen, doch allein hat sie sich das nie zugetraut. Als sich die verschiedensten Berufsgruppen an der Charité, bei Vivantes und den Vivantes-Töchtern zur Berliner Krankenhausbewegung zusammenschlossen, fand sie den Mut dazu. Es braucht erst ein gewisses Selbstbewusstsein, damit man sich für sich und seine Kolleg*innen einsetzen kann, erzählt sie – und das entsteht Schritt für Schritt. Im Laufe des Arbeitskampfs trat sie der Gewerkschaft ver.di bei. Sie fing an, ihre Kolleg*innen für die Bewegung zu begeistern und wurde schließlich zur Teamdelegierten ihrer Station gewählt. Jede Station, auf der die Mehrheit der Kolleg*innen an der Findung der Tarifforderungen beteiligt war, konnte Delegierte wählen. Sie vertraten ihre Station bei den berlinweiten Treffen, unterstützten und berieten die Tarifkommission bei den Tarifverhandlungen und waren diejenigen, die die wichtigsten Informationen, die sich im Streik meist überschlugen, an ihr Team weitergaben.

Macht aufbauen durch eine Mehrheitspetition

Wie gelingt es, so eine Struktur aufzubauen? Nur durch gute Vorarbeit. Um die Kolleg*innen zu motivieren, ihre Forderungen einzubringen und Delegierte zu wählen, müssen sie erst von dem Arbeitskampf erfahren und müssen überzeugt werden, dass er sinnvoll ist. Eine Petition, die die Mehrheit der Beschäftigten hinter gemeinsamen Zielen versammelt, ist dazu ein gutes Mittel. Beim Unterschriftensammeln kommt man ins Gespräch und übt zugleich, die Mehrheit in jedem einzelnen Team zu überzeugen. Unterstützt von Organizer*innen von ver.di sammelten die Kolleg*innen zwei Monate lang Unterschriften – für einen Entlastungstarifvertrag und (bei Vivantes) für die Rückführung der Tochterunternehmen in den TVöD. Die bereits aktiven Beschäftigten führten Station für Station Gespräche, notierten ihre Erfolge, planten, mit wem sie noch sprechen mussten.

Als am 12. Mai über 8397 Unterschriften an die Berliner Landespolitik und die Klinikleitungen übergeben wurden, war klar, dass sich eine deutliche Mehrheit von über 60 Prozent der betroffenen Beschäftigten hinter die Forderungen stellte. Der erste Stärketest war gewonnen.  Mit der Petitionsübergabe betrat die Krankenhausbewegung das erste Mal die politische Bühne der Hauptstadt.

Den regierenden Parteien wurde mit der Übergabe der Unterschriften ein 100-Tage-Ultimatum gesetzt: Entweder sie gehen auf die Forderungen der Kolleg*innen ein und üben Druck auf die Klinikleitungen der landeseigenen Krankenhäuser aus – oder es kommt zu Streiks in der heißen Wahlkampfzeit, so die Drohung. Trotz zahlloser Verständnisbekundungen ließ die Politik die 100 Tage tatenlos verstreichen, so dass es tatsächlich zum Showdown kommen sollte.

Zusammenkommen, vernetzen, entscheiden

Neben Louisa traten 2288 Beschäftigte während der Auseinandersetzung bei ver.di ein. Unter ihnen auch Diana, Pflegekraft im Krankenhaus in Kaulsdorf, Mutter von zwei Kindern. Während wir im Zoom miteinander sprechen, huscht ihre Katze durchs Bild. Das passierte ihr öfter, erzählt sie mir lachend: »Gezoomt« wurde viel. Aber auch zahlreiche „reale“ Treffen stärkten Schritt für Schritt die Bewegung: in den Teams, stationsübergreifend, mit den Unterstützer*innen aus der Berliner Zivilgesellschaft. Eine der wichtigsten Versammlungen war der Berliner Krankenhausratschlag, wo im Juli alle Delegierten der einzelnen Stationen zusammenkamen, um gemeinsame Forderungen der Krankenhausbewegung zu diskutieren. Spektakulär war nicht nur die deutliche Mehrheit, mit dem die Ergebnisse angenommen wurden, sondern vor allem die Kulisse: In der „Alten Försterei“, dem Stadion des Fußballclubs Union Berlin füllten über Tausend Kolleg*innen und Unterstützer*innen die Haupttribüne – ein Highlight, das den Anwesenden die eigene Stärke deutlich machte. Während die regierenden Politiker*innen auf der Bühne von den Pflegenden im Gespräch herausgefordert wurden, wehte ein Banner der Union Ultras: Nicht nur klatschen – machen! Gebt den Pflegekräften was die verdienen: Mehr Lohn, mehr Zeit, mehr Personal.

Selbstbewusstsein wird gemacht

Diana ist gerne Pflegekraft aber die schwierigen Arbeitsbedingungen treiben sie um. Als besonders schwierig erlebt sie die Vereinzelung und die Individualisierung der Probleme: „Ich habe oft auf Station gedacht, dass das nur mein Gefühl ist, dass es nicht läuft. Für mich war es unglaublich gut zu hören, es geht auch anderen so. Es läuft etwas ganz offensichtlich schief und auch andere bekommen das mit. Allein das tat einfach gut.” Sie schildert, wie ermutigend es war, im nächsten Schritt zu begreifen, dass sie zusammen mit ihren Kolleg*innen tatsächlich etwas verändern kann: „Die Pflege muss für ihre Interessen selber einstehen, denn jemand anders wird es nicht tun. Mehr als Applaus werden wir von alleine nicht bekommen”. Was einfach klingt, ist für den Bereich der Pflege alles andere als selbstverständlich. Viel zu oft wird an Pflegekräfte appelliert, schlechte Arbeitsbedingungen auszugleichen – aus Idealismus und im Dienste der Patient*innen. Die Bewegung hat nicht nur individuelle Frustration in kollektive Sprechfähigkeit umgemünzt, sie hat vor allem mit der Vorstellung gebrochen, dass Politik oder Klinikkonzerne von alleine zur Vernunft kommen. Es wurde klar: Jede einzelne Kolleg*in ist wichtig, um etwas zu ändern.

Jede*r Einzelne wird gefragt

Louisa schildert, dass vor allem die zweite Phase der Kampagne, die Forderungsfindung, viele Kolleg*innen wachgerüttelt hat. In diesen Wochen habe sie gelernt, dass es wirklich eine Chance gibt, etwas zu verändern. Die vielen intensiven Einzelgespräche (»1 zu 1«) seien der Schlüssel zum Erfolg gewesen. In den Gesprächen ging es darum, herauszufinden, was das Hauptanliegen der jeweiligen Kolleg*in war. An diesem Anliegen versuchte man anzusetzen und klar zu machen, dass es eine einmalige Chance auf Veränderungen gibt – wenn man gemeinsam aktiv wird. Louisa hat selbst viele der Forderungsinterviews geführt. „Es war faszinierend zu merken wie jemand reagiert, wenn er die Plattform bekommt, frei über Missstände sprechen zu dürfen. Die stillschweigende Pflege ist etwas Angelerntes. Ich habe das auch so gelernt in meiner Ausbildung: lieber nichts sagen und alles kompensieren. Dadurch merken wir gar nicht mehr, was falsch läuft. Wir können uns kaum mehr einen Alltag vorstellen, in dem man nicht gestresst nachhause geht.” In den vielen Gesprächen wurden den Beschäftigten klar, dass sie die Expert*innen sind, die am besten wissen, wie gute Pflege eigentlich organisiert sein muss.

Heftiger Widerstand, permanenter Druck

Für Diana und Camilla bleibt vor allem der Warnstreiktag eindrücklich in Erinnerung – nicht nur, weil es der erste Streiktag war, sondern weil dort klar wurde, wie hart der Kampf werden würde. Schon von weitem hörten sie das Getümmel rund um den Lautsprecherwagen, wo neben Anja, einer Pflegekraft von Vivantes, die Spitzenpolitiker*innen des Berliner Wahlkampfs auftraten: der Linke Klaus Lederer Franziska Giffey von der SPD und Bettina Jarasch von den Grünen. Plötzlich wurde es unruhig in der Menge und Anja verkündete eine erschreckende Nachricht: Vivantes hatte vor Gericht eine einstweilige Verfügung erwirkt: Der Warnstreik durfte nicht fortgeführt werden. „Ich dachte ich bin im falschen Film. Das die sich so miese Tricks einfallen lassen, um diese große Welle zu brechen”, erzählt Camilla. Doch das Kalkül des Arbeitgebers ging nicht auf. Am zweiten Streiktag gewannen die Beschäftigen vor Gericht. Ihr Streikrecht wurde höher gewichtet als die fadenscheinigen Einwände gegen den Tarifvertrag Entlastung und eine angebliche Unverhältnismäßigkeit der Streikmaßnahmen. Die Strategie des Vivantes-Konzerns, die Bewegung im Keim zu ersticken, war nach hinten losgegangen. Viele sagten sich nach dem Gerichtsurteil: Jetzt erst Recht!

Franziska Giffey und co. wurde an diesem Tag klar: Die Beschäftigten der Charité und Vivantes sind hartnäckig. Der ausdauernde politische Druck, den die Kolleg*innen im Betrieb organisierten und immer wieder in die Politik trugen, war für den Erfolg am Verhandlungstisch zentral. Franziska Giffey konnte nahezu keine Wahlkampfveranstaltung besuchen, ohne von der Berliner Krankenhausbewegung belagert zu werden. Als Raed Saleh, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus eine Biergartentour plante, saßen an den Biertischen keine zahmen SPD-Sympathisant*innen, sondern ein Dutzend Pflegekräfte. „Wir sind der Politik auf die Nerven gegangen”, erzählt Diana, „Diese Präsenz war wichtig”.

Denn die Beschäftigten trugen ihr Anliegen in die Stadt und erhielten breiten Zuspruch: Dem Demo-Aufruf „Wir retten euch – Wer rettet uns?“ folgen knapp 5.000 Berliner*innen , die Volksbühne öffnet ihre Türen für eine Pressekonferenz und das Bündnis Gesundheit statt Profit sammelte mehrere tausend Euro für die Streikkasse der Vivantes-Töchter, die ohne diese Unterstützung nicht so lang hätten durchhalten können. Die Pflege wurde zu einem der zentralen Wahlkampfthemen. In Schulungen lernen die Beschäftigten, ihre Geschichten zu erzählen und den Alltag im Krankenhaus sichtbar zu machen: Auf Demonstrationen, in der Berliner Abendschau, in der Berliner Wahlkampfarena. Die eindrücklichen Geschichten und die immer noch präsente Angst vor überfüllten Intensivstationen in der Pandemie erlaubte es keiner Partei, die Bewegung offen zu kritisieren oder abzuwiegeln. Wer will schon schlechte Presse im Wahlkampfsommer?

Wir verhandeln selbst

Das Rückgrat der Gewerkschaftsbewegung waren die hunderten gewerkschaftlichen Ehrenamtlichen, die sich Station für Station organisierten. Für Camilla ist klar, dass man an diesem Punkt gewerkschaftliche Arbeit neu denken muss: Im Tarifkampf „muss ver.di alle mitnehmen, sonst ist die gewerkschaftliche Bewegung ein Vogel ohne Flügel“. Demokratisierung bedeutet, dass die wichtigen Entscheidungen in einer Tarifauseinandersetzung von den Beschäftigten selbst getroffen werden. Immer wenn die hauptamtliche Verhandlungsführung von Ver.di und die Tarifkommission mit den Arbeitgebern verhandelten, tagten zeitgleich die Teamdelegierten. Auch Camilla war oft dabei. Das konnte bis zu 30 Stunden am Stück dauern, wenn die Kommission so lang verhandelte. Alle Entscheidungen der Tarifkommission wurden an die kollektiven Entscheidungen der Delegierten rückgekoppelt.

In der letzten Nacht vor dem Tarifabschluss an der Charité harrten die Teamdelegierten ganze 21 Stunden in einem Hörsaal aus. Für Louisa war es ein unvergesslicher Moment. Als sich der Abschluss andeutete, war die Erleichterung nach Wochen der Anspannung kaum zu beschreiben. Alle wussten, dass der Abschluss ohne lange Vorbereitung nicht möglich gewesen wäre. Schon im Frühjahr waren die Mitglieder der Tarifkommission und die Teamdelegierten von Charité und Vivantes zusammengekommen. Sie hatten die Tarifergebnisse an anderen Krankenhäusern, etwa in Jena oder Mainz, diskutiert und die Forderungen der einzelnen Teams zusammengetragen. So schufen sie nicht nur Rückhalt für die Forderungen in der gesamten Belegschaft, sondern stärkten auch die Tarifkommission in den Verhandlungen. Mit den Teamdelegierten hatte die Tarifkommission ein Expert*innen-Gremium im Rücken, das auf jeden Einwurf des Arbeitgebers direkt kontern konnte. So gelang es, dem Arbeitgeber Kontra zu geben und ihn sogar bloßzustellen, da er sich in den einzelnen Bereichen weniger gut auskannte als die Beschäftigten selbst. Auch Louisa hat die Situation auf ihrer Station einmal vor der Tarifkommission geschildert.

Für Diana, Camilla und Louisa ist klar: Der Berliner Erfolg ist ein Meilenstein in der Bewegung für bessere Pflege und Gesundheitsversorgung. Und er strahlt aus: Erste Einladungen zur weiteren Vernetzung gibt es schon. Nicht nur Kolleg*innen aus Deutschland, sondern auch aus Großbritannien, der Schweiz und Frankreich sind an Austausch interessiert. Das gibt Selbstvertrauen. Die Berliner Erfahrung hat deutlich gemacht: Gewerkschaftliche Organisierung ist kein Selbstzweck. Sie kostet Arbeit, Kraft und Energie. Und sie kann wirklich etwas substanziell verändern. »Geschichte wird gemacht« und die Berliner Krankenhausbeschäftigten haben ihre Geschichte selbst geschrieben. Ich verabschiede mich von Diana, die mit ihren Kolleg*innen aus den Tochterunternehmen anstoßen will. Sie haben am Abend vor unserem Gespräch auch einen Abschluss erzielt. Es ist ihr gemeinsamer Kampf, den sie nun zusammen feiern.

Fanni Stolz ist Referentin für gewerkschaftliche Erneuerung am Institut für Gesellschaftsanalyse an der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/krankenhausstreik-do-it-yourself

#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Pflege

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Was bedeutet es, wenn ein Arbeitskampf von den Beschäftigten selbst geführt wird, von Anfang bis Ende? Die ver.di-Auseinandersetzung in den Berliner Klinken im Herbst 2021 zeigt: Es ist hart, aber lohnt sich. Fünf Wochen (bzw. acht bei den ausgelagerten Servicebetrieben) – so lange wurde an deutschen Kliniken sehr selten gestreikt. Um zu verstehen, warum der Streik erfolgreich war, muss man den ganzen Arbeitskampf betrachten, der lange vor dem ersten Streiktag begann.

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

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Der feministische Streik betrifft bezahlte wie unbezahlte Arbeiten von Frauen und Queers und stellt zur Debatte, inwiefern sie sich gegenseitig bedingen. Im feministischen Streik kommen so zwei Bereiche zusammen, die meist nur getrennt voneinander gedacht und getrennt voneinander organisiert werden. Feministisch Streiken birgt daher ein enormes Potenzial, aber auch Spannungen.

Welche Unterschiede bestehen in den Herangehensweisen, Logiken und Kulturen von Bewegungen und Gewerkschaften? Wie kann für die Aktivist*innen erfolgreiche Bündnisarbeit aussehen?

Ein Streik am Universitätskrankenhaus Jena hat es vorgemacht, Interviews mit den beteiligten Akteur*innen zeichnen es nach.

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Gemeinsam Druck machen

Wie werden Krankenhauskämpfe zur gesellschaftlichen Bewegung?

April 2021 • Interview mit Jeannine Sturm und Daniel Schur

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

Krankenhaus, Gewerkschaft, Organisierung, Berlin, Pflege#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Berlin #Pflege

Vivantes und Charité, die beiden größten öffentlichen Krankenhäuser in Berlin, starten 2021 eine neue Tarifbewegung. Warum?

Jeannine: Weil die alten Probleme nicht gelöst sind und in der Krise noch viel deutlicher werden. Wir stecken seit Jahrzehnten in einem Teufelskreis. Wegen des verfehlten Finanzierungssystems im Krankenhaus, den sogenannten DRGs, wird am Personal gespart, wodurch die Arbeitsbedingungen schlechter werden und wir noch weniger Personal finden. Um den Beruf wieder attraktiv zu machen, brauchen wir faire Entlohnung, eine Ausbildungsoffensive – und vor allem gute Arbeitsbedingungen, damit die Leute auch bleiben. Nur mit ausreichend Personal können wir die Patient*innen sicher versorgen. Eine gute Personalbemessung ist der Hebel, um aus der Misere rauszukommen. Aber das erreichen wir nur durch eine große Krankenhausbewegung.

Wie wollt ihr Druck aufbauen?

Jeannine: Wir werden eine klare Sprache sprechen: Ihr als politisch Verantwortliche habt die einmalige Chance, im Superwahljahr, in der Pandemie, auf unsere Forderungen einzugehen. Wenn ihr sie nicht nutzt, werdet ihr nicht nur politisch abgestraft, wir haben theoretisch auch die Möglichkeit, 50 Prozent der Krankenhausbetten in Berlin zu bestreiken. Das ist unsere Machtressource, und wir sind bereit, sie zu nutzen.

Braucht ihr dafür Unterstützung?

Jeannine: Um unser Anliegen der Öffentlichkeit zu vermitteln, definitiv. Allein unser Streikrecht zu verteidigen, ist ein heikles Thema. Wir müssen kommunizieren, dass wir die Patient*innen nicht gefährden, sondern auch in ihrem Interesse streiken. In der letzten Tarifbewegung hat uns das Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus etwa durch Infoveranstaltungen extrem gut unterstützt. Zu Beginn des Streiks hieß es in den Medien noch, wir würden die Patient*innen in Geiselhaft nehmen. Am Ende haben wir viel Zuspruch und öffentliche Solidarität erfahren.

Daniel, warum bringt sich die LINKE in eine Tarifauseinandersetzung ein?

Daniel: Weil es eben nicht nur um einen betrieblichen Konflikt geht, sondern um einen gesellschaftlichen. In den Krankenhäusern zeigt sich, was passiert, wenn man die öffentliche Daseinsvorsorge nach dem Profitprinzip organisiert. Um das zu ändern, braucht es politischen Druck jenseits des Betriebs. Hier könnte die LINKE ein Scharnier bilden zwischen den Beschäftigten, der Gesellschaft und der Bewegung. In Berlin und anderen Bundesländern gab es bereits Volksbegehren für mehr Pflegepersonal. Und mit ihrer Pflegekampagne hat die LINKE in den letzten Jahren schon viel getan. In diesem Konflikt gibt es eine unheimliche Politisierung und die Aussicht, wirklich etwas zu gewinnen, das auf andere Bereiche ausstrahlen könnte. Darum sollten wir als Partei dieses Jahr unsere Kräfte hier bündeln.

An der Charité wurden bereits Personalvorgaben erkämpft, die Politik hat gesetzliche Pflegeuntergrenzen eingeführt. Warum reicht das nicht?

Jeannine: An der Charité wurden 2015 zum ersten Mal Personalvorgaben per Tarifvertrag beschlossen. Da steckten viele gute Ansätze drin, zum Beispiel Personalbemessungssysteme, die sich am Betreuungsaufwand ausrichten. Sie blieben aber auf den guten Willen des Arbeitgebers angewiesen, es fehlten Sanktionsmechanismen. Darum wurden die Vorgaben einfach nicht umgesetzt. Die gesetzlichen Pflegeuntergrenzen helfen da auch nicht weiter, denn die versuchen nicht mal, den wirklichen Bedarf zu ermitteln, sondern schreiben nur für wenige Bereiche den schlechten Istzustand fest. Es wurde also eher an Symptomen herumgedoktert.

Daniel: Die Probleme werden immer auf die nächste Ebene geschoben: Das Krankenhausmanagement sagt, uns sind die Hände gebunden, und verweist auf die Landesebene; die Landesregierungen sagen, der Bund ist zuständig, und der Bund sieht die Länder in der Verantwortung. Deshalb ist so wenig passiert, obwohl es in der Bevölkerung eine breite Zustimmung für die Personalbemessung gibt. Darum müssen wir die Kämpfe auf allen diesen Ebenen führen und verbinden.

Wenn die letzten Tarifbewegungen das Problem nicht lösen konnten – was ist diesmal anders?

Jeannine: Wir wollen diesmal für alle Krankenhausbereiche und alle beteiligten Berufsgruppen konkrete Vorgaben, wie viel Personal in jeder Schicht gebraucht wird. Und wir wollen verbindliche Konsequenzen, wenn dieses Soll unterschritten wird, etwa die Einführung von Entlastungstagen. Außerdem sind wir diesmal nicht allein, sondern wir kämpfen mit Vivantes zusammen. Und noch etwas ist neu: Es sind alle Berufsgruppen mit einbezogen, denn wir müssen auch die Situation der Therapeut*innen, Reinigungs- und Laborkräfte verändern. Wir arbeiten im Krankenhaus eng verzahnt und leiden alle unter der Arbeitsverdichtung. Es geht also nicht nur um einen Tarifvertrag für uns.

Wie viel Unterstützung habt ihr in der Belegschaft?

Jeannine: Sehr viel. Das Thema ist in aller Munde und es gibt in der Krise ohnehin einen besonderen Zusammenhalt. Wir sind im ständigen Austausch mit den einzelnen Teams und bauen eine breite Aktivenstruktur auf, unterstützt von professionellen Organizer*innen, die uns ver.di zur Verfügung stellt. Wir wollen in jedem einzelnen Bereich einen Prozess in Gang bringen, damit wir den Konflikt bis zum Ende durchstehen können und sich alle mit dem Ergebnis identifizieren. Deshalb stellen die Teams eigene Forderungen auf und wählen eigene »Teamdelegierte«. Die Delegierten treffen sich regelmäßig mit der ver.di-Tarifkommission und entscheiden über den Verlauf der Verhandlung mit.

Daniel, wie kann eure Unterstützung der Streiks hier vor Ort konkret aussehen?

Daniel: In Berlin vernetzen wir uns gerade als LINKE-Basisgruppen und mobilisieren unsere Mitglieder für eine große Unterstützer*innenversammlung. Ein wichtiger Ansatz sind Patenschaften von lokalen Gruppen mit Beschäftigten vor Ort. Sie würden uns über ihren Kampf berichten und wir würden sie unterstützen, indem wir an ihren Kundgebungen teilnehmen, in unseren Kiezen plakatieren oder den Konflikt beim Haustürwahlkampf thematisieren. Wir wollen dazu beitragen, ihre Anliegen in die breitere Öffentlichkeit und die Partei zu tragen. Langfristig wollen wir natürlich, dass die LINKE noch stärker zu einer Organisation von betrieblich Aktiven wird. Wenn Beschäftigte sagen, ich bin nicht nur bei ver.di, ich werde auch Mitglied der LINKEN, haben wir einiges erreicht.

Was erwartet ihr denn als Beschäftigte?

Jeannine: Uns ist wichtig, dass Verbündete nicht nur einmalig ihre Solidarität erklären, sondern nachhaltig und aktiv an unserer Seite sind. Das ist besonders wichtig, wenn die Verhandlungen steckenbleiben. Wenn die Zusammenarbeit auf Augenhöhe läuft und unsere Expertise anerkannt wird, ist das wunderbar und hilft uns sehr. Mit der LINKEN haben wir schon beim Stimmensammeln für das Volksbegehren zusammengearbeitet und es hat sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt.

Daniel: Auch für uns ist der Austausch enorm wichtig. Wir bekommen einen direkten Draht zu den betrieblichen Kämpfen. Und unsere Mitglieder können sich auch abseits von Wahlkämpfen politisch betätigen, wie sie es ja auch jetzt schon oft tun. Ich sehe die Krankenhausbewegung als große Chance, ein solches Parteiverständnis nachhaltig zu etablieren. Die LINKE braucht eine starke Verankerung in den Bewegungen, ein Umfeld, das uns antreibt und uns hilft, unser Profil zu schärfen.

Es bleibt der Spagat, in Berlin Teil der Bewegung und zugleich der Regierung zu sein.

Daniel: Wir wissen aus Erfahrung, dass es nicht ausreicht, ein Thema nur im Wahlkampf aufzugreifen und dann in Parlament oder Regierung zu repräsentieren. Ein gutes Programm muss auch umgesetzt werden und dafür braucht es viel Druck. Den erzeugen wir nicht, wenn wir die Auseinandersetzung als Koalitionsangelegenheit hinter verschlossenen Türen verhandeln. Wir müssen sie als Brennpunkt eines gesellschaftlichen Konflikts verstehen. Dann könnten wir viel stärker auftreten, weil wir nicht nur für uns, sondern für viele organisierte Beschäftigte in unserem Rücken sprechen.

Klingt gut, aber wie gelingt das?

Daniel: Die Mietenpolitik hat gezeigt, dass es gehen kann. Hier ist inzwischen allen klar, dass das Wechselspiel zwischen Partei und Bewegung unabdingbar ist. Dass der Mietendeckel in Berlin zeitweise durchgesetzt werden konnte, hatten wir nicht allein der Entschlossenheit einzelner Amtsträger*innen, sondern dem permanenten Protest der Bewegungen zu verdanken. Heute denkt niemand mehr, der Mietenwahnsinn wäre das Problem einzelner Hausgemeinschaften. Es gibt eine breite gesellschaftliche Politisierung – die wünsche ich mir auch im Gesundheitsbereich.

Wagen wir ein Gedankenexperiment: Ihr schaut im Herbst 2021 auf den Kampagnensommer zurück – was habt ihr erreicht?

Jeannine: Wir haben einen extrem starken Tarifvertrag abgeschlossen mit hammermäßigen Personalvorgaben für jeden Bereich. Wir haben es zum ersten Mal geschafft, dass auch alle anderen Berufsgruppen im Krankenhaus mehr Aufmerksamkeit erhalten. Als große Gruppe der Gesundheitsberufe haben wir ein neues Selbstbewusstsein gewonnen und spüren das auch in der Zusammenarbeit im Alltag. Und außerdem steht endlich die Abschaffung der Fallpauschalen auf der politischen Agenda.

Daniel: Genau, mit der Abschaffung der Fallpauschalen hätten wir die Profitorientierung im Gesundheitswesen endlich ein Stück zurückgedrängt. Die Rekommunalisierung aller Krankenhäuser wäre dann der nächste Schritt und würde in jeder Talkshow rauf- und runterdiskutiert. Die LINKE würde es schaffen, die weit verbreitete Kritik am profitorientierten Gesundheitswesen aufzugreifen und zuzuspitzen. Damit würden wir gesellschaftlich endlich in die Offensive kommen.

Das Gespräch führten Fanni Stolz und Hannah Schurian.

Jeannine Sturm ist Pflegekraft am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin-Wedding und aktiv in der ver.di-Betriebsgruppe sowie Mitglied der ver.di-Tarifkommission und des Bündnisses »Gesundheit statt Profite«.

Daniel Schur ist unter anderem in der LINKEN-Basisorganisation LEO in Berlin-Wedding und in der Bündnisarbeit für die Krankenhausbewegung aktiv.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gemeinsam-druck-machen

#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Berlin #Pflege

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In den Krankenhäusern zeigt sich, was passiert, wenn man die öffentliche Daseinsvorsorge nach dem Profitprinzip organisiert. Wegen des verfehlten Finanzierungssystems im Krankenhaus wird am Personal gespart, wodurch die Arbeitsbedingungen schlechter und die Personalnot größer werden. Dies gefährdet wiederum die sichere Versorgung von Patient*innen. Vivantes und Charité, die beiden größten öffentlichen Krankenhäuser in Berlin, starteten deshalb 2021 eine neue Tarifbewegung.

Um das System zu verändern, braucht es aber auch jenseits des Betriebs politischen Druck und eine breite gesellschaftliche Politisierung im Gesundheitsbereich. Dies erklären Jeannine Sturm, Pflegekraft am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin-Wedding, und Daniel Schur, aktiv in der LINKEN-Basisorganisation LEO in Berlin-Wedding, im Interview. Sie zeigen auf, wie solidarische Unterstützung und erfolgreiche Bündnisarbeit zwischen Beschäftigten, Partei und Bewegung aussehen kann.

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

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Tarifrunde im ÖPNV

Was verbindet Beschäftigte und Klimabewegung?

Mai 2020 • Gespräch mit Lara Zschiesche und Erdoğan Kaya

Klimastreik Leipzig #fridaysforfuture. Foto: hybrid-moment / flickr / CC BY-NC 2.0

Klimastreik Leipzig #fridaysforfuture. Foto: hybrid-moment / flickr / CC BY-NC 2.0

Mobilität, Gewerkschaft, Organisierung, Berlin#Mobilität #Gewerkschaft #Organisierung #Berlin

Fridays for Future sind seit Monaten aktiv, aber wenn man das Klimapaket anschaut, habt ihr noch nicht so richtig was erreicht, oder?

Lara: Das ist zwiespältig. Ich denke schon, dass wir eine Diskursverschiebung in der Gesellschaft erreicht haben. Wir haben das Thema Klimawandel ganz oben auf die politische Agenda gesetzt, das ist nicht nichts. Aber es stimmt: Von den konkreten Forderungen wurde bisher keine umgesetzt. Obwohl im September 1,4 Millionen Menschen bei den Demonstrationen zum globalen Klimastreik waren.

Wie soll es weitergehen?

Lara: Es gibt jetzt unterschiedliche Ansätze. Der Kohleausstieg bleibt zentral, zum Beispiel mit Protesten gegen das Kohlekraftwerk Datteln 4. Ein wichtiger Fokus liegt aber auch auf der Mobilitätswende. Der Verkehrsbereich ist der drittgrößte Emissionssektor in Deutschland und der einzige, in dem der CO2-Ausstoß in den letzten 20 Jahren zugenommen hat. Im Klimapaket kommt er kaum vor. Außerdem zeigt sich hier deutlich, wie sehr die Klimafrage mit sozialen Fragen verknüpft ist. Ursprünglich waren Kontakte zu Beschäftigten oder Gewerkschaften kein Thema für Fridays for Future. Aber schon beim globalen Klimastreik im September 2019 gab es die Idee einer Vernetzung, die über Studierende und Schüler*innen hinausgeht. Daher der Hashtag #allefürsklima. Es passt perfekt, dass mit der Tarifrunde in Nahverkehr im Sommer eine Auseinandersetzung bevorsteht, an die wir anknüpfen können.

Ihr habt bei der BVG letztes Jahr erfolgreich für mehr Lohn gestreikt, wieso schon wieder eine Tarifrunde?

Erdoğan: Diesmal geht es nicht um die Löhne, sondern um Forderungen zu Urlaub, Zuschlägen sowie zu Ruhe- und Wendezeiten. Unsere Arbeitsbedingungen haben sich extrem verschlechtert. Die Ruhezeiten zwischen den Diensten sind kürzer und die Dienste länger geworden, der Stress nimmt zu, Kolleg*innen werden anfällig, Erkrankungen häufen sich. Auch die Wendezeiten, also die Zeiten, in denen wir an den Endhaltestellen unsere Pausen machen, werden immer kürzer. Die Toiletten sind oft weit entfernt, sodass es teils schwierig ist, zwischen den Fahrten mal aufs Klo zu gehen. Die sanitären Anlagen und die Pausenräume sind außerdem in einem unwürdigen Zustand. Außerdem klopfen immer wieder Fahrgäste an die Tür klopfen und bitten um Auskunft. Da ist keine Entspannung möglich. Die Zustände sind bundesweit ähnlich.

Wie sieht es mit dem Leben jenseits der Arbeit aus? Ihr fahrt ja auch am Wochenende und in der Nacht.

Erdoğan: Ja, außerdem haben wir oft lange Dienste, bis zu 14 Stunden. Ein Tag hat aber nur 24 Stunden. Wir haben wenig Zeit für Familie, Freunde, Schlaf und Ernährung. Das macht auf Dauer krank.

Ein 14-stündiger Dienst?

Erdoğan: Wir haben geteilte Dienste. Zwischen den beiden Teilen liegen mehrere Stunden, die aber nicht bezahlt werden. Du stehst dem Unternehmen also 14 Stunden zur Verfügung, wirst aber nur für die reine Dienstzeit bezahlt. Früher war der Tageszuschlag dafür 18 Mark – dem würden heute 9 Euro entsprechen. Tatsächlich bekommen wir aber nur 2 Euro. Das ist ungerecht und sehr belastend.

Lara: Solche Bedingungen machen den Job extrem unattraktiv. Das ist auch ein Grund, warum wir diese Tarifrunde wichtig finden: Wegen der schlechten Arbeitsbedingungen entscheiden sich immer weniger junge Leute für eine Ausbildung im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Ohne Beschäftigte wird es jedoch keine Verkehrswende geben.

Ihr seid aus Berlin, die Auseinandersetzung findet aber bundesweit statt, oder?

Erdoğan: Aktuell gibt es 15 verschiedene Tarifverträge in über 100 kommunalen Verkehrsbetrieben. Die laufen alle zum 30. Juni aus, dann steigen wir in die Tarifverhandlungen ein. Unser Ziel ist es, bundesweit zu einheitlichen Standards zu kommen und wieder mehr gemeinsam zu kämpfen. Nur so werden wir stärker. In Berlin geht es außerdem um Arbeitszeiten – in einer Umfrage haben sich unsere Kolleg*innen 2018 für eine Arbeitszeitverkürzung ausgesprochen.

Wie ist es zu dieser Aufsplitterung der Tarifverträge gekommen?

Erdoğan: Ursprünglich war der öffentliche Nahverkehr Teil des Flächentarifvertrags des öffentlichen Dienstes. Um Kosten zu sparen, wurden Anfang der 2000er Jahre einzelne Bereiche aus dem Flächentarif herausgebrochen. Der personalintensive und damit teure Verkehrsbereich gehörte dazu. Jetzt haben wir diese zersplitterten Tarife und die einzelnen Verkehrsunternehmen versuchen, uns gegeneinander auszuspielen. Dem wollen wir einen Riegel vorschieben!

Welche Rolle spielen Privatisierungen?

Erdoğan: Bei den privaten Verkehrsbetrieben sind die Arbeitsbedingungen und Löhne noch schlechter. Das übt Druck auf die Kommunalen aus, und Privatisierung ist eine ständige Bedrohung. Aus Angst davor haben wir 2005 bei der BVG einen Absenkungstarifvertrag verhandelt und darin freiwillig auf Geld und auf Rechte verzichtet. So ähnlich ist es überall gelaufen.

Wie könnte sich Fridays for Future in die Tarifrunde einbringen?

Lara: Die Klimabewegung bringt den gesellschaftlichen Rückhalt mit, den die Streikenden im ÖPNV oft nicht haben. Wir kennen das: Am ersten Tag findet ein Streik Zustimmung – die Leute unterstützen die Forderung nach höheren Löhnen. Am zweiten Tag ärgern sie sich aber schon, wenn ihr Bus nicht kommt. Deshalb wollen wir uns mit den Beschäftigten solidarisieren, um ihnen den Rücken zu stärken und gleichzeitig den Fokus aufs Klima zu legen: Eine Mobilitätswende wird es nur geben, wenn der ÖPNV massiv ausgebaut wird.

Erdoğan: Ja, wir haben viele Überschneidungen mit den Forderungen der Klimabewegung. Ein Doppeldeckerbus kann bis zu 100 Autos ersetzen. Viele Kolleg*innen sehen das genauso, weshalb es auf regionaler und auch auf Bundesebene Verbindungen zu Fridays for Future gibt. Am 20. September haben wir uns mit 100 Kolleg*innen von der BVG und auch bundesweit am Klimastreik beteiligt. Die Zusammenarbeit wollen wir ausbauen.

Was fordert ihr konkret?

Lara: Der Individualverkehr muss zurückgedrängt werden, und das geht nur durch einen Ausbau des ÖPNV. Damit ist aber zwangsläufig die Frage der Finanzierung verknüpft. Ich denke, wir brauchen eine Unternehmensabgabe, um die Konzerne an den Kosten für öffentliches Fahren zu beteiligen. In Frankreich funktioniert ein ticketloser ÖPNV durch Unternehmensabgaben schon in über 20 Verkehrsverbünden. Langfristig sollte der ÖPNV natürlich zum Nulltarif sein.

Die Kommunen sind oft klamm. Sie müssen abwägen, welche Aufgabenbereiche sie finanziell besser ausstatten.

Erdoğan: Ein Problem ist, dass der ÖPNV im Klimapaket der Bundesregierung leer ausgegangen ist. In der Berliner Landesregierung besteht durchaus Interesse, den ÖPNV auszubauen und besser zu finanzieren. Aber die Umsetzung lässt zu wünschen übrig. 2019 haben wir mit ver.di einen guten Tarifabschluss erreicht, der den Betrieb logischerweise Geld kostet. Die ursprünglichen Versprechungen hat der Senat dann aber doch zurückgezogen. Jetzt ist unklar, ob und wie die BVG an anderen Stellen sparen kann, um die höheren Löhne zu zahlen.In Berlin sieht man die Verheerungen der Schuldenbremse, die bricht den Kommunen das Genick. Letztlich müsste die Finanzierung auch über eine stärkere Besteuerung der Reichen geregelt werden. Mit dieser Bundesregierung stehen aber weder Vermögenssteuer noch andere Möglichkeiten auf der Tagesordnung. Wir sind ein reiches Land. Geld ist da – es ist nur nicht gerecht verteilt. Da müssen wir ran.

Lara: Ja, Geld ist vorhanden! Es muss anders verteilt werden. Zum Beispiel sollten wir aufhören, weiterhin fossile Energien oder konkret die Autoindustrie zu subventionieren. Aktuell wird mit massiven Steuer¬vorteilen der Kauf von luxuriösen Dienstwagen angekurbelt, die einen hohen Ausstoß haben. Ganz zu schweigen vom Straßenbau, in den irre viel öffentliches Geld gesteckt wird, ganz im Gegensatz zu Schienen – die werden vielerorts sogar abgebaut. Skandalös ist auch, dass die Autokonzerne davon ausgehen, dass die Ladeinfrastruktur, die für einen Umstieg auf E-Mobilität nötig ist, aus Steuermitteln finanziert wird. Hier droht eine ökologisch sehr zweifelhafte Technologie viel Geld zu verschlingen, das für den Ausbau des ÖPNV dringend gebraucht würde.

Das geht ja über Tarifverhandlungen hinaus. Wie wollt ihr hierfür den nötigen politischen Druck aufbauen?

Erdoğan: Wir brauchen eine Bewegung, die weit über ver.di hinausgeht. Auch die anderen Gewerkschaften müssen sich beteiligen und die Zivilgesellschaft. Deshalb ist die Klimabewegung so ein wichtiger Partner.

Lara: Ja, für die Mobilitätswende bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Allianz aus Gewerkschaften, Klimabewegung, NGOs und linken Parteien. In Bezug auf die Gewerkschaften läuft da schon vieles. Ende Februar hatten wir ein Treffen mit etwa 100 Teilnehmer*innen von Fridays for Future und jüngeren Kolleg*innen von ver.di, der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und der IG Metall. Es wurde klar: Viele Gewerkschafter*innen – besonders im Verkehrssektor – machen sich für die Verkehrswende stark. Wenn die Tarifauseinandersetzung näher rückt, überlegen wir, einen Freitagsstreik unter das Motto Verkehrswende zu stellen und gemeinsam mit Gewerkschaftskolleg*innen zu demonstrieren.

Aber es gibt ja auch Widersprüche. Bei der Forderung nach einem Nulltarif zum Beispiel haben Beschäftigte Angst, dass noch weniger Leute eingestellt werden und sich die Arbeit weiter verdichtet.

Erdoğan: Es gibt auch kritische Stimmen zur Bewegung. Wir unterstützen die Klimabewegung nicht zu 100 Prozent. Aber wir diskutieren über ihre Positionen im Betrieb. Und wir sehen, dass die jungen Menschen in der Klimabewegung nicht nur an ihre eigene, sondern auch an unsere Zukunft denken. Es gibt immer auch diejenigen, die weiterhin glauben, dass Klimabewegung und Gewerkschaft keine gemeinsamen Interessen haben. Vielleicht ändert sich das im Laufe des nächsten Jahres ja noch.

Lara: Ja, die Ängste gibt es. Wir müssen deutlich machen, dass wir eine ökologische und sozial gerechte Mobilitätswende wollen. Für uns ist zentral, dass die Beschäftigten die Klimabewegung nicht als Gegner begreifen, sondern wir zusammen für den Erhalt unseres Planeten kämpfen. Für uns ist klar, ein Nulltarif darf nicht zu Lasten der Beschäftigten gehen. Das geht nur, wenn wir die Forderung nach Klimaneutralität mit der nach finanzieller Absicherung – also nach gesellschaftlicher Umverteilung – verbinden. Und es hängt davon ab, ob wir so viel Druck entfalten können, dass ein echter gesellschaftlicher Umbau in den Blick kommt – nicht nur eine »Antriebswende«. Mit Schuldenbremse und den derzeitigen Steuerkonzepten, das hat Erdoğan ja schon gesagt, wird es nicht gehen.

Lara Zschiesche studiert an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist bei Students for Future aktiv, der Uni-Sektion von Fridays for Future.

Erdoğan Kaya ist Personalrat und Mitglied der Tarifkommission der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG).

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gespraech-tarifrunde-im-oepnv-was-verbindet-beschaeftigte-und-klimabewegung

Foto: hybrid-moment / flickr / https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

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Im Interview sprechen Lara Zschiesche, aktiv bei Students for Future, und Erdoğan Kaya, Personalrat bei der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG), über gemeinsame Forderungen von Gewerkschaft und Klimabewegung im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Das Gespräch zeigt auf, wie sich Kämpfe solidarisch miteinander verbinden lassen und warum dies für eine klima- und sozialgerechte Verkehrswende notwendig ist.

Klimastreik Leipzig #fridaysforfuture. Foto: hybrid-moment / flickr / CC BY-NC 2.0

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In vielen Städten solidarisieren sich Aktivist*innen der Fridays for Future-Bewegung mit den Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs in den aktuellen Tarifkämpfen. Zwei Welten treffen aufeinander mit einem gemeinsamen Anliegen: Öffentlicher Nahverkehr ist ein wichtiger Baustein für die notwendige Verkehrswende, um die Städte sauberer zu halten und den CO2 Ausstoß von Autos zu reduzieren. Der Kampf ums Klima ist ganz konkret, wenn es um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in Bus und Bahn geht. Der Film begleitet Selma Hertz, eine junge Aktivistin für Klimagerechtigkeit, die mit ihrer Gruppe die Unterstützung der Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe organisiert. Sie trifft auf Erdoğan Kaya, ein Busfahrer und langjähriger Gewerkschafter bei Verdi. Der Film wurde gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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Die Beiträge der Broschüre lassen sich nicht in das Schema «Bist du für oder gegen Computer in der Schule?» pressen. Den Autor*innen geht es nicht um eindeutige, glatt gebügelte Antworten, sondern darum, Probleme zu benennen und Perspektiven für eine Bildung in Zeiten der Digitalisierung zu entwickeln.

„Jede technische Entwicklung, jede wissenschaftliche Entdeckung im Kapitalismus dient der Kapitalverwertung und meistens auch der Herrschaftssicherung. Doch zugleich enthält sie, wenn auch jeweils in unterschiedlichem Maße, Möglichkeiten der Vergesellschaftung und der Befreiung“, so Herausgeber Karl-Heinz Heinemann im Vorwort.

Foto: Stefan Meller / Pixabay

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Warum auch im Krankenhaus gestreikt werden darf

Die Berliner Krankenhausbewegung fordert Entlastung und den TVöD für alle in den landeseigenen Kliniken Vivantes und Charité. Dafür hat sie ein 100 Tage Ultimatum gestellt, um die Forderungen zu erfüllen. Kurz vor Auslaufen des Ultimatums wollen wir in einem Fachgespräch zusammen mit gesundheitspolitischen Expert*innen über die Forderungen diskutieren. Wir gehen dafür auf Fragen der Finanzierbarkeit, des Mangels an Pflegepersonal sowie der Notdienstvereinbarung als Mittel im Streik ein.

Daniel Weidmann (Fachanwalt für Arbeitsrecht, dka Rechtsanwälte) gibt in seinem Vortrag eine juristische Einschätzung zur Auseinandersetzung um die Notdienstvereinbarung.

Der Vortrag fand am 17. August 2021 im Rahmen des Fachgesprächs der Berliner Krankenhausbewegung «Gute Gesundheitsversorgung in Berlin» in Kooperation mit der Rosa Luxemburg Stiftung statt.

https://berliner-krankenhausbewegung.de/

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020 in Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

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Der Bildungsbereich ist unentwegt ein Kampfplatz widerstreitender Interessen, die eine unmittelbare Auswirkung auf die Betroffenen: auf die in Lehr- und Lernverhältnissen stehenden Menschen haben.

Welche Kämpfe hat es in den letzten Jahren gegeben und welche Alternativen können einen neoliberal zugerichteten Bildungssektor wirksam entgegensetzt werden?

Dies beleuchtet Dr. Andreas Keller, Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), in seinem Vortrag im Rahmen der Konferenz «Bildung is a Battlefield! Lernen im neoliberalen Kapitalismus und Alternativen» in Berlin, 5.-6.7.2019.

GEW

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Altenpflege organisieren und (lokal)politisch Druck machen

April 2016 • Mia Lindemann und Michael Zimmer

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Pflege, Gewerkschaft, Organisierung#Pflege #Gewerkschaft #Organisierung

Dass die Organisierung von Beschäftigten in der Altenpflege schwierig ist, wird regelmäßig wiederholt. Doch wir sind der Meinung, dass sich durchaus realistische Streik- und Arbeitskampfformen für die Altenpflege entwickeln lassen. Man muss es nur tun. Entscheidend ist nicht zuletzt, den Kontext oder auch größeren Rahmen der jeweiligen Arbeitsbedingungen mit einzubeziehen. Denn den konkreten Problemen liegen politisch gewollte Strukturen zugrunde: Die ständige Unterbesetzung beim Personal durch die Entscheidung für ein familienbasiertes Pflegesystem oder die neoliberal begründete systematische Unterfinanzierung der öffentlichen Pflege. Deshalb ist es nötig, auf mehreren Ebenen zu agieren: im Betrieb, in der Kommune, auf Landes- und auf Bundesebene. In unserer gewerkschaftlichen Betreuung von Betrieben der Altenhilfe im Bezirk Mannheim haben wir damit gute Erfahrungen gemacht: wir haben die Belegschaften organisiert und zugleich von Anfang an auf eine (lokale) Politisierung der Konflikte gesetzt. Ein kurzer Bericht unserer kleinen großen Erfolge.

Organisierung im Konflikt

Unsere ersten Organisierungserfahrungen machten wir in einem betrieblichen Konflikt. Der neue Träger eines privaten Altenpflegeheims war bereits für arbeitsrechtlich dubiose Praktiken bekannt. Er verlangte von den über hundert Beschäftigten, für eine Übernahmen schlechtere Arbeitsverträge zu unterschreiben und weniger Lohn zu akzeptieren. In dieser Situation bewährte sich der aktive ver.di-Betriebsrat, der gemeinsam mit der Gewerkschaftssekretärin die Beschäftigten ermutigte, sich zu wehren und statt der Verträge eine Beitrittserklärung bei ver.di zu unterschreiben. Darüber hinaus führte er erfolgreiche gerichtliche Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber, der sich immer wieder über die Mitbestimmungsrechte hinwegsetzte. Die skandalöse Vorgehensweise interessierte die lokale Presse und so kam es – durch entsprechende Zuarbeit von ver.di – zu einer kontinuierlichen Berichterstattung, bis ins Lokalfernsehen. Ver.di veröffentlichte täglich online die neuesten Nachrichten zum Arbeitskampf. Dadurch entstand im Netz eine bundesweite Solidarisierung der Beschäftigten dieses Konzerns. Als der Arbeitgeber den Konflikt durch verspätete Lohnzahlungen zuspitzte, initiierte ver.di einen offenen Brief, den der halbe Gemeinderat und viele Prominente und nicht prominente Bürger der Stadt unterschrieben. Als der Arbeitgeber schließlich gar die Bewohner aufforderte, binnen weniger Monate auszuziehen, hatte er auch die kommunalen Behörden gegen sich und musste den Betrieb verkaufen. Die alten Arbeitsverträge blieben, die Löhne mussten nachgezahlt werden. Was verhalf dieser Auseinandersetzung zum Erfolg? Wie wurde die Belegschaft zu einem widerstandsfähigen Kollektiv? Die erste Voraussetzung bestand darin, die Alltagskonflikte ernst zu nehmen. Die zweite lag darin, das Lösen von Konflikten zu einer kollektiven Aufgabe zu machen. Dazu braucht es einen Betriebsrat, der sich dieser Herausforderung bewusst ist. Die dritte Aufgabe ist es, die Konflikte in den gesellschaftlichen Raum zu tragen, Bündnisse zu schließen und die zuständigen politischen Träger in die Pflicht zu nehmen. Alle drei Aufgaben sind von Beschäftigten, Betriebsrat und Gewerkschaft gemeinsam zu lösen.

Altenpflegeprojekt

Ver.di organisierte daraufhin ein Projekt, im Rahmen dessen ein Vertrauensmann die Altenpflegeheime der Region besuchte und den Auftrag hatte, den Beschäftigten sein Ohr zu leihen, ihre Beratungsbedürfnisse an die GewerkschaftssekretärInnen weiterzuvermitteln, gewerkschaftliche Infos in die Betriebe zu bringen und Nachrichten von dort, zum Beispiel über Konflikte, in die Gewerkschaft. So konnten wir aus betrieblichen Konflikten überbetriebliche machen – und manchen Erfolg verbuchen.

Kampagne »Freie Heimwahl«

Wie in vielen anderen Regionen auch beschloss der Mannheimer Gemeinderat, alle Pflegebedürftigen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, in die ›billigeren‹ Heime zu schicken. ›Billige‹ Heime sind aber insbesondere diejenigen, die keine Tarifverträge hatten, während beispielsweise alle kommunalen Heime (mit TVÖD und Betriebsräten) zu den teuren Heimen zählten. ›Billig‹ waren also in erster Linie die Altenpflegeheime, die absolut gewerkschafts- und betriebsratsfeindlich waren. Da die Altenpflegeheime schnell in die roten Zahlen geraten, wenn die Betten nicht belegt sind, stellte dieses Verfahren eine Gefährdung der Arbeitsplätze gerade in den Heimen dar, die nach Tarif zahlten und Betriebsräte hatten. In den AWO-Haustarifverhandlungen vor Ort spielte das eine Rolle. Wir machten daher mit den Betriebsräten und Belegschaften der Heime eine Kampagne für »freie Heimwahl«. Es gelang, viele Unterschriften zu sammeln und letztlich den Gemeinderat Mannheims dazu zu bringen, seinen ein Jahr vorher gefassten Beschluss zurückzunehmen.

Demokratie im Betrieb durchsetzen

In dem großen – für uns erfolgreichen – Konflikt um einen Tarifvertrag für die Beschäftigten der Stadtmission Heidelberg mit zirka 1500 Beschäftigten wurde die Differenz zwischen der schon kämpferischen Belegschaft des Krankenhauses Salem und den ganz überwiegend zurückhaltenden Kolleginnen und Kollegen der Altenpflege besonders deutlich. Letztere waren stark eingeschüchtert und der autoritäre Druck der Heimleitungen lähmte mit seinen Hinweisen auf die strukturellen Probleme der Pflegeheime die verantwortungsbewussten Beschäftigten. Aber auf Dauer wollten sie sich den bunten und lustigen Infoständen der ver.di-KollegInnen auch nicht entziehen. Und während die Heimleitungen versuchten, ver.di zu vertreiben und ihnen den Zugang zu den Heimen zu verwehren, brachten die KollegInnen sie immer wieder durch große, selbst gefertigte Wandplakate, die sie an Stelle von ›unüblichen‹ Schwarzen Brettern der Gewerkschaft aufhängten, in Aufregung. Schließlich setzten wir die Schwarzen Bretter der Gewerkschaft auch gerichtlich durch. Die Kolleginnen und Kollegen lernten, dass sie demokratische Rechte haben, die ein autoritärer Heimleiter, und wenn er noch so laut schreit, ihnen nicht nehmen kann.

Probleme der Pflege politisch angehen

Den Kern des Problems in der Altenpflege, die Personalnot, berührten wir mit dem ›Personalcheck‹ in den Pflegeheimen, der den Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit politischer Wirksamkeit vor Augen führte. Die Resultate des Personalchecks wurden auf dem Stuttgarter Schlossplatz einer Kommission des Landtags übergeben. Immer waren unsere Kampagnen gesteuert durch Betriebsgruppen, Arbeitskreis Altenpflege, Fachbereichsvorstand – Gremien, in denen sich die Aktiven selbst organisierten. Wir haben viele dazu gewonnen. Sie haben sich verändert, ihr Leben in die Hand genommen. Das hoffen wir, als ermutigende Erfahrung weitergeben zu können.

Mia Lindemann ist Gewerkschaftssekretärin bei ver.di Rhein-Neckar.

Michael Zimmer ist Gewerkschaftssekretär bei ver.di Rhein-Neckar.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/altenpflege-organisieren-und-lokalpolitisch-druck-machen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

#Pflege #Gewerkschaft #Organisierung

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In der Pflege stehen Gewerkschaften vor besonderen Herausforderungen. Besonders in kleinen und/oder ambulanten Betrieben lässt sich nur schwer ökonomischer und politischer Druck aufbauen und Repressionen von Seiten der Arbeitgeber sind schwer abzuwehren. Doch auch in großen Krankenhäusern fällt es vielen Pflegekräften schwer, im Streik die Arbeit niederzulegen – oft aus Angst, PatientInnen und KollegInnen allein zu lassen. Aber der Leidensdruck ist hoch: Weil immer mehr Arbeit auf immer weniger Schultern lastet, nehmen Stress und Überlastung zu. Wenn es unter diesen Umständen dennoch gelingt, Widerstand zu organisieren, gleicht das einer »kleinen Revolution«; einer, die viele kleine Schritte braucht und oft jenseits klassischer Arbeitskämpfe stattfindet. Dazu bedarf es neuer Wege der Organisierung – und neuer Wege, um effektiv Druck aufzubauen. Wie dies auch jenseits der großen Streiks gelingen kann, zeigt das Beispiel aus Mannheim.

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

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«In den nächsten Jahren werden wir Proteste sehen!»

Organisierung in der Altenpflege

April 2016 • Melanie Stitz im Gespräch mit Katharina Schwabedissen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Pflege, Gewerkschaft, Organisierung#Pflege #Gewerkschaft #Organisierung

Wie stellt sich die Situation in der Altenpflege derzeit dar?

Die Arbeitsbedingungen und Gehälter stehen in keinem Verhältnis zu der gesellschaftlichen Wichtigkeit dieser Aufgabe: 76 Prozent der KollegInnen geben an, unter hohem Zeit- und Termindruck zu arbeiten. Dabei versuchen sie alles, um sich dies bei der Arbeit nicht anmerken zu lassen oder den Druck weiterzugeben: Es soll den Menschen, mit denen sie arbeiten, gut gehen – natürlich klappt das nicht immer. 80 Prozent der Beschäftigten sind Frauen, und die Bezahlung ist schlecht. Eine Fachkraft verdient im Durschnitt 2 190 Euro brutto. Zum Vergleich: Ein Elektrotechniker erhält zirka 3 600 Euro. AltenpflegehelferInnen finden durchschnittlich 1 890 Euro brutto in ihrer Lohntüte. Wir reden hier von Vollzeitstellen, die in der Altenpflege die Ausnahme sind. Minijobs und Teilzeit bestimmen das Feld und die Gehälter. Das liegt nicht nur daran, dass Teilzeitkräfte flexibler eingesetzt werden können, sondern auch daran, dass die Kraft für eine 38-Stundenwoche oft nicht ausreicht. 83 Prozent der Altenpflegenden verrichten schwere körperliche Arbeit. Dazu kommen die psychische Belastung, die ›Zweite Schicht‹ zu Hause sowie mangelnde Wertschätzung. 73 Prozent der Beschäftigten gehen nicht davon aus, dass sie ihren Job bis zur Rente durchhalten. Und wenn sie die Rente erreichen, reicht das Geld zum Leben nicht. Altenpflege bedeutet in diesem Land fast zwangsläufig Altersarmut nach dem Job.

Was wollt ihr bei ver.di mit Eurem Projekt erreichen?

Es geht darum, dass sich die KollegInnen gemeinsam für ihre Interessen einsetzen und sich bei ver.di organisieren – derzeit tun das nur 17 Prozent. Alleine setzen sich aber nur die Starken durch. In der Altenpflege herrscht bereits heute Fachkräftemangel, und der Bedarf wird steigen. Die Nachfrage allein bestimmt aber eben nicht den Marktwert, sonst lägen die Gehälter deutlich höher und die Arbeitsbedingungen wären besser. In der momentanen Situation bedeutet der permanente Personalmangel vor allem, keine Ruhe mit den Menschen zu haben, die versorgt werden. Jede Ausnahme wird zur Katastrophe, weil die Regelarbeit gerade so hinhaut. So steht eben nicht die Selbstständigkeit der BewohnerInnen im Vordergrund, sondern das Tempo: Ein älterer Mensch ist schneller gewaschen, wenn er es nicht selber macht. Das gilt auch für das Essen, den Weg in den großen Saal und für’s Anziehen. ›Aktivierende‹, unterstützende Pflege, die auf den Erhalt von Selbständigkeit setzt, braucht Zeit und Geduld. Wenn KollegInnen krank werden, müssen Doppelschichten gemacht werden, das freie Wochenende ist weg, Überstunden wachsen an. Am Ende all dieser ›Ausnahmen‹ steht die Erschöpfung. Und dann reicht nicht einmal das Gehalt für einen wirklichen Erholungsurlaub im Jahr. Junge Menschen überlegen gut, welchen Beruf sie ergreifen. Wenn sich die Zustände nicht ändern, werden sie sich nicht für Pflege entscheiden. Mit der Veränderung des Familien- und Frauenbildes in der Gesellschaft verändert sich auf die Berufswahl von Frauen. Und sie sind es bisher, die die Pflege tragen – in den Heimen und zu Hause.

Was macht die (Selbst-)Organisierung der KollegInnen so schwer?

Pflegende haben häufig ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Arbeit, die in dieser Gesellschaft nicht viel zählt, unter anderem, weil sie wenig Profit abwirft. Der Versuch, aus der Pflege dennoch Profit zu ziehen, führt zu unmenschlichen Verhältnissen: erst bei den Beschäftigten, dann bei den Betroffenen selbst. Außerdem gelten so typisch weibliche Aufgaben wie Waschen, Essen reichen, Gespräche führen, Anziehen, Spazieren gehen oft gar nicht als Arbeit – das kann doch schließlich jeder – mindestens aber eine jede. Pflege wird daher oft als ›Liebesdienst‹ verstanden – auch von den Pflegenden selbst. Diese Vorstellung zieht sich durch die Entwicklung der Pflege. Sie hat sich dadurch professionalisiert, dass sie von Ordensschwestern übernommen wurde. Aus all diesen Gründen fehlt den Beschäftigten mitunter der ›ProduzentInnenstolz‹ für ihre Arbeit. Auch deshalb fällt es Pflegenden mitunter schwer, sich für ihre Interessen selbstbewusst einzusetzen. Sie sind gewöhnt, dass es meist um andere geht, nicht um sie selbst. Hinzu kommt oft Angst, den Job zu verlieren, Sorge um die Situation der BewohnerInnen und auch um die gesellschaftliche Reaktion auf solche Arbeitskämpfe. Hier müssen auch wir uns an die eigene Nase fassen: Wir wollen, dass unsere Lieben gut versorgt werden, aber wenn die Beschäftigten dafür kämpfen, dass sie diese Arbeit dauerhaft, gesund und gut leisten können, dann ist unsere Geduld nach 14 Tagen Streik schnell am Ende.

Wie arbeitet Ihr mit dieser Situation?

Wir wollen erreichen, dass die KollegInnen mindestens so verantwortlich und solidarisch mit sich selbst umgehen, wie mit ihren KollegInnen und den BewohnerInnen. Hier fängt an, sich etwas zu verändern. Wertschätzung steht ganz oben auf der Agenda, auch Sichtbarkeit. Ich bin sicher, dass es in den nächsten Jahren gerade in diesem Bereichen wahrnehmbare Proteste gegen diese unmenschlichen Entwicklungen geben wird – seitens der Beschäftigten, aber auch von Seiten der BewohnerInnen und ihren Angehörigen. Wir arbeiten im Moment in 15 Altenpflegeeinrichtungen und mit einem überbetrieblichen Projekt. Die GewerkschaftssekretärInnen vor Ort koordinieren die Organisierung in den als ›Projektbetriebe‹ ausgewählten Heimen. Die Hauptpersonen sind aber die Aktiven im Betrieb. Konkret sieht das so aus, dass wir in einer Einrichtung gewerkschaftlich Aktive suchen und mit ihnen gemeinsam zunächst erfragen, was die Themen der Beschäftigten sind. Wir gehen als Gewerkschaft oft davon aus, dass unsere Themen auch den KollegInnen vor Ort auf den Nägeln brennen. Das trifft aber nicht immer zu. Oft sind es Kleinigkeiten, die sie belasten: Kein Raum für die Pause; zu lange Wege innerhalb des Wohnbereichs; Hilfsgeräte, die nicht funktionieren; eine Leitung, die Druck ausübt. Es geht also zunächst darum, Kontakte zu knüpfen, mehr zu werden, Netzwerke aufzubauen und Wertschätzung erfahrbar zu machen. Wir lernen gerade viel voneinander: ver.di lernt die Besonderheiten der Altenpflege (besser) kennen und die KollegInnen vor Ort erleben, dass sie die Fachleute sind, auf die es ankommt. Das ist spannend – und manchmal auch neu für alle Beteiligten.

So verändern sich also auch die gewerkschaftlichen Kämpfe selbst?

Normalerweise organisiert eine Gewerkschaft die KollegInnen, schafft Strukturen im Betrieb und geht dann in Konfrontation mit dem Arbeitgeber. Meist geht es um mehr Gehalt und kürzere Arbeitszeit. Das Ergebnis sind Tarifverträge. Die Ziele in der Altenpflege sind im Prinzip die gleichen. Wir brauchen aber ergänzend ›neue Wege‹, um sie zu erreichen. Wenn die Beschäftigten streiken, dann bestreiken sie zwar in erster Linie ihren Arbeitgeber, aber sie ›bestreiken‹ auch die Menschen, die auf sie angewiesen sind. Das ist einerseits ein Dilemma, führt aber – zu Ende gedacht – auch aus ihm heraus: Der Kreis von Menschen, die ein Interesse an gemeinsamer Organisierung und einer Verbesserung der Arbeit in der Altenpflege haben, reicht weit über die Beschäftigten hinaus, er schließt auch BewohnerInnen und Angehörige ein. Und jede und jeder von uns ist potenziell Betroffene, kann morgen pflegebedürftig werden oder Angehörige von Pflegebedürftigen. Die Debatte um die Pflege gehört also in die Mitte der Gesellschaft. Die Pflegenden stellen die Frage nach einem würdigen Leben im Alter. Darauf gibt es zwei Antworten: Es wird von allen für alle finanziert oder alle finanzieren das Leben einiger weniger Reicher. Es gilt also, die BewohnerInnen, ihre Angehörigen und das gesamte Umfeld der Altenpflegeeinrichtungen in die Arbeitskämpfe einzubeziehen – im Zweifel auch im Bündnis mit den direkten Arbeitgebern, wenn es um die Refinanzierung sozialer Dienste durch die Verantwortlichen in den Parlamenten geht. Die vermeintliche Schwäche der Pflege ist ihre größte Stärke: Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Altenpflege ist kein Kampffeld, sondern ein Lebensraum. Und so müssen auch die Organisierung und die Arbeitskämpfe aussehen. Diese versuchen wir zu entwickeln.

Das Gespräch führte Melanie Stitz. Das Interview erschien zuerst in der Zeitschrift wir frauen 1/2016.

Katharina Schwabedissen ist examinierte Krankenschwester und hat Philosophie und Geschichte studiert. Sie ist in der LINKEN aktiv, besonders gerne bei der bundesweiten Frauenarbeitsgemeinschaft LISA in Nordrhein-Westfalen und bei den Dialektikfrauen um Frigga Haug. Seit Juni 2014 koordiniert sie das Erschließungsprojekt Altenpflege von ver.di in Nordrhein-Westfalen.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/in-den-naechsten-jahren-werden-wir-proteste-sehen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

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Normalerweise organisiert eine Gewerkschaft die KollegInnen, schafft Strukturen im Betrieb und geht dann in Konfrontation mit dem Arbeitgeber. Meist geht es um mehr Gehalt und kürzere Arbeitszeit. Das Ergebnis sind Tarifverträge. Die Ziele in der Altenpflege sind im Prinzip die gleichen. Doch es braucht ergänzend ›neue Wege‹, um sie zu erreichen, denn nur ein geringer Anteil der Pflegekräfte sind gewerkschaftlich organisiert. Im Interview erklärt Katharina Schwabedissen von den Arbeitsbedingungen in der Altenpflege, was die Organisierung so schwierig macht und wie sie das mit dem Erschließungsprojekt Altenpflege von ver.di in Nordrhein-Westfalen ändern will. Die vermeintliche Schwäche der Pflege ist ihre größte Stärke: Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Altenpflege ist kein Kampffeld, sondern ein Lebensraum. Und so müssen auch die Organisierung und die Arbeitskämpfe aussehen.

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In vielen europäischen Ländern nehmen wie in Deutschland die Proteste gegen die Privatisierungs- und Kürzungspolitik im Gesundheitswesen zu. Für diese Auseinandersetzungen kann viel aus den Erfahrungen, die in den Niederlanden gemacht wurden, gelernt werden. Dort startete die Sozialistische Partei (SP) eine Kampagne für eine Entprivatisierung der Krankenkassen, mit der sie die Stimmung im Land bereits erheblich zugunsten eines öffentlichen Gesundheitswesens beeinflussen konnte. Die Studie von May Naomi Blank zeigt den neoliberalen Umbau des niederländischen Gesundheitssystems ab 2006 und welche Folgen dies für die Arbeitsstandards und Patient*innen hatte. Außerdem beleuchtet sie die Geschichte der SP, ihre Verankerung unter den Beschäftigten, ihre Gewerkschafts- und Kampagnenarbeit. Als weiterer Akteur wird der Gewerkschaftsbund Federatie Nederlandse Vakbeweging (FNV) vorgestellt, der sich demokratisch erneuert hat, zunehmend Organizing-Strategien einsetzt.

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»Wir sind doch keine Sklavinnen!«

(Selbst-)Organisierung von polnischen Care-Arbeiterinnen in der Schweiz

Oktober 2015 • Sarah Schillinger

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung via flickr / Fotografin: Nate Pischner / CC BY 2.0

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Unsichtbare machen sich sichtbar

Plötzlich waren sie da, hatten ein Gesicht und eine Stimme: Care-Arbeiterinnen aus Polen, die in der Schweiz rund um die Uhr alte Menschen pflegen und betreuen. Auf der 1.-Mai-Demonstration 2014 in Basel stahlen sie den etablierten Gewerkschaften die «Show»: Geschmückt mit selbst genähten Foulards in den Farben der polnischen Flagge reihten sie sich hinter einem Transparent ein, das den Slogan trug: «Schluss mit der Ausbeutung – Wir fordern Rechte und Respekt!» Auf ihren Bannern war zu lesen: «24 Stunden Arbeit, 6 Stunden Lohn?! Nicht mit uns!» Als der Demonstrationszug vor dem Parlamentsgebäude ankam, betrat Bozena Domanska die Bühne. Sie begrüßte die versammelten DemonstrantInnen auf Polnisch und Deutsch und begann, von ihrer Arbeit zu erzählen:

«Ich habe wie Tausende Frauen aus Osteuropa erlebt, was es heißt, 24 Stunden am Tag ältere Menschen zu betreuen. Es ist nicht die Arbeit selber, die schlimm ist, sondern dass wir Frauen isoliert in einem Privathaushalt sind – ohne soziale Kontakte, ohne Privatleben, Tag und Nacht verantwortlich für einen kranken Menschen. Ein Leben im Rhythmus von anderen: vom Essen über das Fernsehprogramm bis hin zu den Nächten ohne Schlaf. Und dies zu Löhnen zwischen 1.200 und 3.000 Franken brutto. Das ist pure Ausbeutung!»

Mit deutlichen Worten prangerte sie die Praktiken ihrer Arbeitgeber an: privatwirtschaftliche Care-Unternehmen, die mit ihrem Geschäftsmodell des Personalverleihs viel Geld auf dem Rücken der Frauen verdienen, die für sie arbeiten.[1]

«Es ist ein Skandal, dass wir Frauen für eine Arbeit rund um die Uhr nur einen Lohn erhalten, mit dem wir nicht leben können. Viele Leute in der Schweiz denken, das ist genug für uns, weil wir aus Polen oder Ungarn kommen. Aber auch wir haben das Recht, dass die Gesetze der Schweiz für uns gelten. Die Arbeitgeber meinen immer noch, es liege in unserer Natur als Frauen, dass wir ein Teil der Betreuungsarbeit gratis machen. Damit ist jetzt Schluss! Wir haben das Netzwerk Respekt gegründet, um den Care-Arbeiterinnen eine Stimme zu geben im Kampf gegen die Ausbeutung und das Lohndumping. Wir Frauen fordern europaweit die Anerkennung der Care-Arbeit[2] als eine gesellschaftlich höchst wichtige Arbeit und kämpfen für faire Löhne durch eine bessere öffentliche Finanzierung!»

Polnische Community als Ausgangspunkt der Organisierung

Care-Arbeiterinnen in privaten Haushalten gewerkschaftlich zu organisieren ist eine Herausforderung: Oft befinden sie sich in keinem klaren Arbeitsverhältnis, sind geografisch über verschiedene Orte verstreut und arbeiten in der Privatheit von Haushalten, in denen die Beziehung zu ihren Arbeitgebern stark personalisiert ist. In der 24-h-Betreuung sind viele Migrantinnen tätig, die ihren Wohnsitz nur temporär in der Schweiz haben und im ein- bis dreimonatigen Rhythmus zwischen ihrer Familie in Osteuropa und dem Arbeitsplatz in einem Schweizer Haushalt hin- und herpendeln. Als sogenannte live-ins[3] sind ihre Arbeitszeiten entgrenzt, einen echten Feierabend haben sie nicht und nur wenige verfügen über einen kompletten freien Tag in der Woche, um sich außer Haus bewegen zu können. Außerdem ist die Abhängigkeit vom Arbeitgeber groß. Nicht nur muss häufig eine ganze (erweiterte) Familie im Herkunftsland ernährt werden, auch der Kündigungsschutz ist schlecht, und beim Verlust der Stelle verlieren sie nicht bloß ihr Einkommen, sondern sprichwörtlich das Dach über dem Kopf.

Diese Situation ruft nach unkonventionellen Formen der kollektiven Organisierung. Häufig organisieren sich Hausarbeiterinnen jenseits von bestehenden Strukturen und Institutionen wie traditionellen Gewerkschaften in eigenen politischen und sozialen Netzwerken, meist innerhalb ethnischer Communitys. Viele Beispiele aus unterschiedlichen Regionen der Welt zeigen, dass Hausarbeiterinnen bereits über eigene Strukturen verfügen, bevor sie mit einer Gewerkschaft in Kontakt kommen.[4] Dies hat oft damit zu tun, dass Care-Arbeiterinnen als Migrantinnen und Frauen, die Reproduktionsarbeit im Privaten verrichten, häufig nicht die primäre Zielgruppe männlich dominierter Gewerkschaften sind. Für die Schweiz trifft dies nicht unbedingt zu: Hier sind sowohl die Gewerkschaft der Lohnabhängigen in der Privatwirtschaft (UNIA) als auch der VPOD offen und interessiert, die Anliegen von Care-Arbeiterinnen zu unterstützen.[5] Allerdings identifizieren sich Care-Arbeiterinnen kaum mit ihrem beruflichen Status. Die Beschäftigung in Privathaushalten geht meist mit einer erheblichen Dequalifizierung einher. Sie sehen ihre berufliche Stellung deshalb als Übergangssituation, der frau möglichst rasch entfliehen möchte. Oft fällt es ihnen deshalb schwer, sich auf eine gewerkschaftliche Identität als Pflegerin einzulassen. Einfacher ist es, sich mit ihrem migrationspolitischen Status und der eigenen Community von Landsleuten zu identifizieren.

Auch für die polnischen Care-Arbeiterinnen in Basel war ihre Community Ausgangspunkt der kollektiven Aktion. Die polnische Kirchengemeinde spielt dabei eine wichtige Rolle. Sie ist eine Begegnungsstätte, in der die Frauen ein soziales Netz aufbauen konnten. Damit ist die Kirche ein Ort, der für sehr viel mehr steht als für Glauben und Religiosität. Hierhin können sie sich zurückziehen und temporär der Kontrolle und Inanspruchnahme im Haushalt entkommen, die tägliche Routine durchbrechen. Die Kirche ist für sie ein Stück Heimat, was den Ort zu einem transnationalen Zwischenraum macht. Auch können die Care-Arbeiterinnen für den sonntäglichen Gang zur Messe am ehesten freie Zeit aushandeln. Nach dem Gottesdienst treffen sie sich im Kirchgemeindehaus zu Kaffee und Kuchen. In der vertrauten Runde werden nicht nur Alltagssorgen geteilt, sondern auch individuelle Erfahrungen mit Agenturen und Familien ausgetauscht.

Mutiger Gang vors Arbeitsgericht

In diesem Kreis fasste Bozena Domanska vor rund drei Jahren den Mut, mit ihrer Kritik an der prekären Arbeitssituation von 24-h-Betreuerinnen an die Öffentlichkeit zu gehen. Zuvor hatte sie im Alleingang ihren ehemaligen Arbeitgeber verklagt. Bis dahin habe sie sich meist «gebückt» und «nicht so die Rebellin gespielt», sagt sie.[6]Einmal habe sie den Mund aufgemacht und sich bei ihrem Chef – dem Firmenleiter einer privaten Spitex-Firma[7] – über den niedrigen Lohn beklagt. «Der Chef meinte, er stelle sonst eine Ukrainerin an, die den Job für vier Franken die Stunde mache.»

Als Bozena Domanska kurze Zeit später entlassen wurde, weil sie sich wegen falscher Versprechungen zur Wehr setzte, beschloss sie, als erste 24-h-Betreuerin in der Schweiz die Schlichtungsstelle anzurufen und die vielen unbezahlten Überstunden einzuklagen. «Ich kann doch nicht wieder den Kopf runtermachen! Es ging mir um Gerechtigkeit. Er behandelt ja alle Polen wie Dreck. Mit unserer Arbeit verdient er ein Vermögen. Ich brauchte letztlich 20 Jahre, um zu realisieren, dass wir Frauen, die aus Osteuropa hierherkommen, uns nicht immer nach unten orientieren, uns nicht erniedrigen und ausnutzen lassen sollten. Wir sind doch keine Sklavinnen, sondern Menschen mit Gefühlen.» Mit ihrer Klage habe sie anderen Frauen Mut machen wollen: «Wir sind die Aschenputtel aus dem Osten. Und wir getrauen uns nicht, uns zu wehren, weil wir Angst haben.»

Bozena Domanska bekam ohne anwaltliche Unterstützung vor der Schlichtungsstelle Recht und konnte eine Lohnnachzahlung von 7.000 Franken erwirken. Kurz darauf beschloss sie, zusammen mit ihrer Kollegin Agata Jaworska Hilfe bei einem Basler Anwalt zu suchen, um eine Lohnklage von Agata gegen dieselbe Firma vorzubereiten. In dieser Zeit lernte ich die beiden Frauen im Rahmen meiner Forschung[8] kennen.

Wir diskutierten, wie dieser Kampf unterstützt werden könnte, um breitere Aufmerksamkeit zu erreichen. Schließlich kam der Kontakt mit dem VPOD zustande, der sich bereit erklärte, Agata Jaworskas Klage zu unterstützen. Marianne Meyer, die als Gewerkschaftssekretärin beim VPOD in Basel für den Gesundheitsbereich zuständig ist, begleitete fortan unermüdlich den juristischen Prozess. Der gewerkschaftsnahe Anwalt bemühte sich, die komplexe Gesetzeslage aufzuarbeiten und zusammen mit den beiden polnischen Care-Arbeiterinnen alle Details zu ihrem Arbeitsverhältnis zusammenzutragen, um die Beweislage für die vielen unbezahlten Überstunden zu garantieren. Erleichtert wurde dies dadurch, dass sich der von Agata Jaworska betreute pflegebedürftige Mann hinter seine Betreuerin stellte: Er war selbst verärgert über die Geschäftspraktiken des angeklagten Unternehmens und den Umstand, dass er für seine Rundumbetreuung monatlich über 10.000 Franken bezahlte, jedoch nur ein Bruchteil als Lohn an seine Betreuerin weitergegeben wurde.

Es geht um Respekt

Parallel dazu begann Bozena Domanska in der polnischen Kirche mit verschiedenen Frauen über die Lohnklage zu diskutieren. Nicht alle Frauen ließen sich sofort überzeugen, dass es wichtig sei, die ausstehende Bezahlung einzufordern. Einige betonten, dass sie mit ihrem Lohn (zwischen 1.200 und 2.000 Franken pro Monat) zufrieden seien und ihre Anstellung nicht riskieren wollten. Bozena Domanska wies nachdrücklich darauf hin, dass sie Anrecht auf den Schweizer Mindestlohn von rund 18 Franken pro Stunde hätten. «Es geht um Respekt», sagte sie immer wieder und betonte, dass sie als Polinnen die gleichen Rechte hätten wie Schweizerinnen. «Wir leisten unsere Arbeit gern, aber wir sind nicht mehr bereit, uns ausnutzen zu lassen, wir wollen faire Löhne und Arbeitsbedingungen nach den hier geltenden Gesetzen.»

Mit dieser Botschaft gingen die beiden Frauen im Frühling 2013 schließlich an eine breitere Öffentlichkeit. Im Schweizer Fernsehen lief sogar ein Dokumentarfilm, in dem Bozena Domanska porträtiert wurde.[9]Das Echo war groß und positiv. Polnische Care-Arbeiterinnen bekamen dadurch nicht nur ein Gesicht, sondern gewannen viel Sympathie in der Bevölkerung. Bozena Domanska wurde zu einer Art Identifikationsfigur und einer landesweit gehörten Stimme. So konnten weitere Care-Arbeiterinnen angesprochen und das Netzwerk verbreitert werden. Einige fanden per Facebook den Kontakt zu Bozena Domanska und ihren polnischen Kolleginnen in Basel und tauschten sich mittels sozialer Medien über ihre Arbeit aus.

Gleichzeitig traten einige Frauen aus der polnischen Community auf der 1.-Mai-Demonstration in Basel zum ersten Mal öffentlich als Gruppe auf. Ein paar Wochen später gründeten 18 Care-Arbeiterinnen das Netzwerk Respekt@vpod. Sie zeigten sich entschlossen, gemeinsam den Gerichtsprozess von Agata Jaworska zu begleiten und eine politische Bewegung für bessere Arbeitsbedingungen in der 24-h-Betreuung anzustoßen. Den Namen Respekt hatte die Gruppe nicht deshalb gewählt, weil es schon ein gleichnamiges internationales Netzwerk von Hausarbeiterinnen gibt – dies war ihnen gar nicht bekannt –, sondern weil es ihnen genau darum ging: um Respekt – für sich, für ihre Arbeit und im alltäglichen Umgang.

Kein Liebesdienst, sondern Arbeit

Das Respekt-Netzwerk fordert nicht nur die Einhaltung des Mindestlohns. Es geht den Frauen auch darum, die vielen unbezahlten Stunden, in denen die Care-Arbeiterinnen im Haushalt präsent sein müssen, sichtbar zu machen und zu entlohnen. Sie fordern die Zahlung von Zuschlägen für Überstunden, für die Rufbereitschaft in der Nacht und für Sonntagsarbeit. Viele Care-Unternehmen betrachten lediglich fünf bis sieben Stunden pro Tag als lohnrelevante Arbeitszeit.[10]

Gerade die emotionalen Anteile der Care-Arbeit werden häufig von den Angehörigen wie auch von den Agenturen nicht als Teil der Arbeit wahrgenommen. Das stundenlange Sitzen am Bettrand, die empathischen Berührungen, das gemeinsame Singen, der Versuch, eine gute Atmosphäre zu schaffen, aber auch die Bereitschaft, während der ganzen Nacht im Zimmer nebenan abrufbar zu sein – all dies wird nicht als Leistung erkannt und als selbstverständlich vorausgesetzt. «All die Liebe, die du gibst, dafür wirst du nicht bezahlt, das wird nicht gesehen», sagt Bozena Domanska. Damit wehren sich die Aktivistinnen von Respekt auch gegen ein Bild, nach dem die häusliche Sphäre als natürliches Betätigungsfeld von Frauen gilt, die hier Arbeit aus Liebe leisten.[11]

Diese Vorstellung spiegelt sich in den Darstellungen der Agenturen, die 24-h-Betreuerinnen als «aufopfernde Helferinnen», «gute Wesen» oder «Pflegefeen» bezeichnen und damit den Arbeitscharakter dieser Tätigkeit ausblenden.[12]

In Bezug auf die entgrenzten Arbeitszeiten fordern die Aktivistinnen vom Respekt-Netzwerk jedoch nicht nur eine angemessene materielle Entschädigung. Es geht auch darum, Freizeit und Zeit für Erholung zu erstreiten: Dazu gehört ein ganzer freier Tag pro Woche – inklusive einer Nacht, in der die Care-Arbeiterinnen ohne permanente Einsatzbereitschaft durchschlafen können.[13]

Hier geht es ihnen nicht nur um physische und psychische Regeneration, sondern darum, aus der räumlichen und der damit verbundenen sozialen Isolation im Haushalt ausbrechen zu können. Nur wenn die Care-Arbeiterinnen Freizeit haben, können sie mit anderen Menschen außerhalb des Haushalts in Kontakt treten – sei es mit FreundInnen aus der polnischen Community oder mit der lokalen Bevölkerung. Hinzu kommt, dass Care-Arbeiterinnen erst durch den Austritt aus dem Haushalt – also beim Verlassen des Arbeitsplatzes – eine wirkliche Privatsphäre in Anspruch nehmen können. Ist der Eintritt in ein Arbeitsverhältnis normalerweise mit dem Betreten der öffentlichen Sphäre verknüpft, ist hier das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit umgekehrt: Das Verlassen der Wohnung und der Besuch öffentlicher Orte bedeuten für Care-Arbeiterinnen häufig mehr Privatheit, als ihnen in den Wohnungen der Arbeitgeber gewährt wird. Schließlich ist freie Zeit auch eine wichtige Voraussetzung, um sich überhaupt gewerkschaftlich organisieren zu können.

Eine unkonventionelle gewerkschaftliche Organisierungspraxis

Die Praxis der Organisierung des Respekt-Netzwerkes ist unkonventionell, jedoch für migrantische Gewerkschaften im Niedriglohnsektor nicht untypisch.[14] Genauso wichtig wie die unmittelbare politische Selbstorganisierung gegen Ausbeutung und für soziale Rechte sind für die Mitglieder von Respekt@vpod die praktische Solidarität, die soziale Teilhabe und die Selbstermächtigung innerhalb des Kollektivs. Die Organisierung ist dabei nicht allein auf die Situation am Arbeitsplatz fokussiert, häufig geht es bei den Versammlungen um Fragen des Alltags und der sozialen Reproduktion – zum Beispiel um Gesundheit, um Krankenkassenprämien, um Wohnverhältnisse, um die Aufenthaltsbewilligung oder um die transnationale Lebenspraxis, also die Beziehung zur Familie im Herkunftsland und die Organisation des Lebens zwischen hier und dort. Es werden Informationen über ganz alltägliche Dinge wie Handy-Abos oder billige Reisemöglichkeiten ausgetauscht, aber auch Diskussionen geführt über die Art und Weise, wie die Sorgearbeit in der eigenen Familie organisiert und umverteilt wird, beispielsweise zwischen Ehepartnern. Die politischen Subjektivitäten der Care-Arbeiterinnen sind kaum durch die Interessen des eigenen Berufsstandes geprägt, denn viele haben in Polen ganz andere, oft hoch qualifizierte, teils akademische Berufe erlernt. Vielmehr verbindet sie die gemeinsame Situation des Lebens als Pendelmigrantinnen, die prekäre Abhängigkeit von den Agenturen und den privaten Arbeitgebern sowie die Erfahrung, kollektiv aus der Vereinzelung im Haushalt ein stückweit heraustreten zu können.

Die Aktivistinnen von Respekt sind reguläre Mitglieder der Gewerkschaft VPOD, sie wählen Delegierte in nationale Kommissionen und nehmen an den gesamtgewerkschaftlichen Aktivitäten teil. Auch stehen ihnen alle gewerkschaftlichen Dienstleistungen sowie die Rechts- und Sozialberatung offen, obwohl ihre Beiträge niedrig sind. Gleichzeitig verfügt das Respekt-Netzwerk über eine gewisse Autonomie und ist stark basisgewerkschaftlich organisiert. Bei der Gründung hatten die Aktiven des Netzwerkes beispielsweise beschlossen, eine solidarische Form der finanziellen Unterstützung weiterer Lohnklagen zu schaffen: Die Care-Arbeiterinnen zahlen jeweils 30 Prozent der Summe, die sie bei erfolgreichen Klagen erzielen, in einen Solidaritätsfonds, mit dem die Anwaltskosten für weitere Klagen im Netzwerk finanziert werden können.

Seit Juni 2013 ist – zusätzlich zur regionalen Gewerkschaftssekretärin – Bozena Domanska mit 20 Prozent ihrer Arbeitszeit beim VPOD beschäftigt und speziell für die Arbeit innerhalb des Respekt-Netzwerkes zuständig. Hauptsächlich arbeitet sie weiterhin als Betreuerin in der ambulanten Pflege. Sie verfügt damit nicht nur über ein hohes professionelles Verständnis und geteilte Alltagserfahrungen mit den Respekt-Aktivistinnen, sondern spricht auch deren Muttersprache, was für die Kontaktaufnahme und die Vertrauensbildung von großer Bedeutung ist. Ihr breites soziales Netzwerk kann sie außerdem produktiv für die Mobilisierung und die Verbreiterung der Reichweite von Respekt@vpod nutzen.

Vielfältige Strategien der Selbstermächtigung

Zwei Jahre nach der Gründung sind mittlerweile über 50 Care-Arbeiterinnen Mitglied von Respekt@vpod. Zentrales Moment des Netzwerkes sind die monatlichen Treffen, die jeweils an einem Sonntag im Anschluss an die polnische Messe im Basler Gewerkschaftshaus stattfinden. Bei den Treffen geht es insbesondere um einen Austausch über die spezifischen Arbeitsbedingungen und um die Aufklärung über die ihnen zustehenden Rechte. Dies geschieht in Form von «Know-your-Rights-Workshops», in denen sozial- und arbeitsrechtliches Wissen von kundigen Care-Arbeiterinnen – unterstützt durch die lokalen Gewerkschaftssekretärinnen – weitergegeben wird. Häufig ergeben sich dabei Diskussionen über spezifische Probleme einzelner Frauen, die in Einzelberatungen weiter geklärt werden. Ein wichtiger Bestandteil der Versammlungen ist auch die gemeinsame Planung und Diskussion von politischen Aktionen in der Öffentlichkeit. Bedeutend war in der Anfangsphase des Netzwerkes die kollektive Begleitung des Gerichtsprozesses von Agata Jaworska. Aber auch die gemeinsame Teilnahme an verschiedenen Demonstrationen gegen Sozialabbau im Gesundheitssektor, gegen die Einschränkung der Personenfreizügigkeit im Zuge der Annahme der «Volksinitiative gegen Masseneinwanderung» der Schweizerischen Volkspartei (SVP) oder Mobilisierungen anlässlich des Internationalen Frauentages spielten eine Rolle. Zudem wurden Aktionen vor den Geschäftssitzen lokaler Care-Unternehmen organisiert, die schlechte Arbeitsbedingungen bieten und ihren Mitarbeitenden Rechte vorenthalten.

Die politische Praxis des Respekt-Netzwerkes besteht jedoch nicht nur in juristischen und politisch sichtbaren Kämpfen um Arbeitsrechte. Wichtig sind auch Strategien des Empowerments, durch die sich die Care-Arbeiterinnen erst in die Lage versetzen, unmittelbar im Haushalt ihre Rechte einfordern und ihre Situation verbessern zu können – zum Beispiel, indem klare Vereinbarungen über die Arbeits- und Freizeit und über angemessene Entlohnung ausgehandelt werden. Meistens fühlen sich die Betroffenen aufgrund des personalisierten Arbeitsverhältnisses gegenüber ihren direkten Arbeitgebern moralisch verpflichtet und spüren eine hohe Verantwortung – sie sind, mit der feministischen Ökonomin Nancy Folbre gesprochen: prisoners of love.[15]

Wehren sie sich gegen hohe Arbeitsbelastungen oder fehlende Ruhezeiten und formulieren eigene Ansprüche, riskieren sie, die «guten Beziehungen» zur Familie zu verspielen und als «schlechte Betreuerin» disqualifiziert oder gar ausgewechselt zu werden. Dieses Dilemma kommt in den Diskussionen immer wieder zur Sprache. Die Care-Arbeiterinnen versuchen dabei, mittels Erfahrungsaustausch und Rollenspielen Strategien zu entwickeln, wie sie in ihrem Alltag selbstbewusst auf ihre eigenen Bedürfnisse aufmerksam machen und das Recht auf Selbst-Sorge und Respekt für ihre emotionalen und körperlichen Grenzen einfordern können.

Ein essenzielles Hilfsmittel dazu ist nicht zuletzt die Verbesserung der Deutschkenntnisse, die unter den Care-Arbeiterinnen sehr unterschiedlich sind. Im Respekt-Netzwerk wurden Deutschkurse initiiert, bei denen Frauen mit sehr guten Sprachkenntnissen ihre Kolleginnen unterrichten und ihnen damit wichtige Kommunikationsfähigkeiten vermitteln. Praktische Solidarität wird auch insofern geübt, als Wissen über offene Stellen weitergegeben wird. Für den Fall, dass Care-Arbeiterinnen ihre Stelle verlieren, bemüht sich das Netzwerk darum, eine temporäre Wohngelegenheit bei solidarischen Gewerkschaftsmitgliedern des VPOD vermitteln zu können.

Diese vielfältigen Praktiken der solidarischen Unterstützung stärken die Handlungsmacht der Mitglieder und führen dazu, dass sich die Care-Arbeiterinnen inzwischen als selbstbewusste Akteurinnen sehen, die ihre Stimme erheben und stolz sind auf die wichtige Arbeit, die sie zwar meistens im Verborgenen verrichten, die aber für die Gesellschaft von großer Bedeutung ist.

Politisch bewegt sich (langsam) etwas

Zurück zur juristischen Klage von Agata Jaworska, die als Musterklage darüber entscheiden sollte, wie die 24-Stunden-Betreuungsarbeit in privaten Haushalten entlohnt werden muss. Die RichterInnen vom Basler Zivilgericht kamen in ihrem Urteil vom März 2015 zu der Überzeugung, dass die Arbeit im Privathaushalt bei einer Anstellung durch private Firmen dem Arbeitsgesetz unterliegt. Folglich müssen sämtliche Stunden – auch die der Rufbereitschaft – angemessen entlohnt werden. Im Fall von Agata Jaworska mit dem halben regulären Stundenlohn. Die Klägerin erhielt deshalb für einen dreimonatigen Arbeitseinsatz eine Nachzahlung von rund 17.000 Franken. Das Respekt-Netzwerk fasst dies als einen «bahnbrechenden Erfolg für Agata und für alle anderen Care-Arbeiterinnen». Während der diesjährigen 8.-März-Demonstration feierten die Netzwerk-Frauen ihren gewonnenen Kampf, der sich über zwei Jahre erstreckt hatte. Sie skandierten «Wszyscy jesteśmy Agatą!» – «Wir sind alle Agata!» – und kündigten eine Klagewelle an, bei der sich weitere Respekt-Mitglieder auf diesen Präzedenzfall beziehen werden.

Wie sich dieser Erfolg auf die rechtliche Regulierung des Arbeitssektors Privathaushalt und spezifisch auf den Bereich der 24-h-Betreuung auswirken wird, bleibt abzuwarten. Ende April 2015 publizierte der Bundesrat den lange angekündigten Bericht «Rechtliche Rahmenbedingungen für Pendelmigration zur Alterspflege». Darin wird festgehalten, dass in der privaten Seniorenbetreuung zu Hause oft unhaltbare Arbeitsbedingungen herrschen und «dass es gesetzlichen Handlungsbedarf gibt, um den betroffenen Arbeitnehmerinnen einen angemessenen Schutz zu gewährleisten».[16]

Der Bericht skizziert verschiedene Lösungen: Denkbar wäre der Erlass eines nationalen Normalarbeitsvertrages oder die Stärkung der kantonalen Normalarbeitsverträge, in denen die Bestimmungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen als bindend erklärt würden. Eine weitere Möglichkeit ist die Schaffung einer neuen Verordnung für diese Arbeitsverhältnisse, wofür jedoch erst die Grundlage im Arbeitsgesetz geschaffen werden müsste.

Statt rasch Maßnahmen zu ergreifen, will der Bundesrat zunächst weitere Klärungen vornehmen: Bis Mitte 2016 sollen die Folgekosten dieser Regulierungsvorschläge für das Sozial- und Gesundheitswesen abgeschätzt und erst dann dem Bundesrat konkrete Lösungsvorschläge unterbreitet werden. Problematisch ist, dass diese dringend nötigen Regulierungen von möglichen Folgekosten abhängig gemacht werden sollen: Das Recht auf die Anerkennung von in der Schweiz üblichen Arbeitsbedingungen darf keine Kostenfrage sein.

Ausblick

Durch die kreativen und vielfältigen gewerkschaftlichen Strategien haben die Care-Arbeiterinnen des Respekt-Netzwerkes eine Öffentlichkeit für ihre Anliegen geschaffen und anderen Betreuerinnen Mut gemacht, sich ebenfalls gegen prekäre Bedingungen zu wehren. Anders als beispielsweise in Österreich, wo im politischen und medialen Diskurs bisher praktisch nur die Bedürfnisse der nachfragenden Familien präsent sind, haben sich die Care-Arbeiterinnen in der Schweiz eine Stimme verschafft. Sie haben damit nicht nur ihre eigenen Bedürfnisse auf die politische Agenda gesetzt, sondern eine gesellschaftliche Diskussion über eine andere Organisation von Pflege und Betreuung angestoßen. Sie haben klar gemacht, dass gute Pflege für die steigende Zahl an pflegebedürftigen Menschen nur unter fairen Arbeitsbedingungen möglich ist.

Gleichzeitig wurde deutlich, dass 24-h-Betreuerinnen längst nicht mehr nur aus Polen in die Schweiz pendeln. Es muss also dringend darüber nachgedacht werden, wie ArbeitnehmerInnen aus anderen Ländern (Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Slowakei, aber auch Sans-Papiers, z. B. aus Lateinamerika) erreicht und über Sprachgrenzen hinweg organisiert werden können. Auch zeigt sich, dass die verschiedenen Rechtsformen und Geschäftspraktiken, mittels derer die Care-Unternehmen agieren und damit häufig unerkannt am geltenden Recht vorbei ihre Geschäfte betreiben, ein ernstes Problem darstellen. Die ungleiche Situation zwischen Care-Arbeiterinnen, die formal in der Schweiz angemeldet und sozialversichert sind, und jenen, die mittels irregulärer Firmen ohne Absicherungen arbeiten müssen, erschwert die Organisierung – und führt nicht zuletzt zu einer verschärften Konkurrenz unter den Care-Arbeiterinnen.

Die immensen Widersprüchlichkeiten und Ungerechtigkeiten in live-in-Arbeitsverhältnissen bleiben bestehen, insbesondere hinsichtlich der grundsätzlichen Frage nach der gesellschaftlichen Organisation, der globalen und geschlechtsspezifischen Verteilung und dem Wert von Care-Arbeit. Eine weitere Politisierung dieser sonst häufig im Verborgenen geleisteten Arbeit in Privathaushalten, die noch immer überwiegend unbezahlt von Familienangehörigen (meistens Frauen) verrichtet wird, steht weiterhin auf der Agenda. Die rechtlichen Bedingungen müssen verbessert werden – dafür sind inzwischen mögliche Wege skizziert. Entscheidend ist letztlich aber der Ausbau einer öffentlichen Care-Infrastruktur, mittels derer die ganze Bevölkerung Zugang zu qualitativ guten Diensten in der ambulanten Pflege, Betreuung und Haushaltshilfe bekommt.[17]

In Bezug auf diese breit zu führende gesellschaftliche Debatte um Care weisen Organisierungsinitiativen wie die von Respekt darauf hin, wie wichtig es ist, von den aktuellen alltäglichen Kämpfen prekär Beschäftigter auszugehen und Kooperationen über Grenzen hinweg zu suchen. Sie fordern auch die Gewerkschaften heraus, sich zu öffnen, an migrantische Netzwerke anzuknüpfen und neue Ressourcen aufzubauen, um einen transnationalen Bezugsrahmen herzustellen.

Literatur

[1] Die Unternehmensformen im Bereich der 24-h-Betreuung sind unterschiedlich. Es gibt a) auf 24h-Betreuung spezialisierte Schweizer Personalverleih-Unternehmen; b) private Spitex-Organisationen, die neben ambulanter Betreuung auch 24h-Betreuung als zweites Standbein betreiben; c) hauptsächlich über das Internet arbeitende Vermittlungsagenturen, die mit Entsendung aus osteuropäischen Ländern operieren, was in der Schweiz für den Haushaltssektor nicht erlaubt ist. Der Markt für 24h-Betreuung ist in den letzten fünf Jahren in der Schweiz expandiert und hat sich stark ausdifferenziert. Vgl. dazu Schilliger, Sarah: Pflegen ohne Grenzen? Polnische Pendelmigrantinnen in der 24h-Betreuung. Eine Ethnographie des Privathaushalts als globalisiertem Arbeitsplatz, Dissertation, Basel 2014, S. 137–200.

[2] Interessant ist, wie sich der Begriff der Care-Arbeit im Selbstverständnis der Aktivistinnen des Respekt-Netzwerkes durch die politische Organisierung immer mehr etabliert. Dies insbesondere, nachdem einige Respekt-Aktivistinnen im März 2014 an der Care-Revolution Konferenz in Berlin teilgenommen hatten und dort mit den politischen Debatten um Care vertraut wurden.

[3] Live-ins werden Hausarbeiterinnen genannt, die im Haushalt der arbeitgebenden Familie leben – im Gegensatz zu live-outs, die eine eigene Wohngelegenheit außerhalb des Haushalts haben.

[4] Vgl. Schwenken, Helen: Transnationale und lokale Organisierungsprozesse für eine ILO-Konvention «Decent Work for Domestic Workers», in: Apitzsch, Ursula/Schmidbaur, Marianne (Hrsg.): Care und Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen, Opladen/Farmington Hills 2010, S. 200.

[5] Der VPOD sieht die 24-h-Betreuung insofern als wichtiges gewerkschaftliches Interventionsfeld, als dort private Akteure auf dem Pflegemarkt neue, prekäre Standards etablieren. Durch Organisierung in diesem Bereich wollen sie der Ausweitung eines prekären Arbeitsmarktes innerhalb der Pflege und Betreuung entgegenwirken. Auch die UNIA hat in den letzten Jahren verschiedene Organizing-Kampagnen im Pflegesektor initiiert, der zunehmend nach privatwirtschaftlichen Prinzipien strukturiert ist. Sie hat mit lokalen Organisierungsinitiativen im Tessin und jüngst im Kanton Zürich dafür gesorgt, dass neben Basel auch in anderen Regionen 24h-Betreuerinnen gewerkschaftlich unterstützt werden. Die UNIA hat zudem mit den Arbeitgebern einen Normalarbeitsvertrag ausgehandelt, der seit 2011 schweizweit gesetzliche Mindestlöhne im Privathaushalt festschreibt. Auch wenn die beiden Gewerkschaften um Mitglieder und öffentliche Aufmerksamkeit konkurrieren, arbeiten sie oft zusammen. Schon seit 2007 gibt es im Rahmen der Denknetz-Fachgruppe Prekarität in Privathaushalten einen regelmäßigen Austausch zwischen den UNIA-, VPOD-, NGO-VertreterInnen und kritischen WissenschaftlerInnen. Durch verschiedene Tagungen, die diese Gruppe in den letzten Jahren organisiert hat, konnte eine kritische Öffentlichkeit geschaffen werden. Auch die Verabschiedung der ILO-Konvention 189 für die Rechte von Hausarbeiterinnen hat politischen Druck zur Verbesserung von deren Arbeits- und Lebenssituation aufgebaut.

[6] Die Zitate stammen aus Interviews im Rahmen meiner Forschung. Bozena Domanska tritt öffentlich mit ihrem Namen auf, weshalb diese Zitate nicht anonymisiert sind. An dieser Stelle danke ich ihr herzlich dafür, mir unzählige Einblicke in ihre Arbeit als Betreuerin gewährt zu haben.

[7] Spitex ist in der Schweiz die Bezeichnung für ambulante Pflege und Betreuung (SPITal-EXtern).

[8] Im Rahmen meiner Dissertation (Schilliger: Pflegen ohne Grenzen?) unternahm ich eine ethnografische Forschung zur Pendelmigration polnischer Care-Arbeiterinnen. Die Untersuchung war zu Beginn nicht als aktivistische Forschung angelegt, entwickelte sich jedoch durch den intensiven Austausch mit den Care-Arbeiterinnen und durch meine eigene Involvierung bei der Gründung des Respekt-Netzwerkes zu einer partizipativen Aktionsforschung.

[9] «Hilfe aus dem Osten. Pflegemigrantinnen in der Schweiz», Film von Béla Batthyany, unter www.srf.ch/sendungen/dok/hilfe-aus-dem-osten-pflegemigrantinnen-in-der-schweiz-2.

[10] Vgl. Schilliger: Pflegen ohne Grenzen?, S. 152 f.

[11] Dies knüpft an die in der zweiten Frauenbewegung geübte Kritik der Gratisarbeit von Hausfrauen an, die häufig als Liebesdienst gesehen wird. Vgl. Bock, Gisela/Duden, Barbara: Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hrsg.): Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Berlin 1977, S. 118–199.

[12] Vgl. Schilliger, Sarah: Globalisierte Care-Arrangements in Schweizer Privathaushalten, in: Nadai, Eva/Nollert, Michael (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse im Post-Wohlfahrtsstaat, Weinheim/Basel 2015, S. 161 f.

[13] Da das Arbeitsgesetz auf private Haushaltungen keine Anwendung findet und von den kantonalen Normalarbeitsverträgen durch schriftliche Vereinbarung abgewichen werden kann, gibt es für Arbeitsverhältnisse in der 24-h-Betreuung hinsichtlich der Arbeits- und Ruhezeiten bisher keine rechtlich verbindlichen Vorgaben.

[14] Vgl. Beispiele aus den USA in: Benz, Martina: Zwischen Migration und Arbeit. Worker Centers und die Organisierung prekär und informell Beschäftigter in den USA, Münster 2014.

[15] Folbre, Nancy: The Invisible Heart: Economics and Family Values, New York 2001.

[16] Schweizer Eidgenossenschaft/Department für Wirtschaft, Bildung und Forschung: Rechtliche Rahmenbedingungen für Pendelmigration zur Alterspflege, 16.3.2012, unter: www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/39176.pdf.

[17] Vgl. Aust u. a.in diesem Heft

Sarah Schilliger ist Soziologin und Oberassistentin am Lehrstuhl für Soziale Ungleichheit, Konflikt- und Kooperationsforschung an der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migrations- und Grenzregime-Forschung, Arbeitssoziologie und Care-Ökonomie. Sie ist u.a. aktiv bei Kritnet - Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-sind-doch-keine-sklavinnen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung via flickr / Fotografin: Nate Pischner / CC BY 2.0

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Im Sommer 2013 gründeten polnische Care-Arbeiterinnen mit Unterstützung der Dienstleistungsgewerkschaft Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) in Basel das Netzwerk Respekt@vpod. Sie hatten sich zusammengefunden, um auf ihre prekären Arbeitsverhältnisse aufmerksam zu machen und für Arbeitsrechte, Respekt und ein Leben in Würde einzustehen. Diese Form lokaler Selbstorganisierung von Hausarbeiterinnen hat für den deutschsprachigen Raum Vorbildcharakter: Die Aktivistinnen von Respekt@vpod betreten neue Wege der Organisierung in einem Arbeitsfeld, das meist unsichtbar bleibt und als unorganisierbar gilt, gleichzeitig aber für die gesellschaftliche Organisation von Sorge- und Pflegearbeit zentrale Bedeutung hat. Die Frauen in Basel haben es geschafft, aus ihrem Status als «Objekte», über die politisch verhandelt wird, herauszutreten und eigene Artikulationsformen zu entwickeln. Damit haben sie auch den Gewerkschaften gezeigt, wie neue Formen und Strategien der Organisierung von prekär Beschäftigten aussehen könnten.

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Ziemlich beste Freunde? Bündnisse zwischen Pflegenden und Gepflegten in den USA

Juni 2013

Bild: Raychan / Unsplash

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Pflege, Hausarbeiterinnen, Organisierung, Gewerkschaft, Migration#Pflege #Hausarbeiterinnen #Organisierung #Gewerkschaft #Migration

Auf einer Versammlung im Februar in New York wurden zunächst persönliche Geschichten erzählt. Jede dieser Geschichten rief Erinnerungen wach: an die Pflege des Großvaters, der einen Schlaganfall erlitten hatte, oder an das Kindermädchen, das es der Mutter ermöglichte zu studieren. Wir alle haben solche Geschichten. Was wir aber in der Regel nicht haben, sind genaue Vorstellungen davon, was wir eigentlich tun würden, sollte eine geliebte Person pflegebedürftig werden oder gar uns selbst etwas zustoßen. Wir haben keinen Plan – aber unsere Regierung hat auch keinen. Und das, wo wir ganz offensichtlich auf eine Krise zusteuern. Die Generation der Baby-Boomer altert, 2010 wurde in den USA alle acht Sekunden jemand 65. Diese so genannte Alterswelle entpuppt sich eher als Tsunami.

In dem Maße, wie die ökononomische Situation für viele Familien schwierig wird, steigt die Zahl derjenigen, die auf langfristige Pflege angewiesen sind, geradezu sprunghaft an: Waren es im Jahr 2000 noch 13 Millionen, so sollen es im Jahr 2050 bereits 27 Millionen sein. Die meisten von uns wollen zuhause gepflegt werden, was auch günstiger ist. Laut dem Nationalverband für Ambulante Pflege und Palliativmedizin, der National Association for Home Care & Hospice, ist ein Tag in einem Pflegeheim viermal so teuer wie zwölf Stunden Pflege im häuslichen Umfeld. Doch die derzeit im Bereich häuslicher Pflege tätigen Arbeitskräfte – etwa zwei Millionen Menschen – können diesen Bedarf bei Weitem nicht decken.

PflegerInnen, die langfristig und gut arbeiten, sind rar. Die Gründe liegen auf der Hand: Häusliche Pflege ist ein von Frauen dominierter Sektor ohne arbeitsrechtlichen Schutz, ohne Regelungen zu Mindestlöhnen und Überstunden. Vor allem MigrantInnen und BerufseinsteigerInnen sind hier tätig. Als 1938 der Fair Labor Standards Act (FLSA) verabschiedet wurde, galt Pflege als familiäre Aufgabe oder bestenfalls als Möglichkeit, Erwerbslose zu beschäftigen und die Kosten der Arbeitslosenunterstützung zu senken. Im Jahr 2010 betrug der durchschnittliche Stundenlohn für ambulante Pflege 9,40 US-Dollar. Das durchschnittliche Jahreseinkommen dieser Beschäftigtengruppe belief sich laut einer Umfrage des Paraprofessional Healthcare Institute (PHI) im Jahr 2009 auf 15 611 US-Dollar. Mehr als die Hälfte dieser Pflegekräfte lebt in einem Haushalt, der auf staatliche Transferleistung angewiesen ist. Häusliche Pflege ist zwar zu einem profitorientierten Wirtschaftszweig geworden, in dem jährlich 84 Milliarden US-Dollar umgesetzt werden – die Pflegekräfte sind jedoch weitgehend schutzlos.

»Organisiert Euch!«, könnte man sagen. Und genau das hat Caring Across Generations vor. Ai-jen Poo, Kodirektorin der Kampagne und Leiterin der National Domestic Workers Alliance, begann sich angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise mit Pflegefragen zu beschäftigen: »Wir haben uns Folgendes gedacht: Es gibt eine Beschäftigungskrise und es gibt eine Pflegekrise. Lasst uns also Millionen hochwertiger Arbeitsplätze im Bereich häuslicher Pflege schaffen. Davon profitieren nicht nur die PflegerInnen, sondern auch die Pflegebedürftigen. Und: Das Thema betrifft uns alle.« Es gibt da nur ein Problem. In manchen Bundesstaaten wurden zwar einige Lohn- und Arbeitszeitregelungen auf häusliche Pflegekräfte ausgeweitet, doch auf Bundesebene gibt es kein Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder Tarifverhandlungen zu führen. Es gibt nicht einmal ein richtiges Kollektiv, das solche Verhandlungen führen könnte: Die Pflegekräfte sind im Haushalt isoliert, an einem Arbeitsplatz, an dem ­Frauen – wie Friedrich Engels es einmal ausgedrückt hat – im Namen der ›Sorge‹ entweder offen oder verdeckt ›versklavt‹ werden. Poo und ihre GenossInnen lassen sich davon nicht entmutigen. Sie gehen zunächst gegen die Isolation vor, die die Organisierung einer so fragmentierten Arbeiterschaft schwer macht. Sie versuchen Netzwerke aufzubauen und so einen Erfolg überhaupt erst möglich zu machen.

Im vergangenen Juli organisierte Poo gemeinsam mit Sarita Gupta, der Geschäftsführerin von Jobs With Justice, im Washingtoner Hilton eine landesweit beworbene Veranstaltung, um die Caring-Across-Generations-Kampagne zu lancieren. Auf der Bühne saßen dicht gedrängt Pflegekräfte, RentnerInnen und Menschen mit Behinderung – überwiegend Frauen. Fast alle von der Pflegekrise betroffenen Bevölkerungsgruppen waren dort, entschlossen, das Problem in Angriff zu nehmen. Das Bündnis umfasste das gesamte Spektrum von Stadtteilinitiativen und Arbeiterorganisationen, von den Dienstleistungsgewerkschaften AFSCME und SEIU über 9 to 5, den Bund Pensionierter Amerikaner (Alliance of Retired Americans) und das National Day Laborer Organizing Network bis hin zum Christlichen Verein Junger Frauen (YWCA).

Arbeitsministerin Hilda Solis, Tochter einer Hausangestellten, sprach zu den 700 Anwesenden: »Amerika muss ein Land sein, in dem Pflegende und Pflegebedürftige gleichermaßen ein Recht auf Würde und Respekt haben.« Außer Solis sprachen die Schatzmeisterin des Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO, die Rabbinerin Felicia Sol von der jüdischen Organisation Bend The Arc und Jessica Lehman vom Verband Hand in Hand, in dem sich HausarbeiterInnen gemeinsam mit ihren Arbeitgebern für verbesserte Arbeitsbedingungen einsetzen.

Wie bereits in der Kampagne der National Domestic Workers Alliance versucht Caring Across Generations, Bündnisse zu schließen zwischen ArbeiterInnen und denen, für die diese Arbeit geleistet wird. Es geht darum, dass sich die ArbeiterInnen selbst organisieren, entsprechend wird streng darauf geachtet, dass Wort- und Textbeiträge in mehrere Sprachen übersetzt werden, also alle mitreden können, und dass es bei allen Veranstaltungen eine Kinderbetreuung gibt. Die Kampagne basiert außerdem auf enger Zusammenarbeit der mehr als zweihundert beteiligten Organisationen – keine Gruppe kann sich nur um den für sie besonders wichtigen Teil des Gesamtvorhabens kümmern.

Es geht um ein bundesweites politisches Programm, zwei Millionen neue Arbeitsplätze im Bereich der häuslichen Pflege zu schaffen und arbeitsrechtliche Mindeststandards für die Beschäftigten durchzusetzen: geregelte Arbeitszeiten, Mindestlöhne und ein Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Diese Arbeitsplätze sollen mit Ausbildungs- und Zertifizierungsmöglichkeiten einhergehen, um die Qualität der Pflege anzuheben und um denen, die an den Ausbildungsprogrammen teilnehmen, den Zugang zur Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Poo zufolge sind die Kosten insofern zu bewältigen, als Pflege im häuslichen Bereich ja günstiger ist als im stationären. Poo schlägt außerdem vor, Militärausgaben zu kürzen, Finanztransaktionssteuern einzuführen und die Besteuerung von Unternehmen auszuweiten. »Es kann nicht sein, dass wir unseren Haushalt auf Kosten der Pflegenden und Gepflegten ausgleichen.«

Caring Across Generations setzt sich für die Ausweitung von Medicaid und Medicare[1] ein sowie gegen Kürzungen im Sozial- und Gesundheitswesen. Immer wieder kommt Poo auf Grundsätzliches zu sprechen: auf die Arbeiterbewegung, die Bürgerrechtsbewegung und die Bewegungen für Frauenrechte sowie für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen: »Es geht um Respekt und Würde, nicht bloß für eine Gruppe, sondern für uns alle, als Menschen.« Setzt man die verschiedenen Themenbereiche wieder zueinander ins Verhältnis, stellen sich auch wieder Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Bewegungen her, glaubt Poo. Darin liege ein Potenzial, Machtverhältnisse spürbar zu verändern.

Einen kleinen Erfolg kann Caring Across Generations bereits verbuchen: Teile des Bündnisses hatten einen wichtigen Anteil daran, dass Präsident Obama im Dezember 2011 eine Ausweitung der Überstunden- und Mindestlohnregelungen auf einige zehntausend Hausangestellte ankündigte. Seit dem Sommer 2011 gründen sich im ganzen Land örtliche Care Councils (Pflegeräte). Dort treffen Menschen aus allen Bereichen der Pflege zusammen, um gegen Kürzungen und Angriffe auf Gewerkschaftsrechte zu kämpfen, aber auch für eine bessere Finanzierung der häuslichen Pflege. Die Care Councils bereiten öffentliche Pflegekongresse in wichtigen Städten wie Los Angeles, San Francisco, Dayton, Seattle, San Antonio und New York vor. »Sie gehen auf sehr unterschiedliche Gruppen zu, die oft gegeneinander ausgespielt werden, und sagen: Wir gehen von dem Grundsatz aus, dass wir uns gemeinsam wehren müssen«, sagt Ellen Bravo von Family Values @ Work, einem in mehreren Bundesstaaten tätigen Bündnis, das sich für eine finanzierte Elternzeitregelung sowie für das Recht auf Krankentage einsetzt.

Auf die Frage, warum die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, die landesweit mehr als 500 000 ambulante GesundheitspflegerInnen vertritt, mit Caring Across Generations zusammenarbeitet und sogar zu dem für Februar geplanten Pflegekongress in Seattle aufruft, sagt die Leiterin des Rats für ambulante Pflege (Home Care Council) der SEIU, Abigail Solomon: »Wir haben uns in der Vergangenheit an Initiativen zu Fragen der Migration, der Gesundheitspflege und der ambulanten Pflege beteiligt, aber dabei immer nur zu einem der Punkte gearbeitet. Dieses Bündnis versucht, all diese Aspekte zusammenzudenken und den Gesamtzusammenhang in den Blick zu nehmen. Außerdem erreicht es auch Bundesstaaten wie Texas, in denen ambulante Pflegekräfte dringend mehr Mitbestimmung benötigen. So werden auch lokale und landesweite Bemühungen um gewerkschaftliches Organizing gestärkt.«

Die traditionellen Arbeiterorganisationen scheinen verstanden zu haben, worum es hier geht: Wenn sie in unserer postindustriellen Ökonomie aus ihrer weitgehenden Bedeutungslosigkeit wieder heraus wollen, müssen sie diese ArbeiterInnen organisieren. Ambulante Pflegekräfte sind, nach den EinzelhändlerInnen und den stationären KrankenpflegerInnen, die am drittschnellsten wachsende Beschäftigtengruppe in den USA. Aber die Organizing-Bemühungen kommen nur langsam in Gang und sind oft wenig solidarisch unternommen worden, sodass die Isolation der Gewerkschaften eher noch verstärkt wurde. Ambulante PflegerInnen sind in ein Gespinst aus sozialstaatlichen, gesundheitspolitischen und sozialarbeiterischen Bürokratien verstrickt. Sie werden oft als Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes aufgefasst (vom Staat beschäftigt und über Medicaid bezahlt), zuweilen aber auch als selbständige Honorarkräfte (die für private Agenturen arbeiten), oder aber sie werden vom Kunden direkt angeheuert. Es gibt keine klaren Abgrenzungen, kein Regelwerk, kein Namensverzeichnis, keine als allgemein üblich geltenden Arbeitszeiten, keine Möglichkeit, sich auszutauschen und zu organisieren.

Diese Situation befördert auch Konflikte zwischen den Gewerkschaften. Als 74 000 ambulante Pflegekräfte aus Los Angeles, die meisten von ihnen Latinas, 1999 für den Beitritt zur SEIU stimmten, war dies für die Gewerkschaftsbewegung zunächst ein Grund zum Feiern. Dann aber folgten heftige Grabenkämpfe zwischen der SEIU und der Gewerkschaft der im Öffentlichen Dienst Beschäftigten, der AFSCME; es ging um die Frage, wer die noch unorganisierten PflegerInnen Kaliforniens anwerben und vertreten sollte. Die Frauen von Caring Across Generations haben zuvor genau jene Netzwerke aufgebaut, die traditionelle Gewerkschaften benötigen, wollen sie in diesem Bereich tätig werden. Bevor Sarita Gupta bei Caring Across Generations anfing, koordinierte sie jahrelang die landesweiten Aktivitäten von Jobs With Justice. Es gelang ihr, Bündnisse zu schmieden zwischen selbstorganisierten ArbeiterInnen und traditionellen Gewerkschaften und somit Tarifrechte, die Rechte migrantischer ArbeiterInnen und den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu verteidigen.

Poo wurde zum Organizing-Star, als es der Gruppe Domestic Workers United 2010 gelang, so viele HaushaltsarbeiterInnen, Tagesmütter und UnterstützerInnen zu mobilisieren, dass in New York eine Charta der Rechte von Haushaltsangestellten verabschiedet wurde, die Domestic Workers Bill of Rights (vgl. Poo in LuXemburg 4/2011, 72ff).

Wie Gupta hat Poo immer im Bereich intersektionaler Politik gearbeitet, also dort, wo sich die ›nicht-traditionellen‹ ArbeiterInnen befinden und alle anderen sich hinbewegen. Im Gegensatz zu den großen Gewerkschaften geht es ihnen darum, den langfristigen Aufbau von Verhandlungsmacht ins Zentrum zu stellen. Die National Domestic Workers Alliance ging 2007 aus dem ersten US-amerikanischen Sozialforum in Atlanta hervor. 2010 organisierte das Forum in Detroit ein bahnbrechendes, dreitägiges Treffen von 400 ›marginalisierten‹ ArbeiterInnen – also denen, die nicht unter die Lohn- und Arbeitszeitregelungen des Fair Labor Standards Act fallen: Dazu gehörten TagelöhnerInnen, Haushaltskräfte, TaxifahrerInnen, ehemals inhaftierte ArbeiterInnen und ArbeiterInnen aus jenen Bundesstaaten, von denen die OrganisatorInnen sagen, dass es dort ein »Recht auf schlecht bezahlte Arbeit« gebe. Die damals geführten Diskussionen waren historisch: Es schien, als hätten ArbeiterInnen, die in der old economy randständig waren, begriffen, dass sie mittlerweile zu denen gehören, auf die es in der new economy ankommt. Von ihren KollegInnen ­abgeschnitten, ohne feste Arbeitsstätte, mit willkürlichen Arbeitszeiten und ohne Möglichkeit, kollektive Verhandlungsmacht zu entwickeln, gelang es ihnen nichtsdestotrotz, kreative Bündnisse zu schmieden, die Pioniercharakter aufweisen und spürbare Wirkung entfalten.

Caring Across Generations kann als Prüfstein für das auf den Sozialforen entwickelte Modell angesehen werden, demzufolge die Personen im Mittelpunkt stehen sollten, die von einer bestimmten Situation am stärksten betroffen sind. Sie wissen, wie man sich in diesen Situationen am besten verhält. Auf die Frage, wie auch nur einige der von ihrer Gruppe formulierten Ziele erreicht werden sollen, antwortet Poo in ihrer entwaffnend selbstbewussten und ruhigen Art, dass sie an die unerschütterliche Macht der Liebe glaube. PflegerInnen sind, im Guten wie im Schlechten, Familienangehörige, und damit ist Liebe hier immer auch ein Thema. Dies unterscheidet die Pflege-Problematik vom herkömmlichen Konflikt zwischen ArbeiterIn und ChefIn.

Das Nachdenken über Pflege macht unsere Verletzbarkeit deutlich. Marxistische FeministInnen haben sich heiser geredet darüber, dass hinter jedem rüstigen Helden eine unbezahlte Ehefrau oder eine versklavte Person steht. Doch individuelle Rechte, wie das freie Wahlrecht, waren in den USA stets einfacher durchzusetzen als kollektive, wie das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die Globalisierung, die Automatisierung und ein drei Jahrzehnte währender Angriff der Konzerne auf die Gewerkschaften haben dieses Problem nur verschärft. Mehr AmerikanerInnen als je zuvor sind an ihrem Arbeitsplatz allein und auf sich gestellt – ­ohne Zugang zu einer Gewerkschaft.

Heidi Hartmann vom Caring-Across-Generations-Führungskomitee und dem Institute for Women’s Policy Research stellt fest: »Frauen waren immer Pioniere, diejenigen, die Dinge auf sich nahmen, die niemand auf sich nehmen wollte. Das sind die Jobs, die Frauen bekommen können.« Es gebe keinen Grund, warum Dienstleistungsarbeit wie Pflege nicht auch gute Arbeit werden könne. Die ersten Fließbandjobs waren Frauenjobs, weil Männer sie nicht wollten. Überschüssige landwirtschaftliche Arbeitskräfte zogen in die Textilfabriken, und dank gewerkschaftlicher Organisierung wurden diese Arbeitsplätze eine Zeitlang zu guten Arbeitsplätzen. Unterm Strich werden dafür zwei Dinge nötig sein: eine kulturelle Wende und eine Menge Druck.

Während eines Besuchs in Connecticut lernte ich Erika kennen. Sie ist 56 und leidet an Muskelatrophie. Erika ist eine große Frau, die in einer kleinen Wohnung lebt, und mit ihr lebt Mel, ihre Pflegerin aus Liberia. Eingepfercht und frustriert, ist Erika alles andere als der still vor sich hin leidende Typ. Mel ist also 24 Stunden am Tag an sieben Tagen in der Woche im Einsatz – obwohl sie nur 21 Wochenstunden bezahlt bekommt. Erika lebt von Sozialhilfe. Sie »liebe« ihren »Engel« Mel, könne sich aber keine Vollzeit-Pflegerin leisten. Theoretisch hätte Mel die Möglichkeit, auch noch für andere KundInnen zu arbeiten, doch bei einem Stundenlohn von 12,30 US-Dollar für 21 Wochenstunden kann sie es sich schlicht nicht leisten, Hausbesuche bei anderen Pflegebedürftigen zu machen – es gibt keine Erstattung von Fahrtkosten. Außerdem hat sie nicht die geringste Ahnung, wie sie in der Nähe weitere KundInnen finden könnte. Mel und Erika zogen gemeinsam zum Staatskapitol von Connecticut, um für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung einzutreten. Als ich sie nach ihrer Perspektive frage, fängt die erschöpfte Mel an zu weinen. »Ich unterstütze die Gewerkschaft«, sagt sie. »Aber ich sehe nicht, wie sie mir helfen kann. Ich sitze in der Falle.«

Was kann die Gewerkschaft Mel bieten? In mehreren Bundesstaaten haben Gewerkschaften beispielsweise ein Verzeichnis potenzieller KundInnen angelegt – Menschen wie Mel (und Erika) brauchen aber noch mehr. Sie brauchen alles, von kostenloser, qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung über bezahlbaren, gesundheitsverträglichen Wohnraum bis hin zu verlässlichem öffentlichen Nahverkehr. Und wie wäre es mit günstigen, robusten Smartphones, damit ArbeiterInnen den Kontakt zu ihren Anwälten und zueinander halten können? Mel hat eine Stimme, und sie hat eine Geschichte zu erzählen, aber sie braucht Macht, um die Bedingungen, unter denen sie lebt, zu ändern. Wird Caring Across Generations ausreichend Macht entwickeln, um einen weitreichenden Wandel voranzutreiben? »Gewerkschaften und Bewegungen haben so etwas wie einen Lebenszyklus«, sagt Poo. »Und diese Bewegung steckt noch in den Kinderschuhen. Ich glaube, dass wir unbegrenzte Möglichkeiten haben, weil wir tatsächlich die 99 Prozent vertreten – vielleicht sogar die 100 Prozent.«

Der Text erschien zuerst in The Nation, 30.4.2012. Aus dem Amerikanischen von Max Henninger.

Anmerkungen

[1] Medicaid ist ein 1965 eingeführtes Gesundheitsfürsorgeprogramm in den USA. Anspruchsberechtigt sind Menschen mit geringem Einkommen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Medicare ist die öffentliche Krankenversicherung in den USA. Sie gilt einzig für Bürger ab dem 65. Lebensjahr und Behinderte. Anm. d. Red.

Laura Flanders hat in ihrem Leben viele Radio und TV-Shows moderiert. Ihre Artikel – häufig zu feministischen Themen – erscheinen in The Nation und anderswo. In ihrem Buch »Bei der Tea-Party« wird klar, warum die Rechte in den USA zwar ernstzunehmen ist, die eigentliche Bedrohung aber von der Schwäche der Linken ausgeht. Anlässlich der One-Billion-Rising-Kampagne gegen geschlechtsspezifische Gewalt rief sie auf, nun auch das Schweigen über die alltägliche Gewalt neoliberaler Arbeitsverhältnisse zu brechen.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/ziemlich-beste-freunde-buendnisse-zwischen-pflegenden-und-gepflegten-in-den-usa

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Die Kampagne Caring Across Generations zielt auf eine völlige Umkehr der Art und Weise, wie – US-AmerikanerInnen über sich selbst und andere, über Arbeit und Ökonomie denken. Es geht darum, zwei Millionen hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen und uns allen einen glücklichen und gesunden Lebensabend zu bescheren. Wie das gehen soll, lässt sich nur verstehen, wenn wir zunächst über Pflege sprechen – und zwar laut und deutlich.

Bild: Raychan / Unsplash

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