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#Krankenhaus #Pflege #Rekommunalisierung
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Privatisierungen von Krankenhäusern haben massive Folgen für Beschäftigte und für die Versorgungssituation von Patient*innen. Stellenabbau, Outsourcing oder Lohnsenkungen sind hier Alltag. Für gewinnorientierte Klinikkonzerne steht nicht die Gesundheitsversorgung oder gute Arbeitsbedingungen an erster Stelle, sondern Profite und Gewinnausschüttungen an ihre Aktionär*innen. Das haben etwa die Beschäftigten und Patient*innen in Gießen-Marburg sowie in Seesen erfahren müssen: Vor gut 15 Jahren wurde mit der Uniklinik Gießen-Marburg die erste Universitätsklinik in Deutschland privatisiert. Seit dem steigen nicht nur die Arbeitsbelastungen. Auch die Versorgungssituation leidet. In Seesen wurde die renommierte Reha-Klinik von Asklepios Ende des Jahres 2020 geschlossen - als Reaktion auf Tarifkonflikte um angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen, die seit über einem Jahr im Betrieb heiß liefen.

Nun aber gibt es Hoffnung: Das Land Hessen könnte Asklepios enteignen und das Uniklinikum Gießen/Marburg wieder in öffentliches Eigentum zurückholen – das sagt ein neues Rechtsgutachten. Enteignen nach Artikel 15 des Grundgesetzes ist also nicht nur für Wohnfragen relevant. Auch die Gesundheitsversorgung kann aus der Hand profitorientierter Anleger*innen zurückgeholt werden.

Wir diskutieren, wie das möglich ist, für welche private Kliniken das geht und warum es dringend notwendig ist, die Gesundheitsversorgung zurück in öffentliche Hand zu holen.

Leonhard Lenz, CC0, via Wikimedia Commons

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LUX.local: Rekommunalisierung

Podcast

Dezember 2021

Rekommunalisierung, Krankenhaus, Wohnen, Krise, Selbstverwaltung, Gewerkschaft#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

Auf der RLS-Webseite hören: rosalux.de/mediathek/media/element/1698

Auf Soundcloud hören: soundcloud.com/rosaluxstiftung/luxlocal-2-rekommunalisierung

Der Podcast beginnt zuerst mit einem Blick auf die politischen Entwicklungen in Österreich: Ende September 2021 wurde die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) die stärkste Partei bei den Gemeinderatswahlen in Graz und stellt nun mit Elke Kahr auch die Bürgermeisterin. Hanno Wisiak aus Graz berichtet über den Weg zu diesem Erfolg, die Themen der KPÖ vor Ort und über ihre Rolle in der Kommunalpolitik Österreichs. Im Anschluss dreht sich alles um Rekommunalisierung

Dr. Vera Weghmann verrät, ob sie insgesamt einen Trend zur Rekommunalisierung sieht und was die wichtigsten Erkenntnisse aus ihrer Arbeit an der neuen Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung» sind.

Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand von zwei ganz konkreten Beispielen: In den Kliniken in Nürnberg und Ingolstadt wurden Teile des Personals in privatrechtlich organisierte Servicegesellschaften (aber in öffentlicher Hand) ausgelagert und seitdem noch unterhalb der üblichen Pflegetarife in Krankenhäusern bezahlt. Die beiden Kommunalpolitiker*innen erzählen vom gemeinsamen Kampf von Personal und Gewerkschaften und davon, wie es gelingen kann, dass auch das Servicepersonal wieder tariflich bezahlt wird.

Die Gäste:

Hanno Wisiak arbeitet in der Öffentlichkeitsarbeit der KPÖ im Grazer Rathaus. Er ist Büroleiter des kommunistischen Gesundheitsstadtrats Robert Krotzer und ist derzeit stellv. Bezirksvorsteher des dritten Grazer Bezirks Geidorf. Er ist außerdem Mitglied des Landesvorstands und der Programmkommission der KPÖ Steiermark in Österreich.

Vera Weghmann ist die Autorin der neuen Broschüre „Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung“ der RLS. Sie arbeitet für Public Services International Research Unit (PSIRU) an der University of Greenwich in London. Die Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind öffentliche Dienstleistungen, Privatisierung und Rekommunalisierung sowie Arbeitspolitik und Gewerkschaften. Vera ist Co-Gründerin der unabhängigen Gewerkschaft United Voices of the World.

Kathrin Flach-Gomez ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Nürnberg und außerdem Landessprecherin der Partei DIE LINKE in Bayern.

Eva Bulling Schröter ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Ingolstadt und war zuvor Bundestagsabgeordnete für die PDS und DIE LINKE sowie bis 2020 Landessprecherin der Partei in Bayern.

Links und Hinweise zur Sendung:

Rekommunalisierung

Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung. Broschüre von Dr. Vera Weghmann

Rekommunalisierungen in Thüringen — Chancen und Risiken. Von Frank Kuschel für DIE THÜRINGENGESTALTER - Kommunalpolitisches Forum Thüringen e.V.

Klinikum zurück in die öffentliche Hand? Rechtsgutachten zu den rechtlichen Möglichkeiten einer Rücküberführung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg in öffentliches Eigentum. Von Joachim Wieland

Für starke Kommunen mit leistungsfähigen Betrieben in öffentlicher Hand. - Ein Leitfaden zur Rekommunalisierung  

Darüber hinaus

 Linke Akteure in den Städten und Gemeinden Zum Zustand der Demokratie und zur Rolle der Partei auf kommunaler Ebene. Von Katrin Nicke

Sammlung einführender Literatur und Websites zu Rekommunalisierung

Krise der Privatisierung – Rückkehr des Öffentlichen, Mario Candeias, Rainer Rilling, Katharina Weise (Hrsg.)

Von R wie Rettungspakete zu R wie Rekommunalisierung. Von Julia Dück

Es gibt viel zu tun – packen wir´s an - Der Erfolg von «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» ist erst der Anfang. Von Stefan Thimmel und Armin Kuhn

#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

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«Lux.local» ist der Kommunalpodcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Katharina Weise. In dieser Folge von «Lux.local» dreht sich alles um das Thema Rekommunalisierung. Dazu wird zuerst erklärt, was Rekommunalisierung, Daseinsvorsorge und Privatisierung bedeutet. Im Anschluss sind folgende Interviewgäste zu hören: Dr. Vera Weghmann, Autorin der Broschüre «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung», sowie Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter. Die beiden Stadträtinnen erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand konkreter Beispiele.

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Seit mehr als 15 Jahren befindet sich das fusionierten Universitätskliniken Gießen und Marburg (UKGM) inzwischen als bundesweit einziges Universitätsklinikum in privater Trägerschaft. Seit 2020 der Asklepios-Konzern die Aktienmehrheit an der Rhön-Klinikum AG übernommen hat, befürchten die Beschäftigten eine weitere Verschlechterung ihrer Arbeitssituation. Nach Auffassung der Mehrheit im Hessischen Landtag bestand zum Zeitpunkt der Übernahme keine rechtliche Möglichkeit mehr, die Kliniken in öffentliche Trägerschaft zurückzuführen. Dass das Land Hessen auch weiterhin die rechtlichen Möglichkeiten zur Rücküberführung des UKGM in öffentliche Trägerschaft hätte, zeigt dieses Gutachten auf. Prof. Dr. Wieland liefert mit seinem Rechtsgutachten einen detaillierten Handlungsleitfaden für mögliche künftige politische Mehrheiten im Hessischen Landtag.

Aktive Mittagspause an der Asklepiosklinik in Lich/Mittelhessen, 30.9.2020. Foto: www.facebook.com/verdi.hessen.fachbereich.03

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Von R wie Rettungspakete zu R wie Rekommunalisierung

Mai 2021 • Julia Dück

Foto: camilo jimenez / Unsplash

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Krankenhaus, Krise, Pflege, Rekommunalisierung#Krankenhaus #Krise #Pflege #Rekommunalisierung

Ein Jahr Corona-Pandemie, mitten in der dritten Welle, drei Rettungspakete: Die letzten Monate standen im Zeichen der Krisenfinanzierung. Nicht nur Gastronomie, Kultureinrichtungen oder die Reisebranche, auch Krankenhäuser bangen um ihr Überleben. Und dies mitten in der Pandemie, in der, so sollte man eigentlich meinen, alle Kapazitäten gebraucht würden. Für die Kliniken wurden daher Rettungspakete geschnürt – seit Beginn der Pandemie bisher drei. Alle drei Hilfspakete sollten die finanziellen Mehrbelastungen der Krankenhäuser durch die aktuelle Krise kompensieren. Ob dies tatsächlich gelungen ist, darum tobt derzeit ein Streit.

So moniert etwa die AOK, dass Milliardenbeträge in die Krankenhäuser flossen, obwohl die Fallzahlen im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr gesunken sind. Gleichzeitig schrieben die Wissenschaftsminister aller 16 Bundesländer einen Brandbrief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), in dem sie sich für finanzielle Nachbesserungen des letzten Corona-Hilfspakets aussprechen und auf die besondere Rolle der Uniklinika und anderer Maximalversorger in der aktuellen Pandemie aufmerksam machen. Zudem sind nicht nur große, sondern besonders kleine Kliniken in Gefahr, die finanziellen Mehrbelastungen wirtschaftlich nicht zu überstehen. Wie etwa die ARD berichtete, mussten vergangenes Jahr rund 20 Kliniken schließen – auch solche, die Covid 19-Patient*innen behandelt haben. Auf der anderen Seite konnten viele Krankenhäuser „dank der üppigen Corona-Hilfen ihre Erlöse kräftig steigern“, wie etwa der Focus kritisierte.  Allein von Januar bis Mai 2020 sind in privaten Kliniken die Nettoerlöse im Durchschnitt um 14,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen. Wie passt das zusammen?

Tatsächlich geschieht im Zuge der Hilfspakete beides gleichzeitig: Es kommt sowohl zu einer Verschwendung staatlicher Mittel als auch zu wirtschaftlichen Einbußen und Schließungen von Krankenhäusern. Die Rettungspakete helfen also weder den Krankenhäusern noch sichern sie eine gute Versorgung von Patient*innen. Sie produzieren vielmehr Krisengewinner und -verlierer unter den Kliniken und verschärfen so die schon vorher bestandene Polarisierung im Krankenhaussektor. Private Häuser profitieren, während öffentliche Kliniken rote Zahlen schreiben. Dies zeigt einmal mehr: Wir müssen weg von einer Finanzierung nach DRGs und einem ökonomisierten Gesundheitssystem hin zu einer bedarfsorientierten und öffentlichen Versorgung sowie kostendeckender Finanzierung.

Bilanz der Corona-Hilfspakete – Eine Geschichte des Scheiterns

Mit dem Beginn der Pandemie in Deutschland und der Sorge um ihre Bewältigung wurde im März 2020 das erste Hilfspaket für die Krankenhäuser beschlossen. Zuvor waren die Krankenhäuser politisch aufgefordert worden, alle planbaren Behandlungen (sogenannte elektive Eingriffe) soweit wie möglich zu reduzieren, um Bettenkapazitäten für die erwartete hohe Anzahl an Covid-19 Patient*innen frei zu halten. Da in einer erlösorientierten Finanzierung nach Pauschalen (den sogenannten DRGs) wirtschaftliche Verluste durch diese Reduzierungen drohten, wurde das erste Rettungspaket (Gesetz „Zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“) beschlossen. Dieses sollte die wirtschaftlichen Einbußen kompensieren. Es sah unter anderem eine Freihaltepauschale vor: Für jedes Bett, das pandemiebedingt im Zeitraum ab Mitte März 2020 nicht belegt wurde, bekamen Krankenhäuser eine Pauschale in Höhe von 560 Euro pro Tag. Durch diese Regelung wurde jedoch zugleich ein finanzieller Anreiz geschaffen, mit der Pauschale zu kalkulieren. So manche Klinikleitung fing an, zu berechnen, in welcher Fachrichtung und für welche Behandlungen es lohnt, Betten nicht zu belegen und stattdessen die Pauschale zu kassieren und wo stattdessen die Aufrechterhaltung geplanter Eingriffe lukrativer ist (vgl. Krankenhaus statt Fabrik). In der Folge führte die Pauschalregelung je nach Krankenhaus zu unterschiedlichen Effekten, wie ein vom Bundesgesundheitsministerium eingesetzter Expertenbeirat analysiert hat: Einerseits haben Kliniken profitiert, die teilstationäre Leistungen erbringen, oder Einrichtungen, die mit der Pandemie kaum etwas zu tun hatten (wie etwa psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen). Hier führte die einheitliche Pauschale zu einer Überkompensation der Erlösausfälle. Andererseits mussten größere Krankenhäuser, die Kapazitäten für Covid-19-Patient*innen freihalten sollten, in vielen Fällen herbe Einbußen erleiden. Dies betraf vor allem die großen Universitätskliniken und Krankenhäuser der Maximalversorgung. Denn diese müssen etwa auch Kapazitäten in der Notfallversorgung, auf Geburtshilfe- oder Kinderstationen vorhalten, die im Fallpauschalensystem nicht ausreichend vergütet werden und daher wenig gewinnträchtig sind. In seiner Begleitstudie kommt der Expertenbeirat zu dem Schluss: „Freigemeinnützige und private Krankenhäuser haben überdurchschnittliche Erlössteigerungen realisiert, während Universitätskliniken Erlösrückgänge von bis zu -6,0% aufweisen“(BMG 2020).

Mit dem zweiten Hilfspaket sollte auf diese Fehlentwicklungen reagiert werden, indem die Freihaltepauschale nunmehr differenziert wurde. So sollten die Kliniken fortan zwischen 360€ bis 760€ pro leergehaltenem Bett erhalten. Allerdings hat auch dieses Hilfspaket die Probleme nicht gelöst. Denn vereinfacht gesprochen wurden die durchschnittlichen Kosten für Behandlungen in einer Klinik zugrunde gelegt, um zu entscheiden, ob das jeweilige Krankenhaus eine höhere oder niedrigere Fallpauschale für das Freihalten von Betten bekommt. Wo also normalerweise teure Hüftgelenksoperationen stattfanden und somit hohe Fallpauschalen abgerechnet werden konnten, flossen die höchsten Ausgleichssummen für freigehaltene Kapazitäten. Sogenannte Maximalversorger, also Kliniken, die umfassende und auch weniger lukrative Leistungen anbieten, erhielten dagegen im Schnitt 200 Euro weniger Pauschale. Dies entspricht aber nicht unbedingt den tatsächlich entstandenen Erlösausfällen, welche die Krankenhäuser verzeichnen. Denn nicht berücksichtigt wurde etwa, welche Kosten durch das Freihalten von Betten und die Verschiebung von Behandlungen entstanden sind, und welche Ausgaben dadurch eingespart werden konnten. Kurzum: Auch mit diesem Paket konnten weder Mitnahmeeffekte noch wirtschaftliche Einbußen verhindert werden.

Mit dem „Dritten Bevölkerungsschutzgesetz“ wurde eine Vielzahl von Einschränkungen, Bedingungen und Kürzungen hinzugefügt, um wirtschaftliche Fehlanreize und Mitnahmeeffekte unter Kontrolle zu bekommen: So wurden die Freihaltepauschalen pauschal um je 10% gekürzt und der Kreis der Krankenhäuser begrenzt, der die Pauschale in Anspruch nehmen kann. Zudem werden die Pauschalen nur noch für Häuser in jenen Regionen gezahlt, die über hohe Inzidenzzahlen sowie über knappe Intensivkapazitäten verfügen. Auch dieses – nunmehr dritte – Paket löst die Probleme jedoch nicht und lässt zudem neue Schwierigkeiten entstehen. So führt die Neuregelung dazu, dass nun die Behandlungen in jenen Regionen wieder hochgefahren werden, wo (bislang) niedrige Inzidenzwerte und/oder (noch) freie Intensivbetten bestehen. Wie wir im Verlauf des letzten Jahres gelernt haben, kann sich das Pandemiegeschehen aber sehr schnell verändern. Den finanziellen Ausgleich von Erlösausfällen an Inzidenzwerte zu koppeln, ist für eine krisenfeste Gesundheitsversorgung also gefährlich. Darüber hinaus führt das Hochfahren von Behandlungen zu einer erneuten Überlastung von (Pflege-)Personal in den Krankenhäusern. Der wirtschaftliche Druck auf die Krankenhäuser und das finanzielle Risiko bleiben zudem bestehen, etwa wenn Patient*innen aus Angst vor Ansteckungen wegbleiben oder nach wie vor unklar ist, ob die Fördergelder des ‚Rettungspakets‘ die Erlösausfälle im jeweiligen Haus decken oder nicht.

Weil eine selbstkostendeckende Finanzierung der Krankenhäuser, wie sie die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) zu Beginn der Pandemie gefordert hat, für die Dauer der Krise vom Bundesgesundheitsministerium nicht umgesetzt wurde, sind Steuergelder also in den Kassen privater Kliniken verschwunden. Zugleich mussten im Corona-Jahr 2020 eine Reihe kleiner öffentlicher Häuser schließen.

So sehen Sieger aus, schalalalala? – Schlupflöcher und Personalkrise

Ein weiteres Schlupfloch ist mit der Entscheidung entstanden, die Kosten der Pandemie nicht über ein System der Selbstkostendeckung, sondern über wirtschaftliche Anreize bearbeiten zu wollen: Die Krankenhäuser sollten zur Schaffung neuer Intensivbetten angeregt werden und erhielten daher für jedes zusätzlich geschaffene Intensivbett im ersten Halbjahr 2020 einen Zuschuss in Höhe von 50.000 Euro. Auf dem Papier hat dies gut funktioniert. Doch laut Recherchen des ARD-Politikmagazins „Kontraste“ wurden im Frühsommer mehr Betten bezahlt als im DIVI-Register[1] gemeldet waren.So gab es Ende Juni 2020 nur rund 32.400 Intensivbetten; gezahlt wurden jedoch Gelder für mehr als 39.700 Betten – also für rund 7300 Betten mehr als gemeldet wurden. Medial wurde hier kritisiert, dass Fördergelder in Höhe von etwa 365 Millionen Euro verschwunden sind. Allerdings liegt das Problem bei den Zahlen eher darin, dass im DIVI-Register nur jene Betten gemeldet werden dürfen, die auch betrieben werden können. Wenn also Betten und Geräte zwar bestellt wurden, aber nicht genügend (Pflege-)Personal da ist, um die Intensivbetten ausreichend bereuen zu können, werden diese im Intensivbettenregister nicht gezählt. Das zentrale Problem der Gesundheitsversorgung im Krankenhaus bleibt also weiterhin der massive Personalmangel. Materielle Ressourcen zu schaffen und hierfür Pauschalen zu kassieren, führt nicht notwendigerweise zu einer realen Zunahme an Versorgungskapazitäten. Auch hier gab es offensichtlich Mitnahmeeffekte, Gewinner und Verlierer der Krankenhausfinanzierung und Rettungspakete.

Im Zusammenhang mit der Frage, wo wirklich neue Kapazitäten für Intensivpatient*innen geschaffen wurden, ist ein Verfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig bekannt geworden, die eine Ermittlung gegen das Asklepios-Klinikum Schildautal in Seesen wegen des Verdachts auf Subventionsbetrug eingeleitet hat.[2]

Der Hintergrund seien möglicherweise „zu Unrecht erhaltene Zahlungen für freigehaltene Corona-Betten“, wie ein Sprecher der Behörde berichtete. Damit steht ausgerechnet jenes Klinikum im Verdacht, Gelder veruntreut zu haben, das erst jüngst negative Schlagzeilen machte. Das Management von Asklepios in Seesen hat Ende des Jahres 2020 die renommierte Rehaklinik geschlossen und damit auf Tarifkonflikte um angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen reagiert, die seit über einem Jahr im Betrieb heiß liefen. Die Gewerkschaft ver.di hatte für das Unternehmen einen Tarifvertrag nach Vorbild des öffentlichen Dienstes gefordert. Der Konzern reagierte darauf mit Einschüchterungsversuchen, Ausgliederungen und Entlassungen – und letztlich mit der Schließung des Reha-Klinikums. Klarer konnte die Konzernspitze ihre Strategie der Profitmaximierung nicht demonstrieren. Dass dem gleichen Konzern nun das unberechtigte Abrufen von Hilfsgeldern vorgeworfen wird, unterstreicht, wo das Interesse des Unternehmens liegt: Es scheint nicht an einer guten Gesundheitsversorgung und guten Arbeitsbedingungen, sondern an Gewinnen ausgerichtet zu sein.

Ein anderer Sieger des letzten Jahres sieht ähnlich aus: Fresenius Helios, Europas führender privater Klinikbetreiber, konnte seinen Umsatz bei Helios Deutschland im 4. Quartal des Jahres 2020 um 11 Prozent (auf 1,64 Milliarden Euro) steigern. Der Umsatz liegt damit sogar noch höher als im Vergleichsquartal des Vorjahres. Auf das gesamte Geschäftsjahr 2020 bezogen, konnte Helios Deutschland Umsatzsteigerungen (um 7 Prozent auf 6,34 Milliarden Euro) verzeichnen. Für das Geschäftsjahr 2021 erwartet Fresenius Helios überdies ein organisches Umsatzwachstum im niedrigen bis mittleren einstelligen Prozentbereich – und dies trotz der Covid-19-Effekte, wie der Konzern berichtet. Zugleich aber geht das Unternehmen auf Konfrontation zu seinen Beschäftigten: So werden in einigen Helios-Kliniken Assistenzärzt* innen aufgefordert, »freiwillig« auf Gehalt zu verzichten, im Helios-Konzerntarifvertrag hat das Unternehmen die Vereinbarung zur Pflegezulage gekündigt und bei den kürzlich abgeschlossenen Verhandlungen zum Konzerntarifvertrag wollte Helios sich lange Zeit lediglich auf Entgeltsteigerungen einlassen, die Reallohnverluste bedeuten würden. Darüber hinaus scheint Helios nach Angaben der Gewerkschaft Marburger Bund auch bei den ärztlichen Stellen einen starken Abbau von Personal für das noch laufende Jahr zu planen. Dabei hat Fresenius für das Jahr 2020 trotz Pandemie ein Konzernergebnis von 1,8 Milliarden Euro eingefahren und darüber hinaus angekündigt, die Dividende für seine Aktionär*innen zum 28. Mal in Folge zu erhöhen.

Beide Beispiele machen deutlich: Private Klinikkonzerne haben in der Gesundheitsversorgung nichts verloren. Auf Forderungen ihrer Beschäftigten reagieren sie mit Drohungen, Kündigungen und Einschüchterungsversuchen. Das Lohnniveau liegt oftmals unter dem Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes. Und es finden sich zahlreiche Beispiele von Ausgliederungen von Krankenhausbereichen, in denen schließlich schlechter und/oder nicht tariflich bezahlt wird. In der Pandemie mehren sich zudem Berichte, die darauf hindeuten, dass vor allem kommunale oder öffentliche Kliniken die Versorgung von Covid-Patient*innen und damit auch das finanzielle Risiko der Versorgung übernehmen, während sich private Unternehmen teilweise wegducken, möglicherweise Steuergelder veruntreuen oder berechnen, welche Behandlungen und welche gesetzlichen Regelungen sich wirtschaftlich besser nutzen lassen. Diese Schlupflöcher werden zwar politisch geschaffen, schließlich aber auch betriebswirtschaftlich genutzt.

Den Privaten den Kampf ansagen – Die Eigentumsfrage stellen

Anstelle einer kostendeckenden Finanzierung, die Gewinne und Verluste und somit auch ökonomische Fehlanreize unterbinden würde, wurde durch die Rettungspakete Geld verschwendet. Zugleich hat dies die Polarisierung zwischen ‚profitablen‘ und ‚nicht profitablen‘ Krankenhäusern verstärkt. Zwei Lehren lassen sich daher aus dieser Bilanz ziehen: Die Finanzierung nach Fallpauschalen muss überwunden werden. Zudem ist eine Abkehr von privaten Krankenhausträgern nötig. Denn diese treiben die Profitmaximierung durch Outsourcing, Stellenabbau oder Lohnsenkungen nicht nur oft aggressiver voran, sie konzentrieren sich zudem meist auf lukrativere Behandlungen und setzen öffentliche Träger dadurch zusätzlich unter Druck. Selbst in der Pandemie ist ein Umdenken zugunsten einer möglichst guten Gesundheitsversorgung nicht zu erkennen. Vielmehr herrscht die Profitorientierung privater Gesundheitsunternehmen ungebrochen weiter.

Strategische Forderungen bewegungspolitischer Akteure im Gesundheitsbereich müssen also eine kostendeckende Finanzierung einerseits sowie die Rekommunalisierung privater Krankenhausträger andererseits adressieren. Eine Einschränkung von Profitinteressen sowie die Rückgewinnung und der Ausbau des Öffentlichen sind angesichts des wachsenden Einflusses privater Unternehmen und der fortgeführten marktförmigen Reorganisierung des öffentlichen Gesundheitswesens wichtiger denn je. Es ist daher zentral, neben den neuen Konzepten der Finanzierung auch die Eigentumsfrage auf die politische Agenda zu setzen: Die Planung und Ausgestaltung der Daseinsvorsorge darf nicht dem Markt überlassen werden – etwa die Entscheidung darüber, ob und wo eine Klinik wirtschaftlich noch zu halten ist oder geschlossen werden muss; oder wie viele (Betten-)Kapazitäten aus betriebswirtschaftlicher Perspektive für Notfälle vorgehalten werden sollen. Dies sind Entscheidungen, die entlang einer Bedarfsplanung getroffen werden müssen. Die Enteignung und Vergesellschaftung sozialer Infrastrukturen sind also wichtige Bausteine für eine bedarfsorientierte, demokratische und solidarische Gesundheitsversorgung. Dass die Eigentumsfrage folglich nicht nur im Feld des Wohnens zentral ist und dass sie offensiv gestellt werden muss, um eine gute Versorgung für alle zu ermöglichen – das lehrt uns die Pandemie erneut und verstärkt.

Fußnoten:

[1] Das Divi-Intensivregister liefert täglich Zahlen zu freien und belegten Intensivbetten von rund 1.300 Krankenhäusern in Deutschland. Es wurde während der ersten Corona-Welle im Frühjahr von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin gemeinsam mit dem Robert Koch-Institut aufgebaut. Für Kliniken mit Intensivkapazitäten gibt es eine Meldepflicht an das Register. Übermittelt werden Daten zu freien und belegten Intensivbetten insgesamt.

[2] Asklepios betreibt nach Angaben des Bundeskartellamtes deutschlandweit 160 Gesundheitseinrichtungen, darunter neben Krankenhäusern auch medizinische Versorgungszentren und Rehakliniken. Asklepios ist hinter der Fresenius-Tochter Helios der zweitgrößte private Klinikbetreiber in Deutschland.

Julia Dück ist Referentin für soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg-Stiftung. Ihr Schwerpunkt ist Gesundheits- und Pflegepolitik sowie Soziale Reproduktion und Care-Arbeit.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/von-r-wie-rettungspakete-zu-r-wie-rekommunalisierung

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Rettungspakete sollten die finanziellen Mehrbelastungen der Krankenhäuser durch die Corona-Pandemie kompensieren. Tatsächlich kam es sowohl zu einer Verschwendung staatlicher Mittel als auch zu wirtschaftlichen Einbußen und Schließungen von Krankenhäusern. Die Hilfspakete helfen also weder den Krankenhäusern noch sichern sie eine gute Versorgung von Patient*innen. Sie verschärfen die schon vorher bestandene Polarisierung von Krisengewinnern und Krisenverlierern im Krankenhaussektor: Private Häuser profitieren, während öffentliche Kliniken rote Zahlen schreiben. Dies zeigt einmal mehr, argumentiert die Autorin, dass es eine Abkehr braucht vom ökonomisierten Gesundheitssystem und von der Finanzierung nach diagnosebasierten Fallpauschalen („Diagnosis Related Groups“, DRG). Um eine gute Gesundheitsversorgung für alle zu ermöglichen, müssen eine kostendeckende Finanzierung einerseits sowie die Rekommunalisierung privater Krankenhausträger auf die politische Agenda.

Foto: camilo jimenez / Unsplash

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Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurden plötzlich jene in «systemrelevanten Berufen» – zum Beispiel Ärzt*innen, Reinigungskräfte, IT-Systemadministrator*innen und Kraftfahrer*innen, Lehrer*innen und Kranken- und Altenpfleger*innen, Kassierer*innen – viel beklatschte Held*innen. Seither wird darüber diskutiert, mit welchen Maßnahmen solche Tätigkeiten aufgewertet werden können – sowohl was die Bezahlung als auch die öffentliche Wertschätzung angeht.

Das Ergebnis dieser Studie: Eine zielgerichtete und nachhaltige Aufwertung systemrelevanter Arbeit kann am besten erreicht werden durch eine Kombination aus Sonderzahlungen und substanziellen Lohnerhöhungen, begleitet von einer Stärkung der Tarifbindung sowie Maßnahmen zur Zurückdrängung des Niedriglohnsektors. Ebenso wichtig sind Maßnahmen gegen Lohnungleichheiten zwischen Männern und Frauen, wozu eine Ausweitung der Partnermonate beim Elterngeld, ein Ausbau der Kinderbetreuung sowie die Förderung flexibler Arbeitszeitmodelle gehören.

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Krankenhausstreik: Do it yourself!

November 2021 • Fanni Stolz

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

Krankenhaus, Gewerkschaft, Organisierung, Pflege#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Pflege

Dienstag, 12. Oktober, 16:10 Uhr im Streiklokal am Krankenhaus in Neukölln. Das Handy vibriert: „IHR HABT GEWONNEN! Große Mehrheit der Teamdelegierten stimmt für das Eckpunktepapier zum TV Entlastung“. Es ist also geschafft. Der Jubel ist riesig. 147 Pflegekräfte des Berliner Klinikkonzerns Vivantes haben im Namen ihrer Teams dem vorläufigen Verhandlungsergebnis zugestimmt. Nun soll ein Tarifvertrag »Entlastung« ausgearbeitet werden, der Personalmangel und Dauerstress ein Ende bereiten soll. Wird die ausgehandelte Anzahl von Pflegekräften pro Station unterschritten, gibt es dann einen verbindlichen Freizeitausgleich – die bisher wohl besten Tarifregelungen zur Entlastung in Deutschland. Gestreikt wurde auch am anderen landeseigenen Krankenhaus, der Charité und bei den ausgegliederten Tochterunternehmen von Vivantes – und zwar über die Berufsgruppen hinweg. Auch dort wurden Einigungen erzielt.

Das Handy vibriert nun alle paar Sekunden. Von überall kommen Glückwünsche. Die Erleichterung ist groß. Denn der Weg hierher war nicht einfach und der Erfolg alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil: die Arbeitgeber bewegten sich lange nicht und der Arbeitskampf zog sich. Fünf Wochen (bzw. acht bei den ausgelagerten Servicebetrieben) – so lange wurde an deutschen Kliniken sehr selten gestreikt. Um zu verstehen, warum der Streik am Ende Erfolg hatte, muss man den ganzen Arbeitskampf betrachten, der lange vor dem ersten Streiktag begann. Schon lange vorher organisierten sich die Kolleg*innen und bauten eine Stärke auf, die nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ beeindruckt.

Ich habe mit einigen der Aktiven des Streiks gesprochen. Ihre Erzählungen machen deutlich: Die Berliner Krankenhausbewegung ist eine Geschichte der Selbstermächtigung. Die entstand nicht durch Zuruf, sondern indem systematisch demokratische Strukturen aufgebaut wurden. Die Kolleg*innen hatten ihren Arbeitskampf selbst in der Hand, was für eine Tarifauseinandersetzung nicht immer selbstverständlich ist: Sie bestimmten ihre Forderungen, sie waren an den Verhandlungen beteiligt, sie entschieden über das Ergebnis. Ihre Stärke und ihr Durchhaltevermögen waren Produkt ihrer eigenen Arbeit. Nur so konnte das Selbstvertrauen entstehen, das nötig war, um sich gegen die Härte der Arbeitgeber durchzusetzen.

„Man kennt sich jetzt im Krankenhaus“

Zwei Wochen später: Vor mir sitzt Camilla, sie ist seit 38 Jahren Pflegekraft im OP und seit 30 Jahren Ver.di Mitglied. Heute ist sie erkältet. Die Anspannung des Streiks lässt nach und die Erleichterung ist ihr deutlich anzumerken. Während unseres Gesprächs wandern ihre Blicke immer wieder auf die andere Straßenseite, wo sie an einigen der 34 Tage mit ihren Kolleg*innen am Streikposten stand. Nachdem Camilla zu Beginn der Kampagne zögerlich war, ist sie im Juli aktiv in die Bewegung eingestiegen und übernahm sogar an einzelnen Tagen die Streikleitung. Damit war sie eine der Personen, die entscheiden musste, welche Kolleg*innen streiken konnten und welche Notdienst leisten mussten. Denn durch eine sogenannte Notdienstvereinbarung stellten die streikenden Pflegekräfte sicher, das Patient*innen nicht gefährdet werden. Das funktioniert so, dass die Beschäftigten der einzelnen Stationen im Vorfeld ankündigen, wie viele Betten sie bestreiken werden. Damit geben sie der Klinikleitung die Chance, sich vorzubereiten und keine neuen Patient*innen aufzunehmen. Kommen zu viele Notfälle rein, sichern die Streikenden ab, zurück in den Dienst zu kommen. Die Klinikleitungen ließen sich auf dieses vielfach erprobte Modell nicht ein, so dass die Streikenden einseitig den Notdienst sicherstellten.

Camilla zeigt zum Streikposten und erzählt mir, wie sich dort Kolleg*innen aus dem ganzen Haus kennengelernt hat. Viele, die schon über Jahre hinweg im selben Krankenhaus arbeiteten, unterhielten sich dort das erste Mal. Der Streik umfasste fast alle Berufsgruppen, von der Pflege, über das Labor bis zur Reinigung. Heute grüßt man sich in der Pause, auf dem Weg zur Arbeit oder nach dem Feierabend. Man kennt sich jetzt im Krankenhaus, erzählt Camilla. Wo vorher Einzelkämpfer*innen waren, ist ein Zusammenhalt entstanden, der über das eigene Team oder die eigene Berufsgruppe hinausgeht.

Demokratie beginnt auf Station

„Wenn man erleichtert ist, vergisst man, wie schwer es war“, erzählt mir Louisa, Intensivpflegekraft an der Charité, als wir gemeinsam auf die letzten Monate blicken. Louisa ist 24 Jahre und studiert neben ihrer Arbeit an der Charité klinische Pflege. Schon lange wollte sie politisch aktiv werden, Missstände bekämpfen, doch allein hat sie sich das nie zugetraut. Als sich die verschiedensten Berufsgruppen an der Charité, bei Vivantes und den Vivantes-Töchtern zur Berliner Krankenhausbewegung zusammenschlossen, fand sie den Mut dazu. Es braucht erst ein gewisses Selbstbewusstsein, damit man sich für sich und seine Kolleg*innen einsetzen kann, erzählt sie – und das entsteht Schritt für Schritt. Im Laufe des Arbeitskampfs trat sie der Gewerkschaft ver.di bei. Sie fing an, ihre Kolleg*innen für die Bewegung zu begeistern und wurde schließlich zur Teamdelegierten ihrer Station gewählt. Jede Station, auf der die Mehrheit der Kolleg*innen an der Findung der Tarifforderungen beteiligt war, konnte Delegierte wählen. Sie vertraten ihre Station bei den berlinweiten Treffen, unterstützten und berieten die Tarifkommission bei den Tarifverhandlungen und waren diejenigen, die die wichtigsten Informationen, die sich im Streik meist überschlugen, an ihr Team weitergaben.

Macht aufbauen durch eine Mehrheitspetition

Wie gelingt es, so eine Struktur aufzubauen? Nur durch gute Vorarbeit. Um die Kolleg*innen zu motivieren, ihre Forderungen einzubringen und Delegierte zu wählen, müssen sie erst von dem Arbeitskampf erfahren und müssen überzeugt werden, dass er sinnvoll ist. Eine Petition, die die Mehrheit der Beschäftigten hinter gemeinsamen Zielen versammelt, ist dazu ein gutes Mittel. Beim Unterschriftensammeln kommt man ins Gespräch und übt zugleich, die Mehrheit in jedem einzelnen Team zu überzeugen. Unterstützt von Organizer*innen von ver.di sammelten die Kolleg*innen zwei Monate lang Unterschriften – für einen Entlastungstarifvertrag und (bei Vivantes) für die Rückführung der Tochterunternehmen in den TVöD. Die bereits aktiven Beschäftigten führten Station für Station Gespräche, notierten ihre Erfolge, planten, mit wem sie noch sprechen mussten.

Als am 12. Mai über 8397 Unterschriften an die Berliner Landespolitik und die Klinikleitungen übergeben wurden, war klar, dass sich eine deutliche Mehrheit von über 60 Prozent der betroffenen Beschäftigten hinter die Forderungen stellte. Der erste Stärketest war gewonnen.  Mit der Petitionsübergabe betrat die Krankenhausbewegung das erste Mal die politische Bühne der Hauptstadt.

Den regierenden Parteien wurde mit der Übergabe der Unterschriften ein 100-Tage-Ultimatum gesetzt: Entweder sie gehen auf die Forderungen der Kolleg*innen ein und üben Druck auf die Klinikleitungen der landeseigenen Krankenhäuser aus – oder es kommt zu Streiks in der heißen Wahlkampfzeit, so die Drohung. Trotz zahlloser Verständnisbekundungen ließ die Politik die 100 Tage tatenlos verstreichen, so dass es tatsächlich zum Showdown kommen sollte.

Zusammenkommen, vernetzen, entscheiden

Neben Louisa traten 2288 Beschäftigte während der Auseinandersetzung bei ver.di ein. Unter ihnen auch Diana, Pflegekraft im Krankenhaus in Kaulsdorf, Mutter von zwei Kindern. Während wir im Zoom miteinander sprechen, huscht ihre Katze durchs Bild. Das passierte ihr öfter, erzählt sie mir lachend: »Gezoomt« wurde viel. Aber auch zahlreiche „reale“ Treffen stärkten Schritt für Schritt die Bewegung: in den Teams, stationsübergreifend, mit den Unterstützer*innen aus der Berliner Zivilgesellschaft. Eine der wichtigsten Versammlungen war der Berliner Krankenhausratschlag, wo im Juli alle Delegierten der einzelnen Stationen zusammenkamen, um gemeinsame Forderungen der Krankenhausbewegung zu diskutieren. Spektakulär war nicht nur die deutliche Mehrheit, mit dem die Ergebnisse angenommen wurden, sondern vor allem die Kulisse: In der „Alten Försterei“, dem Stadion des Fußballclubs Union Berlin füllten über Tausend Kolleg*innen und Unterstützer*innen die Haupttribüne – ein Highlight, das den Anwesenden die eigene Stärke deutlich machte. Während die regierenden Politiker*innen auf der Bühne von den Pflegenden im Gespräch herausgefordert wurden, wehte ein Banner der Union Ultras: Nicht nur klatschen – machen! Gebt den Pflegekräften was die verdienen: Mehr Lohn, mehr Zeit, mehr Personal.

Selbstbewusstsein wird gemacht

Diana ist gerne Pflegekraft aber die schwierigen Arbeitsbedingungen treiben sie um. Als besonders schwierig erlebt sie die Vereinzelung und die Individualisierung der Probleme: „Ich habe oft auf Station gedacht, dass das nur mein Gefühl ist, dass es nicht läuft. Für mich war es unglaublich gut zu hören, es geht auch anderen so. Es läuft etwas ganz offensichtlich schief und auch andere bekommen das mit. Allein das tat einfach gut.” Sie schildert, wie ermutigend es war, im nächsten Schritt zu begreifen, dass sie zusammen mit ihren Kolleg*innen tatsächlich etwas verändern kann: „Die Pflege muss für ihre Interessen selber einstehen, denn jemand anders wird es nicht tun. Mehr als Applaus werden wir von alleine nicht bekommen”. Was einfach klingt, ist für den Bereich der Pflege alles andere als selbstverständlich. Viel zu oft wird an Pflegekräfte appelliert, schlechte Arbeitsbedingungen auszugleichen – aus Idealismus und im Dienste der Patient*innen. Die Bewegung hat nicht nur individuelle Frustration in kollektive Sprechfähigkeit umgemünzt, sie hat vor allem mit der Vorstellung gebrochen, dass Politik oder Klinikkonzerne von alleine zur Vernunft kommen. Es wurde klar: Jede einzelne Kolleg*in ist wichtig, um etwas zu ändern.

Jede*r Einzelne wird gefragt

Louisa schildert, dass vor allem die zweite Phase der Kampagne, die Forderungsfindung, viele Kolleg*innen wachgerüttelt hat. In diesen Wochen habe sie gelernt, dass es wirklich eine Chance gibt, etwas zu verändern. Die vielen intensiven Einzelgespräche (»1 zu 1«) seien der Schlüssel zum Erfolg gewesen. In den Gesprächen ging es darum, herauszufinden, was das Hauptanliegen der jeweiligen Kolleg*in war. An diesem Anliegen versuchte man anzusetzen und klar zu machen, dass es eine einmalige Chance auf Veränderungen gibt – wenn man gemeinsam aktiv wird. Louisa hat selbst viele der Forderungsinterviews geführt. „Es war faszinierend zu merken wie jemand reagiert, wenn er die Plattform bekommt, frei über Missstände sprechen zu dürfen. Die stillschweigende Pflege ist etwas Angelerntes. Ich habe das auch so gelernt in meiner Ausbildung: lieber nichts sagen und alles kompensieren. Dadurch merken wir gar nicht mehr, was falsch läuft. Wir können uns kaum mehr einen Alltag vorstellen, in dem man nicht gestresst nachhause geht.” In den vielen Gesprächen wurden den Beschäftigten klar, dass sie die Expert*innen sind, die am besten wissen, wie gute Pflege eigentlich organisiert sein muss.

Heftiger Widerstand, permanenter Druck

Für Diana und Camilla bleibt vor allem der Warnstreiktag eindrücklich in Erinnerung – nicht nur, weil es der erste Streiktag war, sondern weil dort klar wurde, wie hart der Kampf werden würde. Schon von weitem hörten sie das Getümmel rund um den Lautsprecherwagen, wo neben Anja, einer Pflegekraft von Vivantes, die Spitzenpolitiker*innen des Berliner Wahlkampfs auftraten: der Linke Klaus Lederer Franziska Giffey von der SPD und Bettina Jarasch von den Grünen. Plötzlich wurde es unruhig in der Menge und Anja verkündete eine erschreckende Nachricht: Vivantes hatte vor Gericht eine einstweilige Verfügung erwirkt: Der Warnstreik durfte nicht fortgeführt werden. „Ich dachte ich bin im falschen Film. Das die sich so miese Tricks einfallen lassen, um diese große Welle zu brechen”, erzählt Camilla. Doch das Kalkül des Arbeitgebers ging nicht auf. Am zweiten Streiktag gewannen die Beschäftigen vor Gericht. Ihr Streikrecht wurde höher gewichtet als die fadenscheinigen Einwände gegen den Tarifvertrag Entlastung und eine angebliche Unverhältnismäßigkeit der Streikmaßnahmen. Die Strategie des Vivantes-Konzerns, die Bewegung im Keim zu ersticken, war nach hinten losgegangen. Viele sagten sich nach dem Gerichtsurteil: Jetzt erst Recht!

Franziska Giffey und co. wurde an diesem Tag klar: Die Beschäftigten der Charité und Vivantes sind hartnäckig. Der ausdauernde politische Druck, den die Kolleg*innen im Betrieb organisierten und immer wieder in die Politik trugen, war für den Erfolg am Verhandlungstisch zentral. Franziska Giffey konnte nahezu keine Wahlkampfveranstaltung besuchen, ohne von der Berliner Krankenhausbewegung belagert zu werden. Als Raed Saleh, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus eine Biergartentour plante, saßen an den Biertischen keine zahmen SPD-Sympathisant*innen, sondern ein Dutzend Pflegekräfte. „Wir sind der Politik auf die Nerven gegangen”, erzählt Diana, „Diese Präsenz war wichtig”.

Denn die Beschäftigten trugen ihr Anliegen in die Stadt und erhielten breiten Zuspruch: Dem Demo-Aufruf „Wir retten euch – Wer rettet uns?“ folgen knapp 5.000 Berliner*innen , die Volksbühne öffnet ihre Türen für eine Pressekonferenz und das Bündnis Gesundheit statt Profit sammelte mehrere tausend Euro für die Streikkasse der Vivantes-Töchter, die ohne diese Unterstützung nicht so lang hätten durchhalten können. Die Pflege wurde zu einem der zentralen Wahlkampfthemen. In Schulungen lernen die Beschäftigten, ihre Geschichten zu erzählen und den Alltag im Krankenhaus sichtbar zu machen: Auf Demonstrationen, in der Berliner Abendschau, in der Berliner Wahlkampfarena. Die eindrücklichen Geschichten und die immer noch präsente Angst vor überfüllten Intensivstationen in der Pandemie erlaubte es keiner Partei, die Bewegung offen zu kritisieren oder abzuwiegeln. Wer will schon schlechte Presse im Wahlkampfsommer?

Wir verhandeln selbst

Das Rückgrat der Gewerkschaftsbewegung waren die hunderten gewerkschaftlichen Ehrenamtlichen, die sich Station für Station organisierten. Für Camilla ist klar, dass man an diesem Punkt gewerkschaftliche Arbeit neu denken muss: Im Tarifkampf „muss ver.di alle mitnehmen, sonst ist die gewerkschaftliche Bewegung ein Vogel ohne Flügel“. Demokratisierung bedeutet, dass die wichtigen Entscheidungen in einer Tarifauseinandersetzung von den Beschäftigten selbst getroffen werden. Immer wenn die hauptamtliche Verhandlungsführung von Ver.di und die Tarifkommission mit den Arbeitgebern verhandelten, tagten zeitgleich die Teamdelegierten. Auch Camilla war oft dabei. Das konnte bis zu 30 Stunden am Stück dauern, wenn die Kommission so lang verhandelte. Alle Entscheidungen der Tarifkommission wurden an die kollektiven Entscheidungen der Delegierten rückgekoppelt.

In der letzten Nacht vor dem Tarifabschluss an der Charité harrten die Teamdelegierten ganze 21 Stunden in einem Hörsaal aus. Für Louisa war es ein unvergesslicher Moment. Als sich der Abschluss andeutete, war die Erleichterung nach Wochen der Anspannung kaum zu beschreiben. Alle wussten, dass der Abschluss ohne lange Vorbereitung nicht möglich gewesen wäre. Schon im Frühjahr waren die Mitglieder der Tarifkommission und die Teamdelegierten von Charité und Vivantes zusammengekommen. Sie hatten die Tarifergebnisse an anderen Krankenhäusern, etwa in Jena oder Mainz, diskutiert und die Forderungen der einzelnen Teams zusammengetragen. So schufen sie nicht nur Rückhalt für die Forderungen in der gesamten Belegschaft, sondern stärkten auch die Tarifkommission in den Verhandlungen. Mit den Teamdelegierten hatte die Tarifkommission ein Expert*innen-Gremium im Rücken, das auf jeden Einwurf des Arbeitgebers direkt kontern konnte. So gelang es, dem Arbeitgeber Kontra zu geben und ihn sogar bloßzustellen, da er sich in den einzelnen Bereichen weniger gut auskannte als die Beschäftigten selbst. Auch Louisa hat die Situation auf ihrer Station einmal vor der Tarifkommission geschildert.

Für Diana, Camilla und Louisa ist klar: Der Berliner Erfolg ist ein Meilenstein in der Bewegung für bessere Pflege und Gesundheitsversorgung. Und er strahlt aus: Erste Einladungen zur weiteren Vernetzung gibt es schon. Nicht nur Kolleg*innen aus Deutschland, sondern auch aus Großbritannien, der Schweiz und Frankreich sind an Austausch interessiert. Das gibt Selbstvertrauen. Die Berliner Erfahrung hat deutlich gemacht: Gewerkschaftliche Organisierung ist kein Selbstzweck. Sie kostet Arbeit, Kraft und Energie. Und sie kann wirklich etwas substanziell verändern. »Geschichte wird gemacht« und die Berliner Krankenhausbeschäftigten haben ihre Geschichte selbst geschrieben. Ich verabschiede mich von Diana, die mit ihren Kolleg*innen aus den Tochterunternehmen anstoßen will. Sie haben am Abend vor unserem Gespräch auch einen Abschluss erzielt. Es ist ihr gemeinsamer Kampf, den sie nun zusammen feiern.

Fanni Stolz ist Referentin für gewerkschaftliche Erneuerung am Institut für Gesellschaftsanalyse an der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/krankenhausstreik-do-it-yourself

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Was bedeutet es, wenn ein Arbeitskampf von den Beschäftigten selbst geführt wird, von Anfang bis Ende? Die ver.di-Auseinandersetzung in den Berliner Klinken im Herbst 2021 zeigt: Es ist hart, aber lohnt sich. Fünf Wochen (bzw. acht bei den ausgelagerten Servicebetrieben) – so lange wurde an deutschen Kliniken sehr selten gestreikt. Um zu verstehen, warum der Streik erfolgreich war, muss man den ganzen Arbeitskampf betrachten, der lange vor dem ersten Streiktag begann.

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

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Getrieben von der Möglichkeit, durch den Betrieb eines Krankenhauses Gewinne zu erzielen, aber auch vom Risiko, bei negativen Bilanzen den Bestand der Abteilung oder des gesamten Krankenhauses zu gefährden, sind betriebswirtschaftliche Kennzahlen zu den wichtigsten Zielsetzungen jeder Krankenhausleitung avanciert. Um dieser Situation planerisch entgegenzuwirken, müssen die Krankenhausplanung und das Landesrecht zu Steuerungsinstrumenten ausgebaut und als solche genutzt werden. Ganz nebenbei wäre so zudem ein Instrument entwickelt, um (auf Landesebene) der Gewinnerzielung im Gesundheitsbereich entgegenzuwirken; also eine profit- gegen eine bedarfsorientierte Gesundheitsversorgung für alle zu tauschen. Ohne darauf zu warten, bis der Kampf für ein anderes Finanzierungsmodell bundesweit gewonnen ist. Wie aber ist dies möglich?

Auf diese Frage formuliert das vorliegende Rechtsgutachten Antworten.

Claudio Schwarz / unsplah

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Kommunen, häufig Träger staatlicher Leistungen und Institutionen wie Stadtwerke oder Krankenhäuser, geraten immer mehr finanziell unter Druck und müssen sich dem «Privatisierungsdruck» und den «Sachzwang»-Argumentationen erwehren oder sogar beugen. Dass dies aber kein politisches Dogma ist, zeigen zahlreiche Rekommunalisierungen. Die Broschüre gibt einen Überblick über die Entwicklung von Rekommunalisierungen (internationale wie bundesweit) sowie über die rechtlichen Rahmenbedingungen. Aus verschiedenen Branchen (Wasser, Energie, Abfall, Krankenhäuser, Wohnen, Verkehr etc.) werden Beispiele der Rekommunalisierung in Deutschland und damit verbundene Herausforderungen dargestellt. Als Argumentationshilfe richtet sich die Broschüre gleichermaßen an kommunale Amts- und Mandatsträger*innen, lokalpolitisch engagierte Menschen in Vereinen / Initiativen sowie interessierte Menschen, die sich konkret mit öffentlicher Daseinsvorsorge auseinandersetzen möchten.

Dresden; Foto: Martin Fahlander / Unsplash

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Reichtum des Öffentlichen

Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht

August 2020

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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Rekommunalisierung, Krise, Wohnen, Krankenhaus, Mobilität, Migration, Pflege, Feminismus, Alternativen, Selbstverwaltung, Organisierung#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen beinharte Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor. Die Unternehmen versuchen, ihre Verluste zu sozialisieren. Nach den öffentlichen Schulden drohen eine Neuauflage von Austeritätspolitiken ebenso wie neue Angriffe der Arbeitgeberseite.

Die Verteidigung des Sozialstaats geht also in eine neue Runde. Doch sie sollte nicht als Abwehrkampf geführt werden, als ein Versuch, das Bedrohte zu konservieren. Stattdessen ist es Zeit, den Sozialstaat gründlich zu erneuern und seine alten Fehler zu beheben. Doch wie sieht ein Sozialstaat aus, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist? Wie lässt sich verhindern, dass sich die Spaltung der Subalternen weiter vertieft? In Krisen drohen die Kapitalfraktionen ihre Spielräume auf Kosten der Lohnabhängigen zu erweitern. Wie kann eine Alternative dazu aussehen? Und wo wird jetzt schon dafür gekämpft?

Krise an zwei Fronten

Bisher war die Finanzierung des Sozialstaates an wirtschaftliches Wachstum gebunden. In einem hart erkämpften historischen Klassenkompromiss wurden Sozialleistungen auf der Grundlage stetigen Wachstums finanziert und schrittweise ausgebaut. Dies war ein Kompromiss, der lange nicht zulasten der Profite ging. Als die Profitrate zu fallen begann, wurde er mit der neoliberalen Offensive seit Beginn der 1980er Jahre einseitig aufgekündigt. Der Sozialstaat geriet mehr und mehr unter Druck. Angesichts von Globalisierung und Transnationalisierung galt ein starker Sozialstaat als Negativfaktor im internationalen Wettbewerb (auch wenn inzwischen im Sinne des „social investment state“ eine produktivistische Neuorientierung erfolgt ist; vgl. Dowling 2016). Die Begründung: Unter dem Kostendruck der Konkurrenz könnten eben nicht alle Wohltaten finanziert werden. Nach und nach wurden die Systeme sozialer Sicherung ausgehebelt und neoliberal umgebaut. Mit dem sogenannten New Public Management gerieten betriebswirtschaftliche Kriterien zum Maßstab des Handelns auf sämtlichen Feldern des Sozialsystems (vgl. Wohlfahrt 2015).

Seitdem kriselt der Sozialstaat an zwei Fronten: Einerseits haben Jahrzehnte der neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik den Bereich sozialer Infrastrukturen und öffentlicher Dienste finanziell und personell ausgezehrt – vom Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Bereich über die Wohnraumversorgung bis hin zu Kultur und Mobilität. Es fehlt an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, aber auch an Verwaltungspersonal, Steuerprüfer*innen oder Planer*innen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beziffert die Lücke schon jetzt auf über eine Millionen Arbeitskräfte und bei weiter dynamisch wachsendem Bedarf auf bis zu vier Millionen (Ötsch u.a. 2020).

Andererseits führte die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu einem längst überwunden geglaubten Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut.[1] Die Ursachen sind vielfältig und hängen doch zusammen: Deregulierung der Arbeitsmärkte und endemische Ausbreitung von Niedriglöhnen und unfreiwilliger Teilzeit, Privatisierung und Ausdünnung der sozialen Infrastrukturen, steigende Mieten sowie eine ungerechte Besteuerungspolitik, die hohe Einkommen sowie große Vermögen begünstigt. In der Folge sehen sich Millionen Menschen mit unsicheren Zukunftsaussichten konfrontiert: Aufgrund von Arbeitslosigkeit, aufgrund von Soloselbständigkeit oder Mini- und Midi-Jobs erwerben immer weniger Menschen ausreichende Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen – unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen. Aber selbst dann, wenn Ansprüche bestehen, reicht das Leistungsniveau oftmals nicht länger für ein Leben ohne Armut. Mit Niedriglöhnen oder erzwungener Teilzeit lässt sich keine vernünftige Rente erwirtschaften oder gar privat vorsorgen. Für große Teile der Bevölkerung bieten die bestehenden Sicherungssysteme keine Perspektive mehr – das Sicherungsversprechen des Sozialstaates verliert an Glaubwürdigkeit und muss grundlegend erneuert werden.

Kein Zurück zum „alten“ Sozialstaat

Wer den Sozialstaat erhalten will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sich seine Gestalt wandeln muss. Um für die neu zusammengesetzte Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts attraktiv zu sein, muss das Konzept von Sozialstaatlichkeit erweitert und verändert werden. Dazu gilt es, linke Kritiken an seiner bisherigen Verfasstheit aufzunehmen.

Der Sozialstaat war immer gekoppelt an spezifische Produktions- und Lebensweisen, an ein bestimmtes Geschlechterregime und an das damit verbundene Modell von Erwerbsarbeit und Reproduktion. Feminist*innen haben die Norm des männlichen Alleinverdieners im fordistischen Wohlfahrtsstaat kritisiert. Soziale Absicherung ist darin an (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit und an eine weitgehend lückenlose Erwerbsbiografie gebunden. Gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, die historisch an Frauen delegiert und in den Verantwortungsbereich der privaten Haushalte verlagert wurde, erfährt weder Anerkennung noch soziale Absicherung. Damit ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit systematisch in das fordistische Wohlfahrtssystem eingeschrieben. Es verstärkt zudem mit seinem patriarchalen Familienmodell die Abhängigkeit von Frauen und benachteiligt queere Menschen. Obgleich sich die Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse inzwischen deutlich gewandelt haben, bleiben die Verkopplung von sozialer Absicherung und Erwerbstätigkeit sowie die Privilegierung eines heteronormativen Ehe- und Familienmodells bestehen. Deswegen: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Erneuerung des Sozialstaates.

Die meisten Leistungen des Sozialstaates sind außerdem an nationale Zugehörigkeit gebunden. Es profitieren von ihnen nur diejenigen, die über eine bestimmte Staatsbürgerschaft verfügen oder über die offizielle Lohnarbeit sozialversichert sind. Geflüchtete, Personen im Asylverfahren und insbesondere Illegalisierte haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, obwohl Letztere in Sektoren wie Hausarbeit, Pflege, Bau, Landwirtschaft, Sexarbeit, Hotellerie, Gastgewerbe oder Reinigungsgewerbe einen elementaren Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung leisten (vgl. Behr 2010). Über das Aufenthaltsrecht wird migrantische Arbeit abgewertet, viele sind gezwungen, besonders schlechte Löhne und unsichere Bedingungen zu akzeptieren, was sich nicht nur in geminderten Leistungsansprüchen niederschlägt, sondern außerdem eine gesellschaftliche Aufwertung der genannten Arbeiten (Hausarbeit, Pflege etc.) erschwert. Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse werden dadurch verschärft.

Aber auch auf Migrant*innen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wirkt sich der bestehende Sozialstaat diskriminierend aus. Sie leiden besonders häufig unter unterbrochenen Erwerbsbiografien und Phasen informeller, schlechter bezahlter oder generell prekärer Beschäftigung, was geringere Anwartschaften zur Folge hat. Nicht erst angesichts wachsender Migrationsbewegungen muss diese Selektivität des Sozialstaats in Bezug auf die nationale Herkunft überwunden werden. Es bedarf hier einer grundlegenden Erneuerung, um ihn für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Eine große Aufgabe.

Die linke Kritik am fordistischen Sozialstaat hat schließlich deutlich gemacht, dass er – trotz seiner zweifellos positiven Funktion der Absicherung und Umverteilung – auch paternalistische Züge trägt und zur Passivität anhält. Das bürokratische, starre und auf Kontrolle orientierte Hilfesystem ist nicht nur an bestimmte Erwerbsmodelle und Lebensformen gebunden, sondern wirkt an vielen Stellen entmündigend. Der Ausschluss vieler Leistungsempfänger*innen von gesellschaftlicher Teilhabe wird so – trotz sozialer Abfederung – letztlich fortgeschrieben.

Zwar sind etliche, von Luc Boltanksi und Ève Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnete Einwände der neuen Linken später vonseiten neoliberaler Gegner*innen des Sozialstaats aufgenommen und entsprechend enteignet worden. Dennoch steckt hier ein für linke Zukunftsentwürfe unhintergehbarer Impuls: Ein Zurück zu den korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats des 20. Jahrhunderts ist keine Alternative, nicht nur wegen gewandelter Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse, sondern auch wegen seines ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Mit einer Erneuerung sozialer Sicherungssysteme ist darum auch die Aufgabe ihrer grundlegenden Demokratisierung verbunden.

Wo die Herausforderungen liegen

Die sozialen Sicherungssysteme stehen vor mehreren neuen Herausforderungen, die mit alten Konzepten nicht gelöst werden können.Sozial "abgehängte" Räume: Die Folgen der Erosion des Sozialstaates zeigen sich besonders prägnant auf der sozialräumlichen Ebene. Soziale Ungleichheit verschärft sich und dokumentiert sich zunehmend in Postleitzahlen, teils entstehen „abgehängte" Räume mit extrem lückenhafter Infrastruktur in benachteiligten Vierteln der Städte und in peripheren Zonen jenseits der Städte. Das trifft am stärksten marginalisierte Gruppen und erzeugt Konkurrenz um bereits knappe Ressourcen. Rechte Sicherheits- und Ordnungsdiskurse, die die Bedrohung einer vermeintlich homogenen Lebensweise der Einheimischen heraufbeschwören, können hieran anschließen. Da ein Großteil der Sozialleistungen von den Kommunen erbracht wird, wachsen zudem die sozialräumlichen Disparitäten zwischen Städten und Regionen.

Krise der Reproduktion: Das fordistische Geschlechter-, Reproduktions- und Familienmodell hat sich stark verändert – ohne dass jedoch Geschlechteregalität oder soziale Rechte für alle erreicht wurden. Heute dominiert nicht länger das Alleinernährer-, sondern das sogenannten Adult-Worker-Modell. Der Zwang, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, trifft nun alle gleichermaßen und verändert auch das Sorgeregime. Zwar werden immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die früher fast ausschließlich privat und unentgeltlich geleistet wurden, heute auch als Erwerbsarbeit erbracht – dies gilt etwa für Pflege und Erziehungsarbeit. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge werden die öffentlichen Angebote jedoch massiv ausgedünnt, was Überlastung, Stress und Erschöpfung zur Folge hat. Care-Arbeit ist auch als Lohnarbeit immer noch mehrheitlich eine Domäne von Frauen und Migrant*innen und wird somit deutlich schlechter bezahlt als andere Tätigkeiten. Ohne Geschlechtergerechtigkeit und ohne ein Ende der Abwertung von migrantischer Arbeit kann es also keine Erneuerung des Sozialstaates geben.

Die Zunahme bezahlter Sorgearbeit und ihre zunehmend privatwirtschaftliche Organisierung wirft auch die Frage neu auf, wo die Grenzen einer kapitalistischen Inwertsetzung von Fürsorge liegen. Ausgehend hiervon ist auch zu klären, ob nicht wichtige gesellschaftliche Aufgaben dem Markt gänzlich entzogen werden müssen, ob und inwieweit also eine Vergesellschaftung oder auch Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge notwendig ist.

Migration: Mit der Zunahme weltweiter Migration stellt sich die alte Frage nach dem Zugang zu bis dato vor allem nationalstaatlich organisierten Sicherungssystemen neu. Die Gesellschaften des Nordens sind noch stärker als bisher zu Einwanderungsgesellschaften geworden. Eine Abschottung gelingt nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche wie dem Anspruch nach Solidarität und Antirassismus. Ein in erster Linie als Versicherungssystem konzipierter Sozialstaat setzt allerdings jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anwartschaften voraus, die mit einer gestiegenen Bewegungsfreiheit und globaler Migration kaum kompatibel sind. Der Ausschluss vieler migrantischer Arbeitskräfte von sozialen Sicherungsleistungen ermöglicht die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sozialstaatliche Rechte müssen deswegen neu gedacht und von einem restriktiv regulierten Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht sukzessive gelöst werden.

Globale Ungleichheit: Das Einkommensgefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern hat zwar über die letzten Jahrzehnte abgenommen. Dies liegt aber vor allem am Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren wie China oder Südkorea oder von sogenannten Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Indien. Andere Länder sind im Prozess neoliberaler Globalisierung weiter zurückgefallen. Krieg und Zerstörung, Ressourcenausbeutung, unfaire Handelsabkommen, ungerechte weltwirtschaftliche Beziehungen und eine Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung in globalen Produktionsketten zerstören die Lebensperspektiven von Millionen. Die dadurch verursachte Ausbeutungsdynamik zwischen Nord und Süd wirft die Frage nach der Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen in den reichen Ländern mit besonderer Schärfe auf. Gleichzeitig hat die Schere zwischen Arm und Reich auch in den wohlhabenderen Gesellschaften ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung selbst. Die wachsende Ungleich unterminiert damit die Fundamente des sozialen Gewebes.

Klimakrise: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme klassenspezifischer Ungleichheiten und einem drastisch steigenden CO2-Ausstoß. Der Anteil, den die Reichen an den weltweiten Emissionen haben, wächst überproportional stark, während der Anteil der Ärmsten rückläufig ist. Dieses Missverhältnis gilt generell auch für die einzelnen Gesellschaften (Kleinhückelkotten u.a. 2016). Mehr Gleichheit ist also nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen notwendig.Die Folgen kapitalistischen Wachstums haben zu einer planetarischen ökologischen Krise geführt, die weitere soziale Verwerfungen sowie eine Zuspitzung der Reproduktionskrise und zunehmende Migrationsbewegungen nach sich zieht und immer mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Damit sind diese Entwicklungen zu nicht mehr hintergehbaren Herausforderungen auch für unser Verständnis von Sozialstaat geworden. Zugleich wird deutlich: „Der Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet“ (Urban). Wenn solidarische Formen der Krisenbearbeitung nicht durchgesetzt werden können und es nicht zu einer Umverteilung von Ressourcen sowie zu einer Verallgemeinerung sozialer Rechte kommt, sind eine Zunahme von Verteilungskonflikten und eine Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse absehbar.

Damit geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Sie betrifft die kommunale, nationale und transnationale Ebene. Doch um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss der Sozialstaat auch finanziert werden. Angesichts der ökologischen Krise kann dabei nicht umstandslos an die Tradition des sozialstaatlichen Kompromisses auf Basis von noch mehr Wachstum angeknüpft werden. Einerseits müssen Unternehmen und Vermögende deutlich stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Andererseits muss das Verhältnis von Steuern und Beiträgen neu austariert werden, um die Abhängigkeit einer sozialen Absicherung von der Erwerbsarbeit zu überwinden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden.

Soziale Infrastrukturen: kostenfrei und demokratisch

Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können. Das zeigt sich auch in den Diskussionen um die Zukunft sozialer Absicherung und die Perspektiven des Sozialstaats im 21. Jahrhundert. Was also wären positive Entwürfe, die die Anliegen der vielfältigen Bewegungen des Protests bündeln könnten? Von den zunehmenden Arbeitskämpfen insbesondere im Bereich Pflege und Erziehung über die Mietenproteste, die Anti-Privatisierungs-Bündnisse bis hin zu den neuen antirassistischen Protesten und der Klimabewegung: Wie könnten gemeinsame Forderungen aussehen, die die unterschiedlichen Anliegen einer pluralen Linken und verschiedenen Teilen der Subalternen aufnehmen und sinnvoll miteinander verbinden?Seit einigen Jahren dreht sich die Debatte – angestoßen von einem Diskussionszusammenhang rund um Joachim Hirsch (2003) und das Frankfurter links-netz (2012) – verstärkt um die Bedeutung sozialer Infrastrukturen als Teil einer postneoliberalen Sozialpolitik. Der Ansatz stellt die sozialen Dienstleistungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Transformation. Nach vielen Jahren neoliberaler Politiken ist hier zum einen der Mangel besonders offensichtlich, zum anderen ist dies der einzige Sektor, der in den Industrieländern ein beträchtliches (klima- und ressourcenneutrales) Beschäftigungspotenzial verspricht.

Statt also Sozialleistungen wie bisher nur über einen Mix aus Versicherungsmodellen und steuerfinanzierten Ansprüchen jeweils individuell abzusichern, besteht die Idee, „soziale Infrastrukturen“ zum Kern eines neuen Sozialstaats zu machen darin, soziale Dienstleistungen konsequent auszubauen und für alle frei – also auch entgeltfrei – zugänglich zu machen. Das betrifft die Gesundheitsversorgung genauso wie den Bereich der (Weiter-)Bildung, der Erziehung und Betreuung, das Recht auf bezahlbares Wohnen und auf Mobilität genauso wie den Zugang zu Energie, Trinkwasser oder zum Internet. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt also – anders als etwa bei einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht primär auf der monetären Absicherung des individuellen Konsums, sondern auf dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, also auf dem kollektiven Konsum.[2]

Alles entgeltfrei? Ja und nein. Vorstellbar wäre beispielsweise, auf allen genannten Feldern eine entgeltfreie Grundversorgung zu ermöglichen und für die Befriedigung darüber hinaus gehender individueller Bedürfnisse, Vorlieben oder Leidenschaften die Menschen ganz oder teilweise bezahlen zu lassen. Für den Bereich der Energieversorgung, die ein modernes menschliches Grundbedürfnis darstellt, würde das Folgendes bedeuten: Die Grundversorgung ist im Rahmen sozialer Infrastrukturen abgedeckt. Wer mehr Energie verbraucht, zahlt dafür, und Vielverbraucher zahlen deutlich mehr, der Preis steigt also progressiv an. Dieses Prinzip ist auf unterschiedliche Bereiche anwendbar (vgl. Schachtschneider/Candeias 2013): Zur Kasse gebeten wird, wer viel verbraucht. Das hieße ein entgeltfreies Pro-Kopf-Trinkwasserkontingent, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen und Luxusautos; entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, die Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle gebührenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, (dauerhaftem) sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums, Vergesellschaftung großen Immobilienbesitzes und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.

Ein solches Konzept wäre nicht nur ein Beitrag zum Abbau von sozialen Ungleichheiten, sondern auch ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise. Investitionen in soziale Dienstleistungen sind ökologisch sinnvoll, da die Arbeit mit Menschen kaum Umweltzerstörung mit sich bringt und deren Ausweitung neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet auch als Ausgleich für die Jobs, die in den rückzubauenden Bereichen klimaschädlicher Industrien verloren gehen werden. Dieser Ansatz hilft nicht nur bei der Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit, sondern auch bei der der (unbezahlten) Reproduktion. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen wird professionelle Care-Arbeit aufgewertet und erhält zusätzliche Ressourcen. Zugleich lässt der Erwerbsdruck nach, da die Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse garantiert ist. Damit steht mehr Zeit für Sorge und Selbstsorge sowie für die Arbeit am Gemeinwesen und politisches Engagement bereit. Nicht zuletzt bietet sich hier auch eine Chance, die für die emanzipative Gestaltung von Geschlechterverhältnissen genutzt werden kann: Der Blick wird stärker auf die reproduktiven Funktionen und Tätigkeiten gerichtet: Was erhält und sichert unser gemeinsames Leben? Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die stärkere Entkopplung der sozialen Teilhabe vom Erwerbsstatus und von der Lebens- oder Familienform – also individuelle Ansprüche für jede und jeden, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft.

Der Ausbau sozialer Infrastrukturen stärkt auch eine solidarische und demokratische Gesellschaft, denn Angst und Unsicherheit vor den notwendigen gesellschaftlichen Umbrüchen werden gemindert. Zugleich erscheinen die diskriminierenden Sozialstaatskonzepte der Rechten weniger attraktiv, wenn Marginalisierung, Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit bekämpft werden. Das Konzept sozialer Infrastrukturen erlaubt es also nicht nur, linke Sozialpolitik jenseits des fordistischen Wohlfahrtstaates neu zu denken. Die Forderung nach einer entgeltfreien, sozialökologischen Grundversorgung für alle, die hier leben (unabhängig von Pass, Geschlecht, Postleitzahl oder sonstigem Status), kann als verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe und eines gesellschaftlichen linken, sozialökologischen solidarischen Pols in der Gesellschaft dienen.

Soziale Infrastrukturen zielen darauf, weite Teile der Daseinsvorsorge dem Markt (wieder) zu entziehen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das bedeutet konkret, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen. Mit der Rekommunalisierung beispielsweise von privatisierten Krankenhäusern, Altenheimen, Kindertagesstätten, Wohnraum oder privaten Mobilitätsdienstleistungen ist nicht zuletzt die Frage der Eigentumsform gestellt – wie insbesondere die Kampagnen gegen überhöhte Mieten zuletzt deutlich gemacht haben. Hier können Umverteilung und soziale Gerechtigkeit mit Forderungen nach Demokratisierung und Emanzipation verbunden werden. Denn jenseits der Eigentumsfrage gilt es, neue Formen der Beteiligung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Soziale Infrastrukturen in öffentlicher Hand bedeutet auch, diese umfassend zu demokratisieren, sie in die Hände der Produzent*innen und Nutzer*innen zu legen. An vielen Stellen wird bereits über Gesundheits- oder Care-Räte diskutiert. Auch regionale Mobilitäts- und Transformationsräte stehen auf der Tagesordnung. Wir könnten so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen und erste Schritt in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus gehen (vgl. Redaktion prager frühling 2009).

Ein strategischer Vorschlag zur richtigen Zeit

Wie lässt sich so ein Umbau öffentlicher Dienstleistungen durchsetzen? Fest steht, das Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn unterschiedliche Akteure darin ihre Interessen wiederfinden. Die Idee kostenfreier, demokratischer Infrastrukturen kann unserer Ansicht nach Spielräume für linke Politik eröffnen: Soziale Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, Spaltungen zu überwinden und solidarisch zu bearbeiten, weil sie egalitäre Zugänge für unterschiedliche Teile der Subalternen bieten. In funktionierenden sozialen Infrastrukturen kommt die Idee eines anderen kollektiven Wohlstands zum Ausdruck, die imstande ist, gemeinsame Interessen an einem öffentlichen Reichtum überhaupt erst zu artikulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. Candeias 2019, 6). Außerdem bietet sich die Chance, aus fruchtlosen, von Gegensätzen geprägten linken Debatten herauszukommen, und zwar hinsichtlich mehrerer Streitfragen:

Das bedingungslose Grundeinkommen: Von diesem Grundeinkommen erhoffen sich beispielsweise Erwerbslose, Soloselbstständige und prekär Beschäftigte mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten dagegen weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Die Idee „sozialer Infrastrukturen“, verbunden mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, kann hier neue Perspektiven aufzeigen und neue Bündnisse ermöglichen.

Die Wachstumsfrage: Auch an diesem Punkt steckt die linke Debatte fest: zwischen Positionen von Degrowth-Anhänger*innen und denen keynesianisch inspirierter Vertreter*innen qualitativen Wachstums. Dabei streitet niemand ab, dass bestimmte Bereiche schrumpfen müssen, etwa die mit hohem Stoffumsatz verbundene industrielle Produktion, und andere zunächst wachsen müssen, wie die gesamte Care-Ökonomie und eben die sozialen Infrastrukturen, bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Ein solches qualitatives Wachstum ist übergangsweise notwendig, nicht zuletzt aufgrund der Lücken in vielen Bereichen der Reproduktion. Auch alternative industrielle Produktion ist notwendig – dies gilt vor allem für Länder des globalen Südens, aber auch hier für ressourcen- und klimaschonende Innovationen. Ein simpler Gegensatz von Wachstums- versus Postwachstumspositionen ist daher kontraproduktiv. Es muss um ein Einschwenken auf einen mittelfristigen Kurs einer „Reproduktionsökonomie“ (Candeias 2011) gehen, in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr stofflich wachsen. Soziale Infrastrukturen stünden im Zentrum einer solchen Reproduktionsökonomie.

Sie wären damit auch die wichtigste Säule für eine neue öffentliche Ökonomie, ohne die eine sozialökologische Transformation kaum möglich sein wird. Es gibt nur wenig Ansätze, die einer öffentlichen Produktionsweise eine eigene ökonomische Qualität zugestehen. Ausnahmen sind zum Beispiel die Ansätze eines "Public Value" (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder einer "Sozialwirtschaft" (Müller 2005 u. 2010). Dafür notwendig wäre eine andere gesellschaftliche Buchführung, die vorhandene wie benötigte Ressourcen gebrauchs- und bedarfsorientiert ins Verhältnis setzt und die die Frage ins Zentrum stellt, zu welchem Zweck und wie wir diese Ressourcen eigentlich einsetzen wollen. Eine solche gesellschaftliche Buchführung könnte eine von kapitalistischen Werttransfers unabhängige Grundlage für eine öffentliche Produktionsweise bieten. Der Sozialstaat wäre dann nicht nur kompensatorisch für den Ausgleich sozialer Verwerfungen und als Stabilisator in Zeiten von Krise zu denken, sondern wäre selbst Element einer solchen öffentlichen Ökonomie. Er wäre die Grundlage einer anderen Form des Produzierens und Reproduzierens, die mit dem Begriff grüner Infrastruktursozialismus umschrieben werden kann.

Verbindende Klassenpolitik für den grünen Infrastruktursozialismus…

Für anstehende sozialökologische Transformationskonflikte ist eine ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur ein Sicherheitsversprechen, das notwendig gewordenen Veränderungen das Bedrohliche nimmt und eine positive Zukunft denkbar werden lässt. Viele Bewegungen und die LINKE haben sich in den letzten Jahren bereits am Konzept der sozialen Infrastrukturen orientiert und es zu einem verbindenden Projekt werden lassen. Hier treffen sich Fragen der Umverteilung mit denen nach Freiheitsrechten und Demokratie, Fragen der Klassenpolitik mit Fragen der Anerkennung und Ermöglichung von Diversität und verschiedenen Lebensweisen.

Auch von anderer Seite wird der Frage sozialer Infrastrukturen (endlich) neue Bedeutung zugemessen: Eine neue "Fundamentalökonomie", wie Wolfgang Streeck es im Anschluss an eine englische Autorengruppe nennt (Foundational Economy Collective 2019), ist ein Bezugspunkt auch für sozialdemokratische Intellektuelle (vgl. u.a. SPW 2019), für Gewerkschaften wie die IG Metall, ver.di, die Eisenbahn- & Verkehrsgewerkschaft oder die GEW, aber auch für Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch für die Umweltbewegung und -verbände.

Die Bedingungen für große progressive Entwürfe sind gerade nicht gut, es stehen beinharte Auseinandersetzungen um die immensen Kosten der Krise bevor. Zugleich hat die Corona-Krise viele vermeintlich feststehende Wahrheiten infrage gestellt und aufgezeigt, dass politische Reaktionsmuster ins Wanken geraten können. Innerhalb kürzester Zeit war es nicht nur möglich, im Sinne der Pandemieprävention die Wirtschafts- und Konsumkreisläufe ganzer Gesellschaften herunterzufahren und damit – zumindest vorübergehend – das Primat der Politik vor das der Ökonomie zu setzen. Es ist im Zuge der Krisenbekämpfung auch möglich geworden, große staatliche Finanzvolumina zur Stützung von Unternehmen, Erwerbstätigen und öffentlichen Infrastrukturen sowie zur Ankurbelung der Konjunktur zu mobilisieren und dafür die "schwarze Null" von heute auf morgen über Bord zu werfen. Auf der Ebene der europäischen Regierungen wurde zudem das Verbot der gemeinsamen Verschuldung geschliffen. Das alles bedeutet für den weiteren Fortgang der Krise noch gar nichts, wie erwähnt stehen beinharte Verteilungskämpfe bevor. Es zeigt aber doch, dass das bisher scheinbar so fest verankerte marktliberale TINA-Prinzip[3] in einer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung aufgeweicht wurde. Unter der Wucht der Pandemie gewannen nicht nur eine andere Finanz- und Schuldenpolitik, sondern allgemein eine vorausschauendere, staatliche Steuerung und Intervention an Attraktivität. An solchen Tabubrüchen gilt es anzusetzen. Es sind kleine erweiterte Spielräume für eine gesellschaftliche Linke, die es zu nutzen gilt, um neue, um andere Pfade denkbar zu machen und zu erkämpfen (vgl. IfG & Friends 2020).

…und wo sie heute schon stattfindet

Um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen wird von vielen Akteuren bereits konkret gekämpft. Am sichtbarsten ist dies momentan wohl im Gesundheitswesen der Fall. In der ab September anlaufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (ÖD) wird es um eine Aufwertung der Pflege gehen. Bund und Länder haben angekündigt, dass es angesichts der Krise nichts zu verteilen gibt. Trotz des größten Rettungspakets der Geschichte soll es für die „systemrelevanten“ Berufe also bei einer symbolischen Anerkennung bleiben. Für höhere Löhne in der Pflege, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Personalquoten wird schon seit Langem gestreikt und gekämpft. Die Forderung nach einer bedarfsorientierten Finanzierung und nach mehr Personal in diesem wichtigen Bereich des Gesundheitswesens könnte zu einem Kristallisationspunkt von Kämpfen sowohl von Beschäftigten als auch von Nutzer*innen sozialer Infrastrukturen werden. Im Sinne eines Infrastruktursozialismus geht es außerdem darum, diese wichtigen Funktionen in gesellschaftliche Verantwortung zurückzuholen – also um eine Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Ähnlich steht es um Bildung und Erziehung, auch hier wird im Rahmen der Tarifrunde ÖD für eine Aufwertung und für bessere Angebote gestritten. Und auch hier hat die Pandemie schonungslos offengelegt, wie schlecht dieser elementare Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausgestattet ist – und zwar sowohl was das qualifizierte Personal angeht als auch die physische und digitale Hardware. Um in den Bereichen Bildung, Erziehung und soziale Arbeit verlässliche soziale Infrastrukturen für alle durchzusetzen, bedarf es neben einer besseren tariflichen Entlohnung des Personals des Ausbaus von Kitaplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten. Zudem wird vonseiten der Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, der Partei DIE LINKE und anderen schon seit Längerem für die bundesweite Abschaffung von Kitagebühren gestritten. Mit diesen Maßnahmen könnte die in Deutschland besonders dramatisch ausgeprägte Bildungsungleichheit verringert und mehr Teilhabe und Demokratie möglich werden.

Parallel zur Tarifrunde im ÖD werden erstmals bundesweit die Tarife im öffentlichen Nahverkehr verhandelt. Neben einer Entlastung durch mehr Personal geht es um einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Angesichts der zugespitzten Klimakrise ist das Letztere ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Fridays for Future, ver.di, die LINKE und andere wollen diese Auseinandersetzungen als gemeinsames Projekt angehen. Konkrete Schritte, um „Mobilität für alle“ als soziale Infrastruktur zu entwickeln, gibt es in einigen Städten schon: Der Einstieg in einen generellen Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist ein kostenloses Jahresabo für Schüler*innen, Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, kombiniert mit der Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle anderen. Dies soll den notwendigen Umstieg vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel erleichtern. Damit der steigende Bedarf an öffentlichen Nah- und Fernverkehrsmitteln überhaupt gedeckt werden kann, muss das Schienennetz ausgebaut und muss eine alternative Produktion von Straßenbahnen, E-Bussen, Zügen, U-Bahnwaggons etc. angeschoben werden. Zumindest Teile davon könnten in öffentlichen Unternehmen realisiert werden und wären damit ein weiterer Baustein der oben skizzierten öffentlichen Ökonomie.

Im Bereich Wohnen & Miete ist die Auseinandersetzung schon weiter. Hier geht es um die Verteidigung eines gesetzlichen Mietendeckels, wie er bisher in Berlin beschlossen wurde, und darum, ihn auf andere Bundesländer auszuweiten. Auch hier wird konkret über Vergesellschaftung diskutiert. Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co hat dies zum Ziel. Um die Menge an bezahlbarem Wohnraum zu erhöhen, wird der Bau von Sozialwohnungen in großer Zahl über eine „neue Gemeinnützigkeit“ ins Auge gefasst. Auch die Gründung einer öffentlichen Bauhütte, also eines Verbunds von Gewerken in öffentlicher Hand, wäre nützlich, um sich von der Bauindustrie unabhängig zu machen.

Auch in feministischen Debatten und Kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit spielt der Ausbau sozialer Infrastrukturen seit Jahren eine wichtige Rolle. Die internationale Bewegung für einen feministischen Streik und Debatten um eine feministische Klassenpolitik stellen die Aufwertung und Entlastung entlohnter wie unbezahlter Sorgearbeit ins Zentrum. Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit zielt auf eine Ausweitung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen, genauso wie hierzulande das queer-feministische Netzwerk Care Revolution. Dort organisieren sich unentlohnt Sorgende zusammen mit professionellen Care-Arbeiter*innen und denjenigen, die als Patient*innen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Gute Arbeitsbedingungen und Ausstattung in Kitas, Ganztagsschulen, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz reduzieren die Überlastung insbesondere von Frauen und ermöglichen eine Aufwertung wie eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit (vgl. Fried/Schurian 2016).

Kämpfe um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren in der weltweiten Bewegung für solidarische Städte gebündelt (vgl. Christoph/Kron 2019). Städte und Kommunen werden hier als Terrain gesehen, um eine demokratische Teilhabe und den Zugang zu lebenswichtigen Leistungen und Infrastrukturen für Geflüchtete und Illegalisierte lokal zu ermöglichen. New York City hat als erste Stadt eine “City Card” eingeführt, eine Art kommunales Personaldokument, das den Zugang zu städtischen Leistungen wie Gesundheit und Bildung ermöglicht sowie den Besuch von Bibliotheken und Museen, aber auch die Eröffnung eines Bankkontos und Abschluss eines Mietvertrags. Darüber hinaus bietet die "City Card" Schutz vor racial profiling, Polizeigewalt und Abschiebung – sie wird von der lokalen Polizeibehörde anerkannt und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Papiere. Auch in Europa wird an vielen Orten über eine "City Card" diskutiert. Zürich und Bern gehen hier voran,[4] aber auch in Berlin denkt die LINKE über die Einführung eines solchen Ausweisdokumentes nach (vgl. Frank 2019).

In Sachen Finanzierung braucht es Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen. Absehbar ist bereits jetzt, dass die Argumente und Konzepte der Austerität spätestens nach der nächsten Bundestagswahl mit Wucht durchschlagen werden. Spätestens dann wird genauer darüber verhandelt werden, wie und von wem die zur Pandemiebekämpfung aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden sollen. Das alles findet unter anderem vor dem Hintergrund der weiterhin ungelösten Altschuldenproblematik der Kommunen in Höhe von derzeit geschätzt rund 45 Milliarden Euro statt.Die Kommunen aber sind die Orte, an denen die Menschen ganz maßgeblich ihre Alltagserfahrungen sammeln und ihre Leben gestalten. Weitere Einschränkungen in weiten Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge werden der Entdemokratisierung, dem Frust und der Akzeptanz destruktiver Konzepte der Rechten sowie weiteren Klassenspaltungen Vorschub leisten. Umgekehrt kann der Ausbau sozialer Infrastrukturen, wie beschrieben, nicht nur Ungleichheiten bekämpfen, sondern eben auch mehr Demokratie und Teilhabe (auch vormals in der Öffentlichkeit unterrepräsentierter Gruppen) ermöglichen.

Für all das braucht es starke Initiativen von unten, die für eine solche Perspektive weitere kampagnenfähige und öffentlichkeitswirksame Kristallisationspunkte identifizieren, an denen es sich lohnt, auf verschiedenen Ebenen (kommunal, national, europäisch etc.) gleichzeitig produktive Konflikte aufzumachen und voranzutreiben. Dafür müssen auch und vor allem diejenigen gewonnen werden, die unter den derzeitigen Mängeln der sozialen Infrastrukturen am stärksten leiden.

Es wird entscheidend sein, ob es bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr gelingen wird, einen sozialökologischen Block zu formen, der Aufwertung und Ausbau sozialer Infrastrukturen zum Fluchtpunkt eines gemeinsamen Projekts macht (das auch nach der Wahl noch Bestand hat). Denn nur mit massivem gesellschaftlichen Druck und einer Bündelung von Kräften lassen sich konsequente Schritte in diese Richtung durchsetzen – Schritte in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus.

Fußnoten

[1] Die soziale Ungleichheit fällt nach neuesten Zahlen noch drastischer aus, als bislang angenommen: Demnach besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland rund 35 Prozent statt, wie bislang angenommen, 22 Prozent des Nettovermögens, die oberen zehn Prozent 67,3 statt 58,9 Prozent (Bartels u.a. 2020).

[2] Dies bedeutet nicht, die Bedeutung und Errungenschaft des klassischen Sozialversicherungsmodells zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Eine demokratischere, solidarischere Gesellschaft muss auch das Sozialversicherungswesen in den Blick nehmen, ausbauen und universalisieren, um die individuellen Risiken und Brüche im Lebenslauf besser abzusichern. Das heißt unter anderem, dass Elemente einer Mindestsicherung (etwa eine Mindestrente, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, oder eine Kindergrundsicherung etc.) gegenüber leistungsbezogenen Anwartschaften verstärkt werden und die Versicherungspflichten ausgeweitet werden müssen. Denkbar wären hier eine umfassende Erwerbstätigenversicherung (unter Einbeziehung auch von Beamt*innen, Freiberufler*innen, Selbstständigen etc.) im Rentensystem sowie eine Bürgerversicherung aller im Gesundheitswesen und eine solidarische Pflegevollversicherung.

[3] TINA: There Is No Alternative.

[4] Vgl. www.zuericitycard.ch/ und https://wirallesindbern.ch/city-card/.

Literatur

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Bartels, Charlotte/Göbler, Konstantin/Grabka, Markus/König, Johannes/Schröder, Carsten, 2020: MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, DIW-Wochenbericht 29/2020

Behr, Dieter A., 2010: Crossing Borders, in: Kulturrisse, März 2010

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

Candeias, Mario, 2004: Erziehung der Arbeitskräfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat, in: UTOPIE kreativ, Heft 165/166, 589–601

Ders., 2011: Konversion – Einstieg in eine öko-sozialistische Reproduktionsökonomie, in: ders., 2019: Was tun und wo anfangen? 11-Punkte-Plan für einen neuen Sozialismus, in: LuXemburg 3-2019, www.zeitschrift-luxemburg.de/was-tun-und-wo-anfangen

Christoph, Wenke/Kron, Stefanie (Hg.), 2019: Solidarische Städte in Europa. Urbane Politik zwischen Charity und Citizenship, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

Dowling, Emma, 2016: Soziale Wende des Kapitals?, in: LuXemburg-Online, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-wende-des-kapitals

Facundo, Alvaredo u.a. (Hg.), 2018: Die weltweite Ungleichheit. Der World Inequality Report 2018, München

Foundational Economy Collective, 2019: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M.

Frank, Marie, 2019: Eine Karte für alle Fälle. Die Berliner Linkspartei will mehr Teilhabe für Illegalisierte durch einen Ausweis, in: neues deutschland, 13.4.2019

Fried, Barbara/Hannah Schurian, 2016: Nicht im Gleichschritt, aber Hand in Hand. Verbindende Care-Politiken in Pflege und Gesundheit, in: LuXemburg 1/2016, https://www.zeitschrift-luxemburg.de/nicht-im-gleichschritt-aber-hand-in-hand-verbindende-care-politiken-in-pflege-und-gesundheit

Gehrig, Thomas, 2013: Soziale Infrastruktur statt Grundeinkommen, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-infrastruktur-statt-grundeinkommen

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Mazzucato, Mariana/ Josh Ryan-Collins, 2019: Putting value creation back into ‘public value’: From market fixing to market shaping. UCL Institute for Innovation and Public Purpose, Working Paper Series, IIPP WP 2019-05, https://www.ucl.ac.uk/bartlett/public-purpose/wp2019-05

Müller, Horst, 2005: Sozialwirtschaft als Systemalternative, in: Ders. (Hg.): Das PRAXIS-Konzept im Zentrum gesellschaftskritischer Wissenschaft, Norderstedt, 254-289

Ders., 2010: Zur wert- und reproduktionstheoretischen Grundlegung und Transformation zu einer Ökonomie des Gemeinwesens, in: Ders. (Hg.): Von der Systemkritik zur gesellschaftlichen Transformation, Norderstedt,157-228

Ötsch, Rainald/Heintze, Cornelia/Troost, Axel, 2020: Die Beschäftigungslücke in der sozialen Infrastruktur, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_2-20_Beschaeftigungsluecke.pdf

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Schachtschneider, Ulrich/Candeias, Mario, 2013: Kontrovers: Ökologisches Grundeinkommen vs. soziale Infrastruktur und kollektiver Konsum, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/kontrovers-oekologisches-grundeinkommen-2/

SPW – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 2019: Von der Kapitallogik zur gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie, Heft 235, www.spw.de/xd/public/content/index.html?sid=heftarchiv&year=2019&bookletid=176

Streeck, Wolfgang, 2019: Vorwort, in: Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M., 7–32

Wohlfahrt, Norbert, 2015: Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen – Die Ökonomisierung sozialer Dienste, in: LuXemburg 1/2015, www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-geschaeft-mit-grundbeduerfnissen/

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.

Moritz Warnke ist Referent für Soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur dieser Zeitschrift. Er ist im Landesvorstand der Berliner LINKEN und vertritt den Landesverband in der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«.

Eva Völpel arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für Wirtschaftspolitik.

Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist im Netzwerk Care Revolution aktiv und arbeitet zu Fragen von Sorgearbeit und Feminismus.

Hannah Schurian ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg. Sie ist Redakteurin dieser Zeitschrift.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/reichtum-des-oeffentlichen

#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor, so dass weitere Einschränkungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu befürchten sind. Zeit, den Sozialstaat und seine Finanzierung gründlich zu erneuern, schreiben die Autor:innen. Dabei geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Der Artikel zeigt, vor welchen Herausforderungen die sozialen Sicherungssysteme stehen, wie ein Sozialstaat aussehen kann, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist und wo schon jetzt ganz konkret um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen gekämpft wird.

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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Warum wurden Pflegestellen reduziert? Wieso bringen Geburtsstationen Minus und Hüft-OPs ein Plus? Woher kommt der wirtschaftliche Druck in den Krankenhäusern, was wären bedarfsgerechte Alternativen? Antworten gibt die Broschüre vom Bündnis «Krankenhaus statt Fabrik». Das Bündnis wendet sich gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und besonders gegen das System der Fallpauschalen (DRG) in Krankenhäusern. Es will aufklären, um eine breite öffentliche Debatte über dieses bewusst installierte marktwirtschaftliche Steuerungsinstrument führen zu können.

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Der feministische Streik betrifft bezahlte wie unbezahlte Arbeiten von Frauen und Queers und stellt zur Debatte, inwiefern sie sich gegenseitig bedingen. Im feministischen Streik kommen so zwei Bereiche zusammen, die meist nur getrennt voneinander gedacht und getrennt voneinander organisiert werden. Feministisch Streiken birgt daher ein enormes Potenzial, aber auch Spannungen.

Welche Unterschiede bestehen in den Herangehensweisen, Logiken und Kulturen von Bewegungen und Gewerkschaften? Wie kann für die Aktivist*innen erfolgreiche Bündnisarbeit aussehen?

Ein Streik am Universitätskrankenhaus Jena hat es vorgemacht, Interviews mit den beteiligten Akteur*innen zeichnen es nach.

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Personalnot im Krankenhaus

Warum gegen die jahrzehntelange Misere nur eine neue Personalbemessung hilft

März 2020 • Volker Gernhardt

Bild: Jodie Covington / Unsplash

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Krankenhaus, Pflege, Krise, Alternativen#Krankenhaus #Pflege #Krise #Alternativen

Der aktuelle extreme Mangel an Pflegekräften, die resultierenden Bettensperrungen und die immer wieder regional aufflammenden Streiks von Pflegekräften mit dem Ziel bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen, sind nichts Neues in der gesundheitspolitischen Landschaft Deutschlands. Bessere Arbeitsbedingungen sind eng verknüpft mit festen, nachvollziehbaren Stellenschlüsseln für die stationäre Pflege. Diese wurden bereits 1993 einmal erfolgreich mit Inkrafttreten der PPR (PflegePersonalRegelung) durchgesetzt, nach kurzer Zeit aus finanziellen Gründen ausgesetzt und werden heute in einer überarbeiteten, aktualisierten Fassung als PPR 2.0 angestrebt.Wie dringend erforderlich eine ordentliche, nachvollziehbare Personalbemessung im pflegerischen Bereich der stationären Gesundheitsversorgung ist, erfahren wir derzeit unter den zugespitzten Bedingungen einer sich rapide ausbreitenden Virenerkrankung mit Sars-CoV/2 (Coronavirus). Das deutsche Gesundheitswesen wird seitens der politisch Verantwortlichen als besonders gut dargestellt, auch in Bezug auf die Bewältigung einer Pandemie. Denn man sei in der Lage, auch relativ kurzfristig zusätzliche Intensivbetten aufzustellen. Aber wo soll das Personal herkommen, um diese Betten zu betreiben? Schon ohne Ankündigung zusätzlicher Intensivbetten können die vorhandenen Betten wegen des Mangels an Personal nicht zur Gänze betrieben werden. Entsprechende Meldungen kamen nahezu täglich in den letzten Monaten in der Presse. Um in der jetzigen Situation allein 50 weitere Intensivbetten zu betreiben, sind grob geschätzt mindestens 150 Krankenpflegekräfte (Vollkräfte) zusätzlich nötig, von denen mindestens ein gutes Drittel die Intensivzusatzausbildung absolviert haben sollte. Nimmt man den Gesundheitsminister Spahn beim Wort, so soll die Zahl der Intensivbetten in Deutschland verdoppelt werden. Derzeit werden rund 28.000 Intensivbetten betrieben. Eine Verdoppelung der Betten hieße auch, dass etwa das Vierfache an qualifiziertem Personal gebraucht würde, um diese Betten betreiben zu können. Wo aber sollen über 100.000 zusätzliche Krankenpflegekräfte herkommen? Hier wird deutlich, dass zusätzliche Intensivbetten im erforderlichen Ausmaß nicht zur Verfügung stehen und es zeigt im Weiteren die verfehlte Personalpolitik der vergangenen Jahre auf. Bedauerlicherweise ist diese Situation in der Bundesrepublik nichts Neues. Der Titel des SPIEGEL vom 21.11.1988 („Im Krankenhaus droht Lebensgefahr“) zeigt auf, dass wir bundesweit bereits mindestens einmal einen extremen Pflegenotstand zu beklagen hatten. Ganze Stationen konnten damals nicht mit Patient*innen belegt werden und OPs wurden geschlossen, da nicht ausreichend Pflegekräfte zur Verfügung standen. Die Proteste der Pflegekräfte wurden unüberhörbar und gipfelten in einer Protestversammlung in der Dortmunder Westfalenhalle am 28.Februar 1989, an der 20.000 Krankenpflegekräfte teilnahmen, begleitet von zahllosen regionalen Protestversammlungen im gesamten Bundesgebiet. Ursache war die Mitte der 80er Jahre verstärkt einsetzende Ökonomisierung des Gesundheitswesens durch Privatisierungen, Schließung ganzer Krankenhausstandorte, Ausgliederung von Dienstleistungen (Reinigung, Wäschereien, Essensversorgung usw.) und einem verstärkten Stellenabbau in der stationären Gesundheitsversorgung. Die damit einhergehende Arbeitsverdichtung insbesondere im Bereich der pflegerischen Versorgung führte im Zusammenspiel mit der traditionell schlechten Bezahlung von Pflegekräften zu einem extrem unattraktiven Berufsbild. Diese damals bereits absehbare Entwicklung wurde von der Politik bis zum sichtbaren Kollaps der Gesundheitsversorgung stoisch ignoriert. Erst der offensichtlich desolate Zustand in den Krankenhäusern und die heftigen Proteste von Krankenpflegekräften führte dann im Sommer 1990 zur Einsetzung einer Expert*innengruppe durch die Bundesregierung, mit dem Auftrag eine PflegePersonalVerordnung zu erarbeiten. Im Ergebnis entstand die sogenannte PPR (PflegePersonalRegelung) und wurde verbindlich am 1.1.1993 wirksam. Die Vorgaben der PPR sollten in mehreren Teilschritten bis 1996 erfüllt werden.

Mit Bedarfsmessung gegen die Personalnot? Der verlorene Kampf von unten

Inhaltlich betrachtet ist die PPR eine analytisch begründete Personalbedarfsbemessung. Der grundlegende Gedankengang war, alle pflegerischen Tätigkeiten, die erforderlich sind, um den gesundheitlichen Zustand von Patient*innen zu erhalten bzw. zu verbessern, zeitlich zu erfassen und mit empirisch ermittelten, durchschnittlichen Minutenwerten zu hinterlegen und damit den Pflegeaufwand in Minuten pro Tag festzulegen. Zählt man also die Bedarfe (in Minuten) an Pflege eines Tages von allen Patient*innen zusammen, so weiß man sehr genau, wieviel Minuten aufgewendet werden müssen, um den Pflegebedarf einer Station abzudecken. Da diese Ermittlung jeden Tag stattfinden sollte, kann man leicht den Bedarf für das gesamte zurückliegende Jahr errechnen und damit den Personalbedarf für das kommende Jahr prognostizieren. Dasselbe gilt für den Bezug auf eine Abteilung oder ein ganzes Krankenhaus. Eine Einschränkung liegt nur darin begründet, dass die PPR nur für somatische Stationen und erwachsene Patient*innen eingesetzt werden kann. Für Kinder und Neugeborene gab es eine weitere, spezielle PPR, für die psychiatrischen Abteilungen galt die PsychPV und die Intensivstationen wurden gesondert behandelt. Ab 1993 wurden dann jährlich neue Pflegestellen auf den Stationen geschaffen und besetzt. Ohne jeden Zweifel war die Einführung der PPR ein Erfolg für die Belange der Beschäftigten in der Pflege. Die Arbeitsbedingungen verbesserten sich durch einen Zuwachs an Pflegepersonal. Die öffentliche Debatte führte zu neuen Impulsen über das Berufsbild von Pflegekräften. Es wurde über ganzheitliche Pflege, Zimmerpflege und begleitende Pflege diskutiert und die sogenannte Funktionspflege wurde als überholt betrachtet. Funktionspflege ist das typische Ergebnis eines Mangels an Pflegekräften. Sie bedeutet, dass die Pflegekräfte einer Schichtbesetzung so eingeteilt werden, dass jeweils eine Pflegekraft eine bestimmte Tätigkeit z.B. das „Bettenmachen“ hintereinander bei allen Patient*innen durchführt. Eine andere Pflegekraft ist dann für eine andere pflegerische Tätigkeit, z.B. „Blutentnahme“ zuständig. Auf diese Weise geht der Kontakt, die Nähe und die Kommunikation zu den Patient*innen verloren, sie werden nicht mehr als Ganzheit erfasst, sondern eher als „Werkstück“ im Rahmen einer Fließbandtätigkeit. Diese Zergliederung pflegerischer Tätigkeiten konnte durch die Vermehrung der Pflegekräfte bei gleichzeitiger Diskussion über die Pflegeinhalte aufgehoben werden. Das Berufsbild Pflege gewann also deutlich an Attraktivität. Allerdings hielt dies nicht lange an. Denn schnell stellte sich heraus, dass die vollständige Erfüllung der Vorgaben durch die PPR erhebliche finanzielle Auswirkungen haben würde. Auf Drängen der Krankenkassen wurde die PPR bereits zum 1.1.1995 ausgesetzt. Damit hatten sich die Krankenkassen durchgesetzt. Hintergrund war eine gesellschaftliche Debatte über die Beitragssatzstabilität. Hier konnte sich die Arbeitgeber*innenseite gegenüber den von unten erkämpften Forderungen nach dauerhaften, nachvollziehbaren Personalzuordnungen durch die PPR durchsetzen. Den finanziellen Mehraufwand wollten weder die Kassen noch die Arbeitgeber*innen tragen. Die von den pflegerischen Basisaktiven mit zahlreichen Protesten und vielen Streiks erkämpften Fortschritte in den Arbeitsbedingungen auf den Stationen wurden nicht einfach nur eingeschränkt. Im Gegenteil, kaum waren die schlimmsten Auswirkungen des zurückliegenden Pflegenotstandes durch Einführung der PPR beseitigt und die Verhältnisse auf den Stationen „normalisiert“, leiteten Krankenkassen und Arbeitgeber*innen eine erneute Sparwelle im deutschen Gesundheitswesen ein. Bis 2008 wurden 50.000 Vollzeitstellen in der Pflege gestrichen. Weitere Privatisierungen und Ausgliederungen wurden von einem erheblichen Bettenabbau begleitet. Da die Zahl der Fälle sich nicht an dem Abbau der Betten orientierte, wurden die Verweildauern der Patient*innen erheblich reduziert. Die Arbeitsverdichtung auf den Stationen erreichte den Stand vor Einführung der PPR und dieses Mal kannten die Krankenhausträger ganz genau das Ausmaß des pflegerischen Notstandes und kalkulierten sogar damit. Da sich die PPR als ein Instrument erwiesen hatte, um den Personalbedarf messbar zu machen, wurde sie intern von nahezu allen Krankenhäusern als Instrument der Personaleinsatzplanung weiter genutzt und dies von vielen Krankenhäusern bis in die Gegenwart. Weil jedoch eine gesetzliche Verpflichtung weggefallen war, ist nie der tatsächlich ermittelte Bedarf an Personal, sondern ein deutlich geringerer eingesetzt worden. Der Personalmangel ist also schon seit den 90er Jahren ein kalkuliertes Vorgehen in den Klinken. Da die Bedarfsplanung intern weiter genutzt, aber nicht vollständig umgesetzt wird, ist den Klinikleitungen durchaus bewusst, dass sie massive Arbeitsverdichtungen in der Pflege vorantreiben. Die PPR macht mess- und sichtbar, wie viel Arbeit anfällt – und mit viel weniger Pflegekräften sie scheinbar umgesetzt wird.

Kostendruck und Investitionsstaus – die Verantwortung von Bund und Ländern

Der durch die Einführung der PPR entstandene finanzielle Mehraufwand war jedoch nicht der entscheidende Grund für die radikalen Sparmaßnahmen. Die gesetzlichen Krankenversicherungen hatten kein Ausgabenproblem, sondern ein Einnahmeproblem. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt waren die Ausgaben sehr stabil, während die beitragspflichtigen Einnahmen gegen Mitte der 90er Jahre zurückgingen. Um dies zu kompensieren, wurde nicht etwa die Einnahmesituation durch geeignete Maßnahmen entsprechend geändert, sondern die Ausgabenseite verantwortlich gemacht. Als ein Instrument, um die Ausgaben im Gesundheitswesen weiter zu reduzieren, wurde die Finanzierung der Krankenhäuser umgestellt. Galt bislang das Selbstkostendeckungsprinzip wurde ab 2004 eine an Fallpauschalen orientierte Finanzierung eingeführt. Nicht die notwendigen, bereits erfolgten Ausgaben wurden den Krankenhäusern von den Kassen rückerstattet, sondern es wurden pauschale Entgelte für bestimmte Fallarten, die sich an vorher festgelegten Durchschnittswerten orientierten, gezahlt. Damit wurde ein Teufelskreis eingeleitet. Gibt man für einen bestimmten Fall mehr Geld aus, als die Fallpauschale zulässt, so muss das Krankenhaus hier einsparen, um nicht unwirtschaftlich zu werden. Damit sinkt festgelegte Durchschnittswert dieser Fallpauschale weiter ab und weitere Einsparungen werden erforderlich. Wegen des hohen Personalkostenanteils in den Kliniken wurde natürlich gerade hier eingespart. Zudem wurde ein radikaler Abbau von Krankenhausbetten betrieben, der bis heute ungebrochen anhält und von einer erheblichen Arbeitsverdichtung in allen Bereichen des Krankenhauses begleitet wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt, welcher die Sparmaßnahmen im pflegerischen Bereich anheizte, war der erhebliche Mangel an Investitionsmittel für die Krankenhäuser. Die duale Finanzierung der stationären Gesundheitsversorgung beinhaltet die gesetzlich vorgeschriebene Finanzierung aller notwendigen investiven Kosten durch die Länder. Die Länder sind ihren Verpflichtungen sehr unterschiedlich und im Durchschnitt nur sehr eingeschränkt nachgekommen. Dies hat zu einem erheblichen Investitionsstau in den Krankenhäusern geführt – Expert*innen beziffern ein Volumen in Milliardenhöhe. Den meisten Krankenhäusern blieb daher nichts anderes übrig, als dringend anstehende Investitionen aus anderen Quellen zu finanzieren. Im Regelfall wurden die Finanzen aus dem Pflegesatzbudget herausgezogen. Damit wurden insbesondere die Personalkosten immer weiter reduziert, da diese den größten Anteil der verhandelten Budgets ausmachen. Auch die wegen mangelnder Investitionen gestiegenen Instandhaltungskosten mussten durch Reduzierung der Personalkosten kompensiert werden.

Neuer Protest in der Pflege – und ein neuer Anlauf der Bedarfsmessung?

Seit dem Jahr 2010 kommt es nun wieder bundesweit zu Protesten der Krankenpflegekräfte – und ein Ende ist bisher nicht in Sicht. Aus dem gewerkschaftlich initiierten Kampf um bessere Entlohnung entwickelte sich jedoch in der Zwischenzeit eine Auseinandersetzung um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal. Diese Forderung nach mehr Personal in den Krankenhäusern wurde von der Gewerkschaft Ver.di aufgegriffen und führte zu erbitterten Arbeitskämpfen, bis hin zum Erzwingungsstreik in großen Kliniken. Der erste große Erfolg wurde von den Kolleg*innen der Charité Anfang 2016 erzielt. Es wurde ein Tarifabschluss zwischen Verdi und der Charité Berlin erkämpft, welcher die einzusetzende Personalmenge (Krankenpflegekräfte) auf den Stationen regeln sollte. Galt bislang, dass die für eine bestimmte Arbeit eingesetzte Menge an Personal allein Angelegenheit der Arbeitgeber*innen ist, so gelang es hier erstmals, Stellenschlüssel tariflich festzuschreiben. Der erfolgreiche Arbeitskampf an der Charité stieß bundesweit weitere Auseinandersetzungen an diversen Kliniken an. Das Ziel war, bessere Arbeitsbedingungen durch Festlegung besserer Personalschlüssel auf den Stationen zu erkämpfen. Auch hier wurde eine Reihe von Erfolgen erstritten: Nach und nach konnten bundesweit an vielen Orten tarifliche Regelungen erkämpft werden. Sie erhalten jedoch sehr unterschiedliche Festlegungen zu Personalschlüsseln und zu den Sanktionen, die die Arbeitgeber bei Nichteinhaltung fürchten müssen.

Personalschlüssel tariflich oder gesetzlich regeln?

Der Mangel dieser und faktisch aller tariflicher Regelungen in Bezug auf Personalschlüssel, die in letzter Zeit erkämpft wurden, liegt in der Weigerung der Krankenkassen, solche Regelungen in den fallbezogenen Budgets zu berücksichtigen. Darum wird bereits länger darüber nachgedacht, eine gesetzliche Regelung zum Personalschlüssel im Pflegebereich durchzusetzen. Da eine gesetzliche Regelung gegen Personalnotstand in der Krankenpflege schon zu Beginn der 90er Jahre einmal erfolgreich durchgesetzt worden war, ist es nur folgerichtig diesen Ansatz aufzunehmen, zu aktualisieren und gesetzlich zu verankern. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Pflegerat und die Gewerkschaft Ver.di haben daher einen erneuten Anlauf genommen und eine aktualisierte Fassung der PPR unter dem Namen PPR 2.0 entwickelt. Diese liegt dem Bundesministerium für Gesundheit nun vor und dieses ist aufgefordert, dieses Personalbemessungsinstrument einzuführen.

Was regelt die neue Bedarfsermittlung in der Pflege?

Da in vielen Krankenhäusern die Daten zur Personalbemessung bis heute täglich erfasst werden, ist die Einführung der PPR 2.0 die wahrscheinlich einfachste Methode, Personalbemessung transparent und nachvollziehbar durchzuführen. Gerade wegen der täglichen Erfassung lässt sich auch unkompliziert die tägliche Menge an Pflegebedarf in Minuten ermitteln. Es ist dann nur ein kleiner Schritt dahin, die Gesamtanzahl des Pflegebedarfs in Minuten durch die Zahl der möglichen Arbeitsminuten pro Schicht zu dividieren. Im Ergebnis erhält man die Anzahl der notwendigen Köpfe des Pflegepersonals für diesen Tag. Dies ist eine sehr gute Grundlage, um die notwendige Schichtbesetzung des Folgetages zu prognostizieren. Hier muss angefügt werden, dass es insbesondere darauf ankommt, die Tagesbesetzung festzulegen. Ob die Früh- oder die Spätschicht gleich oder unterschiedlich zu besetzen sind, kann am besten an Hand der je unterschiedlichen Bedingungen vor Ort entschieden werden. Aus meiner Sicht und Erfahrung kann bereits nach drei Monaten einer derartigen Erhebung eine sehr genaue Prognose für den Bedarf an Vollkräften einer bestimmten Station für das Folgejahr erstellt und bei Pflegesatzverhandlungen vorgelegt werden. Ein weiterer, wichtiger Vorteil ist die Transparenz der Personalzuordnung auf den Stationen. Die Pflegekräfte kennen damit ganz genau die zu leistende Menge an Pflege und das Verhältnis der dazu eingesetzten Pflegekräfte. Damit werden ihre Forderungen nach mehr Personal auf eine nachvollziehbare, nicht widerlegbare Grundlage gestellt und können nicht mehr von den Pflegedienstleitungen in Frage gestellt werden und auf die Überforderung der einzelnen Mitarbeiter*innen geschoben werden. Die Einführung der PPR 2.0 wäre aus meiner Sicht ein großartiger Fortschritt, der tatsächlich den allgegenwärtigen Pflegenotstand nach und nach auflösen und den Beruf der Pflege wieder attraktiv machen könnte: für junge Menschen, die vor der Berufswahl stehen, aber auch für gestandene Pflegekräfte, die nach jahrelanger Überlastung ihre Arbeitszeit reduziert hatten. Denn sie würde den Status Quo deutlich verbessern: In einem von mir selbst ermittelten Beispiel einer unfallchirurgischen Station in einem Berliner Krankenhaus wurde deutlich, dass über ein halbes Jahr im Durchschnitt nur ca. 38% des laut PPR erforderlichen Personals vorhanden war. Dies ist kein Einzelfall, da vier stichprobenartig untersuchte weitere Krankenhäuser ähnliche Werte aufweisen. Auch bundesweit müssen ähnliche Größenordnungen unterstellt werden. Aus meiner Sicht wäre daher bereits eine Aufstockung des Pflegepersonals auf 70 % der PPR 2.0 ein großer Erfolg. Als ersten Teilschritt kann diese Marke durchaus dienen – wenn im Folgejahr auf 80% erhöht wird und dann jährlich steigend bis auf die volle Erfüllung der PPR 2.0. Es ist diese verlässliche, gesetzlich festgelegte Perspektive, die junge Menschen wieder motivieren könnte, einen Beruf im pflegerischen Bereich zu erlernen. Um dem Rechnung zu tragen, müssten auch die Ausbildungskapazitäten bundesweit drastisch erhöht werden. Die Betreuung der Auszubildenden auf den Stationen durch qualifizierte Praxisanleiter*innen mit entsprechender Freistellung ist ein weiterer wichtiger Baustein, um die stationäre Pflege als soziale und humane Aufgabe und damit als attraktiven Beruf wieder zu beleben. Es muss die Aufgabe der Politik, aber es wird auch die Aufgabe der kommenden Auseinandersetzungen sein, diesen Prozess zu begleiten und zum Erfolg zu führen.

Volker Gernhardt war viele Jahre Betriebsrat beim Klinikkonzern Vivantes und ist mittlerweile pensioniert.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/personalmangel-im-krankenhaus

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Der aktuelle extreme Mangel an Pflegekräften, die resultierenden Bettensperrungen und die immer wieder regional aufflammenden Streiks von Pflegekräften mit dem Ziel bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen, sind nichts Neues in der gesundheitspolitischen Landschaft Deutschlands. Bessere Arbeitsbedingungen sind eng verknüpft mit festen, nachvollziehbaren Stellenschlüsseln für die stationäre Pflege. Diese wurden bereits 1993 einmal erfolgreich mit Inkrafttreten der PPR (PflegePersonalRegelung) durchgesetzt, aber nach kurzer Zeit aus finanziellen Gründen ausgesetzt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Pflegerat und die Gewerkschaft Ver.di haben einen erneuten Versuch unternommen und für eine neue Personalbemessung eine aktualisierte Fassung der PPR unter dem Namen PPR 2.0 entwickelt.

Bild: Jodie Covington / Unsplash

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Gemeinsam Druck machen

Wie werden Krankenhauskämpfe zur gesellschaftlichen Bewegung?

April 2021 • Interview mit Jeannine Sturm und Daniel Schur

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

Krankenhaus, Gewerkschaft, Organisierung, Berlin, Pflege#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Berlin #Pflege

Vivantes und Charité, die beiden größten öffentlichen Krankenhäuser in Berlin, starten 2021 eine neue Tarifbewegung. Warum?

Jeannine: Weil die alten Probleme nicht gelöst sind und in der Krise noch viel deutlicher werden. Wir stecken seit Jahrzehnten in einem Teufelskreis. Wegen des verfehlten Finanzierungssystems im Krankenhaus, den sogenannten DRGs, wird am Personal gespart, wodurch die Arbeitsbedingungen schlechter werden und wir noch weniger Personal finden. Um den Beruf wieder attraktiv zu machen, brauchen wir faire Entlohnung, eine Ausbildungsoffensive – und vor allem gute Arbeitsbedingungen, damit die Leute auch bleiben. Nur mit ausreichend Personal können wir die Patient*innen sicher versorgen. Eine gute Personalbemessung ist der Hebel, um aus der Misere rauszukommen. Aber das erreichen wir nur durch eine große Krankenhausbewegung.

Wie wollt ihr Druck aufbauen?

Jeannine: Wir werden eine klare Sprache sprechen: Ihr als politisch Verantwortliche habt die einmalige Chance, im Superwahljahr, in der Pandemie, auf unsere Forderungen einzugehen. Wenn ihr sie nicht nutzt, werdet ihr nicht nur politisch abgestraft, wir haben theoretisch auch die Möglichkeit, 50 Prozent der Krankenhausbetten in Berlin zu bestreiken. Das ist unsere Machtressource, und wir sind bereit, sie zu nutzen.

Braucht ihr dafür Unterstützung?

Jeannine: Um unser Anliegen der Öffentlichkeit zu vermitteln, definitiv. Allein unser Streikrecht zu verteidigen, ist ein heikles Thema. Wir müssen kommunizieren, dass wir die Patient*innen nicht gefährden, sondern auch in ihrem Interesse streiken. In der letzten Tarifbewegung hat uns das Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus etwa durch Infoveranstaltungen extrem gut unterstützt. Zu Beginn des Streiks hieß es in den Medien noch, wir würden die Patient*innen in Geiselhaft nehmen. Am Ende haben wir viel Zuspruch und öffentliche Solidarität erfahren.

Daniel, warum bringt sich die LINKE in eine Tarifauseinandersetzung ein?

Daniel: Weil es eben nicht nur um einen betrieblichen Konflikt geht, sondern um einen gesellschaftlichen. In den Krankenhäusern zeigt sich, was passiert, wenn man die öffentliche Daseinsvorsorge nach dem Profitprinzip organisiert. Um das zu ändern, braucht es politischen Druck jenseits des Betriebs. Hier könnte die LINKE ein Scharnier bilden zwischen den Beschäftigten, der Gesellschaft und der Bewegung. In Berlin und anderen Bundesländern gab es bereits Volksbegehren für mehr Pflegepersonal. Und mit ihrer Pflegekampagne hat die LINKE in den letzten Jahren schon viel getan. In diesem Konflikt gibt es eine unheimliche Politisierung und die Aussicht, wirklich etwas zu gewinnen, das auf andere Bereiche ausstrahlen könnte. Darum sollten wir als Partei dieses Jahr unsere Kräfte hier bündeln.

An der Charité wurden bereits Personalvorgaben erkämpft, die Politik hat gesetzliche Pflegeuntergrenzen eingeführt. Warum reicht das nicht?

Jeannine: An der Charité wurden 2015 zum ersten Mal Personalvorgaben per Tarifvertrag beschlossen. Da steckten viele gute Ansätze drin, zum Beispiel Personalbemessungssysteme, die sich am Betreuungsaufwand ausrichten. Sie blieben aber auf den guten Willen des Arbeitgebers angewiesen, es fehlten Sanktionsmechanismen. Darum wurden die Vorgaben einfach nicht umgesetzt. Die gesetzlichen Pflegeuntergrenzen helfen da auch nicht weiter, denn die versuchen nicht mal, den wirklichen Bedarf zu ermitteln, sondern schreiben nur für wenige Bereiche den schlechten Istzustand fest. Es wurde also eher an Symptomen herumgedoktert.

Daniel: Die Probleme werden immer auf die nächste Ebene geschoben: Das Krankenhausmanagement sagt, uns sind die Hände gebunden, und verweist auf die Landesebene; die Landesregierungen sagen, der Bund ist zuständig, und der Bund sieht die Länder in der Verantwortung. Deshalb ist so wenig passiert, obwohl es in der Bevölkerung eine breite Zustimmung für die Personalbemessung gibt. Darum müssen wir die Kämpfe auf allen diesen Ebenen führen und verbinden.

Wenn die letzten Tarifbewegungen das Problem nicht lösen konnten – was ist diesmal anders?

Jeannine: Wir wollen diesmal für alle Krankenhausbereiche und alle beteiligten Berufsgruppen konkrete Vorgaben, wie viel Personal in jeder Schicht gebraucht wird. Und wir wollen verbindliche Konsequenzen, wenn dieses Soll unterschritten wird, etwa die Einführung von Entlastungstagen. Außerdem sind wir diesmal nicht allein, sondern wir kämpfen mit Vivantes zusammen. Und noch etwas ist neu: Es sind alle Berufsgruppen mit einbezogen, denn wir müssen auch die Situation der Therapeut*innen, Reinigungs- und Laborkräfte verändern. Wir arbeiten im Krankenhaus eng verzahnt und leiden alle unter der Arbeitsverdichtung. Es geht also nicht nur um einen Tarifvertrag für uns.

Wie viel Unterstützung habt ihr in der Belegschaft?

Jeannine: Sehr viel. Das Thema ist in aller Munde und es gibt in der Krise ohnehin einen besonderen Zusammenhalt. Wir sind im ständigen Austausch mit den einzelnen Teams und bauen eine breite Aktivenstruktur auf, unterstützt von professionellen Organizer*innen, die uns ver.di zur Verfügung stellt. Wir wollen in jedem einzelnen Bereich einen Prozess in Gang bringen, damit wir den Konflikt bis zum Ende durchstehen können und sich alle mit dem Ergebnis identifizieren. Deshalb stellen die Teams eigene Forderungen auf und wählen eigene »Teamdelegierte«. Die Delegierten treffen sich regelmäßig mit der ver.di-Tarifkommission und entscheiden über den Verlauf der Verhandlung mit.

Daniel, wie kann eure Unterstützung der Streiks hier vor Ort konkret aussehen?

Daniel: In Berlin vernetzen wir uns gerade als LINKE-Basisgruppen und mobilisieren unsere Mitglieder für eine große Unterstützer*innenversammlung. Ein wichtiger Ansatz sind Patenschaften von lokalen Gruppen mit Beschäftigten vor Ort. Sie würden uns über ihren Kampf berichten und wir würden sie unterstützen, indem wir an ihren Kundgebungen teilnehmen, in unseren Kiezen plakatieren oder den Konflikt beim Haustürwahlkampf thematisieren. Wir wollen dazu beitragen, ihre Anliegen in die breitere Öffentlichkeit und die Partei zu tragen. Langfristig wollen wir natürlich, dass die LINKE noch stärker zu einer Organisation von betrieblich Aktiven wird. Wenn Beschäftigte sagen, ich bin nicht nur bei ver.di, ich werde auch Mitglied der LINKEN, haben wir einiges erreicht.

Was erwartet ihr denn als Beschäftigte?

Jeannine: Uns ist wichtig, dass Verbündete nicht nur einmalig ihre Solidarität erklären, sondern nachhaltig und aktiv an unserer Seite sind. Das ist besonders wichtig, wenn die Verhandlungen steckenbleiben. Wenn die Zusammenarbeit auf Augenhöhe läuft und unsere Expertise anerkannt wird, ist das wunderbar und hilft uns sehr. Mit der LINKEN haben wir schon beim Stimmensammeln für das Volksbegehren zusammengearbeitet und es hat sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt.

Daniel: Auch für uns ist der Austausch enorm wichtig. Wir bekommen einen direkten Draht zu den betrieblichen Kämpfen. Und unsere Mitglieder können sich auch abseits von Wahlkämpfen politisch betätigen, wie sie es ja auch jetzt schon oft tun. Ich sehe die Krankenhausbewegung als große Chance, ein solches Parteiverständnis nachhaltig zu etablieren. Die LINKE braucht eine starke Verankerung in den Bewegungen, ein Umfeld, das uns antreibt und uns hilft, unser Profil zu schärfen.

Es bleibt der Spagat, in Berlin Teil der Bewegung und zugleich der Regierung zu sein.

Daniel: Wir wissen aus Erfahrung, dass es nicht ausreicht, ein Thema nur im Wahlkampf aufzugreifen und dann in Parlament oder Regierung zu repräsentieren. Ein gutes Programm muss auch umgesetzt werden und dafür braucht es viel Druck. Den erzeugen wir nicht, wenn wir die Auseinandersetzung als Koalitionsangelegenheit hinter verschlossenen Türen verhandeln. Wir müssen sie als Brennpunkt eines gesellschaftlichen Konflikts verstehen. Dann könnten wir viel stärker auftreten, weil wir nicht nur für uns, sondern für viele organisierte Beschäftigte in unserem Rücken sprechen.

Klingt gut, aber wie gelingt das?

Daniel: Die Mietenpolitik hat gezeigt, dass es gehen kann. Hier ist inzwischen allen klar, dass das Wechselspiel zwischen Partei und Bewegung unabdingbar ist. Dass der Mietendeckel in Berlin zeitweise durchgesetzt werden konnte, hatten wir nicht allein der Entschlossenheit einzelner Amtsträger*innen, sondern dem permanenten Protest der Bewegungen zu verdanken. Heute denkt niemand mehr, der Mietenwahnsinn wäre das Problem einzelner Hausgemeinschaften. Es gibt eine breite gesellschaftliche Politisierung – die wünsche ich mir auch im Gesundheitsbereich.

Wagen wir ein Gedankenexperiment: Ihr schaut im Herbst 2021 auf den Kampagnensommer zurück – was habt ihr erreicht?

Jeannine: Wir haben einen extrem starken Tarifvertrag abgeschlossen mit hammermäßigen Personalvorgaben für jeden Bereich. Wir haben es zum ersten Mal geschafft, dass auch alle anderen Berufsgruppen im Krankenhaus mehr Aufmerksamkeit erhalten. Als große Gruppe der Gesundheitsberufe haben wir ein neues Selbstbewusstsein gewonnen und spüren das auch in der Zusammenarbeit im Alltag. Und außerdem steht endlich die Abschaffung der Fallpauschalen auf der politischen Agenda.

Daniel: Genau, mit der Abschaffung der Fallpauschalen hätten wir die Profitorientierung im Gesundheitswesen endlich ein Stück zurückgedrängt. Die Rekommunalisierung aller Krankenhäuser wäre dann der nächste Schritt und würde in jeder Talkshow rauf- und runterdiskutiert. Die LINKE würde es schaffen, die weit verbreitete Kritik am profitorientierten Gesundheitswesen aufzugreifen und zuzuspitzen. Damit würden wir gesellschaftlich endlich in die Offensive kommen.

Das Gespräch führten Fanni Stolz und Hannah Schurian.

Jeannine Sturm ist Pflegekraft am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin-Wedding und aktiv in der ver.di-Betriebsgruppe sowie Mitglied der ver.di-Tarifkommission und des Bündnisses »Gesundheit statt Profite«.

Daniel Schur ist unter anderem in der LINKEN-Basisorganisation LEO in Berlin-Wedding und in der Bündnisarbeit für die Krankenhausbewegung aktiv.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gemeinsam-druck-machen

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In den Krankenhäusern zeigt sich, was passiert, wenn man die öffentliche Daseinsvorsorge nach dem Profitprinzip organisiert. Wegen des verfehlten Finanzierungssystems im Krankenhaus wird am Personal gespart, wodurch die Arbeitsbedingungen schlechter und die Personalnot größer werden. Dies gefährdet wiederum die sichere Versorgung von Patient*innen. Vivantes und Charité, die beiden größten öffentlichen Krankenhäuser in Berlin, starteten deshalb 2021 eine neue Tarifbewegung.

Um das System zu verändern, braucht es aber auch jenseits des Betriebs politischen Druck und eine breite gesellschaftliche Politisierung im Gesundheitsbereich. Dies erklären Jeannine Sturm, Pflegekraft am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin-Wedding, und Daniel Schur, aktiv in der LINKEN-Basisorganisation LEO in Berlin-Wedding, im Interview. Sie zeigen auf, wie solidarische Unterstützung und erfolgreiche Bündnisarbeit zwischen Beschäftigten, Partei und Bewegung aussehen kann.

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

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Arbeiten an der Belastungsgrenze und wirtschaftliche Zwänge, die im Widerspruch zum medizinischen und gesellschaftlichen Bedarf stehen – das war vielen Beschäftigten im Krankenhaus auch vor Corona nicht fremd. Die grundsätzliche Tendenz, das Gesundheitswesen vorrangig als ein Marktsegment zu betrachten, das sich über Wettbewerb steuern ließe, ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Gleiches gilt für den Widerstand von Beschäftigten und ihren Verbündeten. Die Broschüre gibt Einblicke in Kämpfe um Gesundheit in anderen Ländern und zeigt dabei nicht nur Gemeinsamkeiten und Besonderheiten auf, sondern beleuchtet zugleich verschiedene Problemstellungen und Konfliktgegenstände, die sich oft in verblüffender Ähnlichkeit auch hierzulande wiederfinden. So sollen die Beiträge nicht zuletzt auch die Diskussion um Herangehensweisen und Strategien der Krankenhausbewegung in Deutschland bereichern.

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Warum auch im Krankenhaus gestreikt werden darf

Die Berliner Krankenhausbewegung fordert Entlastung und den TVöD für alle in den landeseigenen Kliniken Vivantes und Charité. Dafür hat sie ein 100 Tage Ultimatum gestellt, um die Forderungen zu erfüllen. Kurz vor Auslaufen des Ultimatums wollen wir in einem Fachgespräch zusammen mit gesundheitspolitischen Expert*innen über die Forderungen diskutieren. Wir gehen dafür auf Fragen der Finanzierbarkeit, des Mangels an Pflegepersonal sowie der Notdienstvereinbarung als Mittel im Streik ein.

Daniel Weidmann (Fachanwalt für Arbeitsrecht, dka Rechtsanwälte) gibt in seinem Vortrag eine juristische Einschätzung zur Auseinandersetzung um die Notdienstvereinbarung.

Der Vortrag fand am 17. August 2021 im Rahmen des Fachgesprächs der Berliner Krankenhausbewegung «Gute Gesundheitsversorgung in Berlin» in Kooperation mit der Rosa Luxemburg Stiftung statt.

https://berliner-krankenhausbewegung.de/

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020 in Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

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Wenn der Gürtel nicht mehr enger geht

Austeritätspolitik in Europa und ihr Einfluss auf das Leben von Frauen

Juni 2018

Feminismus, Krise, Krankenhaus, Pflege#Feminismus #Krise #Krankenhaus #Pflege

«Ohne uns steht die Welt still.» Das war der Slogan, unter dem mehrere Millionen Frauen am 8. März 2018 in Spanien in den Generalstreik traten. Der Streik gab Ihnen die Möglichkeit, verschiedene Themen zu diskutieren und sich zu organisieren: Arbeit, Pflege, Konsum.

Keine andere soziale Bewegung von links hat in den letzten Jahren weltweit so erfolgreich protestiert und sich gegen patriarchale Strukturen gestemmt wie die feministische Bewegung.

Die Gründe sind vielfältig und von Land zu Land verschieden. Dennoch gibt es eine europäische Gemeinsamkeit: Mit Beginn der Finanzkrise im Jahr 2007, die sich später zur Eurokrise ausweitete, verschrieben sich viele Länder einer absoluten Austeritätspolitik.

In Südeuropa und Irland waren es hauptsächlich die Europäische Union und der internationale Währungsfonds, die das Sparen diktierten. In Osteuropa war es der Erfolgsdruck der neuen Mitgliedsländer gegenüber der EU und eine gewünschte schnelle Integration in den europäischen Wirtschaftsmarkt, die die Regierungen Sparhaushalte aushandeln ließ.

EU-Beitrittskandidaten wie Serbien und EU-Nachbarländer wie die Ukraine unterwarfen sich in vorauseilendem Gehorsam der EU und ihren Forderungen, um den Beitrittsfortschritt und die Annäherung nicht zu gefährden.

Wie auch immer — das Mantra des Sparens zu Gunsten eines ausgeglichenen Haushaltes, besserer Wettbewerbsfähigkeit und der Schuldenvermeidung hat verheerende Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen sowie auch generell auf die Geschlechterbeziehungen.

In den von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gegebenen Länderstudien zu den Auswirkungen der Austeritätspolitik auf Frauen wird genau dies auch untersucht.

Unter dem Titel «Austerity, Gender Inequality and Feminism after the Crisis» haben die Autorinnen nicht nur Daten zur Beschäftigung und zum Einkommen von Frauen  ausgewertet, sondern auch insbesondere Sparmaßnahmen, die direkt die Gleichstellung betrafen, unter die Lupe genommen, sowie Gesetzesänderungen und Neuregelungen  dahingehend untersucht.  

Wie wirkt sich Sparpolitik auf Geschlechterrollen in der Familie aus? Wer übernimmt Erziehung und Pflege von jung und alt, wenn der Staat keine Unterstützung mehr bietet? Was heißt es, wenn Gleichstellungsbeauftragte gleichzeitig mit dazugehörigen  Förderprogrammen weggespart werden? Wo bleiben Frauen, wenn es keine Zufluchtsstätten für Opfer häuslicher Gewalt gibt? Wer bringt die ungewollten Kinder durchs Leben, wenn Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr erlaubt sind?

Die Studien zeigen eine Topografie dessen, welche Auswirkungen das Spardiktat in Europa auf Geschlechterverhältnisse hat und formulieren Forderungen einer linken feministischen Politik, die auf sozialer Gerechtigkeit und einer Gleichstellung der Geschlechter basiert. 

Lesen Sie dazu den Hintergrundartikel von Elsa Koester in «der Freitag», Ausgabe 26/2018: «Küche, Kinder, Krise»

In der selben Ausgabe findet sich ein Interview mit der Autorin der Studie zu Deutschland, Alex Wischnewski: «Die Sehnsucht nach dem Kümmern»

Neben einer deutschen Studie liegen weitere Studien in englischer Sprache aus Griechenland, Spanien, Irland, der Ukraine vor. Studien zu Kroatien, Russland, Polen und Litauen folgen in Kürze.

  • Griechenland: The gendered aspects of the austerity regime in Greece: 2010 – 2017 Aliki Kosyfologou
  • Spanien: Economic Boom, Recession and Recovery in Spain: The Permanent Care Crisis and its Effects on Gender Equality. The Search for Feminist Alternatives. Inés Campillo Poza
  • Ukraine: Crisis, War and Austerity: Devaluation of Female Labor and Retreating of the State. Oksana Dutchak
  • Deutschland: Wer ist hier «Krisengewinner»? Auswirkungen von neoliberalem Staatsumbau und politischem Rechtsruck auf das Leben von Frauen in Deutschland. Alex Wischnewski
  • Irland: Irish Feminist Approaches against Austerity Regimes Mary P. Murphy and Pauline Cullen
  • Russland: «Should women have more rights?» Traditional Values and Austerity in Russia Marianna Muravyeva
  • Kroatien: «Death by a Thousand Cuts» - Impact of Austerity Measures on Women in Croatia Marija Ćaćić and Dora Levačić
  • Litauen: Austerity Policies in Lithuania - Austerity, Gender Inequality and Feminism after the Crisis in Lithuania Severija Bielskytė and Jolanta Bielskienė
  • Polen: Unsatisfactory Success and Hidden Austerity Policies. Feminist Approaches to the Austerity Paradigm. Agata Czarnacka

#Feminismus #Krise #Krankenhaus #Pflege

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Wie wirkt sich Sparpolitik auf Geschlechterrollen in der Familie aus? Wer übernimmt Erziehung und Pflege von jung und alt, wenn der Staat keine Unterstützung mehr bietet? Was heißt es, wenn Gleichstellungsbeauftragte gleichzeitig mit dazugehörigen Förderprogrammen weggespart werden? Wo bleiben Frauen, wenn es keine Zufluchtsstätten für Opfer häuslicher Gewalt gibt? Wer bringt die ungewollten Kinder durchs Leben, wenn Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr erlaubt sind?

Eine Reihe an Studien zeigen eine Topografie dessen, welche Auswirkungen das Spardiktat in Europa auf Geschlechterverhältnisse hat und formulieren Forderungen einer linken feministischen Politik, die auf sozialer Gerechtigkeit und einer Gleichstellung der Geschlechter basiert.

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Demokratisierung im Gesundheitswesen

Schafft ein, zwei, viele Gesundheitszentren

Mai 2017 • Kirsten Schubert

Die alte Kreis-Poliklinik in Pasewalk. Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

Die alte Kreis-Poliklinik in Pasewalk. Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

Krankenhaus, Pflege, Alternativen#Krankenhaus #Pflege #Alternativen

In kaum einem gesellschaftlichen Sektor ist die Frage der Mitbestimmung so heikel wie im Gesundheitswesen – geht es doch um unser aller Leib und Leben. Angesichts dessen scheint nachvollziehbar, den anerkannten Expert*innen des Fachs weitreichende Entscheidungskompetenzen einzuräumen: den Ärzt*innen. Ausgeprägte Hierarchien, wenig Interprofessionalität und kaum Mitbestimmungsmöglichkeiten der Patient*innen gelten als notwendiges Übel. Historisch hat sich in Deutschland ein stark segmentiertes Gesundheitssystem entwickelt, das – auch im internationalen Vergleich – besonders ärztezentriert ist. Da Ärzt*innen vieles über Krankheiten wissen, jedoch oft wenig über Gesundheit, kann eine wirkliche Veränderung des Gesundheitssystems nur gelingen, wenn man auch die Deutungshoheit über dieses sensible Thema demokratisiert und vergesellschaftet.

Die ›Produktion von Gesundheit‹ findet nicht nur in den Krankenhäusern, Arztpraxen und Reha-Einrichtungen statt, also dort, wo wir traditionell das Gesundheitswesen verorten. Vielmehr sind es die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, die den größten Einfluss auf Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit haben – also die Wohnverhältnisse, Fragen von Bildung, Erholung, Verkehr und Infrastruktur, Ernährung und natürlich der Arbeitsverhältnisse. Anders ausgedrückt: Für die Frage, ob jemand an Diabetes erkrankt oder an einem Herzinfarkt stirbt, ist sein sozioökonomischer Status entscheidender als die Qualität des Gesundheitssystems, das er nutzt. Ärmere Menschen sterben früher. Die Lebensspanne von Männern der niedrigsten Einkommensgruppe ist um elf Jahre kürzer als bei jenen der höchsten Einkommensgruppe (Der Paritätische Gesamtverband 2017).

Ärztedominierte Pseudo-Demokratie

Gesundheit ist also nicht nur ein hochpolitisches Thema, sondern auch anschlussfähig an Debatten um Wirtschaftsdemokratie, wie sie beispielsweise von Gewerkschaften geführt werden: Ein hohes Niveau an Partizipation und Mitbestimmung im Betrieb kann sich auf mehrfache Weise positiv auf die Gesundheit auswirken: durch direkte Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Einkommen, aber auch durch Stärkung von Gesundheitsressourcen wie beispielsweise die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.Doch wie sieht es mit der Demokratie im Gesundheitssektor selbst aus? Wer entscheidet, welche Medikamente wir bekommen, ob eine neue Behandlungsmethode (etwa in der Physiotherapie) von der Krankenkasse übernommen wird, oder ob die Gesundheitsversorgung in meinem Stadtteil ausreichend ist? Jenseits der gesetzlichen Rahmenbedingungen, die größtenteils im fünften Sozialgesetzbuch geregelt sind, werden solche Entscheidungen nicht im Bundesgesundheitsministerium gefällt, sondern von der sogenannten Gemeinsamen Selbstverwaltung – bestehend aus Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Der Staat gibt also lediglich den Rahmen vor und führt Aufsicht. Dieser Selbstverwaltungsapparat ist eine deutsche Besonderheit. Sie geht zurück auf die Sozialgesetze, die Reichskanzler Bismarck 1883 initiierte, und die dadurch begründete gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Diese sollten als Zuckerbrot die zuvor in Form der »Sozialistengesetze« geschwungene Peitsche ergänzen, revolutionäre Neigungen dämpfen und die Arbeiterschaft mit dem Kaiserreich versöhnen.

Unter der Ärzteschaft löste die Einführung der Krankenkassen aber großen Unmut aus. Sie sahen ihre Unabhängigkeit in Gefahr – insbesondere die Möglichkeit, direkt Honorare von den Patient*innen zu nehmen. Auch die von den Kassen gegründeten Ambulatorien (später Polikliniken) wurden von der Ärzteschaft als Bedrohung ihrer Selbstständigkeit und als Gefahr für die ärztliche Berufsidee wahrgenommen. Mit den Gesetzen von 1931 und 1932 wurden deshalb die KVen geschaffen, um der organisierten Ärzteschaft ein offizielles Organ zu geben. Während des Nationalsozialismus wurden diese von einer Interessenvertretung zu einem parastaatlichen Exekutivorgan. Ihnen obliegt unter anderem, eine bedarfsgerechte vertragsärztliche Versorgung in allen Regionen Deutschlands sicherzustellen. Ein gravierendes Demokratie- und Gerechtigkeitsdefizit des deutschen Systems wird hier insofern deutlich, als beispielsweise bis heute in wohlhabenden Stadtteilen mit vielen Privatpatient*innen eine größere Ärztedichte und teils eine Überversorgung herrscht, während in sozial benachteiligten Gegenden oder auf dem Land die Versorgung oft nicht sichergestellt werden kann. Viele dieser Aspekte sind in zahlreichen europäischen Ländern anders geregelt: Oft gibt es ein staatliches Gesundheitswesen, das durch Steuern finanziert ist und mit einem verbeamteten Gesundheitspersonal arbeitet.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung, setzt sich zusammen aus den KVen, den Krankenkassen und den Krankenhausgesellschaften beziehungsweise deren jeweiligen bundesweiten Spitzenorganisationen. Als gesetzliches Gremium entscheidet der G-BA rechtsverbindlich über den Leistungsanspruch der etwa 70 Millionen gesetzlich Versicherten und wird daher auch »kleiner Gesetzgeber« genannt. Stimmberechtigt sind darin fünf Vertreter*innen der Kostenträger, also der gesetzlichen Krankenkassen, fünf Vertreter*innen der Leistungserbringer, also der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und KVen, sowie drei unparteiische Mitglieder. Aus dem gesamten ambulanten Versorgungssektor sind in diesem Gremium nur Ärzt*innen stimmberechtigt, Patientenvertreter*innen haben zwar Antrags-, jedoch kein Stimmrecht. Die Entscheidungen des G-BA müssen dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) zur Prüfung vorgelegt werden. Dieses überprüft jedoch nicht die fachlichen Inhalte, sondern nur das rechtlich korrekte Zustandekommen der Entscheidungen. Obwohl der G-BA auch Heil-, Hilfs- und Arzneimittelrichtlinien verabschiedet, haben weder die davon betroffenen Berufsgruppen noch die Patient*innen ein Mitbestimmungsrecht. Auch sind die Ausschusssitzungen nicht öffentlich. Es handelt sich also im günstigsten Fall um eine ärztedominierte Pseudodemokratie.

Solidarische Praxen

Dass niemand ins Krankenhaus möchte sofern es sich vermeiden lässt, liegt hierzulande nicht nur daran, dass krank sein nicht schön ist. Personalmangel, intransparente und oft nach ökonomischen Kriterien gefällte Therapieentscheidungen sowie Ärztedominanz statt Interprofessionalität machen einen stationären Aufenthalt für viele Patient*innen und Angehörige zum Graus. Umso wichtiger, dass es Versuche gibt, hier nach Auswegen zu suchen: Das Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« wendet sich gegen die aktuelle Krankenhausfinanzierung durch Fallpauschalen und eine zunehmende Kommerzialisierung. Die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen für mehr Personal und Mitbestimmung sind ein Beispiel vorbildlicher Organisierung in diesem Bereich (vgl. Wolf 2016). Ein weiteres Beispiel liefert ein kleines Krankenhaus im brandenburgischen Spremberg. Nach einer drohenden Insolvenz übernahmen die Beschäftigten des Hauses den Betrieb. 51 Prozent der Gesellschafteranteile gehören nun einem Förderverein, in dem 70 Mitarbeiter*innen des Hauses Mitglied sind. Alle anderen sind Bürger*innen der Stadt. Das heißt, in allen zentralen Fragen, die das Krankenhaus betreffen, entscheiden sowohl die Angestellten als auch die potenziellen Patient*innen mit.

Auch in der ambulanten Versorgung gibt es einige Lichtblicke. Dennoch ist die Situation hier kompliziert. Historisch bedingt ist der Sektor extrem zersplittert. Üblicherweise wird die ambulante Versorgung mit der Arbeit der niedergelassenen Ärzt*innen gleichgesetzt. Apotheken, Heilmittelerbringer wie Physio- oder Ergotherapeut*innen und Hilfsmittel¬erbringer wie Sanitätshäuser werden meist nicht genannt. Ausgeblendet werden auch Pflegetätigkeiten, wie sie von ambulanten Pflegediensten, in der persönlichen Assistenz oder von pflegenden Angehörigen erbracht werden. Alle Akteure agieren getrennt voneinander, die einzige Schnittstelle sind die niedergelassenen Ärzt*innen. Mitbestimmung oder auch nur wechselseitige Abstimmung ist auf dieser Ebene nicht vorgesehen. Vielmehr sind alle als freiberufliche Unternehmer*innen organisiert, die sich in den letzten Jahren zunehmend auch im Wettbewerb auf dem Gesundheitsmarkt bewähren müssen.

Den sogenannten Sicherstellungsauftrag für den ambulanten Bereich haben seit 1955 die KVen: Sie haben damit quasi ein Versorgungsmonopol für die gesetzlich Versicherten im ambulanten Sektor. Dies führt oft dazu, dass sich ärztliche Interessen durchsetzen, statt dass es darum geht, die Versicherten optimal zu versorgen. In der Doppelfunktion als Ärzt*in und Kleinunternehmer*in ist angelegt, dass ökonomische Interessen die Versorgung beeinflussen – nicht nur im Kontakt zu Patient*innen, sondern auch durch die Gatekeeper-Funktion der Ärtz*innen gegenüber anderen Berufsgruppen im ambulanten Bereich. Mit den seit 2014 bestehenden Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) wurden zwar neue, kooperative Arbeitsformen geschaffen, diese zielen jedoch meist vor allem auf betriebswirtschaftlichen Erfolg und nicht auf eine verbesserte Patientenversorgung oder Mitbestimmung. Innovative Eigentumsformen oder Kooperationen existieren im ambulanten Bereich in Deutschland kaum.

In anderen Ländern hingegen gibt es einige interessante Ansätze. Am bekanntesten sind die solidarischen Kliniken in Griechenland. Entstanden, um auch nicht versicherten Menschen den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, mussten sie im Rahmen der Finanzkrise auch Menschen versorgen, die mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes die Krankenversicherung eingebüßt hatten. Es entstanden über 40 Praxen in ganz Griechenland, eingebunden in solidarische Stadtteilaktionen, vernetzt mit anderen Projekten auch außerhalb Griechenlands und entschlossen, mit der Gesundheitsversorgung auch politische Organisierung und kollektive Entscheidungsfindung neu und anders zu erproben.

In Belgien entstanden bereits in den 1970er Jahren Gesundheitszentren, die bis heute ein faszinierendes Modell politischer Arbeit in der öffentlichen Daseinsvorsorge bilden. Eng verbunden mit der Belgischen Arbeiterpartei PTB organisiert Médecine pour le Peuple (MPLP) elf Gesundheitszentren, in denen versucht wird, eine andere Medizin zu praktizieren und in denen der direkte Zusammenhang zwischen Gesundheit und Lebens- und Arbeitsbedingungen ein zentrales Thema ist. Patient*innen werden für politische Aktionen mobilisiert und in den Kampf gegen die krankmachenden gesellschaftlichen Bedingungen eingebunden: Umweltverschmutzung durch Metallfabriken, schlechte Arbeitsbedingungen, hohe Medikamentenpreise oder Feinstaubbelastung durch den großen Antwerpener Autobahnring.

Auch die Community Health Centres in Kanada zeigen, dass es anders gehen kann: Hier sind die Patient*innen als gewählte Mitglieder eines Lenkungsgremiums mit in die Entscheidungsstrukturen eingebunden.

Gesundheitskollektiv Berlin

Sowohl die skizzierten Missstände als auch die ermutigenden Erfahrungen aus anderen Ländern haben eine Gruppe von Leuten in Hamburg und Berlin motiviert, über konkrete Alternativen in der ambulanten Gesundheitsversorgung nachzudenken. Der erste Impuls kam vor mehr als fünf Jahren aus dem Umfeld des Hamburger Medibüros, etwas später entstand die Idee, auch in Berlin ein Gesundheits- und Sozialzentrum zu gründen. Eine zentrale Rolle bei diesen Überlegungen spielte die Frage, wie auch die sozialen Determinanten von Gesundheit im Sinne der Gesunderhaltung angegangen werden könnten. Warum nur die Krankenversorgung verbessern, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen krank machen? Das käme einer Sisyphosarbeit gleich. Gesundheitsprojekte müssen auch politische Projekte sein und, eng eingebunden in den Stadtteil, versuchen, die gesellschaftlichen Bedingungen im Sinne eines transformativen Community Organizing zu verändern.

Mittlerweile hat die Hamburger Gruppe die Poliklinik Veddel eröffnet: Hausärztliche Versorgung, Sozial- und Rechtsberatung sowie Stadtteilarbeit werden gemeinsam im Kollektiv besprochen und entschieden. Und auch in Berlin geht es mit großen Schritten voran. Unser Gesundheits- und Sozialzentrum wird voraussichtlich Ende 2018 eröffnet. Dann werden wir einen Neubau auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei im »roten Rollberg« in Neukölln beziehen. Im Sommer 2017 sollen die Bauarbeiten beginnen. Vor drei Jahren wurde die Organisationsgruppe in einem Wohnzimmer gegründet, inzwischen finden wöchentliche Plena in einem Kreuzberger Ladengeschäft statt. Fördergelder konnten eingeworben werden, und wir werden zunehmend auch von Politik und gemeinsamer Selbstverwaltung angesprochen. Die Ansprüche an das Projekt sind groß: Es soll durch Gemeinwesenarbeit, Community Organizing und partizipative Forschung im Kiez verankert sein und dort primärmedizinische Versorgung durch Pflege, Physio- und Ergotherapeut*innen, Hausärzt*innen und Kinderärzt*innen bieten, ebenso wie Sozial-, Rechtsberatung und Selbsthilfe vor Ort. Aktuell sind wir eine multiprofessionelle Gruppe bestehend aus Psychotherapeut*innen, Ärzt*innen, Leuten aus der Pflege, den Gesundheitswissenschaften, der Pädagogik und einigen weiteren Disziplinen. Unsere Aktivitäten bestehen bisher zu einem großen Teil aus Kiezarbeit: Treffen mit Akteuren aus dem Jugend- und Sozialbereich, Stände und Aktionen auf Kiezfesten und eine partizipative Sozialraumanalyse. Daneben sind wir vor allem mit der Konzeptentwicklung beschäftigt. Denn es gibt bisher keine Rechtsform, die ein interprofessionelles, stadtteilorientiertes Zentrum dieser Art ermöglicht. Die aktuellen rechtlichen Möglichkeiten fixieren die zentrale Rolle der Ärzt*innen und stellen wettbewerbsrechtliche Regelungen über Kooperation.

Es wird zunehmend offensichtlich, dass es eines komplett neuen Modells und den dafür notwendigen rechtlichen Änderungen bedarf, wenn wir unser Projekt in der geplanten Form umsetzen wollen. Beheimatet in der ›idyllischen Politarbeit‹, werden wir zunehmend mit standes- und parteipolitischen Interessen konfrontiert, sitzen in Medizinrechtskanzleien am Kurfürstendamm und planen Anträge bei staatlichen Fördertöpfen für innovative Gesundheitsprojekte. Um dabei nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, arbeiten wir an einem politischen Selbstverständnis, wir wollen ein Kollektivstatut erstellen und rote Linien festlegen. Ein politischer Beirat soll geschaffen werden, um unsere Arbeit kritisch zu begleiten.

Gelingt es uns tatsächlich, unser Modell wie geplant umzusetzen, hoffen wir damit ein transformatorisches Projekt schaffen zu können, das öffentliche Daseinsfürsorge demokratisiert: von der Entscheidungsfindung beim Gespräch zwischen Ärzt*in und Patient*in, über die Beteiligung von Patient*innen und Anwohner*innen im Lenkungsgremium bis hin zu einem Community Board, das Akteure im Stadtteil einbezieht.

Um nicht nur eine kleine »Insel der Vernunft« zu bleiben, gehört die Vernetzung in Deutschland und international zu unseren zentralen Anliegen. Mit unserem Hamburger Schwesterprojekt sind wir dabei, ein Poliklinik-Syndikat zu gründen, das nach dem Vorbild des Miethäusersyndikats möglichst viele selbstverwaltete Gesundheits- und Sozialzentren entstehen lassen soll.

Wir wollen einen Ort des Lernens schaffen, an dem gemeinsame Wissensproduktion und partizipative Entscheidungsfindung erprobt werden kann. Solche Gesundheits- und Sozialzentren können Orte politischen Handelns und gesellschaftlicher Veränderung sein. Es geht also um transformatorische Konzepte im Gesundheitswesen, um Einstiegsprojekte. Hierfür muss die Mammutaufgabe vollbracht werden, die Hegemonie der Ärztelobby zu brechen und Gesundheit zu einer gesellschaftlichen Aufgabe zu machen. 

Literatur

Der Paritätische Gesamtverband (Hg.), 2017: Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland, Berlin, www.der-paritaetische.de/armutsbericht/download-armutsbericht

Schubert, Kirsten/Vagkopoulou, Renia, 2016: Futuring Health Care, in: Fried/Schurian: Um-Care. Gesundheit und Pflege neu organisieren, Berlin, 41–52.

Wolf, Luigi, 2016: »Mehr von uns ist besser für alle!«, in: Fried/Schurian (Hg.): Um-Care. Gesundheit und Pflege neu organisieren, Berlin, 23–31.

Kirsten Schubert ist Ärztin, Gesundheitsaktivistin und Mitglied im Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ). Sie war Referentin bei medico international und arbeitet nun in einer Hausarztpraxis in Berlin. Ihr politisches Hauptprojekt ist derzeit der Aufbau eines Gesundheits- und Sozialzentrums in Berlin-Neukölln. Das GeKo ist das Schwesterprojekt einer Poliklinik-Initiative in Hamburg.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/demokratisierung-im-gesundheitswesen

Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

#Krankenhaus #Pflege #Alternativen

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Historisch hat sich in Deutschland ein stark segmentiertes Gesundheitssystem entwickelt, das – auch im internationalen Vergleich – besonders ärztezentriert ist. Da Ärzt*innen vieles über Krankheiten wissen, jedoch oft wenig über Gesundheit, kann eine wirkliche Veränderung des Gesundheitssystems nur gelingen, wenn man auch die Deutungshoheit über dieses sensible Thema demokratisiert und vergesellschaftet. Warum nur die Krankenversorgung verbessern, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen krank machen? Der Beitrag skizziert Missstände aber auch ermutigende Erfahrungen und Initiativen für alternative Formen der Gesundheitsversorgung. Eine zentrale Rolle spielt dabei, wie auch die sozialen Determinanten von Gesundheit im Sinne der Gesunderhaltung angegangen werden könnten.

Die alte Kreis-Poliklinik in Pasewalk. Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

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Fast alle sind irgendwann darauf angewiesen, gepflegt zu werden: sei es durch Krankheiten, körperliche Einschränkungen oder aufgrund des Alters. Dann brauchen wir Menschen, die uns im Alltag helfen, aber auch Aufmerksamkeit und Zeit schenken. In dieser Situation möchten wir würdevoll behandelt werden und selbst entscheiden, wer uns wie und wo pflegt – unabhängig von Herkunft, Wohnort oder Geldbeutel.

Die Realität sieht leider anders aus. Der «Pflegenotstand» ist zum medialen Schlagwort geworden. Viele machen sich Sorgen, dass sie oder ihre Angehörigen in Armut leben müssen, wenn sie Pflege benötigen. Und viele haben Angst, allein zu bleiben, wenn sie auf Unterstützung angewiesen sind. Diese Ängste sind auch Ausdruck eines löchrigen und sozial ungerechten Pflegesystems.

Diese Broschüre zeigt die Probleme und deren Ursachen im heutigen Pflegesystem in Deutschland auf, nennt Forderungen und Alternativen und sucht schließlich nach Ansätzen, wie sich diese durchsetzen lassen könnten.

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»Mehr als Abwesenheit von Krankheit...«

Über Lokale Gesundheitszentren als Orte politischer Praxis

April 2016 • Hannah Schurian im Gespräch mit dem Gesundheitskolletiv

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0

Krankenhaus, Alternativen, Selbstverwaltung, Berlin#Krankenhaus #Alternativen #Selbstverwaltung #Berlin

Wie ist eure Idee für ein Gesundheitskollektiv entstanden? Was war die Kritik am laufenden Versorgungssystem?

Wir sind eine Gruppe von Menschen in Gesundheits- und sozialen Berufen – u.a. ÄrztInnen, TherapeutInnen, Pflegekräfte, Pädagogen, Sozialarbeiter – aus Hamburg und Berlin, die sich seit zirka fünf Jahren für das Projekt engagieren. Der Ausgangspunkt war die Kritik an der unzureichenden ambulanten Versorgung von Menschen ohne Papiere. Das brachte einige Aktive aus dem Medibüro Hamburg dazu, sich mit weitergehenden Fragen zu beschäftigen: Wie sieht eine gute Gesundheitsversorgung für alle Menschen, unabhängig vom Versicherungsstatus aus? Wie müssen sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Gesundheit verändern? Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und aus dem Public Health-Bereich haben längst gezeigt, dass Lebens- und Arbeitsbedingungen langfristig entscheidender für die Gesundheit sind als die medizinische Versorgung – und das Gesundheit wesentlich mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit.

Im herrschenden System wird das aber völlig ausgeblendet. Hier sieht man oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. Es gibt eine starke Orientierung auf ‚Krankheit’: der Mensch wird aus seinem sozialen Zusammenhang gelöst und in Einzeldiagnosen zergliedert. Fatal ist die ökonomische und sogar profitorientierte Ausrichtung der medizinischen Versorgung. Das führt nicht nur dazu, dass beispielsweise medizinische Studien pharmafinanziert und folglich nicht unabhängig sind; auch Pflege und medizinische Behandlung werden zunehmend der Effizienzlogik und dem Ziel der Kostensenkung unterworfen. In der ambulanten Versorgung ist die Zersplitterung ein Problem: statt einer interdisziplinären Zusammenarbeit herrscht das unternehmerische Kalkül der einzelnen Fachärzte vor.

Vor diesem Hintergrund hat sich in Hamburg das Projekt Poliklinik gebildet. In enger Anlehnung an dieses Projekt haben wir vor zwei Jahren dann das Gesundheitskollektiv Berlin gegründet. Wir wollten die Gesamtheit der sozialen Determinanten der Gesundheit in den Blick nehmen und konkrete Alternativen aufzeigen.

Inwiefern lassen sich denn diese sozialen Determinanten in einem Projekt wie eurem beeinflussen?

Vorneweg: Der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geprägte Begriff »Soziale Determinanten der Gesundheit« ist ziemlich sperrig. Damit gemeint sind ganz einfach alle Bedingungen, in die ein Mensch hineingeboren wird und die das Leben ausmachen: die Stadt, die sozialen Netzwerke, die Kultur- Bildungsmöglichkeiten, die Arbeits- und Umweltbedingungen und die Existenzsicherheit. Entsprechend sind die sogenannten »Gesundheitschancen« bei sozial ausgegrenzten Menschen besonders niedrig. Das zu ändern, ist kompliziert: die Gesamtheit der gesellschaftlichen Strukturen lässt sich von uns nicht so einfach umkrempeln. Lokale Verhältnisse wie Verkehrsbeeinträchtigungen oder Mietsteigerungen können wir aber sehr wohl konkret aufgreifen. Hier kann die politische Arbeit im Stadtteil ein Anfang sein, um sich über die Kommune hinaus zu vernetzen und langfristig die Bedingungen für Gesundheit zu verbessern. Wir können zudem die Ressourcen der Menschen stärken, indem wir ihre sozialen Netzwerke, ihre Möglichkeiten von Selbstorganisierung und Widerstand fördern.

Und wie soll die Arbeit des Gesundheitszentrums konkret aussehen?

Unser zentrales Anliegen ist es die Menschen im Stadtteil – neben einer sehr guten medizinischen Versorgung – auch durch politische und soziale Arbeit sowie durch Beratung und partizipative Forschung zu begleiten. Die Krankenversorgung und Pflege soll sich an den Interessen der Nutzer_innen orientieren und für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein – unabhängig davon, ob sie privat, gesetzlich, oder nicht versichert, ob sie illegalisiert oder asylsuchend sind. Wir begreifen die Menschen als Teil ihres sozialen Netzes und ihrer Umwelt und wollen sie dementsprechend beraten.

Wichtige Impulse liefern uns gut funktionierende Gesundheitszentren in Österreich, Belgien, Kanada oder Finnland, aber auch die spendenbasierten solidarischen Kliniken in Griechenland. Wir denken, dass politische Teilhabe und Selbstorganisierung im Gesundheitswesen möglich und notwendig sind. Konkret würde das bedeuten, dass unser Zentrum ein selbstverständlicher Teil des Stadtteils ist, eine Anlaufstelle, wo die Menschen gerne hingehen: um die Rechtsberatung oder die Behandlungsangebote aufzusuchen, um sich in selbstorganisierten Gruppen zu treffen oder einfach nur Kaffee zu trinken. Die Bedürfnisse der NutzerInnen und StadtteilbewohnerInnen sind der Ausgangspunkt, um gemeinsam ihre Lebensumstände zu verbessern.

Wie soll das Zentrum intern organisiert sein: was sind Beteiligungsmöglichkeiten von PatientInnen und AnwohnerInnen?

Wie haben uns eine kollektive Struktur gegeben, um gleichberechtigt im Team zu entscheiden, ohne Chef oder Chefin. Die PatientInnen sollen sich aktiv einbringen und das Gesundheitskollektiv als Beraterin wahrnehmen, die Optionen eröffnet und Möglichkeiten darlegt. Dafür gibt es zum Beispiel regelmäßige gemeinsame Fallbesprechungen, nicht nur zu medizinischen Fragestellungen, sondern auch zu sozialen Themen. Darüber hinaus wollen wir die Menschen aus dem Stadtteil durch ein offenes Plenum einbeziehen und die Entscheidungen des Zentrums gemeinsam mit ihnen treffen. Das betrifft auch schon den Planungsprozess: Wir wünschen uns einen »bottom-up«-Prozess und wollen die Menschen in die Entwicklung des Konzepts einbinden, u.a. durch eine Sozialraumanalyse, Ideenwerkstätten und öffentliche Veranstaltungen. Sie sollen das Projekt als ihr eigenes begreifen und mitgestalten – es geht darum, das Gesundheitssystem als Gemeingut, als common, zu entwickeln. Das wird sicher nicht einfach: echte Beteiligung zu organisieren wird eine der größten Herausforderungen. Das wird nur gehen, wenn wir alle das Zentrum als Lernprozess und Lernort verstehen. Damit das gelingt, braucht es viel Zeit und selbstverständlich auch eine stabile Finanzierung.

Und wie weit seid ihr in der Planung? Wo findet ihr politisch oder finanziell Unterstützung?

Der Schritt von der Theorie zur Praxis steht sowohl in Berlin als auch in Hamburg noch bevor. Wir sind mitten in der Konzeptentwicklung, und müssen viele offene Fragen klären. Für einige Aufgaben, die die Kräfte ehrenamtlicher Arbeit deutlich übersteigen, konnten wir finanzielle Mittel von einer Stiftung einwerben und eine feste Stelle einrichten. Politisch suchen wir die Verbindung zu Gruppen im Kiez, aber auch zu wissenschaftlichen und sozialen Akteuren, die uns in diesem Prozess begleiten wollen. Das ist uns wichtig, um die weitergehenden politischen Perspektiven im Blick zu behalten.

Das wäre die nächste Frage: So ein Zentrum ist ja gewissermaßen eine Parallelwelt im bestehenden System. Unter welchen Bedingungen ließen sich solche Zentren verallgemeinern?

Es besteht theoretisch die Gefahr, dass wir zu einer kleinen ‚Insel’ im Gesundheitswesen werden. Das passiert, wenn wir mit der konkreten Arbeit so ausgelastet sind, dass wir den Blick über den eigenen Tellerrand nicht mehr schaffen. Hier wollen wir bewusst gegensteuern, indem wir uns von Anfang an als Teil eines politischen Netzwerks verstehen – als eine Art »Poliklinik-Syndikat«. Was das genau bedeuten kann, müssen wir noch weiter entwickeln. Wir sind verwurzelt in verschiedenen linken Gruppen sowie dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää), aber auch in internationalen sozialen Bewegungen wie dem People's Health Movement. Zudem haben wir uns über die letzten Jahre ein Netzwerk mit anderen Projekten in Europa aufgebaut, die zum Teil schon seit Jahrzehnten vergleichbare Arbeit leisten. Wir denken, das sind gute Voraussetzungen, um wirkliche Veränderungen anzustoßen und Gesundheit neu zu denken: als ein Teil des guten Lebens für Alle.

Diskutiert ihr schon über konkrete Standorte? Die Auswahl des Stadtteils wird ja einen großen Einfluss darauf haben, mit welchen Menschen und Anliegen ihr zu tun habt.

Es geht uns darum, gezielt benachteiligte Stadtteile zu unterstützen. Prekäre Lebensumstände und Probleme bei der Gesundheitsversorgung sind ausschlaggebend. So wollen wir in Berlin die Standortfrage idealerweise daran ausrichten, welche Regionen laut Sozialstrukturatlas unterversorgt sind. Allerdings ist es im Moment bekanntlich sehr zermürbend, Häuser und Wohnungen in der Großstadt zu finden. So sind wir schon von Beginn an gezwungen, die Planung auch mit Themen und Aktionen rund um ein »Recht auf Stadt« zu verknüpfen. Wir wollen auf keinen Fall wie ein Ufo in einem Kiez landen und den Menschen ihre begrenzten Freiräume wegnehmen. Stattdessen wollen wir Räume und Infrastrukturen schaffen, die für alle nutzbar sind und die NachbarInnen solidarisch in ihren Kämpfen, etwa um Wohnraum, unterstützen. In Berlin wird es erfreulicherweise immer wahrscheinlicher, dass wir unser Projekt im Rollbergkiez in Neukölln starten können. Unsere Utopie nimmt also langsam Form an!

Weitere Informationen zum Projekt:

Schubert, Kirsten und Renia Vagkopoulou, 2015: Futuring Health Care – Gesundheitszentren als Orte gesellschaftlicher Transformation, in: Fried, Barbara/Schurian, Hannah (Hg.), UmCare – Gesundheit und Pflege neu organisieren, Rosa-Luxemburg-Stiftung Materialien 13/2015, 41-53.

Webseite des Projekts: www.geko-berlin.de

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/interview-mehr-als-abwesenheit-von-krankheit

#Krankenhaus #Alternativen #Selbstverwaltung #Berlin

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Das Gesundheitskollektiv ist Teil eines Netzwerks, das in Berlin und Hamburg alternative Gesundheits- und Sozialzentren aufbaut. Sie sollen im Stadtteil eine gesundheitliche Versorgung frei von Profitinteressen ermöglichen, die berufsübergreifend und basisdemokratisch organisiert ist. Nicht nur die medizinische Versorgung und individuelle Verhaltensweisen stehen hier im Mittelpunkt, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit – von der lokalen bis zur globalen Ebene.

Im Interview mit Hannah Schurian erzählt das Kollektiv, was ihre Motivation ist, wie die Arbeit im Gesundheitszentrum aussehen soll und wie die Umsetzungspläne sind.

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0

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«Futuring Health Care» - Gesundheitszentren als Orte gesellschaftlicher Transformation

August 2017 • Renia Vagkopoulou und Kirsten Schubert

UmCare – Strategiekonferenz Pflege und Gesundheit. Foto: Rosa-Luxemburg Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

UmCare – Strategiekonferenz Pflege und Gesundheit. Foto: Rosa-Luxemburg Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Krankenhaus, Pflege, Organisierung, Alternativen#Krankenhaus #Pflege #Organisierung #Alternativen

Gesundheitszentren als Orte politischen Handelns und gesellschaftlicher Veränderung zu verstehen, liegt für die meisten Menschen nicht unbedingt nahe. Gesundheitsversorgung wird eher als Serviceleistung wahrgenommen und Arztpraxen als Orte, die man nur krank aufsucht. Zwar ist im Prinzip bekannt, dass sich Arbeitsbedingungen, soziales Umfeld und finanzielle Möglichkeiten auf die Gesundheit auswirken. Selten werden jedoch die «sozialen Determinanten von Gesundheit» (Weltgesundheitsorganisation) explizit zum Gegenstand von Gesundheitsarbeit gemacht.[1] Im Folgenden stellen wir alternative Gesundheitszentren vor, die eine solche soziale Gesundheitsarbeit zum Gegenstand haben.  Ausgehend von diesen Beispielen diskutieren wir, wie zukünftige Gesundheitssysteme aussehen können und inwiefern bestehende Gesundheitszentren Wege dorthin öffnen: Was ist ihr Potenzial für eine gesamtgesellschaftliche Transformation?

Gesundheit und Transformation

Gesundheit[2] stand in Europa lange Zeit nicht im Fokus sozialer Bewegungen. Mit der zunehmenden Ökonomisierung und Privatisierung der Krankenversorgung und den dramatischen Folgen der Sparpolitik für die Gesundheit der Menschen vor allem in den krisengeschüttelten Ländern in Südeuropa hat sich dies geändert. Die Notwendigkeit für Veränderung – im Gesundheitssystem und darüber hinaus – ist vielen Menschen deutlich geworden.

Es gibt unterschiedliche Theorien, wie sich eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung erreichen lässt. Um das Veränderungspotenzial der von uns untersuchten Gesundheitszentren einzuschätzen, beziehen wir uns auf das Konzept der Transformation, wie es im und rund um das Institut für Gesellschaftsanalyse (IfG) der Rosa-Luxemburg-Stiftung entwickelt wurde. Es verweist auf die Idee «revolutionärer Realpolitik» von Rosa Luxemburg, die damit den falschen und unproduktiven Gegensatz zwischen Revolution und Reform überwindet. Reform und Revolution, so Luxemburg, sind nicht «verschiedene Methoden», sondern «verschiedene Momente in der Entwicklung».[3] Demnach muss auch eine tiefgreifende Umwälzung der Verhältnisse unter den gegebenen Bedingungen beginnen und mit konkreten Verbesserungen der Lebenssituation der Menschen einhergehen. Im günstigen Fall lassen sich so Handlungsspielräume erweitern und neue Praxen entwickeln, die es ermöglichen, Schritt für Schritt und nachhaltig eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu bewirken. Das bedeutet auch, realpolitische Schritte und Reformen auf ihr in diesem Sinne revolutionäres Potenzial hin zu befragen. Zwar gilt es, an den konkreten und alltäglichen Sorgen und Nöten der Einzelnen anzusetzen, sie aber zu einem übergreifenden Projekt zu verallgemeinern. Nur dann kann es gelingen, Brüche mit den bestehenden Kräfteverhältnissen herbeizuführen.

Um einen solchen Übergang zu gestalten, bedarf es politischer Praxen, die die bisherigen Akteure und Handlungsstrategien infrage stellen – sogenannter Einstiegsprojekte.[4] Es geht darum, Hierarchien in Zweifel zu ziehen und Orte zu schaffen, in denen eine kollektive Wissensproduktion stattfinden und partizipative Entscheidungsfindung erprobt werden kann. Solche Praxen fordern die herrschende «Ökonomie der Zeit» (Marx) unmittelbar heraus – sie sind unvereinbar mit Profitdruck, Konkurrenz und Existenzangst im Kapitalismus. Um diese Erkenntnis in der Mehrheitsgesellschaft zu etablieren, müssen konkrete Alternativen erlebbar werden.

Wie also können Wege beschritten werden hin zu einer Gesellschaft, in der Wirtschaft, Politik und Kultur solidarisch und durch partizipative Demokratie organisiert sind? Wie könnten konkrete Alternativen im Gesundheitsbereich aussehen? Lassen sich solche Einstiegsprojekte auch auf alternative Strukturen der Daseinsvorsorge wie zum Beispiel Gesundheitszentren übertragen?

Transformatorische Konzepte im Gesundheitsbereich

Gesundheit spielt in den Debatten um Transformation selten eine Rolle. Vermittelt über Diskussionen um Care – also um Pflege und Sorgearbeit – werden gesundheitspolitische Fragen jedoch thematisiert. Hier wird das Projekt einer «bedürfnisorientierten solidarischen Care Economy» vorgeschlagen. Es geht um «eine Reorientierung auf öffentliche Gesundheit, Erziehung und Bildung, Forschung, soziale Dienste, Ernährung(ssouveränität), Pflege und Schutz unserer natürlichen Umwelten».[5] Der Care-Bereich biete unter anderem deshalb strategische Eingriffspunkte, weil sich hier Menschen erreichen lassen, «die bisher nicht in linken Strukturen zu Hause sind, die sich insgesamt von ‹Politik› nicht viel versprechen».[6] Gabriele Winker schlägt eine feministische Transformationsstrategie hin zu einer Care Revolution vor, die «die grundlegende Bedeutung der Sorgearbeit ins Zentrum stellt und darauf abzielt, das gesellschaftliche Zusammenleben ausgehend von menschlichen Bedürfnissen zu gestalten».[7] Auf dem Weg zur «Demokratisierung und Selbstverwaltung des Care-Bereichs» verweist sie unter anderem auf die Rolle von stadtteilbezogenen Gesundheitszentren, die über die ärztliche Versorgung hinausgehen und beispielsweise auch Gemeinschaftsküchen oder Wohngenossenschaften umfassen.[8] Hier zeigen sich Bezüge zur Theorie der sozialen Infrastruktur,[9] die die Reorganisation öffentlicher Güter und der Daseinsvorsorge ins Zentrum eines gesellschaftlichen Umbaus stellt. Krampe et al. schlagen vor, lokale Gesundheitszentren aufzubauen, in denen vor allem Pflegekräfte eine tragende Rolle spielen. Zugleich würden damit Gesundheitsgefährdungen im Stadtteil besser aufgefangen. Die Gesundheitszentren könnten in regionalen und überregionalen Gesundheitsplattformen zusammengeführt werden.[10]

Allen Ansätzen ist gemein, dass sie das Öffentliche, die Gemeingüter ins Zentrum stellen und im Umgang mit ihnen ein «Commoning»[11] zu etablieren suchen, ein kollektives Kümmern um das Gemeinsame. Wie kann also «Gesundheit als Commons» gedacht und praktiziert werden? Einige Erklärungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bieten hierfür interessante Referenzpunkte.

Gesundheit für alle – aber wie?

Eine Basisgesundheitsversorgung (Primary Health Care/PHC), die «Gesundheit für alle» garantieren sollte, wurde in der Erklärung der WHO von 1978 mit fünf Prinzipien skizziert. Diese sind Gleichheit und Gerechtigkeit, Partizipation, ein interdisziplinärer Ansatz, regional, technisch und kulturell angepasste Methoden sowie ein umfassender Gesundheitsbegriff, der Gesundheitsförderung, Krankheitsverhütung, Behandlung und Rehabilitation einschließt. Dabei sollen sogenannte GemeindepflegerInnen, Gesundheitszentren und multisektorale Stadtteilarbeit die Basis der Versorgung bilden. Zentral ist dem hier geprägten und im Folgedokument ausformulierten Konzept der «Gesundheit für alle» die Umorientierung von der Verhütung von Krankheit zur Förderung von Gesundheit (Ottawa Charta 1986). In der Praxis wurde der Ansatz jedoch zunehmend verwässert und neoliberal umgedeutet: Vertikal implementierte Gesundheitsprogramme traten an die Stelle horizontaler, partizipativ entwickelter Ansätze. Individuelle Verhaltensprävention trat an die Stelle von gesellschaftlicher Verhältnisprävention.

Hält man am Leitbild der Basisgesundheitsversorgung fest und stellt es in den Kontext der dargestellten Ansätze der Transformationsforschung, so lassen sich Gesundheitszentren als wichtige Orte der Daseinsvorsorge bestimmen. Es entsteht das Modell eines Gesundheitszentrums, das partizipativ auf allen Ebenen sowie stadtteil- und bedarfsorientiert arbeitet, in dem ein multiprofessionelles Team einem umfassenden Gesundheitsverständnis Rechnung trägt und Fragen von Umwelt und Care-Arbeit in den Mittelpunkt rückt. Die Zentren erscheinen als Laboratorien für gesellschaftliche Veränderung.

Alternative Gesundheitszentren – drei Beispiele aus Europa

In unserer Studie haben wir drei alternative Gesundheitsinitiativen in Griechenland, Belgien und Österreich untersucht und auf ihr transformatorisches Potenzial hin befragt. Ausgangspunkt und prominentestes Beispiel war die Solidarische Klinik in Thessaloniki (Solidarity Social Medical Center/SSMC), deren Arbeit in der (linken) deutschen Öffentlichkeit vielfach vorgestellt wurde. Entstanden als Initiative zur medizinischen Versorgung von MigrantInnen und Geflüchteten ohne Versicherung, wurde das Zentrum im Zuge der Krise zum Anlaufpunkt für immer mehr Bevölkerungsgruppen. Alle EinwohnerInnen ohne Krankenversicherung können dort eine medizinische Grundversorgung erhalten. Die Klinik versteht sich als Teil der Bewegung gegen die Austeritätspolitik und ist eingebunden in antirassistische und antifaschistische Bewegungen sowie in Netzwerke solidarischer Ökonomie. Das basisdemokratisch organisierte Kollektiv legt wert auf Unabhängigkeit vom Staat, von der EU und der Kirche, von politischen Parteien und vom Markt – es basiert allein auf Solidarstrukturen, Freiwilligenarbeit und Spenden.[12]

Auch wenn das griechische Beispiel aus Platzgründen hier nicht weiter ausgeführt werden kann, bietet es doch eine interessante Vergleichsfolie zu den anderen Fallbeispielen. Sie zeigen unterschiedliche Wege einer alternativen ambulanten Versorgung auf – jenseits der verschärften Bedingungen der Krise, aber ebenfalls konfrontiert mit Kostendruck und getragen vom Versuch der solidarischen Organisierung.

Der Stadtteil im Fokus – das Sozialmedizinische Zentrum in Graz, Österreich

Das Sozialmedizinische Zentrum (SMZ) im Grazer Stadtteil Liebenau vereint primärmedizinische Versorgung, soziale Arbeit, Gesundheitsförderung, Gemeinwesenarbeit, Musiktherapie sowie psychosoziale und rechtliche Beratung unter einem Dach. Gegründet 1984, ist es das erste und bis heute einzige Zentrum dieser Art in Österreich. Die Gründer waren geprägt von der kritischen Medizinerbewegung und den Erfahrungen marxistisch-leninistischer K-Gruppen. Einen Bezugsrahmen für ihre Arbeit fanden sie in den genannten Erklärungen der WHO zur Basisgesundheitsversorgung. Dieser Ansatz bietet Raum für breitere Allianzen und ermöglicht zugleich eine systemkritische Arbeit unter dem Motto «Gesundheit für alle». Das SMZ zielt zwar darauf ab, solidarische Netzwerke und Selbstermächtigung zu fördern. Eine linke solidarische Bewegung, die dessen Arbeit konkret unterstützt hätte, gab es jedoch bei Gründung – und gibt es bis heute – nicht.

Im SMZ arbeitet ein multiprofessionelles Team stadtteilorientiert und mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung. Dazu gehören eine ärztliche Gemeinschaftspraxis mit zwei Fachärzten, einem Weiterbildungsassistenten und zwei medizinischen Fachangestellten, des Weiteren zwei MitarbeiterInnen für Gemeinwesenarbeit und Gesundheitsförderung, eine Musiktherapeutin und eine Sozialarbeiterin. Eine gelernte Juristin ist zuständig für Verwaltung und Finanzen. Hinzu kommt die Familienberatungsstelle Graz Süd mit einer Rechtsberatung, ärztlicher, psychotherapeutischer und Sexualberatung sowie sozialarbeiterischer Beratung. Über mehrere Jahrzehnte waren auch SoziologInnen, PhysiotherapeutInnen und ein ambulanter Pflegedienst Teil des SMZ. Rechtlicher Träger aller Bereiche ist der Verein für praktische Sozialmedizin, dessen Vorstand alle fünf Jahre gewählt wird.

Die beiden Ärzte und Gründer des Zentrums haben Weiterbildungen in den Bereichen Psychotherapie, Arbeits-, Sucht- und Umweltmedizin absolviert. Sie betreiben eine pharmakritische, psychosomatische Medizin, in der sie sich bewusst Zeit für die PatientInnen nehmen und dafür finanzielle Einbußen in Kauf nehmen. Die Sozialarbeiterin kooperiert eng mit den Ärzten und ist für die sozialrechtliche Beratung zuständig; sie hilft bei Behördengängen oder Wohnungsproblemen. Zusammen mit der Musiktherapeutin und zwei MitarbeiterInnen für Gemeinwesen und Gesundheitsförderung ist sie viel im Stadtteil unterwegs. Das Team geht dorthin, wo die Menschen leben, lernen oder arbeiten – entsprechend hat das SMZ Außenstellen in verschiedenen Bezirken aufgebaut. Es betreibt außerdem Öffentlichkeitsarbeit mit einer regelmäßig erscheinenden Zeitschrift und einer Veranstaltungsreihe.

Während sich die Gemeinschaftspraxis durch reguläre Gelder der Sozialversicherung trägt, werden soziale Arbeit und Betrieb der Familienberatungsstelle aus öffentlichen Geldern der Sozialministerien finanziert. Alle anderen Bereiche werden mit ein- bis dreijährigen Verträgen mittels (zeitaufwendiger) Projektanträge finanziert.Knotenpunkt für die Arbeit des Teams ist die wöchentliche, verpflichtende Teamsitzung, wo die MitarbeiterInnen bei gleichem Mitspracherecht Ideen und Probleme einbringen können. Hinzu kommen monatlich stattfindende interdisziplinäre Fallkonferenzen. Bei Bedarf wird eine Helferkonferenz einberufen, in der PatientInnen, Angehörige und Betreuende gemeinsam eine individuelle Situation besprechen und die für die PatientIn beste Lösung suchen.Entscheidungen, die das Zentrum betreffen, werden meist im Konsens gefällt. Es gibt jedoch bewusst akzeptierte Hierarchien. So fungiert einer der Ärzte von Beginn an als Vorstandsvorsitzender. Wichtige oder dringende Entscheidungen werden von den Ärzten gefällt. Zum einen spiegelt das die finanzielle und rechtliche Verantwortung der Ärzte wider, zum anderen möchten viele MitarbeiterInnen diese Verantwortung nicht mittragen. PatientInnen sind hier – im Unterschied zu den beiden anderen Projekten – nicht in die interne Arbeit des Zentrums eingebunden.

Die Arbeit im Stadtteil ist jedoch beteiligungsorientiert. Sie findet auf vier Ebenen statt: zunächst in der Einzelfallarbeit insofern, als durch den interdisziplinären und ganzheitlichen Ansatz immer die Lebens- und Arbeitsbedingungen mitreflektiert werden; außerdem in den wöchentlichen Gruppenangeboten wie geselligen Brunchs, Gartenarbeit, Kochen, Musizieren oder Walken, die mit den AnwohnerInnen gemeinsam entwickelt werden. Hier sollen soziale Netze gestärkt und Gesundheit gefördert werden. Die AnwohnerInnen schätzen den niedrigschwelligen Kontakt zu den SMZ-MitarbeiterInnen.

Darüber hinaus hat das SMZ lokale Gesundheitsplattformen initiiert, um Gesundheit im Stadtteil tatsächlich sektorenübergreifend und partizipativ zu verhandeln. Bei der größten, der Gesundheitsplattform Liebenau, treffen sich sechsmal im Jahr VertreterInnen von Bürgerinitiativen, der Kirche, Schulen, Seniorenvereinen, Parteien oder dem Bezirk. Die Plattform ist offen für alle AnwohnerInnen und konnte schon diverse konkrete Erfolge im Stadtteil erzielen, beispielsweise die Umwidmung von Grünflächen in Industriegebiete verhindern und die Feinstaubbelastung reduzieren. Sie war ein Katalysator für soziale Bewegungen im Stadtteil und hat diverse Bürgerbündnisse hervorgebracht. Schließlich macht das SMZ eigene politische Arbeit und ist in vielen kommunalen Netzwerken aktiv. Es hat sich erfolgreich gegen ein Energiekraftwerk und die Umleitung des anliegenden Flusses Mur sowie den Abriss einer Wohnsiedlung eingesetzt und den Arbeitskampf gegen die Schließung der ansässigen Zweiradproduktion unterstützt. Im Zuge dieser Aktivitäten war es auch in die kritische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Stadtteils involviert – dabei wurde unter anderem die Geschichte eines lokalen Zwangsarbeiterlagers aufgedeckt. Zusätzlich ist das Zentrum mit den Grazer Universitäten vernetzt und hat viele Forschungsprojekte der partizipativen Sozialforschung initiiert oder unterstützt.

Das SMZ ist mit seinem stadtteilorientierten Ansatz ein Pionier- und Leuchtturmprojekt in Österreich. Im Gegensatz zum folgenden Beispiel – dem belgischen Médecine pour le peuple – konnte es jedoch kein landesweites solidarisches Netzwerk aufbauen.

Gesundheitsversorgung zwischen Partei und Bewegung – Médecine pour le peuple in Belgien

Médecine pour le peuple (MPLP) betreiben in Belgien insgesamt elf Gesundheitszentren, die an die 30.000 PatientInnen versorgen – immerhin fünf Prozent der belgischen Bevölkerung. Die Organisation hat ihren Ursprung in der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre und der damals gegründeten marxistischen Arbeiterpartei Belgiens (Parti du Travail de Belgique/PTB). Das erste Gesundheitszentrum entstand 1971 aus der Solidaritätsarbeit für streikende Hafenarbeiter. Obwohl MPLP aus der Partei hervorgegangen sind und ihre politischen Positionen teilen, sind sie wirtschaftlich und organisatorisch unabhängig. Die Gesundheitszentren arbeiten nach drei Prinzipien: Sie sollen den kostenfreien Zugang aller zu einer hochwertigen medizinischen Versorgung sicherstellen, die gesellschaftlichen und ökonomischen Einflussfaktoren auf Gesundheit thematisieren, dabei die Forderungen und Bedürfnisse von PatientInnen und BürgerInnen einbeziehen und diese umfassend beteiligen. Die Mitarbeit in den Zentren setzt keine Parteimitgliedschaft voraus, es wird allerdings eine gewisse politische Loyalität und Nähe zur Partei erwartet.

Seit dem Jahr 2000 wird die Arbeit durch ein solidarisches Umlageverfahren, das sogenannte Forfait-System finanziert. Auf Grundlage einer Vereinbarung mit den staatlichen Sozialversicherungsträgern erhält jedes Gesundheitszentrum – gemessen an der Zahl der dort registrierten PatientInnen – monatlich einen festen Betrag aus deren Kassen. Diese werden unabhängig davon, ob die Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden, an die Gesundheitszentren ausgezahlt. Die PatientInnen selbst müssen – im Gegensatz zu vielen anderen Einrichtungen des belgischen Gesundheitswesens – keine Zusatzzahlungen leisten. Alle MitarbeiterInnen sind fest angestellt und beziehen einen kollektiv vereinbarten Lohn. Das Gehalt der ÄrztInnen liegt dabei deutlich unter dem Durchschnitt ihrer KollegInnen in Belgien, jedoch über dem der anderen MitarbeiterInnen im Zentrum. Das an dieser Stelle eingesparte Geld wird für nachbar- und bürgerschaftliches Engagement verwendet, etwa für gesundheitsfördernde Bildungsangebote, oder in politische Kampagnen investiert, die die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen ins Visier nehmen.

In den Zentren wird eine medizinische Grundversorgung angeboten. Das Team setzt sich aus ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen, VerwaltungsmitarbeiterInnen und mindestens einer weiteren Fachkraft, etwa einer ErnährungswissenschaftlerIn, PsychotherapeutIn oder PsychologIn, zusammen. Um einem ganzheitlichen Ansatz gerecht zu werden, sind pro Behandlung durchschnittlich 20 Minuten vorgesehen. Die angebotenen Dienste sind vor allem für diejenigen gedacht, die besonders bedürftig sind. Deshalb befinden sich die Zentren in Vierteln, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und viele Menschen ohne Papiere leben. Dadurch, dass ehrenamtliche HelferInnen an sämtlichen Aktivitäten von MPLP beteiligt sind, haben sich ihre Zentren auf der kommunalen Ebene zu wichtigen Gemeinschaftsprojekten entwickelt.

MPLP setzen auf das Konzept der partizipativen Demokratie. Angelegenheiten, die alle elf Zentren betreffen, wie etwa Finanzierungsfragen oder bundesweite Kampagnen, werden in einem nationalen, alle zwei Wochen tagenden Koordinierungskreis entschieden. Über ihre alltägliche Arbeit bestimmen die lokalen Zentren selbstständig auf Basis der jeweiligen Bedingungen und Bedürfnisse. Die Verbindungen zwischen den Zentren und der PTB sind eher indirekt. Die Partei macht keine direkten Vorgaben, viele MitarbeiterInnen sind jedoch Parteimitglieder, häufig sogar in den Gemeinde- und Stadträten aktiv. Die enge Verbindung zwischen Organisation und Partei bietet die Möglichkeit, öffentliche Debatten über strukturelle Probleme des Gesundheitswesens anzustoßen und dafür zu sorgen, dass sich die entsprechenden politischen Stellen damit befassen.

Die medizinische Arbeit ist bei MPLP in verschiedener Hinsicht eng mit politischer Arbeit verknüpft. Gesundheitsprobleme, die in einem Zentrum auftreten, werden zu den strukturellen Faktoren in der örtlichen Community ins Verhältnis gesetzt. Ein Schwerpunkt besteht darin, sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, wobei die Bandbreite der Aktivitäten von Beratungstätigkeiten über die Organisierung von Aufklärungskampagnen bis hin zur Mobilisierung der Betroffenen reicht. Auch betreiben die Zentren Forschung zu Umweltfaktoren und den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung. Die Ergebnisse dienen häufig als Grundlage für Kampagnen und werden genutzt, um politischen Druck aufzubauen. Ein Beispiel ist eine Kampagne für Preissenkungen bei Medikamenten. Die MPLP versorgen auch MigrantInnen ohne Papiere, die in Belgien offiziell keinen Zugang zum Gesundheitswesen haben. Das oben erwähnte Finanzierungsverfahren ermöglicht es, einen Teil der staatlichen Zuwendungen zu deren Gunsten «umzuverteilen».

Médecine pour le Tiers Monde (M3M), eine Partnerorganisation von MPLP, betreibt Projekte in Palästina, im Libanon und auf den Philippinen und ist somit Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung. Zuletzt initiierten die Organisationen eine Solidaritätskampagne für Griechenland und gegen die neoliberalen Austeritätsmaßnahmen. Um Leute zu mobilisieren, werden zu solchen Anlässen lokale Informationsveranstaltungen organisiert und die Menschen vor Ort aufgesucht: Mitglieder gehen von Tür zu Tür, in die Fabriken und Unternehmen und üben Solidarität mit Streikenden.

Emanzipatorische Gesundheitszentren als Einstiegsprojekte in eine gesamtgesellschaftliche Transformation?

Alle drei Initiativen – das SSMC in Thessaloniki, das SMZ in Graz und MPLP in Belgien – bieten unabhängig von den unterschiedlichen Entstehungs- und Kontextbedingungen erfahrbare Alternativen zu dominanten Formen der Gesundheitsversorgung. In Deutschland gibt es unseres Wissens keine vergleichbaren Projekte. Ansätze, die diesen Initiativen am nächsten kamen, sind nahezu alle gescheitert.[13] So wurden etwa die Polikliniken der DDR durch die marktkonformen Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) ersetzt.

Um – anknüpfend an die zu Beginn skizzierte Debatte zu gesellschaftlicher Transformation – einzuschätzen zu können, ob die dargestellten Gesundheitsprojekte als «Einstiegsprojekte» und Vorbild für andere Ländern dienen können, bedarf es einer weiteren Beschäftigung mit ihren Organisationsstrukturen und Funktionsweisen. Allerdings lassen sich an dieser Stelle bereits einige Prinzipien und Kriterien benennen, die uns in diesem Zusammenhang besonders relevant erscheinen: solidarisches Handeln, eine Orientierung an Bedürfnissen, ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit, die Fähigkeit zur Verbreiterung und Verallgemeinerung sowie die Bereitschaft, den Bruch mit dem Alten zu wagen.

Solidarisches Handeln

Das Gesundheitswesen ist traditionell von starken Hierarchien und einem großen Machtgefälle zwischen den beteiligten Akteuren geprägt. Die hier vorgestellten Initiativen verfolgen in diesem Feld einen emanzipatorischen Anspruch. PatientInnen und AnwohnerInnen kommt gemeinsam mit den MitarbeiterInnen eine aktive Rolle zu, und Gesundheitsversorgung wird als ein «Gemeingut» begriffen. Aus passiven HilfeempfängerInnen werden aktiv Handelnde, die man zur Selbstbestimmung ermutigt. Die ÄrztInnen, die hier recht eng mit anderen Fachkräften kooperieren, lernen, die Dogmen ihrer eigenen Disziplin infrage zu stellen, ebenso ihre Rolle im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft. Der Aufbau von solch egalitären Beziehungen erfordert eine andere «Ökonomie der Zeit» (Marx). Es geht nicht länger um Gewinnmaximierung, sondern darum, Vertrauensverhältnisse zu schaffen und solidarische Beziehungen aufzubauen.Die vorgestellten Initiativen hinterfragen immer wieder die Legitimation des dominanten Gesundheitssystems und greifen die ihm zugrunde liegenden Machtstrukturen an. Diese Schritte hin zu mehr Gleichheit und gegenseitiger Solidarität können als Voraussetzung für weitere, radikale gesellschaftliche Transformationen betrachtet werden. Nur durch veränderte, stärker auf Gleichberechtigung setzende Beziehungen zwischen den Akteuren im Gesundheitswesen und den Menschen und Communitys, die sie versorgen, wird ein gemeinsamer politischer Kampf mit einer emanzipatorischen Ausrichtung überhaupt vorstellbar.

Bedürfnisorientierung statt Ökonomisierung

Alle dargestellten Initiativen begreifen Gesundheit und Gesundheitsversorgung als öffentliches Gut und bekämpfen dessen zunehmende Kommodifizierung. Sie gehen von den Bedürfnissen der PatientInnen und Communitys aus und betrachten diese als Handelnde im Feld gesundheitlicher Versorgung. Auch den Anliegen des Personals versuchen sie – auf je unterschiedliche Weise – gerecht zu werden.

Das Finanzierungsmodell der Solidarischen Klinik in Thessaloniki orientiert sich am stärksten an einem Commons-Modell. Jede direkte Zusammenarbeit mit Staat und Markt wird abgelehnt – die benötigten Mittel stammen von AnwohnerInnen und anderen privaten Spendern. Auf diese Weise findet ein auf Solidarität und Gegenseitigkeit basierender Austausch von Ressourcen und Leistungen statt, bei dem besonders auf gleichberechtigte Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten geachtet wird.Auch die MPLP richten ihre Arbeit am «Bedarf von unten» aus. Nicht nur, dass die Gesundheitszentren in ehemaligen Industriebezirken mit hoher Arbeitslosigkeit angesiedelt sind, auch das Finanzierungsmodell ermöglicht eine gewisse Umverteilung von Ressourcen hin zu den Bedürftigen und zu Community-Projekten. Außerdem wird Wert auf eine gerechte Entlohnung gelegt.

Das SMZ in Graz schließlich entwickelt seine Stadtteilarbeit ebenfalls zusammen mit den Menschen vor Ort und thematisiert im Rahmen der sektorenübergreifenden Gesundheitsplattformen die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung. Auch wenn die PatientInnen (anders als bei den solidarischen Kliniken) nicht aktiv in die internen Abläufe und Entscheidungen des Zentrums eingebunden sind, so sind sie in diesem Arrangement doch Akteure, die über ihre eigene gesundheitliche Versorgung mitbestimmen.

Ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit

In der wissenschaftsorientierten Medizin dominiert das Leitbild der Fragmentierung und Enteignung: Der menschliche Körper wird in zusammenhanglose Untersysteme zerteilt und der Behandlungsprozess ist ein auf das einzelne Symptom reduzierter medizinischer Akt. Die PatientInnen werden nicht eingebettet in ihren jeweiligen sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Kontext betrachtet – sondern es dominiert die bürgerliche Vorstellung vom «autonomen Individuum».Der Ansatz der Gesundheitszentren unterscheidet sich grundsätzlich davon. Hier ist die Community, die gesellschaftliche Eingebundenheit der Einzelnen, der zentrale Referenzrahmen. Individuum und Gesellschaft werden als wechselseitig vermittelt verstanden. In dieser Sichtweise erscheint Gesundheit als ein sozioökonomisch-biophysikalischer Komplex, dessen Förderung nur mit einem ganzheitlichen und interdisziplinären Ansatz gelingen kann. Dieser erfordert eine Umstellung der beteiligten Akteure und sektorenübergreifende Aktivitäten auf allen Ebenen – auf der lokalen, regionalen und internationalen.

Das SSCM in Thessaloniki gehört zu einem breiten Solidaritätsnetzwerk, das fast alle Aspekte des Lebens umfasst: von der Ernährung über das Wohnen bis hin zu Umweltfragen. Im Zuge ihres Kampfes gegen die Demontage des griechischen Gesundheitssystems haben sie national und weltweit Kontakte geknüpft. Eine Organisation wie die MPLP zeigt, dass solch ein Netzwerk über die Zeit wachsen und sich weiterentwickeln kann, ohne seinen progressiven Ansatz und Anspruch zu verlieren. Zusammen mit ihrer Partnerorganisation Médecine pour le Tiers Monde (M3M) sind MPLP im internationalen Peopleʼs Health Movement und verschiedenen anderen progressiven Netzwerken aktiv.

Die sektorenübergreifenden Plattformen, die das SMZ in seiner Nachbarschaft in Graz eingerichtet hat, stehen ebenfalls für einen ganzheitlichen Ansatz in der Gesundheitspolitik. Sie können als exemplarisch gelten für das, was Winker in ihrem Konzept der Care Revolution als Care-Räte bezeichnet, oder für das, was im Konzept sozialer Infrastrukturen[14] als regionale Gesundheitsplattform beschrieben wird. Die lokalen Strukturen wirken der zunehmenden Anonymisierung und Zentralisierung von Entscheidungen entgegen und stärken den Bezug auf das Gemeinsame. Damit geht von diesen Initiativen für ein anderes Gesundheitswesen eine transformatorische Kraft aus, die alle Lebensbereiche berühren kann.

Verbreitern und Verallgemeinern

Die Frage, inwieweit die vorgestellten Gesundheitsinitiativen Ansätze bieten, die verallgemeinerbar wären und damit Einstiege in Transformation darstellen könnten, ist letztlich nicht konzeptionell zu beantworten, sondern in erster Linie eine Frage verbindender Praxen. Eine Reihe von Herausforderungen und Bedingungen lassen sich formulieren. Alle drei Initiativen sind zunächst stark von ihrem jeweiligen Entstehungszusammenhang geprägt und haben eine unterschiedlich große geografische Reichweite. Nicht alle sind in politische Netzwerke eingebunden.

Bei den MPLP in Belgien scheint besonders die Rolle der PTB in diesem Prozess von Bedeutung. Die Anbindung an die Partei sowie die damit verbundenen Kontinuität der Arbeit hat die Ausweitung der Gesundheitszentren über ganz Belgien befördert und sichert die politische Eingebundenheit der MitarbeiterInnen, sowie eine gemeinsame Zielstellung. Das SSCM wiederum ist Teil eines Netzwerkes von ähnlichen Projekten in ganz Griechenland, von denen die meisten aus der Krise heraus entstanden. Ihr großer Vorteil ist: Auch wenn sich diese in ihren Ansätzen zum Teil unterscheiden, so haben sie doch begonnen, gemeinsame politische Ziele zu entwickeln, und verstehen sich als Teil einer breiten solidarischen Bewegung.

Diese Art von Bewegung fehlt in Österreich. Das SMZ hat im Stadtteil Liebenau zwar viel bewegt und ist dort gut verankert. Es gibt jedoch keine mit Griechenland vergleichbaren überregionalen solidarischen Netzwerke. Das Zentrum ist nicht Teil einer kritischen Bewegung und hat kein gemeinsames politisches Fundament. Damit bleibt es stark an das Engagement von Einzelpersonen gebunden. Mit der anstehenden Pensionierung der Gründer wird sich zeigen, ob das SMZ es schaffen kann, die Fortsetzung seiner kritischen Arbeit zu gewährleisten.

Den Bruch wagen

Neben der politischen Reichweite und der Verallgemeinerbarkeit ist des Weiteren zu fragen, inwieweit in den vorgestellten Projekten bereits ein Bruch mit dem Bestehenden angelegt ist. Von allen drei Initiativen, die wir in unsere Untersuchung einbezogen haben, lässt sich sagen: Sie haben unter den gegebenen Bedingungen versucht, etwas ganz Neues zu schaffen, anstatt sich am Alten festzuhalten. Ob sie damit schon eine Öffnung für weiterreichende Entwicklungen erkennen lassen, die zu einer Abkehr von der allgemeinen Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und anderer Gesellschaftsbereiche beitragen, darüber lässt sich streiten.

So vertreten Brie und Klein die Ansicht, dass ein Bruch mit dem Kapitalismus in solchen lokalen Initiativen zunächst unmöglich sei angesichts der geringen Ressourcen.[15]  Gleichwohl können sie dazu beitragen, eine Transformation vorzubereiten, indem sie Alternativen überhaupt erfahrbar machen. Dazu gehört dann auch, langfristig einen Teil der privilegierten Bevölkerungsgruppen auf die eigene Seite zu ziehen, darüber Mehrheiten zu verschieben und zugleich Ressourcen auszuweiten, die Zeit und Raum für die Verbreiterung von transformativen «Einstiegsprojekten» schaffen. Die hier vorgestellten Initiativen konnten einen solchen Verallgemeinerungsprozess nur partiell durchlaufen. Vielmehr haben sie ihre Aktivitäten und Anstrengungen darauf konzentriert, alternative Räume (gewissermaßen Parallelwelten) zu schaffen, in denen progressive Konzepte umgesetzt werden können. Dabei setzen sie auf unterschiedliche Partner und Strategien.

Die belgische Organisation MPLP ist ganz offensichtlich ganz eng verwoben mit staatlichen Strukturen und nutzt eine linke Partei, um politische gesellschaftlichen Wandel zu bewirken. Dagegen steht der Ansatz der solidarischen Kliniken in Griechenland. Ihre bewusst praktizierte Unabhängigkeit von Staat, politischen Parteien, Markt und Kirche nimmt vorweg, wie sich die Beteiligten eine zukünftige Gesellschaft vorstellen: als eine basisdemokratische Verwaltung der Gemeingüter in den Händen der Community. Das SMZ wiederum hat die lokale Begrenzung nicht überschritten, stellt aber in dem unterprivilegierten Wohnviertel eine wichtige Anlaufstelle für die AnwohnerInnen dar. Es ist ein Ort des Austauschs und der Selbstermächtigung, in dem der Anspruch formulierbar wird, selbst Akteur der eigenen Gesundheit und der dafür maßgeblichen lokalen und gesellschaftlichen Bedingungen zu sein.  

Ausblick: TAMARA statt TINA

Um transformative Prozesse anzustoßen, ist es zentral, das Neue und Andere erleb- und erfahrbar zu machen, denn der Mangel an Perspektiven sichert nach wie vor einen passiven Konsens zum Bestehenden.[16] Der Erfolg der hier vorgestellten Gesundheitsinitiativen und -zentren besteht unserer Ansicht nach vor allen Dingen darin: Sie haben es geschafft, für alle Beteiligten – MitarbeiterInnen wie NutzerInnen –, Alternativen zum herrschenden System der medizinischen Gesundheitsversorgung umzusetzen und damit Alltagspraxen zu entwickeln, die für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung von Bedeutung sind. Die unterschiedlichen Projekte zeigen, dass es innovative Ansätze und realpolitische Lösungen für bestehende Probleme geben kann. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag dazu, das TINA-Syndrom («There Is No Alternative»/«Es gibt keine Alternative») zurückzudrängen und ein TAMARA-Gefühl («There Are Many And Realistic Alternatives»/«Es gibt eine Vielzahl von machbaren Alternativen») zu erzeugen. Sie machen praktisch erlebbar, wie zukünftige, nachhaltige Systeme der Gesundheitsversorgung aussehen könnten, und bereiten den Weg für transformative Prozesse im Gesundheitsbereich.

Wenn wir die dargestellten Gesundheitszentren unter der Fragestellung betrachten, ob sie Momente einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung sein können, so sind neben den bereits genannten Kriterien und Herausforderungen noch weitere zu berücksichtigen. Zunächst einmal muss das Überleben der bereits existierenden Initiativen gesichert werden. Zudem wäre dafür zu sorgen, dass die daran Beteiligten trotz ihrer hohen Arbeitsbelastung den Blick nicht verlieren für weiterreichende Veränderungen und dazu beizutragen, dass ähnliche Projekte an anderen Orten entstehen können. Zudem wohnt allen vorgestellten und ähnlichen Initiativen grundsätzlich die Gefahr inne, von institutionellen Logiken vereinnahmt zu werden und das herrschende System langfristig zu stabilisieren. Daher kommt es darauf an, zu verhindern, dass die Projekte emanzipatorischer Gesundheitsversorgung mit ihrem innovativen Potenzial nicht mit der Zeit vom neoliberalen Kapitalismus integriert werden. Welche Maßnahmen und Schritte dafür geeignet sind, kann jedoch nur in der Praxis und konkreten Auseinandersetzungen herausgefunden werden.Konzeptionell bietet neben der Commons-Diskussion der Ansatz, Gesundheit als Sorgebeziehung zu verstehen und sie in einer Care-Ökonomie zu verorten, wahrscheinlich den vielversprechendsten Ansatz, um breite gesellschaftliche Diskussionen zu initiieren und Bündnisse zu schließen, die notwendig sein werden, um grundlegende sozialpolitische Änderungen durchzusetzen. Verankert zu sein in einer Struktur mit einem transformatorischen Anspruch – sei es Bewegung oder Partei – scheint uns darüber hinaus zentral zu sein, um eine nachhaltige politische Wirkung zu erzielen. Die richtige Balance im Sinne einer «revolutionären Realpolitik» zu finden, bleibt dabei eine gewaltige Herausforderung. Auch wenn die drei von uns untersuchten Gesundheitsinitiativen in Belgien, Griechenland und Österreich nicht alle Anforderungen an «transformatorische Einstiegsprojekte» erfüllen mögen, stehen sie doch beispielhaft dafür, wie das «»Andere aussehen könnte. Mit unserem Beitrag wollen wir sie bekannter machen und dazu ermutigen, ähnliche Projekte aufzubauen.

Fußnoten

[1] Dieser Artikel basiert auf einer umfassenderen vergleichenden Studie zu Gesundheitszentren in Griechenland, Österreich und Belgien, die demnächst veröffentlicht wird.

[2] Gesundheit soll hier nicht als normatives Konzept verstanden werden. Auch geht es nicht um ein individualisiertes Verständnis, das Schönheits- und Verhaltensideale diktiert, gemäß der neoliberalen Logik, alle Sphären des Lebens marktkonform zu gestalten. Wir beziehen uns vielmehr auf das kollektiv entwickelte Verständnis des People’s Health Movement: «Gesundheit ist eine soziale, ökonomische und politische Aufgabe und ist vor allem ein Menschenrecht. […] Gesundheit für Alle bedeutet, mächtige Interessen herauszufordern, […] und politische wie ökonomische Prioritäten drastisch zu verschieben.» Vgl.: www.phmovement.org/sites/www.phmovement.org/files/phm-pch-german.pdf.

[3] Zitiert nach Brand, Ulrich u. a. (Hrsg.): ABC der Alternativen 2.0. Von Alltagskultur bis Zivilgesellschaft, Hamburg 2012, S. 253.

[4] Vgl. Brangsch, Lutz: «Der Unterschied liegt nicht im Was, wohl aber in dem Wie». Einstiegsprojekte als Problem von Zielen und Mitteln im Handeln linker Bewegungen, in: Brie, Michael (Hrsg.): Radikale Realpolitik. Plädoyer für eine andere Politik, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Texte, Berlin 2009, S. 39‒51.

[5] Candeias, Mario: Passive Revolution vs. sozialistische Transformation, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Papers, Berlin 2010, S. 21.

[6] Fried, Barbara/Dück, Julia: Caring for Strategy, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1/2015, S. 85.

[7] Winker, Gabriele: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld 2015.

[8] Winker: Care Revolution, S. 165 ff.

[9] Krampe, Eva-Maria u. a.: Soziale Infrastruktur im Gesundheitsbereich, Frankfurt am Main 2010, unter: www.links-netz.de/K_texte/K_links-netz_gesundheit.html.

[10] Krampe u. a.: Soziale Infrastruktur, S. 100 f.

[11] Vgl. Bollier, David: Think Like a Commoner. A Short Introduction to the Life of the Commons, Gabriola Island 2014.

[12] Vgl. Benos, Alexis: Austerity kills. Warum die Solidarischen Kliniken auch Orte einer Reorganisierung der Linken sind, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1/2014, S. 58 f. und Candeias, Mario/Völpel, Eva: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland, Hamburg 2014, S. 155 f.

[13] Vgl. Hoffmann, Ute u. a.: Gruppenpraxis und Gesundheitszentrum – Neue Modelle medizinischer und psychosozialer Versorgung, Frankfurt am Main/New York 1982.

[14] Vgl. Krampe u. a.: Soziale Infrastruktur im Gesundheitsbereich.

[15] Vgl. Brie (Hrsg.): Radikale Realpolitik; Klein, Dieter/Brangsch, Lutz: Einstiegsprojekte in einen alternativen Entwicklungspfad, Berlin 2004, unter: www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/3Klein.pdf.

[16] Vgl. Candeias: Passive Revolution vs. sozialistische Transformation.

Kirsten Schubert ist Ärztin, Mitglied des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdäa) und aktiv in einem Netzwerk, das kollektive, stadtteilorientierte Gesundheits- und Sozialzentren in Berlin und Hamburg aufbaut.

Renia Vagkopoulou ist Ärztin und spezialisiert auf globale Gesundheit mit einem Fokus auf soziale Bewegungen. Sie ist ebenfalls Mitglied des vdää und in demselben Netzwerk wie Kirsten Schubert zum Aufbau von stadtteilorientierten Gesundheits- und Sozialzentren in Berlin und Hamburg aktiv.

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Der Text erschien zuerst in «UmCare – Gesundheit und Pflege neu organisieren», herausgegeben von Barbara Fried und Hannah Schurian, August 2017 (RLS MATERIALIEN Nr. 13; 2., überarbeitete Auflage). Der vollständige Band kann hier heruntergeladen werden: https://www.rosalux.de/publikation/id/8432/um-care

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Renia Vagkopoulou und Kirsten Schubert beleuchten auf Basis einer Studie zu alternativen Gesundheitszentren in Europa, inwiefern diese Projekte Ansatzpunkte für eine gesamtgesellschaftliche Transformation bieten. Sie zeigen, wie radikale soziale Gesundheitsarbeit aussehen kann, die PatientInnen als politische Subjekte begreift und die sozialen Determinanten von Gesundheit mit einbezieht.

Der Text erschien zuerst in «UmCare – Gesundheit und Pflege neu organisieren», herausgegeben von Barbara Fried und Hannah Schurian (RLS MATERIALIEN Nr. 13; 2., überarbeitete Auflage). Der Band «UmCare» sucht nach strategischen Interventionspunkten und Potenzialen für eine andere Gesundheits- und Pflegepolitik. Die Texte arbeiten neue Ansätze der Organisierung heraus – im Sinne einer Interessenvertretung derjenigen, die Pflege- und Gesundheitsarbeit leisten oder auf sie angewiesen sind, und im Sinne einer Neuorganisation der Daseinsvorsorge, des Auf- und Ausbaus einer bedürfnisgerechten Infrastruktur.

UmCare – Strategiekonferenz Pflege und Gesundheit. Foto: Rosa-Luxemburg Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

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In vielen europäischen Ländern nehmen wie in Deutschland die Proteste gegen die Privatisierungs- und Kürzungspolitik im Gesundheitswesen zu. Für diese Auseinandersetzungen kann viel aus den Erfahrungen, die in den Niederlanden gemacht wurden, gelernt werden. Dort startete die Sozialistische Partei (SP) eine Kampagne für eine Entprivatisierung der Krankenkassen, mit der sie die Stimmung im Land bereits erheblich zugunsten eines öffentlichen Gesundheitswesens beeinflussen konnte. Die Studie von May Naomi Blank zeigt den neoliberalen Umbau des niederländischen Gesundheitssystems ab 2006 und welche Folgen dies für die Arbeitsstandards und Patient*innen hatte. Außerdem beleuchtet sie die Geschichte der SP, ihre Verankerung unter den Beschäftigten, ihre Gewerkschafts- und Kampagnenarbeit. Als weiterer Akteur wird der Gewerkschaftsbund Federatie Nederlandse Vakbeweging (FNV) vorgestellt, der sich demokratisch erneuert hat, zunehmend Organizing-Strategien einsetzt.

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