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Selbstorganisation als Grundfeste Sorgender Städte

April 2022 • Ana María Vásquez Duplat

Adi Goldstein / unsplash

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Wohnen, Organisierung, SorgendeStadt#Wohnen #Organisierung #SorgendeStadt

Eine der größten Herausforderungen, die uns die Corona-Pandemie hinterlässt, ist die Notwendigkeit, unsere Städte anders zu gestalten. Das derzeitige Modell muss dringend überdacht werden, denn es hat sich gezeigt, dass die Art und Weise, wie unsere Städte konzipiert und bewohnt werden, zu anfällig dafür ist, zu einem Brennpunkt der Expansion und der Verschärfung jeglicher Art von Krise zu werden. Die anhaltende soziale, wirtschaftliche und territoriale Ungerechtigkeit und Ungleichheit lassen keinen Zweifel an der Notwendigkeit, unsere Territorien umzugestalten und andere Formen der Nutzung und der symbolischen Bedeutung zurückzugewinnen. Die Städte müssen ihren Bewohner*innen in jedem erdenklichen Sinn zurückgegeben werden. Wir wissen heute, dass: geeigneter Wohnraum retten kann; auf das eigene Zuhause begrenzt zu sein ein Risiko für Frauen und LGBTIQ+-Personen ist; dass lokale Infrastruktur, Auffangsorte und Ökonomien als Motor für die Produktion und Reproduktion städtischen Lebens verstanden werden müssen; dass das Kollektive ist wesentlich für den Erhalt von Leben; u.a.

80 Prozent der Menschen auf diesem Planeten leben in Städten. Es ist daher unmöglich, einen Ausweg aus der jetzigen multidimensionalen (sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, gesundheitlichen, politischen, Sorge-, etc.) Krise zu finden, wenn wir es uns nicht zur Aufgabe machen, Ideen und konkrete Maßnahmen zu entwerfen, um die Städte aus dem Sog der reinen Profitlogik zu retten. Wenn wir eine gleichberechtigte, gerechte und gewaltfreie Gesellschaft wollen, dann müssen wir den städtischen Raum umgestalten und mit dem Bau von Städten beginnen, in denen die Nachhaltigkeit des Lebens im Mittelpunkt aller Entscheidungsprozesse steht. Dies würde bedeuten, den Weg für Sorgende Städte zu ebnen.

Heute sind wir, wie es Gabriela Massuh formuliert, auf dem Weg hin zu Städten, die „als leerer Signifikant bewegungslos in einem Haufen falscher Wahlversprechen glänzen und die reale Dimension des unwiederbringlichen Verlustes darstellt: des öffentlichen Raums. Jener Raum, durch den wir in unserer Vielfalt an einem gemeinsamen Projekt teilhaben, und zwar als politische Wesen, die fühlen, denken, überlegen, bewahren und die Wurzeln eines sozialen Bandes teilen. Das macht uns zu einer Gemeinschaft“. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, die Stadt zu dekonstruieren, wieder neu zu aufzubauen, als öffentlichen Raum zurückzugewinnen und sie auf diese Weise wieder mit Sinn zu erfüllen.

Um in diesem Prozess von Dekonstruktion und Wiederaufbau der Stadt voranzukommen, ist es wesentlich zu verstehen, wie wir überhaupt bis zu diesem Punkt gekommen sind; zu verstehen, wie das bisherige Modell städtischer Entwicklung immense Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Gewalt etabliert hat. Nur so können wir diesem Modell entgegentreten. Das Konzept des städtischen Extraktivismus wird hier zu einem Schlüssel, da es ermöglicht, konkrete Phänomene zu untersuchen und sie durch die Lupe des wirtschaftlichen Modells zu betrachten, das diese Phänomene hervorruft. Der Begriff des städtischen Extraktivismus ermöglicht Untersuchungen, durch die institutionelle Gerüste,  Marktmechanismen,  Typologien der durchgeführten politischen Maßnahmen, Strategien zur Stigmatisierung und Kriminalisierung gewaltsam ausgestoßener und ausgeschlossener „Anderer“ ergründet werden können; ebenso können so materielle und symbolische Konstrukte untersucht werden, die es ermöglicht haben, dass der globale Neoliberalismus städtischen Raum gewaltsam vereinnahmt und die Türen unserer Häuser und die Grenzen unseres Lebens überschreitet.

Städte haben sich räumlich, funktional und symbolisch von jenem Binarismus her entwickelt, der dem Kapitalismus eigen ist: ein Prinzip, das Raum in Funktion zweier Kernideen trennt und organisiert: Wohnraum und Arbeit. Der Wohnraum stellt hier das Herz des Privaten und die Arbeit den Mittelpunkt des Öffentlichen dar. Die zutiefst patriarchale Gestaltung der Städte hat den Bereich des Privaten (den Wohnraum) als Entwicklungsraum von Frauen und den Rest (das Öffentliche, die Arbeit) als Betätigungsfeld beruflich aktiver Männer gekennzeichnet. Eine der Folgen, städtischen Raum auf diese Weise zu gestalten, ist die Tatsache, dass andere städtische Funktionen und Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit und Erholung fast als Ornamente der städtischen Organisation erscheinen. Sorge in den Mittelpunkt der Stadtplanung zu stellen heißt also, mit diesem Binarismus zu brechen, die Bedeutungen des Privaten und des Öffentlichen zu erweitern und die Prioritäten bezüglich der Funktionen von Städten neu zu ordnen. Die feministische Stadtplanung hat diesbezüglich eine strategische Reihe von Diskussionen und konkreten Vorschlägen entwickelt.

Um eine Sorgende Stadt zu gestalten, die die Reproduktion des Lebens in Gleichberechtigung und Würde in den Mittelpunkt stellt, braucht es sowohl Veränderungen bei der Verteilung und der Vergütung von Sorgearbeit als auch bei dem ihr zugeschriebenen Wert: Sorgearbeit muss die Grenzen der Privatssphäre überschreiten, darf nicht weiter ausschließlich weiblich gelesenen Körpern zugeschrieben werden und muss zu einer Leitlinie werden für gesellschaftliche Beziehungen, für politisches Handeln und für neue Formen, unsere Beziehungen mit der Natur und den Gemeingütern zu verstehen.

Im Hinblick auf die Stadtplanung bedeutet dies, dem Gemeinschaftlichen, dem Kollektiven, den Begegnungsräumen, der Gesundheit, der Stadtteilkultur und dem Aufbau von Räumen der echten Vergesellschaftung einen zentralen Wert zuzuweisen. Sorgearbeit zu vergemeinschaftlichen und gemeinsame Verantwortung aufzubauen bedeutet außerdem, Mobilität und öffentlichen Verkehr neu zu planen sowie neue Infrastruktur und lokale und zugängliche Dienstleistungen und Einrichtungen zu schaffen, die die Grenzen und Trennung zwischen Wohnraum und Arbeit, zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten verwischen und die Dekonstruktion von Geschlechterrollen begünstigen.

Die Bewegung für genossenschaftliches und selbstorganisiertes Wohnen hat Schritte in diese Richtung unternommen und Schlüssel bereitgestellt. Nicht nur wurden Debatten und Grundlagen entwickelt, sondern durch die genossenschaftliche Praxis, die Selbstorganisation und gegenseitige Hilfe zum Bau von Wohnraum wurde eine „Alternative [aufgezeigt], die den ausgeschlossenen Mehrheiten einen Horizont gibt, in dem sie eine andere Wirtschaft und andere Werte aufbaut“ (Rodríguez, 2021).

FUCVAM (Federación Uruguaya de Cooperativas de Vivienda por Ayuda Mutua, dt.: Bund der Wohnbaugenossenschaften durch Gegenseitige Hilfe Uruguay) ist zu einem weltweiten Symbol geworden. Seine Geschichte ist ein Beispiel für das Potential der Selbstorganisation von sozialem Wohnraum und den strategischen Wert desselben beim Bau neuer Städte. Wie es in der Grundsatzerklärung der Kooperative zu lesen ist, ist „die Genossenschaftliche Bewegung für Wohnraum durch Gegenseitige Hilfe im Herzen der Arbeiterklasse entstanden, mit dem Ziel, das Wohnraumproblem zu lösen. Von diesem konkreten Bedürfnis ausgehend wurden Stadtteile gestaltet, die ihren Bewohnern ein würdiges und anständiges Leben ermöglichen sollen. Die Wohnbaugenossenschaften waren ursprünglich aufs Engste mit der Gewerkschaftsbewegung in Uruguay verbunden und von dort ausgehend trafen sie eine Reihe strategischer und zutiefst klassenbewusster Entscheidungen. Sich global als Klasse zu verstehen ermöglichte es, eine Reihe von Forderungen und Bedürfnissen zu umfassen, die zu einer integralen Definition des Projekts führten. Die Genossenschaft beschränkt sich nicht allein auf den Wohnraum, sondern integriert, vom Klassenverständnis ausgehend, alle Bedürfnisse, die der Begriff Klasse – im Gegensatz zur Vorstellung als gesellschaftlicher Teilbereich - mit sich bringt“.

Zwei der bahnbrechenden Bauprojekte von FUCVAM sind Beispiele für diese Prozesse: der Komplex José Pedro Varela Zone 3 und das Viertel General Artigas. Zwei Orte, an denen Gemeinschaft entstand. Abgesehen von den 1200 Wohneinheiten, aus denen die beiden Komplexe bestehen, haben die Genossenschaften Kindergärten gebaut, die später zu staatlich geführten Kindergärten wurden, frei zugängliche Polikliniken, Gemeinschaftsbibliotheken, Fußballplätze, Sportplätze und -hallen, Geschäfte, Supermärkte und Gemeinschaftsräume, die nicht nur als Orte für Kultur- und Freizeitaktivitäten dienen, sondern auch für Begegnungen und Entscheidungsprozesse der Einwohner*innen.

Die Genossenschaften in Uruguay haben Lebensraum, ja, sie haben Sorgende Städte geschaffen. Sie sind ein Beispiel für eine Gestaltung von Städten, die Binarismen aufbricht, Gemeinschaft bildet und eine Vergemeinschaftlichung der Sorgearbeit ermöglicht; und dies nicht nur durch den Bau von Infrastruktur und Raum für Spiel, Erholung und Bildung für Kinder, sondern weil sie als Stadtteil die Möglichkeiten von Nähe und Nachbarschaftlichkeit nutzen und mit vielen Augen und vielen Armen kollektiv und mitverantwortlich Sorge tragen.

Auf beiden Seiten des Río de la Plata (in Uruguay und Argentinien) wurden bedeutende Initiativen zur selbstorganisierten Gestaltung von Lebensraum durchgeführt; Erfahrungen, die andere, sorgende Städte erahnen lassen. Die genossenschaftlich gebauten Komplexe sind wahre Beispiele eines Modells sozialer Wohnraumverwaltung, die es schafft, im Einklang mit einer tiefgreifenden Klassenperspektive zentrale Debatten zum Umsturz der kapitalistischen Stadtplanung anzuregen, wie z.B. die Verteidigung von Kollektiveigentum. Ebenso werden Werte für neue soziale Beziehungen verbreitet, die sich auf Solidarität durch gegenseitige Hilfe stützen und die mit einer enormen Partizipation von Frauen zählt, was dazu geführt hat, dass die im Rahmen dieser Bewegungen gebauten Stadtteile zu tatsächlichen Sorgenden Städten wurden. Dort müssen wir hinschauen, denn in diesen Bewegungen wird, so wie es in Argentinien MOI (Movimiento de Ocupantes e Inquilinos, dt.: Bewegung von Besetzern und Mietern) bekräftigt, mit und ohne Ziegel eine neue Gesellschaft aufgebaut.

Ana María Vásquez Duplat ist Projektmanagerin im Regionalbüro ConoSur der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Literatur:

Rodríguez, María Carla (Leiterin), 2021. Hábitat, autogestión y horizonte socialista. Construyendo con y sin ladrillos la nueva sociedad (dt. Lebensraum, Selbstorganisation und sozialistischer Horizont. Mit und ohne Ziegel eine neue Gesellschaft aufbauen). Buenos Aires, El Colectivo.

Interview mit Isabel Zerboni von FUCVAM

Foto: Adi Goldstein / unsplash

#Wohnen #Organisierung #SorgendeStadt

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80 Prozent der Menschen auf diesem Planeten leben in Städten. Es ist daher unmöglich, einen Ausweg aus der jetzigen multidimensionalen (sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, gesundheitlichen, politischen, Sorge-, etc.) Krise zu finden, wenn wir es uns nicht zur Aufgabe machen, Ideen und konkrete Maßnahmen zu entwerfen, um die Städte aus dem Sog der reinen Profitlogik zu retten

Wenn wir eine gleichberechtigte, gerechte und gewaltfreie Gesellschaft wollen, dann müssen wir den städtischen Raum umgestalten und mit dem Bau von Städten beginnen, in denen die Nachhaltigkeit des Lebens im Mittelpunkt aller Entscheidungsprozesse steht. Im Hinblick auf die Stadtplanung bedeutet dies, dem Gemeinschaftlichen, dem Kollektiven, den Begegnungsräumen, der Gesundheit, der Stadtteilkultur und dem Aufbau von Räumen der echten Vergesellschaftung einen zentralen Wert zuzuweisen.

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Im Sommer und Herbst 2021 hat es die von ver.di initiierte Berliner Krankenhausbewegung geschafft, mit ihren Streiks in den beiden größten landeseigenen Krankenhäusern Charité und Vivantes und bei den Tochterunternehmen von Vivantes für Schlagzeilen zu sorgen. Sie hat damit die Berliner Gesundheitsversorgung in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die Beschäftigten forderten Entlastung in den Krankenhäusern und die Bezahlung nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Diensts (TVöD) für die ausgegliederten Bereiche. Sie prangerten damit auch die Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern an, den Personalmangel in der Pflege, Zeitdruck und Arbeitsverdichtungen sowie die damit einhergehende Gefährdung der Patient*innen.

Innerhalb dieser Debatte bleiben die Auswirkungen auf die inhaltliche Ausgestaltung der Arbeit dabei mitunter außen vor. Mit der vorliegenden Broschüre wollen wir den Blick darauf lenken, warum es immer zuerst menschliche Bedürfnisse nach emotionalem Beistand, nach Betreuung von der ersten bis zur letzten Wehe oder einem Händedruck in Zeiten der Not sind, für die die Kapazitäten nicht reichen.

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Podcast: Aufstand der Trauer

Über antirassistische Erinnerungskultur und Gedenkpolitik

März 2021

Kalea Morgan / unsplash

Kalea Morgan / unsplash

Anti-Rassismus, Organisierung#Anti-Rassismus #Organisierung

Zum Podcast geht es hier!

Zu Gast von ManyPod – der Podcast für die Gesellschaft der Vielen – sind die aktivistischen Kulturschaffenden Miriam Schickler und Ulf Aminde. Mit ihnen spricht Massimo Perinelli über historische und aktuelle Formen des Erinnerns von Betroffenen von rassistischer und antisemitischer Gewalt und darüber, dass Aufforderungen wie #saytheirnames der Initiative 19. Februar Hanau, «Reclaim & Remember» von Ibrahim Arslan, «Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße» der Familie Yozgat in Kassel oder die Parole «Keupstraße ist überall» nicht nur die Opfer dem Vergessen entreißen, sondern für eine andere Gesellschaft kämpfen, in der solche Taten nicht mehr möglich sind.

Miriam Schickler ist Klangkünstlerin und entwickelt intersektionale Audiowalks im urbanen Raum des Er- und Entinnerns.

Ulf Aminde hat das Mahnmal «Herkesin Meydanı - Platz für alle» zum Nagelbombenanschlag auf der Keupstraße entwickelt und kämpft mit den Menschen vor Ort für dessen Realisierung.

Links zu dieser Sendung:

Zu Miriam Schickler:  https://geteiltewelten.net/ - echoingyafa.alllies.org/

Zu Ulf Aminde - foundationclass.org - mahnmal-keupstrasse.de

Zu Hanau: - 19feb-hanau.org

Foto: Kalea Morgan / Unsplash

#Anti-Rassismus #Organisierung

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Zu Gast von ManyPod – der Podcast für die Gesellschaft der Vielen – sind die aktivistischen Kulturschaffenden Miriam Schickler und Ulf Aminde. Mit ihnen spricht Massimo Perinelli über historische und aktuelle Formen des Erinnerns von Betroffenen von rassistischer und antisemitischer Gewalt und darüber, dass Aufforderungen wie #saytheirnames der Initiative 19. Februar Hanau, «Reclaim & Remember» von Ibrahim Arslan, «Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße» der Familie Yozgat in Kassel oder die Parole «Keupstraße ist überall» nicht nur die Opfer dem Vergessen entreißen, sondern für eine andere Gesellschaft kämpfen, in der solche Taten nicht mehr möglich sind.

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Türkei: Studierendenproteste gegen Wohnraummangel

Barınamıyoruz – Wir finden keine Bleibe

März 2022 • Sultan Eylem Keleş • Svenja Huck

Foto: Sultan Eylem Keleş

Foto: Sultan Eylem Keleş

Wohnen, Organisierung#Wohnen #Organisierung

Nach fast zwei Jahren Online-Lehre, kehren in der Türkei die Studierenden wieder an die Universitäten zurück. Für viele von ihnen ist es das erste Mal, dass sie ihre Hochschule betreten. Mit der Rückkehr zum Präsenzunterricht, wird auch ein lange schwelendes Problem sichtbar: fehlende oder unbezahlbare Unterkünfte für Studierende – und nicht nur für sie. Die unzureichende Anzahl von Wohnheimplätzen und die exorbitant ansteigenden Mieten, vor allem in größeren Städten wie Istanbul, Izmir und Ankara, stellen die Studierenden vor existentielle Probleme.

Zum Semesterbeginn im September begannen deshalb spontane Proteste einer zunächst kleinen Gruppe von obdachlosen Studierenden in Istanbul. Sie nennen sich «Barınamıyoruz Hareketi», die Bewegung derer, die keine Bleibe finden. Um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen, übernachteten sie in öffentlichen Parks und informierten in den sozialen Medien über ihren Protest.

Sie fordern das Grundrecht auf eine Unterkunft, die bezahlbar ist und menschenwürdigen Standards entspricht. Dass gerade letzteres oft nicht der Fall ist, zeigen die zahlreichen Berichte, die bei der sogenannten «Beschwerdehotline» eingehen. «Wir hatten diese Hotline zunächst eingerichtet, um Fälle von obdachlosen Studierenden zu sammeln», berichtet die Jurastudentin Ezgi Ertürk, die Teil der Barınamıyoruz-Bewegung ist. «Doch schnell wurde deutlich, dass auch diejenigen, die einen Wohnheimplatz ergattert hatten, massive Probleme haben. Das Essen dort wird zu horenden Preisen verkauft, aber ist ungesund, teilweise finden sich darin Maden oder Haare. Die Internetverbindung im Gebäude ist oft schlecht und reicht nicht zum Arbeiten. Einige Wohnheime sind weit entfernt von den Universitätsgebäuden, sodass die Bewohner*innen von der städtischen Infrastruktur abgeschnitten sind.» Belegt werden all diese Berichte mit Fotos und Videos, die aus der gesamten Republik gesendet werden. Durch die Vernetzung in den sozialen Medien, vor allem auf Twitter, wird nicht nur das Ausmaß der Misere schnell deutlich, sondern auch Berichte über spontane Proteste in den Wohnheimen und auf zentralen Plätzen verbreiten sich rasant.

Für die Aktivist*innen steht fest, verantwortlich ist die Regierung in Ankara. Deshalb kündigten sie für den 13. Dezember eine zentrale Kundgebung in der türkischen Hauptstadt an, die jedoch umgehend vom dortigen Gouverneur verboten wurde. Dennoch kamen zahlreiche Protestierende aus verschiedenen Städten zusammen, 90 von ihnen wurden festgenommen und waren massiver Polizeigewalt ausgesetzt.

Bauen, bauen, bauen?

In den regierungsnahen Medien wird als Grund für das Mietenproblem das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage genannt, zu wenig Neubau sei das Problem. Doch die seit 20 Jahren regierende AKP verdankt ihren jahrelangen wirtschaftlichen Erfolg vor allem dem Wachstum im Bau- und Immobiliensektor. Laut einer Recherche der Zeitung BirGün stehen allein in Ankara und Istanbul aktuell rund 1,7 Millionen Wohnungen leer, diese Zahl stieg seit Beginn der Corona-Pandemie weiter an. Im Vergleich zu anderen eurpäischen Großstädten ist der Leerstand damit sogar recht groß. Wie in anderen Städten der Welt auch, ist das grundlegende Problem des Wohnungsmarkts demnach nicht die steigende Nachfrage gegenüber einem geringen Angebot, sondern die Preisklasse der verfügbaren Wohnungen. Dies räumt auch die Istanbuler Stadtverwaltung ein. Nicht die fehlenden Wohnungen seien das Problem, sondern das fehlende Angebot von bezahlbarem Wohnraum für Studierende, für ärmere Menschen, für Geflüchtete etc.

Mieter*innen in Istanbul haben einen massiven Preisanstieg erlebt. Laut einer Studie der Stadtverwaltung von Istabul sind die Preise bei Neuvermietung 2021 im Vergleich zum Vorjahr um durchschnittlich 66 Prozent gestiegen. Ein konkretes Beispiel: Eine in Istanbul lebende Familie mit zwei Kindern, in der beide Eltern den Mindestlohn verdienen, hat ein monatliches Einkommen von 5.650 Lira (340 Euro, Stand 15.12.2021). Bei einer Miete von 2.500 Lira für eine Drei-Zimmer-Wohnung bleiben ihr nur knapp mehr als 3.000 Lira zum Leben. Bei der aktuellen Inflation und dem massiven Preisanstieg in allen essentiellen Bereichen lebt eine solche Familie in absoluter Armut. Studierende zahlen für ein Zimmer im Wohnheim zwischen 230 und 533 Lira, das türkische Äquivalent zum Bafög beträgt momentan 650 Lira, also keine 40 Euro.

Es dauerte nicht lange, bis die AKP-Regierung begann,  rhetorisch gegen die protestierenden Studierenden schießen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan bezeichnete sie als Lügner*innen und zweifelte sogar ihren Studierendenstatus an. Laut regierungsnahen Medien handele es sich vielmehr um Provokateur*innen, die wie schon bei den Gezi-Protesten die Jugend anstacheln würden. Um weiteren Druck auszuüben, rief die Polizei die Familien der im Park campierenden Demonstrant*innen an und drohte mit Verhaftungen, falls sie ihre Kinder nicht umgehend abholten. Doch die Protestierenden ließen sich zunächst nicht einschüchtern. Auf die Aufforderung der Polizei, sie sollen verschwinden, lautete die Antwort: «Genau das ist unser Problem, wir haben keine Wohnungen, keine WG-Zimmer, keine Wohnheimplätze, wohin sollen wir denn verschwinden?»

Mit dem Wintereinbruch war die Barınamıyoruz-Bewegung gezwungen, ihre Plätze im Freien zu verlassen. Einige sind bei Verwandten untergekommen, andere mussten in die Städte ihrer Familien zurückkehren oder leben in völlig überfüllten WGs. Gelöst wurden die Probleme nicht, ihre Forderungen werden nur teilweise erfüllt. Wie in anderen politischen Feldern auch, findet ein Wettlauf zwischen den Stadtverwaltungen, die von der AKP regiert werden, und denen, die in den Händen der Opposition sind, statt. Dies führte immerhin dazu, dass in einigen Orten Aufträge für den Neubau von Wohnheimen in Auftrag gegeben oder leerstehende Gebäude zu diesem Zweck angemietet wurden.

Die Wohnungskrise in der Türkei betrifft jedoch weitaus mehr Menschen als die Studierenden. Ihr spontaner Protest zeigte bisher nur die Spitze des Eisbergs, eine landesweite Mieter*innenbewegung sehen wir hier (noch) nicht. Doch das erfolgreiche Beispiel der Mietenproteste in Berlin und besonders das Referendum zur Enteignung großer Immobilienkonzerne hat sich bis in die Türkei herumgesprochen und wird auch dort diskutiert. Die Betroffenen sind sich einig: Eine umfassendere Lösung muss her, beispielsweise durch die Bereitstellung von Sozialwohnungen.

Vergesellschaftung auf türkisch heißt übrigens «kamulaştırma»…

 

Sultan Eylem Keleş studierte Journalismus an der Ege Üniversitesi in Izmir. Nach einem Praktikum bei der Zeitung Agos arbeitet sie nun als Journalistin in Istanbul. Sie beschäftigt sich mit politischen Kämpfen nationaler Gruppen, die in der Türkei nicht zur dominierenden Nation gehören, sowie mit Themen der Arbeitswelt.

Svenja Huck studierte Geschichtswissenschaften in Berlin mit Auslandsaufenthalten in Istanbul und London. Ihre Abschlussarbeit thematisiert die türkische Gewerkschaftskonföderation DİSK 1967-80. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen als freie Journalistin über Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.

#Wohnen #Organisierung

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Nach fast zwei Jahren Online-Lehre, kehren in der Türkei die Studierenden wieder an die Universitäten zurück. Für viele von ihnen ist es das erste Mal, dass sie ihre Hochschule betreten. Mit der Rückkehr zum Präsenzunterricht, wird auch ein lange schwelendes Problem sichtbar: fehlende oder unbezahlbare Unterkünfte für Studierende – und nicht nur für sie. Die unzureichende Anzahl von Wohnheimplätzen und die exorbitant ansteigenden Mieten, vor allem in größeren Städten wie Istanbul, Izmir und Ankara, stellen die Studierenden vor existentielle Probleme.

Foto: Sultan Eylem Keleş

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Während Städte und Straßen überquollen und die Luftbelastung durch Feinstaub und Stickoxide stieg, wuchs die Automobilindustrie hierzulande zum mächtigsten Industriezweig heran. Unangefochten erfolgreich verkauft sie ihre Produkte als Symbole von Fortschritt, Unabhängigkeit und Freiheit schlechthin. Unangefochten? Nicht mehr! Gegen die beschriebenen Entwicklungen regt sich nämlich immer öfter Protest: viele setzen dem unendlichen Straßenbau, Luft- und Lärmverschmutzung, dem Anfeuern der Klimakrise und dem SUV-Größenwahn inzwischen die Forderung nach alternativer Mobilität entgegen. Sie fordern einen gut ausgebauten Nahverkehr mit bezahlbaren Tickets, sichere Fuß- und Radwege sowie lebenswerte Städte mit Raum für Menschen statt für Autos. Die nun vorliegende Asphalt-Protest-Karte dokumentiert deshalb nicht nur die hohe Zahl derzeit laufender Aus- und Neubauten von Autobahnen, sondern auch den vielfältigen Widerstand dagegen. Sie will die inzwischen erreichte Breite dieser Proteste sichtbar machen helfen und bietet Hintergrundinformationen zum System Auto. Damit soll die Karte zur Debatte darüber anregen, wie wir unsere Mobilität künftig organisieren wollen. Mehr Infos und weiterführende Links gibts unter http://asphaltprotestkarte.de/

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#Wohnen #Organisierung
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Das Recht auf Wohnen in Würde und eine bezahlbare Stadt für alle ist ein essentielles Thema in den aktuellen Kämpfen sowohl in Brasilien als auch in Deutschland. Die Erfahrungen in der Mobilisierung, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, diskutieren Aktive aus Bewegung und Politik. Die Veranstaltung fand wenige Tage nach dem Berliner Volksbegehren statt, in dem die Berliner Bevölkerung vor dem Hintergrund einer akuten Wohnungskrise darüber entschieden hat, dass der Staat eingreifen und die Konzentration von Wohnraum auf wenige Wohnkonzerne verhindern soll.

Die Wohnungskrise ist auch der Hintergrund der Anti-Räumungs-Kampagne Despejo Zero, in der die brasilianischen Volksbewegungen den Nationalkongress dazu drängen, das Veto von Präsident Jair Bolsonaro gegen ein Gesetz zu kippen, das Zwangsräumungen während der Pandemie verhindert.

Im Gespräch kommen die Stadtplanerin Erminia Maricato, Architektin und Koordinatorin von BR Cidades, sowie Rud Rafael, von der Anti-Räumungs-Kampagne Despejo Zero und landesweiter Koordinator der Bewegung der Wohnungslosen Arbeiter*innen (MTST) sowie die Abgeordnete Katalin Gennburg, MdA DIE LINKE in Berlin und Rouzbeh Taheri, Koordinator der Berliner Kampagne Deutsche Wohnen & Co Enteignen zusammen

  • #Wohnen
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Oft ist Schule mühevoll und einschüchternd, eher Lernfabrik als Lebensraum. In kaum einem Land entscheidet die soziale Herkunft so sehr über den Bildungsweg wie in Deutschland. Wenn Schulen auch noch in einem Leistungswettbewerb stehen, erscheinen Kinder mit schlechteren Startbedingungen als «Problem». Die Ungerechtigkeit ist enorm.

Die Zeitschrift «LuXemburg» 2/2021 bringt frischen Wind in die Bildungsdiskussion: Was sind die großen und kleinen Schritte hin zu einer Schule für alle? Was fordern Schüler:innen und wie können Lehrer:innen von ihnen lernen? Warum ist Schule für Kinder aus Arbeiter:innen- und Migrant:innen-Familien oft ein Spießrutenlauf? Wie steht es um die berufliche Bildung? Wie können Lehrer:innen, Eltern und Schüler:innen gemeinsam für bessere Bedingungen kämpfen?

Die Ausgabe sucht, was SCHULE MACHEN kann, zeigt Klassenzimmer, in denen kooperativ und ohne Druck gelernt wird sowie Schulgebäude, die lebendiger Anlaufpunkt für das soziale Leben in der Nachbarschaft sind.

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Der Kampf um das Recht auf Wohnen ist auch ein europäischer Kampf

Wie ist die Situation auf dem Mietwohnungsmarkt in Schweden, den Niederlanden und in Spanien?

Dezember 2021

Demonstration zum «Woonopstand» am 17. Oktober 2021 in Rotterdam. Foto: Sandra Fauconnier via flickr / Bildausschnitt / CC BY 2.0

Demonstration zum «Woonopstand» am 17. Oktober 2021 in Rotterdam. Foto: Sandra Fauconnier via flickr / Bildausschnitt / CC BY 2.0

Wohnen, Krise, Organisierung#Wohnen #Krise #Organisierung

Die Machtkonzentration der großen, profitorientierten Wohnungsunternehmen ist eines der bestimmenden Themen der aktuellen wohnungspolitischen Debatte. Seit Jahren werden die Player auf dem Markt immer weniger, dafür aber immer größer. Und die Bestände werden weiter ausgebaut. Ihre Kernbestände stammen zu großen Teilen aus Wohnungsbeständen, die in den 2000er Jahren zu einem sehr niedrigen Preis von städtischen und kommunalen Wohnungsunternehmen erworben wurden. Spekulativer Leerstand, die gezielte Vernachlässigung von Wohnungen, um danach notwendige Modernisierungskosten auf die Mieter:innen umzulegen, und die Ausreizung sämtlicher Möglichkeiten für Mieterhöhungen, sind in vielen deutschen Großstädten längst Realität.

Die Mieter:innen von Konzernen wie Vonovia, Deutsche Wohnen oder Akelius/Heimstaden nehmen diese Strategien als gezielte Angriffe auf ihr Recht auf Wohnen wahr. Nach einem Jahrzehnt der Wohnungskrise sind sie immer öfter gezwungen, im Mittel mehr als 30% ihres Einkommens für ihre Wohnung auszugeben. Und damit mehr, als sie sich leisten können. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung leben in 77 deutschen Großstädten 4.4 Millionen Haushalte in Wohnungen, die sie sich entweder gar nicht leisten können, oder die eigentlich zu klein für sie sind.

Die zunehmende Finanzialisierung von Wohnraum greift allerdings nicht nur Mieter:innen in Deutschland an. International wird Wohnraum immer mehr zur Ware. Viele der großen Wohnungskonzerne agieren global und organisieren ihre Geschäftsmodelle über Landesgrenzen hinweg. Demgegenüber sind die meisten Proteste gegen hohe Mieten und Wohnungsnot meist immer noch lokale, bestenfalls nationale Proteste. Das ist eine verpasste Chance. Die Notwendigkeit zur internationalen Vernetzung ist zwar keine neue Erkenntnis, sie bleibt allerdings auch heute noch eine dringende Forderung. Denn, vergleicht man die Kämpfe um leistbaren Wohnraum und ein Recht auf Stadt in verschiedenen europäischen Städten und die dortigen Geschäftspraktiken der großen Wohnungskonzerne, so lassen sich viele Parallelen erkennen.

Schweden – zwischen Mieter:innen-Gewerkschaft und Marktmieten

So ist Vonovia, das mit Abstand größte Wohnungsunternehmen in Deutschland, auch in Österreich und vor allem in Schweden aktiv, wo es mittlerweile ebenfalls zum größten privaten Wohnungsunternehmen aufgestiegen ist. In Schweden, einst Leuchtturm für einen regulierten Mietmarkt und Sozialstaat, hat die rechts-konservative Regierung zu Beginn der 1990er Jahre eine Liberalisierung und Privatisierung des Wohnungsmarktes eingeleitet. Nur noch knapp jede:r Dritte wohnt in Schweden zur Miete und heute nur noch etwa die Hälfte davon in Wohnungen der öffentlichen Hand.

Wie in Deutschland, fällt Vonovia auch hier durch strategische Renovierungen (sogenannte «concept renovations») auf, die in jeweils einzelnen Wohnungen durchgeführt werden, sobald ein kurzer Leerstand dies zulässt, wie Ilhan Kellecioglu von der Stockholmer Mieter:innen-Initiative «Ort till Ort» berichtet. In der Folge darf die Miete beim nächsten Vertragsabschluss erhöht werden. Dabei sind die Arbeiten oft von fragwürdiger Qualität und Nutzen, die darauffolgenden Mieterhöhungen betragen im Schnitt dennoch 50-60%. Eine gesetzliche Grenze für diese Erhöhungen gibt es nicht. Außerdem komme es so zu teils drastisch unterschiedlichen Miethöhen innerhalb eines Hauses, was eine Organisierung der Mieter:innen erschwert. Dabei sind Mieter:innen in Schweden momentan noch durch das so genannte «use-value»-System zur am «Nutzungswert» orientierten Ermittlung der Miethöhe geschützt. Demnach werden die Wohnungen nach Kriterien wie Größe, Lage und Ausstattung eingeteilt. Allerdings werden die Mieten dann nicht, wie in Deutschland, mithilfe von Mietspiegeln bestimmt, sondern von den Vermietervertreter:innen mit der tenant‘s unions (Mieter:innen-Gewerkschaft) ausgehandelt.

Dieses Konstrukt, als letztes Schild der schwedischen Mieter:innen gegen eine vollständige Liberalisierung des Mietmarktes, sieht sich jedoch ebenfalls starken Angriffen ausgesetzt. Im Juni 2021 drohte die schwedische Linkspartei die amtierende Mitte-links-Regierung platzen zu lassen, nachdem die Regierung einen Reformvorschlag zur Einführung reiner Marktmieten für alle Wohnungen, die nach dem ersten Juli 2022 fertig gestellt werden, vorlegte. Begleitet wurde dieser Vorstoß von Protesten unter dem Motto «Nein zur Marktmiete», bei denen Mieter:innen hunderte von Kundgebungen abhielten – schlussendlich mit Erfolg, wie die Aktivistin und Mitorganisatorin von «Nej till Markadshyra» Sandra Mandell berichtet. Die Mietmarktreform musste der zu dieser Zeit amtierende sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven zurückziehen.

«Woonopstand» in den Niederlanden

Ähnlich wie Schweden haben auch die Niederlande, historisch betrachtet, einen starken Sozialstaat entwickelt. Etwa 60 Prozent der Niederländer:innen leben allerdings im Wohneigentum. Viele der Mietenden jedoch (30 Prozent der Niederländer:innen) wohnen in Wohnraum der öffentlichen Hand. Dieser hohe Anteil des öffentlichen Wohnungsbaus steht aber, ähnlich wie in Schweden, unter starkem Beschuss, wie aus den Berichten von Kees Stad und Gwen van Eijk deutlich wurde. So wurde im Jahr 2013 eine Steuer auf Sozialwohnraum, die so genannte «Vermieterabgabe», eingeführt, ursprünglich als temporäre Maßnahme zur Aufstockung des Haushalts nach Rettung zweier großer, niederländischer Finanzinstitutionen. Diese Abgabe gilt, unabhängig von ihrer ursprünglichen Intention, nach wie vor und belastet ausschließlich Anbietende von Sozialwohnungen. Die Folgen sind fatal – Vermietende geben diese Last in der Regel an die Mieter:innen weiter. Hinzu kommt, dass der private Mietmarkt weitestgehend unreguliert ist. Die so genannte «Vermieterabgabe» schafft jedoch einen Anreiz, zum Beispiel für Wohnungsbaugesellschaften, weniger Geld in sozialen Neubau zu investieren oder sogar Sozialwohnungen zu verkaufen. Das Angebot an Sozialwohnungen geht so zu Lasten eines weitestgehend unregulierten Mietmarktes zurück.

Heute haben 800.000 Haushalte in den Niederlanden nach ihrer Mietzahlung zu wenig Geld für alltäglich notwendige Ausgaben übrig. Auch vor diesem Hintergrund hat sich landesweit eine starke Protestbewegung gebildet, die unter dem Namen «Woonopstand» für bezahlbaren Wohnraum und ein Recht auf Stadt auf die Straßen geht. Der Demonstration in Rotterdam, die von Gwen van Eijk mitorganisiert wurde, schlossen sich im Oktober 2021 zehntausend Menschen an. Sie forderten die Rückkehr zu einem starken sozialen Wohnungsbau sowie unbefristete Mietverträge für einen besseren Mieter:innenschutz. Viele Mietverträge sind heute auf zwei Jahre befristet, was Mieter:innen mit dauerhafter Unsicherheit belastet und regelmäßige Mieterhöhungen nach sich zieht. Dabei spielen die internationalen Akteure der finanzialisierten Wohnungswirtschaft in den Niederlanden noch eine untergeordnete Rolle, erklärte Kees Stadt vom kapitalismuskritischen Portal globalinfo. Die größten Akteure vor Ort sind bis dato der schwedische Konzern Heimstaden und der US-amerikanische Private-Equity-Fonds Blackstone, die hier durch ähnliche Praktiken wie beispielweise in Berlin auffallen. Insbesondere die Geschäftspraxis, Sozialwohnungen aufzukaufen und sie leer stehen zu lassen, bis die Mietpreisbindungen auslaufen, führt zu einem drastischen Anstieg der Mietpreise, während gleichzeitig undurchsichtige Steuervermeidungskonstrukte dafür sorgen, dass die öffentliche Hand um Einnahmen geprellt wird.

Spanien – Kataloniens Mietendeckel als gutes Vorbild?

Auch in Spanien spielten große Wohnungsunternehmen bisher eine relativ kleine Rolle, sagte Lorenz Vidal aus Barcelona. Doch seit der Finanzkrise 2008/2009 und des darauffolgenden Spardiktats, das die EU-Troika den Ländern Südeuropas aufoktroyiert hat, wurde auch in Spanien der Wohnungsmarkt weiter liberalisiert, um internationales Finanzkapital anzulocken. Gleichzeitig erschwert der geringe Anteil der Mieter:innen an der Bevölkerung  eine breite Organisierung. Viele Kämpfe müssen eher auf der Ebene der einzelnen Wohnung als des einzelnen Hauses gekämpft werden. In Spanien sind unbefristete Mietverträge heute ebenfalls noch eine Utopie. Die Mietenbewegung konnte jedoch bereits erkämpfen, dass Verträge mit einer Laufzeit von fünf Jahren mittlerweile sehr verbreitet sind.

Große Aufmerksamkeit konnte vor kurzem Katalonien auf sich ziehen, das einen Mietenstopp und eine Absenkung überhöhter Mieten nach dem Vorbild des Berliner Mietendeckels erlassen hat. Auch diesem Vorstoß ist es wohl mit zu verdanken, dass eine Mietpreisregulierung ähnlich der deutschen Mietpreisbremse im neuen Wohnraumgesetz Spaniens enthalten ist, welches am 26. Oktober 2021 beschlossen wurde. Das eine solche Bremse tatsächlich Wirkung entfaltet und nicht durch Ausnahmeregelungen entkernt wird, ist jedoch keinesfalls ausgemacht, wie das deutsche Beispiel zeigt. Die Angriffe von Seiten der Vermieterlobby und das Suchen nach Schlupflöchern hätten jedenfalls bereits begonnen, sagt Lorenz Vidal.

All dies zeigt: Obwohl die jeweils nationalen und lokalen Umstände der Mieter:innenbewegung in den betrachteten Ländern stellenweise große Unterschiede aufweisen, zum Beispiel in Bezug auf die Eigentümerstrukturen und den grundsätzlichen Ausbau des Sozialstaates, gibt es erhebliche Gemeinsamkeiten. Die Wohnungsnot greift in ganz Europa um sich, und immer größer und lauter werdende Bewegungen finden sich zusammen, um darauf Antworten zu finden und diese zu erkämpfen. Nach Jahrzehnten der neoliberalen Hegemonie werden allerorts die Rufe nach einer erneuten Regulierung des Wohnungswesens lauter – und insbesondere das Beispiel Schweden zeigt, dass Regierungen sich dem gegenüber nicht länger verschließen können.

Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Ausbreitung der großen, finanzgetriebenen Wohnungsunternehmen in immer mehr Städten und Ländern. Insbesondere die ähnlichen Vorgehensweisen, zum Beispiel im Rahmen des Leerstandsmodells oder bei Mietsteigerungen durch Sanierung/Modernisierung, sowie die überall existierenden Fragezeichen bezüglich der Eigentumsstrukturen und Steuervermeidung dieser Konzerne zeigen, dass eine europaweit vernetzte Mieter:innenbewegung gebraucht wird, um diesen Akteuren und ihren Profiten zulasten der Mietenden Einhalt zu gebieten. So können Ressourcen gebündelt und Wissen geteilt werden um gerade dort, wo Vonovia und Co gerade erst richtig loslegen, mit einem hohen Organisationsgrad von Anfang an Widerstand zu leisten.

Weitere Informationen zum Bündnis, den einzelnen Partner:innen und zur Vernetzung finden sich unter www.reclaiming-spaces.org/tenants-and-power

Um sich über die aktuellen Bedrohungen und Widerstände auszutauschen, hat das aktivistische Bündnis «Socialise Housing across Europe», gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Vertreter:innen europäischer mietenpolitischer Bewegungen, unter anderem aus Schweden, Spanien und den Niederlanden, zu einer Veranstaltungsreihe eingeladen. Die Veranstaltung «A New Cycle of Housing Struggles – Political impacts and challenges of the rising tenants’ movements» ist aufgezeichnet worden.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://www.rosalux.de/news/id/45508/der-kampf-um-das-recht-auf-wohnen-ist-auch-ein-europaeischer-kampf

#Wohnen #Krise #Organisierung

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Die Machtkonzentration der großen, profitorientierten Wohnungsunternehmen ist eines der bestimmenden Themen der aktuellen wohnungspolitischen Debatte. Die zunehmende Finanzialisierung von Wohnraum greift allerdings nicht nur Mieter:innen in Deutschland an. International wird Wohnraum immer mehr zur Ware. Viele der großen Wohnungskonzerne agieren global und organisieren ihre Geschäftsmodelle über Landesgrenzen hinweg. Demgegenüber sind die meisten Proteste gegen hohe Mieten und Wohnungsnot meist immer noch lokale, bestenfalls nationale Proteste. Das ist eine verpasste Chance. Die Notwendigkeit zur internationalen Vernetzung ist zwar keine neue Erkenntnis, sie bleibt allerdings auch heute noch eine dringende Forderung. Denn, vergleicht man die Kämpfe um leistbaren Wohnraum und ein Recht auf Stadt in verschiedenen europäischen Städten und die dortigen Geschäftspraktiken der großen Wohnungskonzerne, so lassen sich viele Parallelen erkennen.

Demonstration zum «Woonopstand» am 17. Oktober 2021 in Rotterdam. Foto: Sandra Fauconnier via flickr / Bildausschnitt / CC BY 2.0

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Mit dieser Broschüre teilt das Autor:innenkollektiv CLIMATE.LABOUR.TURN ihre Erfahrungen mit Mitstreiter:innen in der Klimabewegung und der gesellschaftlichen Linken, um Motivation für den Aufbau zukünftiger sozial-ökologischer Allianzen freizusetzen. Betriebliche und ökologische Kämpfe zu verbinden stellt ihrer Meinung nach die Kernaufgabe all derer dar, die für eine klimagerechte Zukunft einstehen.

Im ersten Teil stellen sie gegenüber, wie die Mehrheit der Fridays-for-Future-Aktivist:innen die Politik zum Handeln bringen will und welche strategische Ausrichtung das Autor:innenkollektiv stattdessen für die Klimabewegung vorschlägt. Im zweiten Teil wird skizziert, wie 30 FFF-Ortsgruppen versucht haben, diese Strategie im Rahmen der ÖPNV-Kampagne in die Praxis zu übersetzen, und welche konkreten methodischen Schritte den Aufbau der Allianz begleitet haben.

Begleitender Artikel: Fridays for Future goes Arbeitskampf - https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/pronomen-busfahrerin/

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Krankenhausstreik: Do it yourself!

November 2021 • Fanni Stolz

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

Krankenhaus, Gewerkschaft, Organisierung, Pflege#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Pflege

Dienstag, 12. Oktober, 16:10 Uhr im Streiklokal am Krankenhaus in Neukölln. Das Handy vibriert: „IHR HABT GEWONNEN! Große Mehrheit der Teamdelegierten stimmt für das Eckpunktepapier zum TV Entlastung“. Es ist also geschafft. Der Jubel ist riesig. 147 Pflegekräfte des Berliner Klinikkonzerns Vivantes haben im Namen ihrer Teams dem vorläufigen Verhandlungsergebnis zugestimmt. Nun soll ein Tarifvertrag »Entlastung« ausgearbeitet werden, der Personalmangel und Dauerstress ein Ende bereiten soll. Wird die ausgehandelte Anzahl von Pflegekräften pro Station unterschritten, gibt es dann einen verbindlichen Freizeitausgleich – die bisher wohl besten Tarifregelungen zur Entlastung in Deutschland. Gestreikt wurde auch am anderen landeseigenen Krankenhaus, der Charité und bei den ausgegliederten Tochterunternehmen von Vivantes – und zwar über die Berufsgruppen hinweg. Auch dort wurden Einigungen erzielt.

Das Handy vibriert nun alle paar Sekunden. Von überall kommen Glückwünsche. Die Erleichterung ist groß. Denn der Weg hierher war nicht einfach und der Erfolg alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil: die Arbeitgeber bewegten sich lange nicht und der Arbeitskampf zog sich. Fünf Wochen (bzw. acht bei den ausgelagerten Servicebetrieben) – so lange wurde an deutschen Kliniken sehr selten gestreikt. Um zu verstehen, warum der Streik am Ende Erfolg hatte, muss man den ganzen Arbeitskampf betrachten, der lange vor dem ersten Streiktag begann. Schon lange vorher organisierten sich die Kolleg*innen und bauten eine Stärke auf, die nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ beeindruckt.

Ich habe mit einigen der Aktiven des Streiks gesprochen. Ihre Erzählungen machen deutlich: Die Berliner Krankenhausbewegung ist eine Geschichte der Selbstermächtigung. Die entstand nicht durch Zuruf, sondern indem systematisch demokratische Strukturen aufgebaut wurden. Die Kolleg*innen hatten ihren Arbeitskampf selbst in der Hand, was für eine Tarifauseinandersetzung nicht immer selbstverständlich ist: Sie bestimmten ihre Forderungen, sie waren an den Verhandlungen beteiligt, sie entschieden über das Ergebnis. Ihre Stärke und ihr Durchhaltevermögen waren Produkt ihrer eigenen Arbeit. Nur so konnte das Selbstvertrauen entstehen, das nötig war, um sich gegen die Härte der Arbeitgeber durchzusetzen.

„Man kennt sich jetzt im Krankenhaus“

Zwei Wochen später: Vor mir sitzt Camilla, sie ist seit 38 Jahren Pflegekraft im OP und seit 30 Jahren Ver.di Mitglied. Heute ist sie erkältet. Die Anspannung des Streiks lässt nach und die Erleichterung ist ihr deutlich anzumerken. Während unseres Gesprächs wandern ihre Blicke immer wieder auf die andere Straßenseite, wo sie an einigen der 34 Tage mit ihren Kolleg*innen am Streikposten stand. Nachdem Camilla zu Beginn der Kampagne zögerlich war, ist sie im Juli aktiv in die Bewegung eingestiegen und übernahm sogar an einzelnen Tagen die Streikleitung. Damit war sie eine der Personen, die entscheiden musste, welche Kolleg*innen streiken konnten und welche Notdienst leisten mussten. Denn durch eine sogenannte Notdienstvereinbarung stellten die streikenden Pflegekräfte sicher, das Patient*innen nicht gefährdet werden. Das funktioniert so, dass die Beschäftigten der einzelnen Stationen im Vorfeld ankündigen, wie viele Betten sie bestreiken werden. Damit geben sie der Klinikleitung die Chance, sich vorzubereiten und keine neuen Patient*innen aufzunehmen. Kommen zu viele Notfälle rein, sichern die Streikenden ab, zurück in den Dienst zu kommen. Die Klinikleitungen ließen sich auf dieses vielfach erprobte Modell nicht ein, so dass die Streikenden einseitig den Notdienst sicherstellten.

Camilla zeigt zum Streikposten und erzählt mir, wie sich dort Kolleg*innen aus dem ganzen Haus kennengelernt hat. Viele, die schon über Jahre hinweg im selben Krankenhaus arbeiteten, unterhielten sich dort das erste Mal. Der Streik umfasste fast alle Berufsgruppen, von der Pflege, über das Labor bis zur Reinigung. Heute grüßt man sich in der Pause, auf dem Weg zur Arbeit oder nach dem Feierabend. Man kennt sich jetzt im Krankenhaus, erzählt Camilla. Wo vorher Einzelkämpfer*innen waren, ist ein Zusammenhalt entstanden, der über das eigene Team oder die eigene Berufsgruppe hinausgeht.

Demokratie beginnt auf Station

„Wenn man erleichtert ist, vergisst man, wie schwer es war“, erzählt mir Louisa, Intensivpflegekraft an der Charité, als wir gemeinsam auf die letzten Monate blicken. Louisa ist 24 Jahre und studiert neben ihrer Arbeit an der Charité klinische Pflege. Schon lange wollte sie politisch aktiv werden, Missstände bekämpfen, doch allein hat sie sich das nie zugetraut. Als sich die verschiedensten Berufsgruppen an der Charité, bei Vivantes und den Vivantes-Töchtern zur Berliner Krankenhausbewegung zusammenschlossen, fand sie den Mut dazu. Es braucht erst ein gewisses Selbstbewusstsein, damit man sich für sich und seine Kolleg*innen einsetzen kann, erzählt sie – und das entsteht Schritt für Schritt. Im Laufe des Arbeitskampfs trat sie der Gewerkschaft ver.di bei. Sie fing an, ihre Kolleg*innen für die Bewegung zu begeistern und wurde schließlich zur Teamdelegierten ihrer Station gewählt. Jede Station, auf der die Mehrheit der Kolleg*innen an der Findung der Tarifforderungen beteiligt war, konnte Delegierte wählen. Sie vertraten ihre Station bei den berlinweiten Treffen, unterstützten und berieten die Tarifkommission bei den Tarifverhandlungen und waren diejenigen, die die wichtigsten Informationen, die sich im Streik meist überschlugen, an ihr Team weitergaben.

Macht aufbauen durch eine Mehrheitspetition

Wie gelingt es, so eine Struktur aufzubauen? Nur durch gute Vorarbeit. Um die Kolleg*innen zu motivieren, ihre Forderungen einzubringen und Delegierte zu wählen, müssen sie erst von dem Arbeitskampf erfahren und müssen überzeugt werden, dass er sinnvoll ist. Eine Petition, die die Mehrheit der Beschäftigten hinter gemeinsamen Zielen versammelt, ist dazu ein gutes Mittel. Beim Unterschriftensammeln kommt man ins Gespräch und übt zugleich, die Mehrheit in jedem einzelnen Team zu überzeugen. Unterstützt von Organizer*innen von ver.di sammelten die Kolleg*innen zwei Monate lang Unterschriften – für einen Entlastungstarifvertrag und (bei Vivantes) für die Rückführung der Tochterunternehmen in den TVöD. Die bereits aktiven Beschäftigten führten Station für Station Gespräche, notierten ihre Erfolge, planten, mit wem sie noch sprechen mussten.

Als am 12. Mai über 8397 Unterschriften an die Berliner Landespolitik und die Klinikleitungen übergeben wurden, war klar, dass sich eine deutliche Mehrheit von über 60 Prozent der betroffenen Beschäftigten hinter die Forderungen stellte. Der erste Stärketest war gewonnen.  Mit der Petitionsübergabe betrat die Krankenhausbewegung das erste Mal die politische Bühne der Hauptstadt.

Den regierenden Parteien wurde mit der Übergabe der Unterschriften ein 100-Tage-Ultimatum gesetzt: Entweder sie gehen auf die Forderungen der Kolleg*innen ein und üben Druck auf die Klinikleitungen der landeseigenen Krankenhäuser aus – oder es kommt zu Streiks in der heißen Wahlkampfzeit, so die Drohung. Trotz zahlloser Verständnisbekundungen ließ die Politik die 100 Tage tatenlos verstreichen, so dass es tatsächlich zum Showdown kommen sollte.

Zusammenkommen, vernetzen, entscheiden

Neben Louisa traten 2288 Beschäftigte während der Auseinandersetzung bei ver.di ein. Unter ihnen auch Diana, Pflegekraft im Krankenhaus in Kaulsdorf, Mutter von zwei Kindern. Während wir im Zoom miteinander sprechen, huscht ihre Katze durchs Bild. Das passierte ihr öfter, erzählt sie mir lachend: »Gezoomt« wurde viel. Aber auch zahlreiche „reale“ Treffen stärkten Schritt für Schritt die Bewegung: in den Teams, stationsübergreifend, mit den Unterstützer*innen aus der Berliner Zivilgesellschaft. Eine der wichtigsten Versammlungen war der Berliner Krankenhausratschlag, wo im Juli alle Delegierten der einzelnen Stationen zusammenkamen, um gemeinsame Forderungen der Krankenhausbewegung zu diskutieren. Spektakulär war nicht nur die deutliche Mehrheit, mit dem die Ergebnisse angenommen wurden, sondern vor allem die Kulisse: In der „Alten Försterei“, dem Stadion des Fußballclubs Union Berlin füllten über Tausend Kolleg*innen und Unterstützer*innen die Haupttribüne – ein Highlight, das den Anwesenden die eigene Stärke deutlich machte. Während die regierenden Politiker*innen auf der Bühne von den Pflegenden im Gespräch herausgefordert wurden, wehte ein Banner der Union Ultras: Nicht nur klatschen – machen! Gebt den Pflegekräften was die verdienen: Mehr Lohn, mehr Zeit, mehr Personal.

Selbstbewusstsein wird gemacht

Diana ist gerne Pflegekraft aber die schwierigen Arbeitsbedingungen treiben sie um. Als besonders schwierig erlebt sie die Vereinzelung und die Individualisierung der Probleme: „Ich habe oft auf Station gedacht, dass das nur mein Gefühl ist, dass es nicht läuft. Für mich war es unglaublich gut zu hören, es geht auch anderen so. Es läuft etwas ganz offensichtlich schief und auch andere bekommen das mit. Allein das tat einfach gut.” Sie schildert, wie ermutigend es war, im nächsten Schritt zu begreifen, dass sie zusammen mit ihren Kolleg*innen tatsächlich etwas verändern kann: „Die Pflege muss für ihre Interessen selber einstehen, denn jemand anders wird es nicht tun. Mehr als Applaus werden wir von alleine nicht bekommen”. Was einfach klingt, ist für den Bereich der Pflege alles andere als selbstverständlich. Viel zu oft wird an Pflegekräfte appelliert, schlechte Arbeitsbedingungen auszugleichen – aus Idealismus und im Dienste der Patient*innen. Die Bewegung hat nicht nur individuelle Frustration in kollektive Sprechfähigkeit umgemünzt, sie hat vor allem mit der Vorstellung gebrochen, dass Politik oder Klinikkonzerne von alleine zur Vernunft kommen. Es wurde klar: Jede einzelne Kolleg*in ist wichtig, um etwas zu ändern.

Jede*r Einzelne wird gefragt

Louisa schildert, dass vor allem die zweite Phase der Kampagne, die Forderungsfindung, viele Kolleg*innen wachgerüttelt hat. In diesen Wochen habe sie gelernt, dass es wirklich eine Chance gibt, etwas zu verändern. Die vielen intensiven Einzelgespräche (»1 zu 1«) seien der Schlüssel zum Erfolg gewesen. In den Gesprächen ging es darum, herauszufinden, was das Hauptanliegen der jeweiligen Kolleg*in war. An diesem Anliegen versuchte man anzusetzen und klar zu machen, dass es eine einmalige Chance auf Veränderungen gibt – wenn man gemeinsam aktiv wird. Louisa hat selbst viele der Forderungsinterviews geführt. „Es war faszinierend zu merken wie jemand reagiert, wenn er die Plattform bekommt, frei über Missstände sprechen zu dürfen. Die stillschweigende Pflege ist etwas Angelerntes. Ich habe das auch so gelernt in meiner Ausbildung: lieber nichts sagen und alles kompensieren. Dadurch merken wir gar nicht mehr, was falsch läuft. Wir können uns kaum mehr einen Alltag vorstellen, in dem man nicht gestresst nachhause geht.” In den vielen Gesprächen wurden den Beschäftigten klar, dass sie die Expert*innen sind, die am besten wissen, wie gute Pflege eigentlich organisiert sein muss.

Heftiger Widerstand, permanenter Druck

Für Diana und Camilla bleibt vor allem der Warnstreiktag eindrücklich in Erinnerung – nicht nur, weil es der erste Streiktag war, sondern weil dort klar wurde, wie hart der Kampf werden würde. Schon von weitem hörten sie das Getümmel rund um den Lautsprecherwagen, wo neben Anja, einer Pflegekraft von Vivantes, die Spitzenpolitiker*innen des Berliner Wahlkampfs auftraten: der Linke Klaus Lederer Franziska Giffey von der SPD und Bettina Jarasch von den Grünen. Plötzlich wurde es unruhig in der Menge und Anja verkündete eine erschreckende Nachricht: Vivantes hatte vor Gericht eine einstweilige Verfügung erwirkt: Der Warnstreik durfte nicht fortgeführt werden. „Ich dachte ich bin im falschen Film. Das die sich so miese Tricks einfallen lassen, um diese große Welle zu brechen”, erzählt Camilla. Doch das Kalkül des Arbeitgebers ging nicht auf. Am zweiten Streiktag gewannen die Beschäftigen vor Gericht. Ihr Streikrecht wurde höher gewichtet als die fadenscheinigen Einwände gegen den Tarifvertrag Entlastung und eine angebliche Unverhältnismäßigkeit der Streikmaßnahmen. Die Strategie des Vivantes-Konzerns, die Bewegung im Keim zu ersticken, war nach hinten losgegangen. Viele sagten sich nach dem Gerichtsurteil: Jetzt erst Recht!

Franziska Giffey und co. wurde an diesem Tag klar: Die Beschäftigten der Charité und Vivantes sind hartnäckig. Der ausdauernde politische Druck, den die Kolleg*innen im Betrieb organisierten und immer wieder in die Politik trugen, war für den Erfolg am Verhandlungstisch zentral. Franziska Giffey konnte nahezu keine Wahlkampfveranstaltung besuchen, ohne von der Berliner Krankenhausbewegung belagert zu werden. Als Raed Saleh, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus eine Biergartentour plante, saßen an den Biertischen keine zahmen SPD-Sympathisant*innen, sondern ein Dutzend Pflegekräfte. „Wir sind der Politik auf die Nerven gegangen”, erzählt Diana, „Diese Präsenz war wichtig”.

Denn die Beschäftigten trugen ihr Anliegen in die Stadt und erhielten breiten Zuspruch: Dem Demo-Aufruf „Wir retten euch – Wer rettet uns?“ folgen knapp 5.000 Berliner*innen , die Volksbühne öffnet ihre Türen für eine Pressekonferenz und das Bündnis Gesundheit statt Profit sammelte mehrere tausend Euro für die Streikkasse der Vivantes-Töchter, die ohne diese Unterstützung nicht so lang hätten durchhalten können. Die Pflege wurde zu einem der zentralen Wahlkampfthemen. In Schulungen lernen die Beschäftigten, ihre Geschichten zu erzählen und den Alltag im Krankenhaus sichtbar zu machen: Auf Demonstrationen, in der Berliner Abendschau, in der Berliner Wahlkampfarena. Die eindrücklichen Geschichten und die immer noch präsente Angst vor überfüllten Intensivstationen in der Pandemie erlaubte es keiner Partei, die Bewegung offen zu kritisieren oder abzuwiegeln. Wer will schon schlechte Presse im Wahlkampfsommer?

Wir verhandeln selbst

Das Rückgrat der Gewerkschaftsbewegung waren die hunderten gewerkschaftlichen Ehrenamtlichen, die sich Station für Station organisierten. Für Camilla ist klar, dass man an diesem Punkt gewerkschaftliche Arbeit neu denken muss: Im Tarifkampf „muss ver.di alle mitnehmen, sonst ist die gewerkschaftliche Bewegung ein Vogel ohne Flügel“. Demokratisierung bedeutet, dass die wichtigen Entscheidungen in einer Tarifauseinandersetzung von den Beschäftigten selbst getroffen werden. Immer wenn die hauptamtliche Verhandlungsführung von Ver.di und die Tarifkommission mit den Arbeitgebern verhandelten, tagten zeitgleich die Teamdelegierten. Auch Camilla war oft dabei. Das konnte bis zu 30 Stunden am Stück dauern, wenn die Kommission so lang verhandelte. Alle Entscheidungen der Tarifkommission wurden an die kollektiven Entscheidungen der Delegierten rückgekoppelt.

In der letzten Nacht vor dem Tarifabschluss an der Charité harrten die Teamdelegierten ganze 21 Stunden in einem Hörsaal aus. Für Louisa war es ein unvergesslicher Moment. Als sich der Abschluss andeutete, war die Erleichterung nach Wochen der Anspannung kaum zu beschreiben. Alle wussten, dass der Abschluss ohne lange Vorbereitung nicht möglich gewesen wäre. Schon im Frühjahr waren die Mitglieder der Tarifkommission und die Teamdelegierten von Charité und Vivantes zusammengekommen. Sie hatten die Tarifergebnisse an anderen Krankenhäusern, etwa in Jena oder Mainz, diskutiert und die Forderungen der einzelnen Teams zusammengetragen. So schufen sie nicht nur Rückhalt für die Forderungen in der gesamten Belegschaft, sondern stärkten auch die Tarifkommission in den Verhandlungen. Mit den Teamdelegierten hatte die Tarifkommission ein Expert*innen-Gremium im Rücken, das auf jeden Einwurf des Arbeitgebers direkt kontern konnte. So gelang es, dem Arbeitgeber Kontra zu geben und ihn sogar bloßzustellen, da er sich in den einzelnen Bereichen weniger gut auskannte als die Beschäftigten selbst. Auch Louisa hat die Situation auf ihrer Station einmal vor der Tarifkommission geschildert.

Für Diana, Camilla und Louisa ist klar: Der Berliner Erfolg ist ein Meilenstein in der Bewegung für bessere Pflege und Gesundheitsversorgung. Und er strahlt aus: Erste Einladungen zur weiteren Vernetzung gibt es schon. Nicht nur Kolleg*innen aus Deutschland, sondern auch aus Großbritannien, der Schweiz und Frankreich sind an Austausch interessiert. Das gibt Selbstvertrauen. Die Berliner Erfahrung hat deutlich gemacht: Gewerkschaftliche Organisierung ist kein Selbstzweck. Sie kostet Arbeit, Kraft und Energie. Und sie kann wirklich etwas substanziell verändern. »Geschichte wird gemacht« und die Berliner Krankenhausbeschäftigten haben ihre Geschichte selbst geschrieben. Ich verabschiede mich von Diana, die mit ihren Kolleg*innen aus den Tochterunternehmen anstoßen will. Sie haben am Abend vor unserem Gespräch auch einen Abschluss erzielt. Es ist ihr gemeinsamer Kampf, den sie nun zusammen feiern.

Fanni Stolz ist Referentin für gewerkschaftliche Erneuerung am Institut für Gesellschaftsanalyse an der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/krankenhausstreik-do-it-yourself

#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Pflege

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Was bedeutet es, wenn ein Arbeitskampf von den Beschäftigten selbst geführt wird, von Anfang bis Ende? Die ver.di-Auseinandersetzung in den Berliner Klinken im Herbst 2021 zeigt: Es ist hart, aber lohnt sich. Fünf Wochen (bzw. acht bei den ausgelagerten Servicebetrieben) – so lange wurde an deutschen Kliniken sehr selten gestreikt. Um zu verstehen, warum der Streik erfolgreich war, muss man den ganzen Arbeitskampf betrachten, der lange vor dem ersten Streiktag begann.

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

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»Irgendwann sind auch unsere Kräfte am Ende«

Juni 2020 • Llanquiray Painemal • Susanne Schultz • Michel Jungwirth

Foto: Legalisierung jetzt!

Foto: Legalisierung jetzt!

Anti-Rassismus, Migration, Organisierung#Anti-Rassismus #Migration #Organisierung

„Guten Abend allerseits! Ich möchte Euch gern mitteilen, vor welchen Herausforderungen ich als undokumentierte Frau in dieser globalen Covid-19-Pandemie stehe. Ich habe meinen Job verloren, nachdem das Restaurant geschlossen hat, in dem ich gearbeitet habe. Als informelle Arbeiterin heißt das, dass es keinerlei Entschädigung für eine plötzliche Kündigung gibt. Ohne einen formalen Arbeitsvertrag habe ich kaum Verhandlungsmacht. Ich komme aus armen Verhältnissen, aus einem hochverschuldeten Haushalt. Bei mir hat dieser zusätzliche Schock des Lockdown meine Kräfte extrem geschwächt, auch noch damit fertig werden zu können. Ich habe zwei Söhne und auch meine Eltern sind von mir abhängig (sie leben im Herkunftsland, Kommentar respect). Keine Arbeit bedeutet kein Geld – und kein Geld bedeutet kein Essen, keine Medikamente und keine Mittel für Miete und andere Rechnungen. Ich kann wohl noch ein oder zwei Wochen überleben, aber ich weiß nicht, was in einem Monat passieren wird.“

„Hallo! Ich bin eine lateinamerikanische Frau und lebe hier seit fast drei Jahren. Ich bin illegal und bin mit meinem jüngsten Sohn hergekommen, um ein besseres Leben zu haben und eine bessere Bildung für ihn. Als diese Pandemie ausgebrochen ist, bin ich leider schlimm erkrankt, hatte Probleme mit den Bronchien. Seitdem ich hier bin, habe ich die ganze Zeit gearbeitet, habe Wohnungen geputzt und auf Babys aufgepasst. Aus der Wohnung, in der ich bisher wohnte, haben sie mich rausgeschmissen, weil ich krank war. Gerade hilft mir eine Freundin: Sie hat mich aufgenommen und ich schlafe mit meinem kleinen Sohn auf dem Boden in ihrem Wohnzimmer. Ich bin sehr besorgt und sehr erschrocken darüber, was gerade passiert. Denn ich habe keinerlei Rücklagen. Ich hoffe sehr, dass Ihr uns unterstützt: Wir wollen legalisiert werden, wir möchten arbeiten, wir möchten etwas tun können.“[1]  

Diese Botschaften haben uns Frauen ohne Papiere aus unserem Netzwerk Ende April zugeschickt. Anlass war der Aktionstag #LegalisierungJetzt am 25. April, den wir, die respect-Initiative Berlin und das Bündnis Solidarity City Berlin, gemeinsam organisiert haben. Ziel war es, auf die Situation Illegalisierter aufmerksam zu machen, einmal mehr für die Forderung nach Legalisierung einzutreten und durch einen Solidaritätsfonds auch praktische Unterstützung leisten zu können. Wir haben an dem Tag unglaublich viele Solidaritäts-Fotos aus aller Welt erhalten und können nun für einige Monate mit den erhaltenen Spenden auf niedrigem, nicht existenzsicherndem Niveau Nothilfe für acht Frauen aus unserem Netzwerk leisten.[2] 

Mit diesem Text stellen wir die aktuelle Situation illegalisierter Migrantinnen in Berlin vor und wollen in Anknüpfung an den Aktionstag Ansatzpunkte für politische Forderungen in Zeiten der Corona-Krise diskutieren. Denn wir merken zurzeit, dass die extreme Zuspitzung der Krisensituation es mehr als sonst ermöglicht, auf die schlechte Normalität der Illegalisierung aufmerksam zu machen. Wir hoffen, dass es eine Chance gibt, dass die kleinen Pflänzchen der aktuellen Solidarität wachsen und sich ausweiten – in Richtung einer Politik der Legalisierung, in Richtung eines Existenzgeldes für alle, in Richtung eines Rechts auf eine gute öffentliche Gesundheitsversorgung für alle und auch in Richtung einer anderen Organisation und Verteilung von Sorgearbeit. Doch kurz zu uns: Die respect-Initiative macht seit mehr als 20 Jahren in Berlin auf die Situation von Frauen ohne Papiere aufmerksam, fördert die Selbstorganisierung, ist mit ihnen solidarisch und unterstützt sie konkret. Die meisten der illegalisierten Frauen kommen aus lateinamerikanischen und aus afrikanischen Ländern. Seit einigen Jahren sind wir auch in dem Bündnis Solidarity City Berlin aktiv und setzen uns mit anderen Gruppen für einen gleichberechtigten und würdigen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Schulbildung für Menschen ohne oder mit nur prekärem Aufenthaltsstatus in Berlin ein.

Die Situation illegalisierter Menschen in Zeiten von Corona – Legalisierung jetzt erst recht!

Die aktuelle Krisensituation, die wir in Zeiten einer globalen Pandemie, des (partiellen) ökonomischen Lockdowns sowie einer drastischen Verschiebung von Sorgearbeitsverhältnissen erleben, trifft illegalisierte Frauen besonders hart. Und sie macht in dieser drastischen Zuspitzung auf eine Normalität aufmerksam, die für Illegalisierte nichts Neues ist: die alltägliche Angst vor Polizeikontrollen; die mangelnde oder allenfalls prekäre Gesundheitsversorgung; die alltägliche ökonomische Unsicherheit und Abhängigkeit von Jobs in Gastronomie und Privathaushalten – und die Abwesenheit von rechtlicher Absicherung, von Kündigungsschutz, Urlaub und Krankengeld. Hinzu kommt die Belastung illegalisierter Frauen in der Sorge und Verantwortung für Kinder und Familienangehörige, sowohl hier als auch sehr oft im Herkunftsland. Angesichts dieser Ausgrenzungen und Vielfachbelastungen sind sie oftmals angewiesen auf Alltagssolidarität, erfahrungsgemäß meist vor allem von denjenigen, denen es so ähnlich geht oder die diese Erfahrung früher einmal gemacht haben. Die Gründe, warum viele Menschen illegalisiert in Deutschland leben, sind vielfältig. Vielen von ihnen wurde politisches Asyl verweigert. Aus Angst vor Repression in ihren Ländern entschieden sie sich, in den Untergrund zu gehen. Andere sind als Touristinnen gekommen und haben beschlossen, hier zu bleiben, um zu arbeiten und ihren Familien in ihren Herkunftsländern zu helfen. Viele Frauen versuchen, in Deutschland ein eigenständiges Leben aufzubauen, manchmal auch, um sich patriarchalen und sexistischen Verhältnissen zu entziehen. Die zentrale Ursache dieser Situation ist die Ungleichheit zwischen dem Globalen Süden und Norden. So wie viele Europäerinnen in Krisenzeiten nach Lateinamerika ausgewandert sind, wandern auch heute Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben aus oder fliehen vor Unterdrückung. Seit Jahrzehnten haben antirassistische, migrantische, solidarische Bewegungen in Deutschland immer wieder ein Recht auf Rechte eingefordert, um gegen einen zentralen Pfeiler rassistischer Diskriminierung und Ausbeutung vorzugehen: den systematischen Ausschluss aus sozialen und Bürgerrechten in der Illegalisierung – sei es in der langjährigen Kampagne „kein Mensch ist illegal“, sei es in der Anfang der 2000er aktiven „Gesellschaft für Legalisierung“, sei es in vielfältigen selbstorganisierten migrantischen Bewegungen und Protesten. Dennoch ist auf der Ebene der staatlichen Regulierung in Deutschland trotz all dieser Kämpfe nichts verbessert worden für die Hunderttausende, die trotz ihrer enormen Expertise und „Systemrelevanz“ nicht als „Fachkräfte“ gelten und für die die (sowieso minimalen) klassenselektiven Öffnungen des Einwanderungsregimes der letzten Jahre irrelevant sind. Es gibt keinerlei Stichtagsregelungen oder Kontingente der Legalisierung wie in anderen europäischen Ländern. Die Einzelnen müssen in Härtefallkommissionen als Bittstellerinnen auftreten, die nur wenigen eine Perspektive bieten. Oder es ergeben sich neue Möglichkeiten aufgrund biographischer Veränderungen in ihren Familienverhältnissen (etwa abhängige Aufenthaltsrechte nach einer Heirat oder der Geburt eines „deutschen“ Kindes). Viele müssen sich auf lange Sicht in dem extrem prekären und entrechteten Leben als Menschen ohne Papiere einrichten. In Zeiten von Covid-19 sind zwar Abschiebungen vorübergehend und teilweise ausgesetzt. Dies ändert aber nichts an der prinzipiellen Bedrohung Illegalisierter durch das Abschieberegime. Ganz im Gegenteil ist ihre Bewegungsfreiheit aufgrund der massiven und beängstigenden Polizeipräsenz zusätzlich eingeschränkt: Viele Menschen ohne Papiere wagen es derzeit nicht, auf die Straße zu gehen, aus Angst, kontrolliert zu werden. Die anfänglich in Berlin eingeführte Ausweispflicht wurde zwar wieder zurückgenommen, das ändert aber nichts an der prinzipiellen Angst und dem Unbehagen angesichts der vielen Ordnungskräfte und Polizeiwagen, die derzeit das Bild der Öffentlichkeit prägen. Auch ohne Ausweispflicht ist das Thema Racial Profiling eine Alltagsrealität für von Rassismus betroffene Menschen – insbesondere an den sogenannten gefährlichen Orten, wo die Polizei kontrollieren kann, wie sie will. Die sich zuspitzende prekäre Lage der Menschen ohne Papiere in der Pandemiekrise hat aber auch zu neuen Initiativen geführt. In der Partei Die Linke wird bereits seit einiger Zeit ausgelotet, ob mit einem Städte-Ausweis der Zugang Illegalisierter zu städtischen Dienstleistungen ermöglicht werden könnte. Am 22. April haben 27 Abgeordnete der Linken an Kanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer einen offenen Brief geschrieben, in dem sie sich u.a. für eine einmalige finanzielle Hilfe für Illegalisierte einsetzen – des weiteren für einen Abschiebestopp, eine Generalamnestie für Illegalisierte und insbesondere dafür, „eine Legalisierung für alle Menschen ohne Aufenthalt in Deutschland einzuleiten“ (Jelpke 2020). Diese begrüßenswerte Initiative setzt sich also für eine Stichtagsregelung ein, wie sie in anderen europäischen Ländern in der Vergangenheit Praxis war und geht damit erfreulicherweise über eine temporäre Krisenbewältigung nur für bestimmte (bereits registrierte) Gruppen hinaus, wie etwa die vielbeachtete Sofortmaßnahme der portugiesischen Regierung.[3] 

Bisher ist allerdings wenig unternommen worden, um dieser parlamentarischen Initiative mehr politischen Nachdruck zu verleihen und zu verhindern, dass sie eine Eintagsfliege bleibt. Hier liegt es nicht zuletzt an den sozialen antirassistischen Bewegungen, die neue Sichtbarkeit in der aktuellen Krisensituation zu nutzen, um die Frage der Legalisierung wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen und eine solidarische Lösung zu fordern. Aufgrund der Kriminalisierung ist es Illegalisierten kaum möglich, massenhaft auf die Straße zu gehen oder allein eine öffentliche Kampagne zu stemmen.

Globale Care-Arbeit in der Krise – die gekündigten Care-Arbeiterinnen ohne Papiere  stehen jetzt vor dem Nichts

Illegalisierte Menschen arbeiten hauptsächlich im Dienstleistungssektor. Migrantinnen übernehmen die Haus-, Sorge- und Pflegearbeit, die viele Menschen mit besseren wirtschaftlichem Lebensbedingungen selbst nicht mehr leisten und dadurch Zeit für ihre Erwerbsarbeit haben. Menschen ohne Papiere kümmern sich um Kinder, sie holen sie von der Schule ab, bringen sie ins Bett, wenn die Eltern ins Kino oder auf eine Party gehen, putzen die Häuser, bügeln, kochen in Restaurants, machen sauber in Hotels, oder arbeiten auch auf dem Bau. Als Isolation und soziale Distanzierung in der Pandemie zur neuen gesellschaftlichen Priorität wurden, blieben die Arbeit gebenden Familien zu Hause. Schulen und Kitas wurden geschlossen und illegalisierte Arbeiterinnen wurden nicht mehr gebraucht. Die Arbeitgeberinnen teilten den Care-Arbeiterinnen meist mit, dass sie auf unbestimmte Zeit ihre Arbeit nicht mehr benötigen. Die uns bekannten illegalisierten Arbeiterinnen haben fast alle ihre Jobs verloren, und bis auf das eine oder andere Almosen (etwa 20 Euro im Briefumschlag bei der letzten Arbeitsstunde) wurden sie ohne jegliche Unterstützungsangebote in die Kontaktsperre entlassen. Insbesondere die wichtige Einnahmequelle Babysitten und Kinderbetreuung fällt komplett aus, weil eine Ansteckung durch die Arbeiterinnen befürchtet wird. Die körperlich oft härteren stundenweisen Putzjobs gibt es teilweise noch, aber nicht in dem Umfang, dass sie annähernd zum Überleben ausreichen. Zu alledem kommt noch die enorme Belastung der globalen Care-Arbeiterinnen durch die Situation ihrer Familienangehörigen in ihren Herkunftsländern. Gerade jetzt sind diese in vielen Ländern besonders auf die Unterstützung durch Familienangehörige im globalen Norden angewiesen. Oftmals hängen nicht nur die Kinder von deren Einkommen vom Putzen und Babysitten ab, sondern auch weitere Familienangehörige, etwa die alten Eltern. Und gerade jetzt verlieren viele der Familienangehörigen in den Herkunftsländern mit oft extremen Ausgangssperren selbst ihre Einnahmequellen. „Wenn wir nicht wegen Corona sterben, sterben wir, weil wir hungern“, teilten etwa Familienangehörige aus El Alto in Bolivien mit. In Zeiten von Corona zeigen sich viele widersprüchliche und problematische Entwicklungen in der Care-Arbeit gleichzeitig, und die Frage der “Systemrelevanz” wirft viel weitergehende Fragen auf, als sie in der Öffentlichkeit oft diskutiert werden. Immerhin wird gerade relativ breit in der Öffentlichkeit kritisiert, dass es zu einer extremen Retraditionalisierung von Rollenmustern kommt. Es sind vor allem die Frauen, deren Arbeitskapazitäten in den Haushalten beim Wegfallen der öffentlichen Kinderbetreuung extrem in Anspruch genommen werden. Was demgegenüber kaum öffentlich problematisiert wird ist, dass das übliche prekäre Outsourcing dieser Arbeiten an migrantische Arbeiterinnen vorübergehend und teilweise reduziert wird die weiterhin unsichtbaren Carearbeiterinnen um ihre Existenzgrundlage bringt. Im Unterschied zu den osteuropäischen Pflegekräften, von denen viele das Land verlassen haben und so den häuslichen Pflegenotstand verstärkt haben, bleiben die Frauen, mit denen wir vernetzt sind, hier – und stehen vor dem Nichts. Wieder einmal erscheint das Hin- und Herschieben dieser für die Gesellschaft so zentralen und gleichzeitig so abgewerteten Haus- und Sorgearbeiten als die einzige Möglichkeit; ein Hin- und Herschieben, das allein zwischen unbezahlter und absolut prekarisierter Arbeit und vor allem zwischen Frauen stattfindet – und zwar zwischen Frauen mit verschiedenen Klassenzugehörigkeiten und unterschiedlichen Aufenthaltsrechten bzw. unterschiedlicher Betroffenheit von rassistischer Diskriminierung. Eine wirkliche Debatte über „Systemrelevanz“ müsste unserer Meinung nach ganz grundsätzlich die Frage einbeziehen, wie diese Arbeit zugleich aufgewertet, besser bezahlt und umverteilt werden kann. Dann würde aus der Debatte um Systemrelevanz allerdings auch eine Debatte um Systemwechsel.

Der mühselige Kampf für eine Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere in Berlin geht weiter…

Angesichts der enormen Schwierigkeit, einer Legalisierungskampagne in Deutschland zum Erfolg zu verhelfen, bleibt es akut unsere Aufgabe, für elementare soziale Rechte auch in der Illegalität zu kämpfen. Wie die Frauen in ihren Audiobotschaften berichten, ist die Gesundheitssituation für illegalisierte Menschen in Berlin weiterhin extrem prekär – sowohl die allgemeine Versorgung als auch die spezifische zu COVID-19. In den letzten Jahren haben wir uns im Bündnis Solidarity City Berlin für einen anonymisierten Krankenschein eingesetzt, der einen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Menschen ohne Krankenversicherung ermöglichen würde, darunter insbesondere für Leute ohne Papiere. Viele Jahre der Kämpfe und des Nachhakens von Solidarity City kurz vor den Wahlen 2016 haben zwar bewirkt, dass der rot-rot-grüne Senat eine Clearingstelle eingerichtet hat, um Menschen ohne Krankenversicherung den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Leider blieb dies aber bisher höchst bürokratisch und mangelhaft organisiert: Es gab bisher wenig Engagement, die Existenz der Clearingstelle überhaupt in den verschiedenen Communities bekannt zu machen. Zudem erlebten die Antragsstellerinnen, die meist mit akuten Gesundheitsproblemen kamen, teilweise entwürdigende Interviews. Immerhin hat sich in Zeiten von Corona etwas Positives getan: Der Senat hat endlich einen Vertrag mit der Kassenärztlichen Vereinigung in Berlin gemacht, so dass die Clearingstelle nun Menschen ohne Papiere zu allen Berliner Hausärztinnen schicken kann, und nicht nur zu wenigen Vertragsärztinnen. Dennoch bleibt die Clearingstelle ein Nadelöhr, das unter Corona-Bedingungen noch enger geworden ist: Oft wird erst mehrere Wochen nach einer telefonischen Anfrage ein Termin angeboten. Zudem fehlt es weiterhin an verlässlichen und ausführlichen Informationen zu Tests und Behandlungen für Illegalisierte im Falle einer möglichen COVID-19-Infektion. Auch jetzt, Ende Mai, bleibt die Kostenübernahme für die mindestens 60 Euro teuren Tests unklar, und falls die Person positiv getestet ist, wird sie gemeldet. Das habe zwar – so die Gesundheitsämter – keine aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen für Illegalisierte, schürt aber dennoch Ängste bei den Betroffenen, weil nicht ausführlich über den Umgang mit den Daten informiert wird. So bleiben auch in Corona-Zeiten die allermeisten Menschen ohne Papiere in Berlin weiter auf solidarische und karitative Organisationen angewiesen – oder gehen wenn überhaupt nur in extremen Notlagen zu Ärztinnen oder ins Krankenhaus.

Zwischen Depression, gegenseitiger Hilfe und ersten Schritten des Protestes

Wie ist es möglich, sich zu organisieren, wenn es so schwierig ist, sich zu bewegen und zu treffen – und wenn die Kräfte schwinden, wie es die Botschaften unserer Freundinnen eindrücklich schildern? Insbesondere die ersten Wochen während der Pandemie-Krise in Deutschland waren von Verzweiflung und Depression geprägt. Viele der Frauen ohne Papiere waren völlig isoliert und entwickelten in einer extrem nervenaufreibenden Situation der Unsicherheit und Notlage Angstzustände und Depressionen. Einerseits müssen sie ihre Gesundheit besonders schützen, denn ohne Krankenversicherung oder die Möglichkeit, sich auf COVID-19 testen zu lassen, leben sie besonders prekär. Andererseits ist es in dieser Lage fast unmöglich, nach anderen Jobs zu suchen, und so müssen viele mit der täglichen Sorge leben, wie sie ihre Miete in den kommenden Monaten bezahlen werden – oder wo sie weiter unterkommen könnten, wenn sie ihre Unterkünfte schon verloren haben. Langsam entstehen aber auch wieder solidarische Netzwerke untereinander – und wie so oft sind es zuallererst die Frauen, die in einer ähnlichen Lage sind oder waren, die sich gegenseitig unterstützen. Zudem gibt es viel Bereitschaft in unserem Netzwerk, auch an politischen Forderungen zu arbeiten und diese zu artikulieren, wie anlässlich des Aktionstages #LegalisierungJetzt. Aber auch in den gemeinsamen Forderungen Berliner Basisorganisationen, bei den Protesten gegen die Situation in den Lagern der Kampagne #leavenoonebehind oder in den Mobilisierungen gegen rassistische Gewalt am 8. Mai unter dem Schlagwort #entnazifizierungjetzt kommt dies zum Ausdruck. Zentraler Ausgangspunkt ist die Art und Weise, wie die Pandemiekrise die skandalösen sozialen Ungleichheiten aufdeckt und verschärft – und wie es dennoch an jeglicher staatlicher Unterstützung mangelt. Menschen ohne Papiere existieren für den deutschen Staat auch weiterhin nicht und bleiben unsichtbar. Auf Wunsch der illegalisierten Frauen, mit denen wir in Kontakt sind, möchten wir darum alle Organisationen, Initiativen und Menschen auffordern, sich für die Legalisierung der Menschen ohne Papiere einzusetzen. Wir fordern ein Recht auf gleichberechtigten Zugang zu öffentlicher Gesundheitsversorgung für alle Menschen, die in Deutschland leben, sowie die Existenzsicherung für alle, die in der Krise ihre Arbeit teilweise oder ganz verloren haben, egal ob formal oder informell. Und wir fordern, dass Arbeitsrechte unabhängig vom Aufenthaltsstatus gelten und auch geltend gemacht werden können. Wir glauben, dass es in Zeiten, in denen viel Verantwortung und Solidarität von uns verlangt wird, extrem wichtig ist, dass illegalisierte Menschen nicht auf der Strecke bleiben und dass auch für sie die Idee einer solidarischen Gesellschaft gelten muss. Die aktuelle Krise zeigt deutlich, dass niemand von grundlegenden sozialen Rechten ausgeschlossen werden darf. Die plötzliche Aufmerksamkeit für systemrelevante“ Sorgearbeiterinnen sollte alle – auch die Arbeiterinnen ohne Papiere – einbeziehen und dazu genutzt werden, dass deren Arbeit mit Rechten versehen, aufgewertet und besser bezahlt wird. Dies ist ein erster und unverzichtbarer Schritt, um weitere, langfristige Ideen zu entwickeln, wie Sorgearbeit gerechter umverteilt werden kann und eine rassistische und patriarchale Arbeitsteilung überwunden werden kann.

 

Llanquiray Painemal und Susanne Schultz engagieren sich in der respect-Initative Berlin. Michel Jungwirth ist aktiv im Bündnis Solidarity City Berlin.

Fußnoten:

[1] Botschaften von illegalisierten Frauen in Berlin – mehr Erfahrungsberichte unter: www.respectberlin.org/. 

[2] Siehe http://www.respectberlin.org/wordpress/2020/04/aktionstag-heute-information-siehe-unten/ https://twitter.com/hashtag/LegalisierungJetzt?src=hashtag_click; https://de-de.facebook.com/events/2286744208301926/. 

[3] Ein weiteres, wiederum anders gelagertes Beispiel einer Erweiterung von Aufenthaltsrechten während der Pandemiekrise ist Italien, wo Erntearbeiterinnen legalisiert werden können, allerdings auch hier nur, wenn sie schon Anfang März registriert waren, nur mit Arbeitsvertrag und für sechs Monate befristet – eine eindeutig ökonomisch begründete Politik der Regularisierung (Süddeutsche Zeitung, 13.5.2020).

#Anti-Rassismus #Migration #Organisierung

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Illegalisierte Arbeiter*innen in Berlin fordern: Legalisierung jetzt!

Foto: Legalisierung jetzt!

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Reichtum des Öffentlichen

Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht

August 2020

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

Rekommunalisierung, Krise, Wohnen, Krankenhaus, Mobilität, Migration, Pflege, Feminismus, Alternativen, Selbstverwaltung, Organisierung#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen beinharte Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor. Die Unternehmen versuchen, ihre Verluste zu sozialisieren. Nach den öffentlichen Schulden drohen eine Neuauflage von Austeritätspolitiken ebenso wie neue Angriffe der Arbeitgeberseite.

Die Verteidigung des Sozialstaats geht also in eine neue Runde. Doch sie sollte nicht als Abwehrkampf geführt werden, als ein Versuch, das Bedrohte zu konservieren. Stattdessen ist es Zeit, den Sozialstaat gründlich zu erneuern und seine alten Fehler zu beheben. Doch wie sieht ein Sozialstaat aus, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist? Wie lässt sich verhindern, dass sich die Spaltung der Subalternen weiter vertieft? In Krisen drohen die Kapitalfraktionen ihre Spielräume auf Kosten der Lohnabhängigen zu erweitern. Wie kann eine Alternative dazu aussehen? Und wo wird jetzt schon dafür gekämpft?

Krise an zwei Fronten

Bisher war die Finanzierung des Sozialstaates an wirtschaftliches Wachstum gebunden. In einem hart erkämpften historischen Klassenkompromiss wurden Sozialleistungen auf der Grundlage stetigen Wachstums finanziert und schrittweise ausgebaut. Dies war ein Kompromiss, der lange nicht zulasten der Profite ging. Als die Profitrate zu fallen begann, wurde er mit der neoliberalen Offensive seit Beginn der 1980er Jahre einseitig aufgekündigt. Der Sozialstaat geriet mehr und mehr unter Druck. Angesichts von Globalisierung und Transnationalisierung galt ein starker Sozialstaat als Negativfaktor im internationalen Wettbewerb (auch wenn inzwischen im Sinne des „social investment state“ eine produktivistische Neuorientierung erfolgt ist; vgl. Dowling 2016). Die Begründung: Unter dem Kostendruck der Konkurrenz könnten eben nicht alle Wohltaten finanziert werden. Nach und nach wurden die Systeme sozialer Sicherung ausgehebelt und neoliberal umgebaut. Mit dem sogenannten New Public Management gerieten betriebswirtschaftliche Kriterien zum Maßstab des Handelns auf sämtlichen Feldern des Sozialsystems (vgl. Wohlfahrt 2015).

Seitdem kriselt der Sozialstaat an zwei Fronten: Einerseits haben Jahrzehnte der neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik den Bereich sozialer Infrastrukturen und öffentlicher Dienste finanziell und personell ausgezehrt – vom Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Bereich über die Wohnraumversorgung bis hin zu Kultur und Mobilität. Es fehlt an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, aber auch an Verwaltungspersonal, Steuerprüfer*innen oder Planer*innen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beziffert die Lücke schon jetzt auf über eine Millionen Arbeitskräfte und bei weiter dynamisch wachsendem Bedarf auf bis zu vier Millionen (Ötsch u.a. 2020).

Andererseits führte die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu einem längst überwunden geglaubten Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut.[1] Die Ursachen sind vielfältig und hängen doch zusammen: Deregulierung der Arbeitsmärkte und endemische Ausbreitung von Niedriglöhnen und unfreiwilliger Teilzeit, Privatisierung und Ausdünnung der sozialen Infrastrukturen, steigende Mieten sowie eine ungerechte Besteuerungspolitik, die hohe Einkommen sowie große Vermögen begünstigt. In der Folge sehen sich Millionen Menschen mit unsicheren Zukunftsaussichten konfrontiert: Aufgrund von Arbeitslosigkeit, aufgrund von Soloselbständigkeit oder Mini- und Midi-Jobs erwerben immer weniger Menschen ausreichende Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen – unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen. Aber selbst dann, wenn Ansprüche bestehen, reicht das Leistungsniveau oftmals nicht länger für ein Leben ohne Armut. Mit Niedriglöhnen oder erzwungener Teilzeit lässt sich keine vernünftige Rente erwirtschaften oder gar privat vorsorgen. Für große Teile der Bevölkerung bieten die bestehenden Sicherungssysteme keine Perspektive mehr – das Sicherungsversprechen des Sozialstaates verliert an Glaubwürdigkeit und muss grundlegend erneuert werden.

Kein Zurück zum „alten“ Sozialstaat

Wer den Sozialstaat erhalten will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sich seine Gestalt wandeln muss. Um für die neu zusammengesetzte Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts attraktiv zu sein, muss das Konzept von Sozialstaatlichkeit erweitert und verändert werden. Dazu gilt es, linke Kritiken an seiner bisherigen Verfasstheit aufzunehmen.

Der Sozialstaat war immer gekoppelt an spezifische Produktions- und Lebensweisen, an ein bestimmtes Geschlechterregime und an das damit verbundene Modell von Erwerbsarbeit und Reproduktion. Feminist*innen haben die Norm des männlichen Alleinverdieners im fordistischen Wohlfahrtsstaat kritisiert. Soziale Absicherung ist darin an (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit und an eine weitgehend lückenlose Erwerbsbiografie gebunden. Gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, die historisch an Frauen delegiert und in den Verantwortungsbereich der privaten Haushalte verlagert wurde, erfährt weder Anerkennung noch soziale Absicherung. Damit ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit systematisch in das fordistische Wohlfahrtssystem eingeschrieben. Es verstärkt zudem mit seinem patriarchalen Familienmodell die Abhängigkeit von Frauen und benachteiligt queere Menschen. Obgleich sich die Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse inzwischen deutlich gewandelt haben, bleiben die Verkopplung von sozialer Absicherung und Erwerbstätigkeit sowie die Privilegierung eines heteronormativen Ehe- und Familienmodells bestehen. Deswegen: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Erneuerung des Sozialstaates.

Die meisten Leistungen des Sozialstaates sind außerdem an nationale Zugehörigkeit gebunden. Es profitieren von ihnen nur diejenigen, die über eine bestimmte Staatsbürgerschaft verfügen oder über die offizielle Lohnarbeit sozialversichert sind. Geflüchtete, Personen im Asylverfahren und insbesondere Illegalisierte haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, obwohl Letztere in Sektoren wie Hausarbeit, Pflege, Bau, Landwirtschaft, Sexarbeit, Hotellerie, Gastgewerbe oder Reinigungsgewerbe einen elementaren Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung leisten (vgl. Behr 2010). Über das Aufenthaltsrecht wird migrantische Arbeit abgewertet, viele sind gezwungen, besonders schlechte Löhne und unsichere Bedingungen zu akzeptieren, was sich nicht nur in geminderten Leistungsansprüchen niederschlägt, sondern außerdem eine gesellschaftliche Aufwertung der genannten Arbeiten (Hausarbeit, Pflege etc.) erschwert. Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse werden dadurch verschärft.

Aber auch auf Migrant*innen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wirkt sich der bestehende Sozialstaat diskriminierend aus. Sie leiden besonders häufig unter unterbrochenen Erwerbsbiografien und Phasen informeller, schlechter bezahlter oder generell prekärer Beschäftigung, was geringere Anwartschaften zur Folge hat. Nicht erst angesichts wachsender Migrationsbewegungen muss diese Selektivität des Sozialstaats in Bezug auf die nationale Herkunft überwunden werden. Es bedarf hier einer grundlegenden Erneuerung, um ihn für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Eine große Aufgabe.

Die linke Kritik am fordistischen Sozialstaat hat schließlich deutlich gemacht, dass er – trotz seiner zweifellos positiven Funktion der Absicherung und Umverteilung – auch paternalistische Züge trägt und zur Passivität anhält. Das bürokratische, starre und auf Kontrolle orientierte Hilfesystem ist nicht nur an bestimmte Erwerbsmodelle und Lebensformen gebunden, sondern wirkt an vielen Stellen entmündigend. Der Ausschluss vieler Leistungsempfänger*innen von gesellschaftlicher Teilhabe wird so – trotz sozialer Abfederung – letztlich fortgeschrieben.

Zwar sind etliche, von Luc Boltanksi und Ève Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnete Einwände der neuen Linken später vonseiten neoliberaler Gegner*innen des Sozialstaats aufgenommen und entsprechend enteignet worden. Dennoch steckt hier ein für linke Zukunftsentwürfe unhintergehbarer Impuls: Ein Zurück zu den korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats des 20. Jahrhunderts ist keine Alternative, nicht nur wegen gewandelter Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse, sondern auch wegen seines ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Mit einer Erneuerung sozialer Sicherungssysteme ist darum auch die Aufgabe ihrer grundlegenden Demokratisierung verbunden.

Wo die Herausforderungen liegen

Die sozialen Sicherungssysteme stehen vor mehreren neuen Herausforderungen, die mit alten Konzepten nicht gelöst werden können.Sozial "abgehängte" Räume: Die Folgen der Erosion des Sozialstaates zeigen sich besonders prägnant auf der sozialräumlichen Ebene. Soziale Ungleichheit verschärft sich und dokumentiert sich zunehmend in Postleitzahlen, teils entstehen „abgehängte" Räume mit extrem lückenhafter Infrastruktur in benachteiligten Vierteln der Städte und in peripheren Zonen jenseits der Städte. Das trifft am stärksten marginalisierte Gruppen und erzeugt Konkurrenz um bereits knappe Ressourcen. Rechte Sicherheits- und Ordnungsdiskurse, die die Bedrohung einer vermeintlich homogenen Lebensweise der Einheimischen heraufbeschwören, können hieran anschließen. Da ein Großteil der Sozialleistungen von den Kommunen erbracht wird, wachsen zudem die sozialräumlichen Disparitäten zwischen Städten und Regionen.

Krise der Reproduktion: Das fordistische Geschlechter-, Reproduktions- und Familienmodell hat sich stark verändert – ohne dass jedoch Geschlechteregalität oder soziale Rechte für alle erreicht wurden. Heute dominiert nicht länger das Alleinernährer-, sondern das sogenannten Adult-Worker-Modell. Der Zwang, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, trifft nun alle gleichermaßen und verändert auch das Sorgeregime. Zwar werden immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die früher fast ausschließlich privat und unentgeltlich geleistet wurden, heute auch als Erwerbsarbeit erbracht – dies gilt etwa für Pflege und Erziehungsarbeit. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge werden die öffentlichen Angebote jedoch massiv ausgedünnt, was Überlastung, Stress und Erschöpfung zur Folge hat. Care-Arbeit ist auch als Lohnarbeit immer noch mehrheitlich eine Domäne von Frauen und Migrant*innen und wird somit deutlich schlechter bezahlt als andere Tätigkeiten. Ohne Geschlechtergerechtigkeit und ohne ein Ende der Abwertung von migrantischer Arbeit kann es also keine Erneuerung des Sozialstaates geben.

Die Zunahme bezahlter Sorgearbeit und ihre zunehmend privatwirtschaftliche Organisierung wirft auch die Frage neu auf, wo die Grenzen einer kapitalistischen Inwertsetzung von Fürsorge liegen. Ausgehend hiervon ist auch zu klären, ob nicht wichtige gesellschaftliche Aufgaben dem Markt gänzlich entzogen werden müssen, ob und inwieweit also eine Vergesellschaftung oder auch Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge notwendig ist.

Migration: Mit der Zunahme weltweiter Migration stellt sich die alte Frage nach dem Zugang zu bis dato vor allem nationalstaatlich organisierten Sicherungssystemen neu. Die Gesellschaften des Nordens sind noch stärker als bisher zu Einwanderungsgesellschaften geworden. Eine Abschottung gelingt nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche wie dem Anspruch nach Solidarität und Antirassismus. Ein in erster Linie als Versicherungssystem konzipierter Sozialstaat setzt allerdings jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anwartschaften voraus, die mit einer gestiegenen Bewegungsfreiheit und globaler Migration kaum kompatibel sind. Der Ausschluss vieler migrantischer Arbeitskräfte von sozialen Sicherungsleistungen ermöglicht die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sozialstaatliche Rechte müssen deswegen neu gedacht und von einem restriktiv regulierten Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht sukzessive gelöst werden.

Globale Ungleichheit: Das Einkommensgefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern hat zwar über die letzten Jahrzehnte abgenommen. Dies liegt aber vor allem am Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren wie China oder Südkorea oder von sogenannten Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Indien. Andere Länder sind im Prozess neoliberaler Globalisierung weiter zurückgefallen. Krieg und Zerstörung, Ressourcenausbeutung, unfaire Handelsabkommen, ungerechte weltwirtschaftliche Beziehungen und eine Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung in globalen Produktionsketten zerstören die Lebensperspektiven von Millionen. Die dadurch verursachte Ausbeutungsdynamik zwischen Nord und Süd wirft die Frage nach der Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen in den reichen Ländern mit besonderer Schärfe auf. Gleichzeitig hat die Schere zwischen Arm und Reich auch in den wohlhabenderen Gesellschaften ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung selbst. Die wachsende Ungleich unterminiert damit die Fundamente des sozialen Gewebes.

Klimakrise: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme klassenspezifischer Ungleichheiten und einem drastisch steigenden CO2-Ausstoß. Der Anteil, den die Reichen an den weltweiten Emissionen haben, wächst überproportional stark, während der Anteil der Ärmsten rückläufig ist. Dieses Missverhältnis gilt generell auch für die einzelnen Gesellschaften (Kleinhückelkotten u.a. 2016). Mehr Gleichheit ist also nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen notwendig.Die Folgen kapitalistischen Wachstums haben zu einer planetarischen ökologischen Krise geführt, die weitere soziale Verwerfungen sowie eine Zuspitzung der Reproduktionskrise und zunehmende Migrationsbewegungen nach sich zieht und immer mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Damit sind diese Entwicklungen zu nicht mehr hintergehbaren Herausforderungen auch für unser Verständnis von Sozialstaat geworden. Zugleich wird deutlich: „Der Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet“ (Urban). Wenn solidarische Formen der Krisenbearbeitung nicht durchgesetzt werden können und es nicht zu einer Umverteilung von Ressourcen sowie zu einer Verallgemeinerung sozialer Rechte kommt, sind eine Zunahme von Verteilungskonflikten und eine Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse absehbar.

Damit geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Sie betrifft die kommunale, nationale und transnationale Ebene. Doch um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss der Sozialstaat auch finanziert werden. Angesichts der ökologischen Krise kann dabei nicht umstandslos an die Tradition des sozialstaatlichen Kompromisses auf Basis von noch mehr Wachstum angeknüpft werden. Einerseits müssen Unternehmen und Vermögende deutlich stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Andererseits muss das Verhältnis von Steuern und Beiträgen neu austariert werden, um die Abhängigkeit einer sozialen Absicherung von der Erwerbsarbeit zu überwinden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden.

Soziale Infrastrukturen: kostenfrei und demokratisch

Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können. Das zeigt sich auch in den Diskussionen um die Zukunft sozialer Absicherung und die Perspektiven des Sozialstaats im 21. Jahrhundert. Was also wären positive Entwürfe, die die Anliegen der vielfältigen Bewegungen des Protests bündeln könnten? Von den zunehmenden Arbeitskämpfen insbesondere im Bereich Pflege und Erziehung über die Mietenproteste, die Anti-Privatisierungs-Bündnisse bis hin zu den neuen antirassistischen Protesten und der Klimabewegung: Wie könnten gemeinsame Forderungen aussehen, die die unterschiedlichen Anliegen einer pluralen Linken und verschiedenen Teilen der Subalternen aufnehmen und sinnvoll miteinander verbinden?Seit einigen Jahren dreht sich die Debatte – angestoßen von einem Diskussionszusammenhang rund um Joachim Hirsch (2003) und das Frankfurter links-netz (2012) – verstärkt um die Bedeutung sozialer Infrastrukturen als Teil einer postneoliberalen Sozialpolitik. Der Ansatz stellt die sozialen Dienstleistungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Transformation. Nach vielen Jahren neoliberaler Politiken ist hier zum einen der Mangel besonders offensichtlich, zum anderen ist dies der einzige Sektor, der in den Industrieländern ein beträchtliches (klima- und ressourcenneutrales) Beschäftigungspotenzial verspricht.

Statt also Sozialleistungen wie bisher nur über einen Mix aus Versicherungsmodellen und steuerfinanzierten Ansprüchen jeweils individuell abzusichern, besteht die Idee, „soziale Infrastrukturen“ zum Kern eines neuen Sozialstaats zu machen darin, soziale Dienstleistungen konsequent auszubauen und für alle frei – also auch entgeltfrei – zugänglich zu machen. Das betrifft die Gesundheitsversorgung genauso wie den Bereich der (Weiter-)Bildung, der Erziehung und Betreuung, das Recht auf bezahlbares Wohnen und auf Mobilität genauso wie den Zugang zu Energie, Trinkwasser oder zum Internet. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt also – anders als etwa bei einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht primär auf der monetären Absicherung des individuellen Konsums, sondern auf dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, also auf dem kollektiven Konsum.[2]

Alles entgeltfrei? Ja und nein. Vorstellbar wäre beispielsweise, auf allen genannten Feldern eine entgeltfreie Grundversorgung zu ermöglichen und für die Befriedigung darüber hinaus gehender individueller Bedürfnisse, Vorlieben oder Leidenschaften die Menschen ganz oder teilweise bezahlen zu lassen. Für den Bereich der Energieversorgung, die ein modernes menschliches Grundbedürfnis darstellt, würde das Folgendes bedeuten: Die Grundversorgung ist im Rahmen sozialer Infrastrukturen abgedeckt. Wer mehr Energie verbraucht, zahlt dafür, und Vielverbraucher zahlen deutlich mehr, der Preis steigt also progressiv an. Dieses Prinzip ist auf unterschiedliche Bereiche anwendbar (vgl. Schachtschneider/Candeias 2013): Zur Kasse gebeten wird, wer viel verbraucht. Das hieße ein entgeltfreies Pro-Kopf-Trinkwasserkontingent, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen und Luxusautos; entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, die Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle gebührenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, (dauerhaftem) sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums, Vergesellschaftung großen Immobilienbesitzes und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.

Ein solches Konzept wäre nicht nur ein Beitrag zum Abbau von sozialen Ungleichheiten, sondern auch ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise. Investitionen in soziale Dienstleistungen sind ökologisch sinnvoll, da die Arbeit mit Menschen kaum Umweltzerstörung mit sich bringt und deren Ausweitung neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet auch als Ausgleich für die Jobs, die in den rückzubauenden Bereichen klimaschädlicher Industrien verloren gehen werden. Dieser Ansatz hilft nicht nur bei der Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit, sondern auch bei der der (unbezahlten) Reproduktion. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen wird professionelle Care-Arbeit aufgewertet und erhält zusätzliche Ressourcen. Zugleich lässt der Erwerbsdruck nach, da die Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse garantiert ist. Damit steht mehr Zeit für Sorge und Selbstsorge sowie für die Arbeit am Gemeinwesen und politisches Engagement bereit. Nicht zuletzt bietet sich hier auch eine Chance, die für die emanzipative Gestaltung von Geschlechterverhältnissen genutzt werden kann: Der Blick wird stärker auf die reproduktiven Funktionen und Tätigkeiten gerichtet: Was erhält und sichert unser gemeinsames Leben? Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die stärkere Entkopplung der sozialen Teilhabe vom Erwerbsstatus und von der Lebens- oder Familienform – also individuelle Ansprüche für jede und jeden, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft.

Der Ausbau sozialer Infrastrukturen stärkt auch eine solidarische und demokratische Gesellschaft, denn Angst und Unsicherheit vor den notwendigen gesellschaftlichen Umbrüchen werden gemindert. Zugleich erscheinen die diskriminierenden Sozialstaatskonzepte der Rechten weniger attraktiv, wenn Marginalisierung, Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit bekämpft werden. Das Konzept sozialer Infrastrukturen erlaubt es also nicht nur, linke Sozialpolitik jenseits des fordistischen Wohlfahrtstaates neu zu denken. Die Forderung nach einer entgeltfreien, sozialökologischen Grundversorgung für alle, die hier leben (unabhängig von Pass, Geschlecht, Postleitzahl oder sonstigem Status), kann als verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe und eines gesellschaftlichen linken, sozialökologischen solidarischen Pols in der Gesellschaft dienen.

Soziale Infrastrukturen zielen darauf, weite Teile der Daseinsvorsorge dem Markt (wieder) zu entziehen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das bedeutet konkret, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen. Mit der Rekommunalisierung beispielsweise von privatisierten Krankenhäusern, Altenheimen, Kindertagesstätten, Wohnraum oder privaten Mobilitätsdienstleistungen ist nicht zuletzt die Frage der Eigentumsform gestellt – wie insbesondere die Kampagnen gegen überhöhte Mieten zuletzt deutlich gemacht haben. Hier können Umverteilung und soziale Gerechtigkeit mit Forderungen nach Demokratisierung und Emanzipation verbunden werden. Denn jenseits der Eigentumsfrage gilt es, neue Formen der Beteiligung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Soziale Infrastrukturen in öffentlicher Hand bedeutet auch, diese umfassend zu demokratisieren, sie in die Hände der Produzent*innen und Nutzer*innen zu legen. An vielen Stellen wird bereits über Gesundheits- oder Care-Räte diskutiert. Auch regionale Mobilitäts- und Transformationsräte stehen auf der Tagesordnung. Wir könnten so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen und erste Schritt in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus gehen (vgl. Redaktion prager frühling 2009).

Ein strategischer Vorschlag zur richtigen Zeit

Wie lässt sich so ein Umbau öffentlicher Dienstleistungen durchsetzen? Fest steht, das Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn unterschiedliche Akteure darin ihre Interessen wiederfinden. Die Idee kostenfreier, demokratischer Infrastrukturen kann unserer Ansicht nach Spielräume für linke Politik eröffnen: Soziale Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, Spaltungen zu überwinden und solidarisch zu bearbeiten, weil sie egalitäre Zugänge für unterschiedliche Teile der Subalternen bieten. In funktionierenden sozialen Infrastrukturen kommt die Idee eines anderen kollektiven Wohlstands zum Ausdruck, die imstande ist, gemeinsame Interessen an einem öffentlichen Reichtum überhaupt erst zu artikulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. Candeias 2019, 6). Außerdem bietet sich die Chance, aus fruchtlosen, von Gegensätzen geprägten linken Debatten herauszukommen, und zwar hinsichtlich mehrerer Streitfragen:

Das bedingungslose Grundeinkommen: Von diesem Grundeinkommen erhoffen sich beispielsweise Erwerbslose, Soloselbstständige und prekär Beschäftigte mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten dagegen weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Die Idee „sozialer Infrastrukturen“, verbunden mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, kann hier neue Perspektiven aufzeigen und neue Bündnisse ermöglichen.

Die Wachstumsfrage: Auch an diesem Punkt steckt die linke Debatte fest: zwischen Positionen von Degrowth-Anhänger*innen und denen keynesianisch inspirierter Vertreter*innen qualitativen Wachstums. Dabei streitet niemand ab, dass bestimmte Bereiche schrumpfen müssen, etwa die mit hohem Stoffumsatz verbundene industrielle Produktion, und andere zunächst wachsen müssen, wie die gesamte Care-Ökonomie und eben die sozialen Infrastrukturen, bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Ein solches qualitatives Wachstum ist übergangsweise notwendig, nicht zuletzt aufgrund der Lücken in vielen Bereichen der Reproduktion. Auch alternative industrielle Produktion ist notwendig – dies gilt vor allem für Länder des globalen Südens, aber auch hier für ressourcen- und klimaschonende Innovationen. Ein simpler Gegensatz von Wachstums- versus Postwachstumspositionen ist daher kontraproduktiv. Es muss um ein Einschwenken auf einen mittelfristigen Kurs einer „Reproduktionsökonomie“ (Candeias 2011) gehen, in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr stofflich wachsen. Soziale Infrastrukturen stünden im Zentrum einer solchen Reproduktionsökonomie.

Sie wären damit auch die wichtigste Säule für eine neue öffentliche Ökonomie, ohne die eine sozialökologische Transformation kaum möglich sein wird. Es gibt nur wenig Ansätze, die einer öffentlichen Produktionsweise eine eigene ökonomische Qualität zugestehen. Ausnahmen sind zum Beispiel die Ansätze eines "Public Value" (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder einer "Sozialwirtschaft" (Müller 2005 u. 2010). Dafür notwendig wäre eine andere gesellschaftliche Buchführung, die vorhandene wie benötigte Ressourcen gebrauchs- und bedarfsorientiert ins Verhältnis setzt und die die Frage ins Zentrum stellt, zu welchem Zweck und wie wir diese Ressourcen eigentlich einsetzen wollen. Eine solche gesellschaftliche Buchführung könnte eine von kapitalistischen Werttransfers unabhängige Grundlage für eine öffentliche Produktionsweise bieten. Der Sozialstaat wäre dann nicht nur kompensatorisch für den Ausgleich sozialer Verwerfungen und als Stabilisator in Zeiten von Krise zu denken, sondern wäre selbst Element einer solchen öffentlichen Ökonomie. Er wäre die Grundlage einer anderen Form des Produzierens und Reproduzierens, die mit dem Begriff grüner Infrastruktursozialismus umschrieben werden kann.

Verbindende Klassenpolitik für den grünen Infrastruktursozialismus…

Für anstehende sozialökologische Transformationskonflikte ist eine ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur ein Sicherheitsversprechen, das notwendig gewordenen Veränderungen das Bedrohliche nimmt und eine positive Zukunft denkbar werden lässt. Viele Bewegungen und die LINKE haben sich in den letzten Jahren bereits am Konzept der sozialen Infrastrukturen orientiert und es zu einem verbindenden Projekt werden lassen. Hier treffen sich Fragen der Umverteilung mit denen nach Freiheitsrechten und Demokratie, Fragen der Klassenpolitik mit Fragen der Anerkennung und Ermöglichung von Diversität und verschiedenen Lebensweisen.

Auch von anderer Seite wird der Frage sozialer Infrastrukturen (endlich) neue Bedeutung zugemessen: Eine neue "Fundamentalökonomie", wie Wolfgang Streeck es im Anschluss an eine englische Autorengruppe nennt (Foundational Economy Collective 2019), ist ein Bezugspunkt auch für sozialdemokratische Intellektuelle (vgl. u.a. SPW 2019), für Gewerkschaften wie die IG Metall, ver.di, die Eisenbahn- & Verkehrsgewerkschaft oder die GEW, aber auch für Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch für die Umweltbewegung und -verbände.

Die Bedingungen für große progressive Entwürfe sind gerade nicht gut, es stehen beinharte Auseinandersetzungen um die immensen Kosten der Krise bevor. Zugleich hat die Corona-Krise viele vermeintlich feststehende Wahrheiten infrage gestellt und aufgezeigt, dass politische Reaktionsmuster ins Wanken geraten können. Innerhalb kürzester Zeit war es nicht nur möglich, im Sinne der Pandemieprävention die Wirtschafts- und Konsumkreisläufe ganzer Gesellschaften herunterzufahren und damit – zumindest vorübergehend – das Primat der Politik vor das der Ökonomie zu setzen. Es ist im Zuge der Krisenbekämpfung auch möglich geworden, große staatliche Finanzvolumina zur Stützung von Unternehmen, Erwerbstätigen und öffentlichen Infrastrukturen sowie zur Ankurbelung der Konjunktur zu mobilisieren und dafür die "schwarze Null" von heute auf morgen über Bord zu werfen. Auf der Ebene der europäischen Regierungen wurde zudem das Verbot der gemeinsamen Verschuldung geschliffen. Das alles bedeutet für den weiteren Fortgang der Krise noch gar nichts, wie erwähnt stehen beinharte Verteilungskämpfe bevor. Es zeigt aber doch, dass das bisher scheinbar so fest verankerte marktliberale TINA-Prinzip[3] in einer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung aufgeweicht wurde. Unter der Wucht der Pandemie gewannen nicht nur eine andere Finanz- und Schuldenpolitik, sondern allgemein eine vorausschauendere, staatliche Steuerung und Intervention an Attraktivität. An solchen Tabubrüchen gilt es anzusetzen. Es sind kleine erweiterte Spielräume für eine gesellschaftliche Linke, die es zu nutzen gilt, um neue, um andere Pfade denkbar zu machen und zu erkämpfen (vgl. IfG & Friends 2020).

…und wo sie heute schon stattfindet

Um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen wird von vielen Akteuren bereits konkret gekämpft. Am sichtbarsten ist dies momentan wohl im Gesundheitswesen der Fall. In der ab September anlaufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (ÖD) wird es um eine Aufwertung der Pflege gehen. Bund und Länder haben angekündigt, dass es angesichts der Krise nichts zu verteilen gibt. Trotz des größten Rettungspakets der Geschichte soll es für die „systemrelevanten“ Berufe also bei einer symbolischen Anerkennung bleiben. Für höhere Löhne in der Pflege, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Personalquoten wird schon seit Langem gestreikt und gekämpft. Die Forderung nach einer bedarfsorientierten Finanzierung und nach mehr Personal in diesem wichtigen Bereich des Gesundheitswesens könnte zu einem Kristallisationspunkt von Kämpfen sowohl von Beschäftigten als auch von Nutzer*innen sozialer Infrastrukturen werden. Im Sinne eines Infrastruktursozialismus geht es außerdem darum, diese wichtigen Funktionen in gesellschaftliche Verantwortung zurückzuholen – also um eine Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Ähnlich steht es um Bildung und Erziehung, auch hier wird im Rahmen der Tarifrunde ÖD für eine Aufwertung und für bessere Angebote gestritten. Und auch hier hat die Pandemie schonungslos offengelegt, wie schlecht dieser elementare Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausgestattet ist – und zwar sowohl was das qualifizierte Personal angeht als auch die physische und digitale Hardware. Um in den Bereichen Bildung, Erziehung und soziale Arbeit verlässliche soziale Infrastrukturen für alle durchzusetzen, bedarf es neben einer besseren tariflichen Entlohnung des Personals des Ausbaus von Kitaplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten. Zudem wird vonseiten der Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, der Partei DIE LINKE und anderen schon seit Längerem für die bundesweite Abschaffung von Kitagebühren gestritten. Mit diesen Maßnahmen könnte die in Deutschland besonders dramatisch ausgeprägte Bildungsungleichheit verringert und mehr Teilhabe und Demokratie möglich werden.

Parallel zur Tarifrunde im ÖD werden erstmals bundesweit die Tarife im öffentlichen Nahverkehr verhandelt. Neben einer Entlastung durch mehr Personal geht es um einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Angesichts der zugespitzten Klimakrise ist das Letztere ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Fridays for Future, ver.di, die LINKE und andere wollen diese Auseinandersetzungen als gemeinsames Projekt angehen. Konkrete Schritte, um „Mobilität für alle“ als soziale Infrastruktur zu entwickeln, gibt es in einigen Städten schon: Der Einstieg in einen generellen Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist ein kostenloses Jahresabo für Schüler*innen, Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, kombiniert mit der Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle anderen. Dies soll den notwendigen Umstieg vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel erleichtern. Damit der steigende Bedarf an öffentlichen Nah- und Fernverkehrsmitteln überhaupt gedeckt werden kann, muss das Schienennetz ausgebaut und muss eine alternative Produktion von Straßenbahnen, E-Bussen, Zügen, U-Bahnwaggons etc. angeschoben werden. Zumindest Teile davon könnten in öffentlichen Unternehmen realisiert werden und wären damit ein weiterer Baustein der oben skizzierten öffentlichen Ökonomie.

Im Bereich Wohnen & Miete ist die Auseinandersetzung schon weiter. Hier geht es um die Verteidigung eines gesetzlichen Mietendeckels, wie er bisher in Berlin beschlossen wurde, und darum, ihn auf andere Bundesländer auszuweiten. Auch hier wird konkret über Vergesellschaftung diskutiert. Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co hat dies zum Ziel. Um die Menge an bezahlbarem Wohnraum zu erhöhen, wird der Bau von Sozialwohnungen in großer Zahl über eine „neue Gemeinnützigkeit“ ins Auge gefasst. Auch die Gründung einer öffentlichen Bauhütte, also eines Verbunds von Gewerken in öffentlicher Hand, wäre nützlich, um sich von der Bauindustrie unabhängig zu machen.

Auch in feministischen Debatten und Kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit spielt der Ausbau sozialer Infrastrukturen seit Jahren eine wichtige Rolle. Die internationale Bewegung für einen feministischen Streik und Debatten um eine feministische Klassenpolitik stellen die Aufwertung und Entlastung entlohnter wie unbezahlter Sorgearbeit ins Zentrum. Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit zielt auf eine Ausweitung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen, genauso wie hierzulande das queer-feministische Netzwerk Care Revolution. Dort organisieren sich unentlohnt Sorgende zusammen mit professionellen Care-Arbeiter*innen und denjenigen, die als Patient*innen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Gute Arbeitsbedingungen und Ausstattung in Kitas, Ganztagsschulen, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz reduzieren die Überlastung insbesondere von Frauen und ermöglichen eine Aufwertung wie eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit (vgl. Fried/Schurian 2016).

Kämpfe um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren in der weltweiten Bewegung für solidarische Städte gebündelt (vgl. Christoph/Kron 2019). Städte und Kommunen werden hier als Terrain gesehen, um eine demokratische Teilhabe und den Zugang zu lebenswichtigen Leistungen und Infrastrukturen für Geflüchtete und Illegalisierte lokal zu ermöglichen. New York City hat als erste Stadt eine “City Card” eingeführt, eine Art kommunales Personaldokument, das den Zugang zu städtischen Leistungen wie Gesundheit und Bildung ermöglicht sowie den Besuch von Bibliotheken und Museen, aber auch die Eröffnung eines Bankkontos und Abschluss eines Mietvertrags. Darüber hinaus bietet die "City Card" Schutz vor racial profiling, Polizeigewalt und Abschiebung – sie wird von der lokalen Polizeibehörde anerkannt und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Papiere. Auch in Europa wird an vielen Orten über eine "City Card" diskutiert. Zürich und Bern gehen hier voran,[4] aber auch in Berlin denkt die LINKE über die Einführung eines solchen Ausweisdokumentes nach (vgl. Frank 2019).

In Sachen Finanzierung braucht es Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen. Absehbar ist bereits jetzt, dass die Argumente und Konzepte der Austerität spätestens nach der nächsten Bundestagswahl mit Wucht durchschlagen werden. Spätestens dann wird genauer darüber verhandelt werden, wie und von wem die zur Pandemiebekämpfung aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden sollen. Das alles findet unter anderem vor dem Hintergrund der weiterhin ungelösten Altschuldenproblematik der Kommunen in Höhe von derzeit geschätzt rund 45 Milliarden Euro statt.Die Kommunen aber sind die Orte, an denen die Menschen ganz maßgeblich ihre Alltagserfahrungen sammeln und ihre Leben gestalten. Weitere Einschränkungen in weiten Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge werden der Entdemokratisierung, dem Frust und der Akzeptanz destruktiver Konzepte der Rechten sowie weiteren Klassenspaltungen Vorschub leisten. Umgekehrt kann der Ausbau sozialer Infrastrukturen, wie beschrieben, nicht nur Ungleichheiten bekämpfen, sondern eben auch mehr Demokratie und Teilhabe (auch vormals in der Öffentlichkeit unterrepräsentierter Gruppen) ermöglichen.

Für all das braucht es starke Initiativen von unten, die für eine solche Perspektive weitere kampagnenfähige und öffentlichkeitswirksame Kristallisationspunkte identifizieren, an denen es sich lohnt, auf verschiedenen Ebenen (kommunal, national, europäisch etc.) gleichzeitig produktive Konflikte aufzumachen und voranzutreiben. Dafür müssen auch und vor allem diejenigen gewonnen werden, die unter den derzeitigen Mängeln der sozialen Infrastrukturen am stärksten leiden.

Es wird entscheidend sein, ob es bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr gelingen wird, einen sozialökologischen Block zu formen, der Aufwertung und Ausbau sozialer Infrastrukturen zum Fluchtpunkt eines gemeinsamen Projekts macht (das auch nach der Wahl noch Bestand hat). Denn nur mit massivem gesellschaftlichen Druck und einer Bündelung von Kräften lassen sich konsequente Schritte in diese Richtung durchsetzen – Schritte in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus.

Fußnoten

[1] Die soziale Ungleichheit fällt nach neuesten Zahlen noch drastischer aus, als bislang angenommen: Demnach besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland rund 35 Prozent statt, wie bislang angenommen, 22 Prozent des Nettovermögens, die oberen zehn Prozent 67,3 statt 58,9 Prozent (Bartels u.a. 2020).

[2] Dies bedeutet nicht, die Bedeutung und Errungenschaft des klassischen Sozialversicherungsmodells zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Eine demokratischere, solidarischere Gesellschaft muss auch das Sozialversicherungswesen in den Blick nehmen, ausbauen und universalisieren, um die individuellen Risiken und Brüche im Lebenslauf besser abzusichern. Das heißt unter anderem, dass Elemente einer Mindestsicherung (etwa eine Mindestrente, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, oder eine Kindergrundsicherung etc.) gegenüber leistungsbezogenen Anwartschaften verstärkt werden und die Versicherungspflichten ausgeweitet werden müssen. Denkbar wären hier eine umfassende Erwerbstätigenversicherung (unter Einbeziehung auch von Beamt*innen, Freiberufler*innen, Selbstständigen etc.) im Rentensystem sowie eine Bürgerversicherung aller im Gesundheitswesen und eine solidarische Pflegevollversicherung.

[3] TINA: There Is No Alternative.

[4] Vgl. www.zuericitycard.ch/ und https://wirallesindbern.ch/city-card/.

Literatur

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Bartels, Charlotte/Göbler, Konstantin/Grabka, Markus/König, Johannes/Schröder, Carsten, 2020: MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, DIW-Wochenbericht 29/2020

Behr, Dieter A., 2010: Crossing Borders, in: Kulturrisse, März 2010

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

Candeias, Mario, 2004: Erziehung der Arbeitskräfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat, in: UTOPIE kreativ, Heft 165/166, 589–601

Ders., 2011: Konversion – Einstieg in eine öko-sozialistische Reproduktionsökonomie, in: ders., 2019: Was tun und wo anfangen? 11-Punkte-Plan für einen neuen Sozialismus, in: LuXemburg 3-2019, www.zeitschrift-luxemburg.de/was-tun-und-wo-anfangen

Christoph, Wenke/Kron, Stefanie (Hg.), 2019: Solidarische Städte in Europa. Urbane Politik zwischen Charity und Citizenship, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

Dowling, Emma, 2016: Soziale Wende des Kapitals?, in: LuXemburg-Online, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-wende-des-kapitals

Facundo, Alvaredo u.a. (Hg.), 2018: Die weltweite Ungleichheit. Der World Inequality Report 2018, München

Foundational Economy Collective, 2019: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M.

Frank, Marie, 2019: Eine Karte für alle Fälle. Die Berliner Linkspartei will mehr Teilhabe für Illegalisierte durch einen Ausweis, in: neues deutschland, 13.4.2019

Fried, Barbara/Hannah Schurian, 2016: Nicht im Gleichschritt, aber Hand in Hand. Verbindende Care-Politiken in Pflege und Gesundheit, in: LuXemburg 1/2016, https://www.zeitschrift-luxemburg.de/nicht-im-gleichschritt-aber-hand-in-hand-verbindende-care-politiken-in-pflege-und-gesundheit

Gehrig, Thomas, 2013: Soziale Infrastruktur statt Grundeinkommen, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-infrastruktur-statt-grundeinkommen

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Kaelble, Hartmut, 2017: Mehr Reichtum, mehr Armut: soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M.

Kleinhückelkotten, Silke/Neitzke, Hans-Peter/Moser, Stephanie, 2016: Repräsentative Erhebung von Pro-Kopf-Verbräuchen natürlicher Ressourcen in Deutschland (nach Bevölkerungsgruppen), Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, Berlin, www.umweltbundesamt.de/publikationen/repraesentative-erhebung-von-pro-kopf-verbraeuchen

Mazzucato, Mariana/ Josh Ryan-Collins, 2019: Putting value creation back into ‘public value’: From market fixing to market shaping. UCL Institute for Innovation and Public Purpose, Working Paper Series, IIPP WP 2019-05, https://www.ucl.ac.uk/bartlett/public-purpose/wp2019-05

Müller, Horst, 2005: Sozialwirtschaft als Systemalternative, in: Ders. (Hg.): Das PRAXIS-Konzept im Zentrum gesellschaftskritischer Wissenschaft, Norderstedt, 254-289

Ders., 2010: Zur wert- und reproduktionstheoretischen Grundlegung und Transformation zu einer Ökonomie des Gemeinwesens, in: Ders. (Hg.): Von der Systemkritik zur gesellschaftlichen Transformation, Norderstedt,157-228

Ötsch, Rainald/Heintze, Cornelia/Troost, Axel, 2020: Die Beschäftigungslücke in der sozialen Infrastruktur, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_2-20_Beschaeftigungsluecke.pdf

Redaktion prager frühling, 2009: Ein Beitrag gegen die Krise. Plädoyer der Redaktion für Infrastruktursozialismus, in: prager frühling 4-2009, www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/302.ein-beitrag-gegen-die-krise.html

Schachtschneider, Ulrich/Candeias, Mario, 2013: Kontrovers: Ökologisches Grundeinkommen vs. soziale Infrastruktur und kollektiver Konsum, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/kontrovers-oekologisches-grundeinkommen-2/

SPW – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 2019: Von der Kapitallogik zur gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie, Heft 235, www.spw.de/xd/public/content/index.html?sid=heftarchiv&year=2019&bookletid=176

Streeck, Wolfgang, 2019: Vorwort, in: Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M., 7–32

Wohlfahrt, Norbert, 2015: Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen – Die Ökonomisierung sozialer Dienste, in: LuXemburg 1/2015, www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-geschaeft-mit-grundbeduerfnissen/

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.

Moritz Warnke ist Referent für Soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur dieser Zeitschrift. Er ist im Landesvorstand der Berliner LINKEN und vertritt den Landesverband in der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«.

Eva Völpel arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für Wirtschaftspolitik.

Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist im Netzwerk Care Revolution aktiv und arbeitet zu Fragen von Sorgearbeit und Feminismus.

Hannah Schurian ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg. Sie ist Redakteurin dieser Zeitschrift.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/reichtum-des-oeffentlichen

#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor, so dass weitere Einschränkungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu befürchten sind. Zeit, den Sozialstaat und seine Finanzierung gründlich zu erneuern, schreiben die Autor:innen. Dabei geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Der Artikel zeigt, vor welchen Herausforderungen die sozialen Sicherungssysteme stehen, wie ein Sozialstaat aussehen kann, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist und wo schon jetzt ganz konkret um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen gekämpft wird.

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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Der feministische Streik betrifft bezahlte wie unbezahlte Arbeiten von Frauen und Queers und stellt zur Debatte, inwiefern sie sich gegenseitig bedingen. Im feministischen Streik kommen so zwei Bereiche zusammen, die meist nur getrennt voneinander gedacht und getrennt voneinander organisiert werden. Feministisch Streiken birgt daher ein enormes Potenzial, aber auch Spannungen.

Welche Unterschiede bestehen in den Herangehensweisen, Logiken und Kulturen von Bewegungen und Gewerkschaften? Wie kann für die Aktivist*innen erfolgreiche Bündnisarbeit aussehen?

Ein Streik am Universitätskrankenhaus Jena hat es vorgemacht, Interviews mit den beteiligten Akteur*innen zeichnen es nach.

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Vom Drehen der Städte

Bürgerentscheide drängen zum Ausbau der Radinfrastruktur

Mai 2020 • Denis Petri

Mobilität, Organisierung, Alternativen, Berlin#Mobilität #Organisierung #Alternativen #Berlin

Auf Deutschlands Straßen dominiert noch immer das Auto. Die Akteure in Politik und Verwaltung konnten oder wollten daran in den vergangenen Jahrzehnten wenig ändern. Deswegen muss die Verkehrswende von unten durchgesetzt werden. Dafür sind der Berliner Radentscheid im Jahr 2015 und die daraus entstandene Changing-Cities-Bewegung mit kommunalen Radentscheiden in ganz Deutschland angetreten. Es geht um lebenswerte Städte, Mobilität für alle und konkreten Klimaschutz. Die Bürger*innen fordern ein, was seit 40 Jahren eine planerische Binsenweisheit ist: die lebenswerte Stadt der kurzen Wege mit sicheren Schulwegen für Kinder, mit einem belebten Einzelhandel und – in einer alternden Gesellschaft immer wichtiger – einer Befreiung vom Angewiesensein aufs Auto. Denn seit Jahrzehnten ist belegt, dass Verkehrsinfrastrukturen genau den Verkehrinduzieren, für den sie geschaffen wurden. Neue Autobahnen führen zu mehr Autoverkehr und damit auch zu mehr Stau, die Eröffnung der Bahnschnellfahrstrecke Berlin-München hat binnen kürzester Zeit voll besetzte Züge produziert. Anders gesagt: Für mehr Radverkehr müssen wir mehr (sichere und bequeme) Radwege bauen. Und das sollten wir, denn der Radverkehr ist ein wichtiger Baustein in der Mobilitätswende. Ein Fahrrad benötigt nur einen Bruchteil des Platzes, den ein Auto einnimmt. Fahrradfahrten produzieren weder Stickstoffoxide noch Feinstaub, kein CO2 und keinen Lärm. Studien zeigen, dass die meisten unserer Alltagswege in einer fahrradkompatiblen Distanz liegen und auch 90 Prozent aller Einkäufe in einen Fahrradkorb oder in Fahrradtaschen passen.

Volksentscheid Fahrrad: Berlin dreht sich!

Während man in Kopenhagen oder in den Niederlanden bereits vor 40 Jahren anfing, konsequente Radverkehrsplanung zu betreiben – übrigens an beiden Orten zunächst widerwillig aufgrund von Bürgerprotesten –, blieb es in der Bundesrepublik meist bei Sonntagsreden. Ergebnis: In Kopenhagen liegt der Anteil des Radverkehrs am innerstädtischen Verkehr bei 60 Prozent. Laut Untersuchungen fahren Kopenhagener*innen Fahrrad, weil es schnell, bequem und sicher ist. In Berlin ist man davon weit entfernt. 2013 verabschiedete der Berliner Senat zwar eine Radverkehrsstrategie mit ein paar guten Ansatzpunkten und die verfügbaren Mittel für den Radverkehr wurden auf immerhin 3,80 Euro pro Kopf und Jahr aufgestockt – das reicht jedoch vorne und hinten nicht. Zum Vergleich: Der Nationale Radverkehrsplan empfiehlt mindestens 10 Euro, in Kopenhagen sind es 20 Euro. Aber selbst dieser geringe Betrag wurde nicht abgerufen. Es war versäumt worden, die personellen und strukturellen Voraussetzungen in der Verwaltung zu schaffen. Gleichzeitig gab es aus den Verbänden, die sich in Berlin für Umweltbelange bzw. nachhaltige Verkehrsverhältnisse einsetzen, zwar richtige Forderungen, jedoch keine Strategie, wie man diese jenseits entpolitisierter Beteiligungsformate forcieren könnte. In dieser Situation trat Ende 2015 die Initiative Volksentscheid Fahrrad Berlin, eine Gruppe verbandsunabhängiger Aktivist*innen, mit ehrgeizigen Zielen an: breite Radwege an allen Hauptstraßen, ein Netz aus Nebenstraßen für den Radverkehr, 200 000 neue Abstellanlagen und 100 Kilometer Radschnellwege, außerdem eine schnelle Mängelbeseitigung, die Schaffung von Verwaltungseinheiten für den Radwegeausbau, bessere Kommunikation und umfassende Transparenz. All dies goss die Initiative in einen Gesetzentwurf. Damit nicht erneut gute und hehre Ziele auf die lange Bank geschoben werden, sah der Gesetzentwurf vor, dass dies alles binnen acht Jahren umzusetzen ist. Die Ziele wurden SMART konzipiert (also spezifisch, messbar, aktivierend, realistisch und terminiert) und sollten so die Verwaltung zu zielgerichtetem Arbeiten verpflichten. Die Grundidee lautete: Alle sollen sicher und entspannt Fahrrad fahren können. Berlin soll zur Fahrradstadt werden und dabei auch einen neuen Standard setzen. Über das Gesetz sollten die Berliner*innen in einem Volksentscheid zeitgleich zur Bundestagswahl 2017 abstimmen können. Den Initiator*innen des Volksentscheids gelang es, in gut drei Wochen für die Sammlung von über 100 000 Unterschriften zu mobilisieren. Nie zuvor waren in Berlin so viele Unterschriften in so kurzer Zeit gesammelt worden. Das zu erreichende Quorum liegt bei 20 000 in sechs Monaten. Mit diesem Erfolg gelang es der Initiative, die ungerechten Verkehrs- und Platzverhältnisse auf Berlins Straßen mit Nachdruck infrage zu stellen und für Aufmerksamkeit – im Wahlkampf und darüber hinaus – zu sorgen. Der Erfolg beruhte auf vier Umständen: erstens auf einer offensiven Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit, zweitens auf einer generalstabsmäßig organisierten Unterschriftensammlung, an der Hunderte mitwirkten, drittens auf einem Match zwischen einer für viele als untragbar empfundenen Verkehrssituation und einem zunehmenden Bedürfnis, Verkehrspolitik politisch zu denken und zu gestalten, sowie viertens auf der Zusammensetzung des Unterstützerkreises. Es konnten nämlich nicht allein die »üblichen Verdächtigen«, also Umweltorganisationen, gewonnen werden (tatsächlich standen davon einige dem Volksentscheid eher skeptisch bis ablehnend gegenüber), sondern darüber hinaus wirtschaftspolitische Expert*innen und Stadtplaner*innen genauso wie Schüler*innen und Seniorenvertretungen.

Der Weg zum Mobilitätsgesetz

Mit diesem breiten gesellschaftlichen Bündnis und den 100 000 Unterschriften im Rücken gelang es dann 2016, im Zuge des Regierungswechsels zu rot-rot-grün ein Mobilitätsgesetz unter Einbeziehung der Ziele des »Volksentscheids Fahrrad« im Koalitions¬vertrag zu verankern. Der Initiative, die mit einem Radgesetz angetreten war, ist die Verabschiedung eines umfassenden Verkehrswendegesetzes zu verdanken. Das Berliner Mobilitätsgesetz besteht aus mehreren Teilen, wobei der allgemeine und der Radverkehrsteil partizipativ unter Mitwirkung der Verkehrsverwaltung (politische Leitung und permanent Angestellte), der Koalitionsfraktionen und der Zivilgesellschaft (Volksentscheid Fahrrad, ADFC Berlin, BUND Berlin) erarbeitet wurden. Bereits vor der Abstimmung über den Gesetzesentwurf wurden erste Voraussetzungen für den Ausbau der Radinfrastruktur geschaffen: Für die Radverkehrsplanung hat man zwei Stellen pro Berliner Bezirk bereitgestellt, in der Hauptverwaltung gibt es nun eine Koordinierungsstelle und eine Planungsgruppe für den Radverkehr, während für bezirksübergreifende Projekte, zum Beispiel Radschnellverbindungen, eine neu gegründete landeseigene Infrastrukturgesellschaft namens InfraVelo GmbH zuständig ist. Das Gesetz selbst gibt dem Infrastrukturausbau Form und Richtung. Bis 2030 sollen alle Berliner Hauptstraßen mit Radwegen ausgestattet sein, die zum Beispiel durch Poller oder Blumenkästen vom Autoverkehr getrennt sind. Es sollen ein Netz aus Fahrradstraßen, aus dem der motorisierte Durchgangsverkehr herausgehalten wird, entstehen sowie 100 000 Fahrradabstellplätze. Das Gesetz folgt dem strategischen Leitbild der Vision Zero, das vorsieht, schwere Personenschäden im Straßenverkehr auf null zu reduzieren und das Sicherheitsempfinden von Nichtautofahrer*innen bei der Planung von Infrastruktur zu berücksichtigen (was insbesondere für ältere Radfahrer*innen von Bedeutung ist). Zudem ist der Vorrang für den Umweltverbund in der Verkehrsplanung nun gesetzlich festgeschrieben. Das im Juni 2018 verabschiedete Berliner Mobilitätsgesetz könnte, was den Inhalt und die Art und Weise der Entstehung angeht, vorbildlich für andere Bundesländer sein. Die Inhalte der bislang verabschiedeten Teile decken sich in weiten Teilen mit denen des Gesetzentwurfes der Initiative und entsprechen den verkehrspolitischen Notwendigkeiten in Bezug auf den Ausbau des Radverkehrs. Was einzelne Forderungen angeht, die nicht erfüllt wurden (etwa die nach einer höheren Anzahl von Fahrradabstellplätzen), wird die Zunahme des Radverkehrs bald eine entsprechende Nachfrage herbeiführen und damit den Druck auf die Politik erhöhen.

Blockaden, Hürden und Verzögerungen

Die Berliner Verwaltung war (und ist bis heute) allerdings nicht komplett bereit für dieses Gesetz. Der verkehrspolitische Paradigmenwechsel stößt im Apparat teils auf offenen Widerstand. Neben aktiver Obstruktion einiger Personen und Verwaltungseinheiten wird die Umsetzung des Gesetzes aber vor allem durch die Berliner Verwaltungspraxis gebremst. Für Außenstehende wirkt es oft so, als sei stets jemand anderes verantwortlich. Dies gilt allerdings nur solange, bis sich eine Stelle tatsächlich für zuständig erklärt. Danach beginnt häufig ein regelrechtes Kompetenzgerangel. Noch immer haben die politisch Verantwortlichen im Senat und in den Bezirken es versäumt, Strukturen zu schaffen, die in der Lage sind, die anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Dabei ist unklar, ob sich die Verantwortlichen der Größe der Aufgaben nicht bewusst sind, sie sich in den sprichwörtlichen Berliner Verhältnissen so eingerichtet haben, dass drohendes Scheitern mit einem Achselzucken hingenommen wird, oder ob es ihnen an politischem Willen oder an der Fähigkeit mangelt, die Verkehrswende wirklich in die Tat umzusetzen. Deswegen besteht faktisch noch immer eine erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlich gebauten Infrastruktur und den Anforderungen des Gesetzes – und zwar sowohl in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht. Noch immer werden Radwege zu schmal gebaut, werden Kreuzungen so gestaltet, dass selbst hartgesottene Radfahrer*innen diese nur mit stark erhöhtem Puls überqueren, wird der Rad- und Fußverkehr regelmäßig »vergessen« oder auf Restflächen »zusammengepfercht«, während dem Autoverkehr weiterhin der rote Teppich ausgerollt wird. Es sind bislang keine Verfahren entwickelt worden, um die benötigten Baumaßnahmen zu systematisieren, und es gibt auch fast zwei Jahre nach Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes keine funktionierenden Projektsteuerungsstrukturen für die Umsetzung. Gleichzeitig wird der Aufgabenrückstau immer größer, sodass bereits jetzt rund 700 Meter Fahrradinfrastruktur täglich neu bereitgestellt werden müssten, um die Vorgaben des Gesetzes zu erfüllen.

Druck von unten

Die Administration wird dabei immer wieder »von unten« unter Druck gesetzt. Die Initiative Volksentscheid Fahrrad hatte 2016 den Verein Netzwerk Lebenswerte Stadt gegründet. Mit der Umbenennung in Changing Cities im Jahr 2017 wurde die Arbeit professionalisiert und diversifiziert. Eine Geschäftsstelle unterstützt seitdem die Gründung von Netzwerken und Gruppen in den Berliner Bezirken. Diese Aufbauarbeit war nötig, weil sich abzeichnete, dass ein Gesetz allein nicht genügen wird. Die Aktivistengruppen sind noch immer damit beschäftigt, die politischen und administrativen Akteure anzutreiben, Radverkehrsförderung und Verkehrswende mit der gebotenen Konsequenz zu verfolgen. Zu den regelmäßig stattfindenden Aktionen gehören eine offensive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie öffentliche Proteste, darunter Demonstrationen auf Hauptstraßen mitten im Berufsverkehr, um auf getötete Radfahrer*innen hinzuweisen oder um vom Senat angekündigte »Sofortmaßnahmen« einzuklagen, die oft Wochen oder Monate auf sich warten lassen. Ferner geht Changing Cities immer wieder in Vorleistung: mit eigenen Vorschlägen für das Radverkehrsnetz, mit fachlich-stadtplanerischer Expertise, mit gemeinsamen Aktionen, die die Verkehrswende erlebbar machen, zum Beispiel autofreie Tage in Einkaufsstraßen. Für viele Fälle, in denen eine noch immer im Gestern verharrende Verwaltung nur ein »Geht nicht!« oder ein »Das ist zu kompliziert« bereithielt, wurden Lösungen präsentiert und durchgesetzt: geschützte Radspuren, modale Filter (Poller) gegen den motorisierten Durchgangsverkehr und vieles andere mehr. Auf diese Weise sind bislang allein in Berlin bei Changing Cities rund 30 000 unbezahlte Arbeitsstunden in die Verkehrswende geflossen. Auch künftig wird das Engagement auf hohem Niveau weitergehen, um die Umgestaltung Berlins zur lebenswerten und menschenfreundlichen Metropole zu beschleunigen. Trotz der Behinderungen und des politischen Führungsversagens können wir festhalten: Berlin wird ganz sicher in zehn Jahren anders aussehen und deutlich fahrradfreundlicher sein. Es wurden finanzielle Mittel bereit- und Planer*innen eingestellt sowie organisatorische Einheiten mit entsprechendem Gewicht geschaffen. Die Frage bleibt jedoch, ob dies ausreichend ist und wie weit wir 2030 gekommen sein werden, vor allem, wenn man die Fortschritte in Berlin mit denen in anderen europäischen Städten vergleicht. In Städten wie Madrid, Paris, Barcelona, Oslo oder Helsinki wird nämlich schon längst an einer weitgehend vom privaten Autoverkehr befreiten Stadt geplant, in der die Menschen bei hoher Aufenthaltsqualität mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Fahrrad oder zu Fuß ihre Mobilitätsbedürfnisse erfüllen können.

Vom Berliner Radentscheid zur Changing-Cities-Bewegung

Auch wenn Berlin in vielerlei Hinsicht noch hinter anderen europäischen Metropolen hinterherhinkt, hat die Berliner Initiative Volksentscheid Fahrrad eine bundesweite Bewegung angestoßen. Bereits im Frühjahr 2016 startete der Radentscheid Bamberg, gefolgt vom Radentscheid Darmstadt, dem Radentscheid Frankfurt am Main und vielen weiteren kommunalen Radentscheiden. Der Initiative Aufbruch Fahrrad NRW gelang es 2019, über 200 000 Unterschriften zu sammeln und ihre Forderungen im Landtag vorzutragen. Inzwischen gibt es fast 30 solcher Gruppen in Deutschland. Sie formulieren klare Forderungen und Ziele, setzen zeitliche Rahmen und bemühen sich darum, das Radfahren für immer mehr Menschen attraktiv zu machen. In der Regel gelingt es ihnen, in kurzer Zeit die Quoren für Bürgerentscheide zu knacken und das in Städten verschiedenster Größe, von Berlin bis Marl. Dies zeigt, dass die Bürger*innen an vielen Stellen bereits weiter sind als die Kommunalpolitiker*innen und -verwaltungen. Mit Stand Januar 2020 haben über 700 000 Menschen für einen Radentscheid unterschrieben. Das sind rund 1,5 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland und damit ein nicht zu unterschätzendes Wählerpotenzial. Die Initiativen von Radentscheiden vernetzen und tauschen sich regelmäßig aus. Ziel ist, mit dem in den lokalen Kampagnen erprobten Baukasten an Forderungen, Methoden, Instrumenten und Aktionsformen den nächsten Bundestagswahlkampf zu beeinflussen. Zentrale Forderungen sind ein bundesweit flächendeckendes, qualitativ hochwertiges Radverkehrsnetz, die Weiterentwicklung der Straßenverkehrsordnung hin zu mehr Fahrradfreundlichkeit, konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit sowie die Re-Internalisierung der immensen gesamtgesellschaftlichen Kosten des privaten Kraftverkehrs, der derzeit jährlich pro Fahrzeug mit rund 2 000 Euro direkt (z. B. über Straßenbau, Steuersubventionen, Kaufprämien) und indirekt (z. B. in Form von Gesundheits- und Umweltschäden) gesellschaftlich subventioniert wird. Rund vier Jahre Radentscheid- und Changing-Cities-Bewegung haben verdeutlicht, dass die Verkehrswende von unten vorangetrieben werden kann und muss, da die vorhandenen politisch-administrativen Strukturen ohne diesen Impuls nicht dazu fähig sind. Mit direktdemokratischen Instrumenten, die von einer offensiven, auf positive Ziele orientierten Kampagnenarbeit begleitet werden, können die diskursiven und politischen Grundlagen für eine bessere, flächengerechtere und damit auch sozialere Verkehrspolitik gelegt werden. Dabei geht es um das Bohren dicker Bretter: Von der Straßenverkehrsordnung bis zu den Planungsrichtlinien ist das automobile System tief eingegraben und der Rad- und Fußverkehr an den Rand gedrängt. Die Verkehrswende von unten, wie sie Changing Cities angestoßen hat, ist der richtige Bohrer für dieses dicke Brett. Es kann nicht der einzige sein. Für die Klimagerechtigkeit und auch die Sicherstellung der Mobilität der Zukunft sind die Förderung des Radverkehrs und die Umverteilung des Verkehrsraums allerdings systemrelevant.

Changing Cities und alle existierenden Radentscheid-Initiativen leisten gern Unterstützung beim Anschieben eines eigenen kommunalen Radentscheids. Mehr Infos unter: https://changing-cities.org bzw. info@changing-cities.org

Denis Petri ist Stadtforscher, Campaigner und Aktivist für eine Verkehrswende von unten. Er ist im Changing Cities e. V. aktiv (unter anderem als Vorstand) und hat in Berlin den Volksentscheid Fahrrad vorangetrieben.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/vom-drehen-der-staedte

#Mobilität #Organisierung #Alternativen #Berlin

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Auf Deutschlands Straßen dominiert noch immer das Auto. Die Akteure in Politik und Verwaltung konnten oder wollten daran in den vergangenen Jahrzehnten wenig ändern. Deswegen muss die Verkehrswende von unten durchgesetzt werden. Dafür sind der Berliner Radentscheid im Jahr 2015 und die daraus entstandene Changing-Cities-Bewegung mit kommunalen Radentscheiden in ganz Deutschland angetreten. Es geht um lebenswerte Städte, Mobilität für alle und konkreten Klimaschutz. Was 2015 in Berlin seinen Anfang nahm, ist eine bundesweite Bewegung geworden: Bürgerentscheide drängen die kommunalen Verwaltungen zum Ausbau der Radinfrastruktur. Denis Petri, der im Changing Cities e. V. aktiv ist und in Berlin den Volksentscheid Fahrrad vorangetrieben hat, berichetet über die erfolgreiche Organisierung.

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Gemeinsam Druck machen

Wie werden Krankenhauskämpfe zur gesellschaftlichen Bewegung?

April 2021 • Interview mit Jeannine Sturm und Daniel Schur

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

Krankenhaus, Gewerkschaft, Organisierung, Berlin, Pflege#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Berlin #Pflege

Vivantes und Charité, die beiden größten öffentlichen Krankenhäuser in Berlin, starten 2021 eine neue Tarifbewegung. Warum?

Jeannine: Weil die alten Probleme nicht gelöst sind und in der Krise noch viel deutlicher werden. Wir stecken seit Jahrzehnten in einem Teufelskreis. Wegen des verfehlten Finanzierungssystems im Krankenhaus, den sogenannten DRGs, wird am Personal gespart, wodurch die Arbeitsbedingungen schlechter werden und wir noch weniger Personal finden. Um den Beruf wieder attraktiv zu machen, brauchen wir faire Entlohnung, eine Ausbildungsoffensive – und vor allem gute Arbeitsbedingungen, damit die Leute auch bleiben. Nur mit ausreichend Personal können wir die Patient*innen sicher versorgen. Eine gute Personalbemessung ist der Hebel, um aus der Misere rauszukommen. Aber das erreichen wir nur durch eine große Krankenhausbewegung.

Wie wollt ihr Druck aufbauen?

Jeannine: Wir werden eine klare Sprache sprechen: Ihr als politisch Verantwortliche habt die einmalige Chance, im Superwahljahr, in der Pandemie, auf unsere Forderungen einzugehen. Wenn ihr sie nicht nutzt, werdet ihr nicht nur politisch abgestraft, wir haben theoretisch auch die Möglichkeit, 50 Prozent der Krankenhausbetten in Berlin zu bestreiken. Das ist unsere Machtressource, und wir sind bereit, sie zu nutzen.

Braucht ihr dafür Unterstützung?

Jeannine: Um unser Anliegen der Öffentlichkeit zu vermitteln, definitiv. Allein unser Streikrecht zu verteidigen, ist ein heikles Thema. Wir müssen kommunizieren, dass wir die Patient*innen nicht gefährden, sondern auch in ihrem Interesse streiken. In der letzten Tarifbewegung hat uns das Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus etwa durch Infoveranstaltungen extrem gut unterstützt. Zu Beginn des Streiks hieß es in den Medien noch, wir würden die Patient*innen in Geiselhaft nehmen. Am Ende haben wir viel Zuspruch und öffentliche Solidarität erfahren.

Daniel, warum bringt sich die LINKE in eine Tarifauseinandersetzung ein?

Daniel: Weil es eben nicht nur um einen betrieblichen Konflikt geht, sondern um einen gesellschaftlichen. In den Krankenhäusern zeigt sich, was passiert, wenn man die öffentliche Daseinsvorsorge nach dem Profitprinzip organisiert. Um das zu ändern, braucht es politischen Druck jenseits des Betriebs. Hier könnte die LINKE ein Scharnier bilden zwischen den Beschäftigten, der Gesellschaft und der Bewegung. In Berlin und anderen Bundesländern gab es bereits Volksbegehren für mehr Pflegepersonal. Und mit ihrer Pflegekampagne hat die LINKE in den letzten Jahren schon viel getan. In diesem Konflikt gibt es eine unheimliche Politisierung und die Aussicht, wirklich etwas zu gewinnen, das auf andere Bereiche ausstrahlen könnte. Darum sollten wir als Partei dieses Jahr unsere Kräfte hier bündeln.

An der Charité wurden bereits Personalvorgaben erkämpft, die Politik hat gesetzliche Pflegeuntergrenzen eingeführt. Warum reicht das nicht?

Jeannine: An der Charité wurden 2015 zum ersten Mal Personalvorgaben per Tarifvertrag beschlossen. Da steckten viele gute Ansätze drin, zum Beispiel Personalbemessungssysteme, die sich am Betreuungsaufwand ausrichten. Sie blieben aber auf den guten Willen des Arbeitgebers angewiesen, es fehlten Sanktionsmechanismen. Darum wurden die Vorgaben einfach nicht umgesetzt. Die gesetzlichen Pflegeuntergrenzen helfen da auch nicht weiter, denn die versuchen nicht mal, den wirklichen Bedarf zu ermitteln, sondern schreiben nur für wenige Bereiche den schlechten Istzustand fest. Es wurde also eher an Symptomen herumgedoktert.

Daniel: Die Probleme werden immer auf die nächste Ebene geschoben: Das Krankenhausmanagement sagt, uns sind die Hände gebunden, und verweist auf die Landesebene; die Landesregierungen sagen, der Bund ist zuständig, und der Bund sieht die Länder in der Verantwortung. Deshalb ist so wenig passiert, obwohl es in der Bevölkerung eine breite Zustimmung für die Personalbemessung gibt. Darum müssen wir die Kämpfe auf allen diesen Ebenen führen und verbinden.

Wenn die letzten Tarifbewegungen das Problem nicht lösen konnten – was ist diesmal anders?

Jeannine: Wir wollen diesmal für alle Krankenhausbereiche und alle beteiligten Berufsgruppen konkrete Vorgaben, wie viel Personal in jeder Schicht gebraucht wird. Und wir wollen verbindliche Konsequenzen, wenn dieses Soll unterschritten wird, etwa die Einführung von Entlastungstagen. Außerdem sind wir diesmal nicht allein, sondern wir kämpfen mit Vivantes zusammen. Und noch etwas ist neu: Es sind alle Berufsgruppen mit einbezogen, denn wir müssen auch die Situation der Therapeut*innen, Reinigungs- und Laborkräfte verändern. Wir arbeiten im Krankenhaus eng verzahnt und leiden alle unter der Arbeitsverdichtung. Es geht also nicht nur um einen Tarifvertrag für uns.

Wie viel Unterstützung habt ihr in der Belegschaft?

Jeannine: Sehr viel. Das Thema ist in aller Munde und es gibt in der Krise ohnehin einen besonderen Zusammenhalt. Wir sind im ständigen Austausch mit den einzelnen Teams und bauen eine breite Aktivenstruktur auf, unterstützt von professionellen Organizer*innen, die uns ver.di zur Verfügung stellt. Wir wollen in jedem einzelnen Bereich einen Prozess in Gang bringen, damit wir den Konflikt bis zum Ende durchstehen können und sich alle mit dem Ergebnis identifizieren. Deshalb stellen die Teams eigene Forderungen auf und wählen eigene »Teamdelegierte«. Die Delegierten treffen sich regelmäßig mit der ver.di-Tarifkommission und entscheiden über den Verlauf der Verhandlung mit.

Daniel, wie kann eure Unterstützung der Streiks hier vor Ort konkret aussehen?

Daniel: In Berlin vernetzen wir uns gerade als LINKE-Basisgruppen und mobilisieren unsere Mitglieder für eine große Unterstützer*innenversammlung. Ein wichtiger Ansatz sind Patenschaften von lokalen Gruppen mit Beschäftigten vor Ort. Sie würden uns über ihren Kampf berichten und wir würden sie unterstützen, indem wir an ihren Kundgebungen teilnehmen, in unseren Kiezen plakatieren oder den Konflikt beim Haustürwahlkampf thematisieren. Wir wollen dazu beitragen, ihre Anliegen in die breitere Öffentlichkeit und die Partei zu tragen. Langfristig wollen wir natürlich, dass die LINKE noch stärker zu einer Organisation von betrieblich Aktiven wird. Wenn Beschäftigte sagen, ich bin nicht nur bei ver.di, ich werde auch Mitglied der LINKEN, haben wir einiges erreicht.

Was erwartet ihr denn als Beschäftigte?

Jeannine: Uns ist wichtig, dass Verbündete nicht nur einmalig ihre Solidarität erklären, sondern nachhaltig und aktiv an unserer Seite sind. Das ist besonders wichtig, wenn die Verhandlungen steckenbleiben. Wenn die Zusammenarbeit auf Augenhöhe läuft und unsere Expertise anerkannt wird, ist das wunderbar und hilft uns sehr. Mit der LINKEN haben wir schon beim Stimmensammeln für das Volksbegehren zusammengearbeitet und es hat sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt.

Daniel: Auch für uns ist der Austausch enorm wichtig. Wir bekommen einen direkten Draht zu den betrieblichen Kämpfen. Und unsere Mitglieder können sich auch abseits von Wahlkämpfen politisch betätigen, wie sie es ja auch jetzt schon oft tun. Ich sehe die Krankenhausbewegung als große Chance, ein solches Parteiverständnis nachhaltig zu etablieren. Die LINKE braucht eine starke Verankerung in den Bewegungen, ein Umfeld, das uns antreibt und uns hilft, unser Profil zu schärfen.

Es bleibt der Spagat, in Berlin Teil der Bewegung und zugleich der Regierung zu sein.

Daniel: Wir wissen aus Erfahrung, dass es nicht ausreicht, ein Thema nur im Wahlkampf aufzugreifen und dann in Parlament oder Regierung zu repräsentieren. Ein gutes Programm muss auch umgesetzt werden und dafür braucht es viel Druck. Den erzeugen wir nicht, wenn wir die Auseinandersetzung als Koalitionsangelegenheit hinter verschlossenen Türen verhandeln. Wir müssen sie als Brennpunkt eines gesellschaftlichen Konflikts verstehen. Dann könnten wir viel stärker auftreten, weil wir nicht nur für uns, sondern für viele organisierte Beschäftigte in unserem Rücken sprechen.

Klingt gut, aber wie gelingt das?

Daniel: Die Mietenpolitik hat gezeigt, dass es gehen kann. Hier ist inzwischen allen klar, dass das Wechselspiel zwischen Partei und Bewegung unabdingbar ist. Dass der Mietendeckel in Berlin zeitweise durchgesetzt werden konnte, hatten wir nicht allein der Entschlossenheit einzelner Amtsträger*innen, sondern dem permanenten Protest der Bewegungen zu verdanken. Heute denkt niemand mehr, der Mietenwahnsinn wäre das Problem einzelner Hausgemeinschaften. Es gibt eine breite gesellschaftliche Politisierung – die wünsche ich mir auch im Gesundheitsbereich.

Wagen wir ein Gedankenexperiment: Ihr schaut im Herbst 2021 auf den Kampagnensommer zurück – was habt ihr erreicht?

Jeannine: Wir haben einen extrem starken Tarifvertrag abgeschlossen mit hammermäßigen Personalvorgaben für jeden Bereich. Wir haben es zum ersten Mal geschafft, dass auch alle anderen Berufsgruppen im Krankenhaus mehr Aufmerksamkeit erhalten. Als große Gruppe der Gesundheitsberufe haben wir ein neues Selbstbewusstsein gewonnen und spüren das auch in der Zusammenarbeit im Alltag. Und außerdem steht endlich die Abschaffung der Fallpauschalen auf der politischen Agenda.

Daniel: Genau, mit der Abschaffung der Fallpauschalen hätten wir die Profitorientierung im Gesundheitswesen endlich ein Stück zurückgedrängt. Die Rekommunalisierung aller Krankenhäuser wäre dann der nächste Schritt und würde in jeder Talkshow rauf- und runterdiskutiert. Die LINKE würde es schaffen, die weit verbreitete Kritik am profitorientierten Gesundheitswesen aufzugreifen und zuzuspitzen. Damit würden wir gesellschaftlich endlich in die Offensive kommen.

Das Gespräch führten Fanni Stolz und Hannah Schurian.

Jeannine Sturm ist Pflegekraft am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin-Wedding und aktiv in der ver.di-Betriebsgruppe sowie Mitglied der ver.di-Tarifkommission und des Bündnisses »Gesundheit statt Profite«.

Daniel Schur ist unter anderem in der LINKEN-Basisorganisation LEO in Berlin-Wedding und in der Bündnisarbeit für die Krankenhausbewegung aktiv.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gemeinsam-druck-machen

#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Berlin #Pflege

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In den Krankenhäusern zeigt sich, was passiert, wenn man die öffentliche Daseinsvorsorge nach dem Profitprinzip organisiert. Wegen des verfehlten Finanzierungssystems im Krankenhaus wird am Personal gespart, wodurch die Arbeitsbedingungen schlechter und die Personalnot größer werden. Dies gefährdet wiederum die sichere Versorgung von Patient*innen. Vivantes und Charité, die beiden größten öffentlichen Krankenhäuser in Berlin, starteten deshalb 2021 eine neue Tarifbewegung.

Um das System zu verändern, braucht es aber auch jenseits des Betriebs politischen Druck und eine breite gesellschaftliche Politisierung im Gesundheitsbereich. Dies erklären Jeannine Sturm, Pflegekraft am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin-Wedding, und Daniel Schur, aktiv in der LINKEN-Basisorganisation LEO in Berlin-Wedding, im Interview. Sie zeigen auf, wie solidarische Unterstützung und erfolgreiche Bündnisarbeit zwischen Beschäftigten, Partei und Bewegung aussehen kann.

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

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Tarifrunde im ÖPNV

Was verbindet Beschäftigte und Klimabewegung?

Mai 2020 • Gespräch mit Lara Zschiesche und Erdoğan Kaya

Klimastreik Leipzig #fridaysforfuture. Foto: hybrid-moment / flickr / CC BY-NC 2.0

Klimastreik Leipzig #fridaysforfuture. Foto: hybrid-moment / flickr / CC BY-NC 2.0

Mobilität, Gewerkschaft, Organisierung, Berlin#Mobilität #Gewerkschaft #Organisierung #Berlin

Fridays for Future sind seit Monaten aktiv, aber wenn man das Klimapaket anschaut, habt ihr noch nicht so richtig was erreicht, oder?

Lara: Das ist zwiespältig. Ich denke schon, dass wir eine Diskursverschiebung in der Gesellschaft erreicht haben. Wir haben das Thema Klimawandel ganz oben auf die politische Agenda gesetzt, das ist nicht nichts. Aber es stimmt: Von den konkreten Forderungen wurde bisher keine umgesetzt. Obwohl im September 1,4 Millionen Menschen bei den Demonstrationen zum globalen Klimastreik waren.

Wie soll es weitergehen?

Lara: Es gibt jetzt unterschiedliche Ansätze. Der Kohleausstieg bleibt zentral, zum Beispiel mit Protesten gegen das Kohlekraftwerk Datteln 4. Ein wichtiger Fokus liegt aber auch auf der Mobilitätswende. Der Verkehrsbereich ist der drittgrößte Emissionssektor in Deutschland und der einzige, in dem der CO2-Ausstoß in den letzten 20 Jahren zugenommen hat. Im Klimapaket kommt er kaum vor. Außerdem zeigt sich hier deutlich, wie sehr die Klimafrage mit sozialen Fragen verknüpft ist. Ursprünglich waren Kontakte zu Beschäftigten oder Gewerkschaften kein Thema für Fridays for Future. Aber schon beim globalen Klimastreik im September 2019 gab es die Idee einer Vernetzung, die über Studierende und Schüler*innen hinausgeht. Daher der Hashtag #allefürsklima. Es passt perfekt, dass mit der Tarifrunde in Nahverkehr im Sommer eine Auseinandersetzung bevorsteht, an die wir anknüpfen können.

Ihr habt bei der BVG letztes Jahr erfolgreich für mehr Lohn gestreikt, wieso schon wieder eine Tarifrunde?

Erdoğan: Diesmal geht es nicht um die Löhne, sondern um Forderungen zu Urlaub, Zuschlägen sowie zu Ruhe- und Wendezeiten. Unsere Arbeitsbedingungen haben sich extrem verschlechtert. Die Ruhezeiten zwischen den Diensten sind kürzer und die Dienste länger geworden, der Stress nimmt zu, Kolleg*innen werden anfällig, Erkrankungen häufen sich. Auch die Wendezeiten, also die Zeiten, in denen wir an den Endhaltestellen unsere Pausen machen, werden immer kürzer. Die Toiletten sind oft weit entfernt, sodass es teils schwierig ist, zwischen den Fahrten mal aufs Klo zu gehen. Die sanitären Anlagen und die Pausenräume sind außerdem in einem unwürdigen Zustand. Außerdem klopfen immer wieder Fahrgäste an die Tür klopfen und bitten um Auskunft. Da ist keine Entspannung möglich. Die Zustände sind bundesweit ähnlich.

Wie sieht es mit dem Leben jenseits der Arbeit aus? Ihr fahrt ja auch am Wochenende und in der Nacht.

Erdoğan: Ja, außerdem haben wir oft lange Dienste, bis zu 14 Stunden. Ein Tag hat aber nur 24 Stunden. Wir haben wenig Zeit für Familie, Freunde, Schlaf und Ernährung. Das macht auf Dauer krank.

Ein 14-stündiger Dienst?

Erdoğan: Wir haben geteilte Dienste. Zwischen den beiden Teilen liegen mehrere Stunden, die aber nicht bezahlt werden. Du stehst dem Unternehmen also 14 Stunden zur Verfügung, wirst aber nur für die reine Dienstzeit bezahlt. Früher war der Tageszuschlag dafür 18 Mark – dem würden heute 9 Euro entsprechen. Tatsächlich bekommen wir aber nur 2 Euro. Das ist ungerecht und sehr belastend.

Lara: Solche Bedingungen machen den Job extrem unattraktiv. Das ist auch ein Grund, warum wir diese Tarifrunde wichtig finden: Wegen der schlechten Arbeitsbedingungen entscheiden sich immer weniger junge Leute für eine Ausbildung im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Ohne Beschäftigte wird es jedoch keine Verkehrswende geben.

Ihr seid aus Berlin, die Auseinandersetzung findet aber bundesweit statt, oder?

Erdoğan: Aktuell gibt es 15 verschiedene Tarifverträge in über 100 kommunalen Verkehrsbetrieben. Die laufen alle zum 30. Juni aus, dann steigen wir in die Tarifverhandlungen ein. Unser Ziel ist es, bundesweit zu einheitlichen Standards zu kommen und wieder mehr gemeinsam zu kämpfen. Nur so werden wir stärker. In Berlin geht es außerdem um Arbeitszeiten – in einer Umfrage haben sich unsere Kolleg*innen 2018 für eine Arbeitszeitverkürzung ausgesprochen.

Wie ist es zu dieser Aufsplitterung der Tarifverträge gekommen?

Erdoğan: Ursprünglich war der öffentliche Nahverkehr Teil des Flächentarifvertrags des öffentlichen Dienstes. Um Kosten zu sparen, wurden Anfang der 2000er Jahre einzelne Bereiche aus dem Flächentarif herausgebrochen. Der personalintensive und damit teure Verkehrsbereich gehörte dazu. Jetzt haben wir diese zersplitterten Tarife und die einzelnen Verkehrsunternehmen versuchen, uns gegeneinander auszuspielen. Dem wollen wir einen Riegel vorschieben!

Welche Rolle spielen Privatisierungen?

Erdoğan: Bei den privaten Verkehrsbetrieben sind die Arbeitsbedingungen und Löhne noch schlechter. Das übt Druck auf die Kommunalen aus, und Privatisierung ist eine ständige Bedrohung. Aus Angst davor haben wir 2005 bei der BVG einen Absenkungstarifvertrag verhandelt und darin freiwillig auf Geld und auf Rechte verzichtet. So ähnlich ist es überall gelaufen.

Wie könnte sich Fridays for Future in die Tarifrunde einbringen?

Lara: Die Klimabewegung bringt den gesellschaftlichen Rückhalt mit, den die Streikenden im ÖPNV oft nicht haben. Wir kennen das: Am ersten Tag findet ein Streik Zustimmung – die Leute unterstützen die Forderung nach höheren Löhnen. Am zweiten Tag ärgern sie sich aber schon, wenn ihr Bus nicht kommt. Deshalb wollen wir uns mit den Beschäftigten solidarisieren, um ihnen den Rücken zu stärken und gleichzeitig den Fokus aufs Klima zu legen: Eine Mobilitätswende wird es nur geben, wenn der ÖPNV massiv ausgebaut wird.

Erdoğan: Ja, wir haben viele Überschneidungen mit den Forderungen der Klimabewegung. Ein Doppeldeckerbus kann bis zu 100 Autos ersetzen. Viele Kolleg*innen sehen das genauso, weshalb es auf regionaler und auch auf Bundesebene Verbindungen zu Fridays for Future gibt. Am 20. September haben wir uns mit 100 Kolleg*innen von der BVG und auch bundesweit am Klimastreik beteiligt. Die Zusammenarbeit wollen wir ausbauen.

Was fordert ihr konkret?

Lara: Der Individualverkehr muss zurückgedrängt werden, und das geht nur durch einen Ausbau des ÖPNV. Damit ist aber zwangsläufig die Frage der Finanzierung verknüpft. Ich denke, wir brauchen eine Unternehmensabgabe, um die Konzerne an den Kosten für öffentliches Fahren zu beteiligen. In Frankreich funktioniert ein ticketloser ÖPNV durch Unternehmensabgaben schon in über 20 Verkehrsverbünden. Langfristig sollte der ÖPNV natürlich zum Nulltarif sein.

Die Kommunen sind oft klamm. Sie müssen abwägen, welche Aufgabenbereiche sie finanziell besser ausstatten.

Erdoğan: Ein Problem ist, dass der ÖPNV im Klimapaket der Bundesregierung leer ausgegangen ist. In der Berliner Landesregierung besteht durchaus Interesse, den ÖPNV auszubauen und besser zu finanzieren. Aber die Umsetzung lässt zu wünschen übrig. 2019 haben wir mit ver.di einen guten Tarifabschluss erreicht, der den Betrieb logischerweise Geld kostet. Die ursprünglichen Versprechungen hat der Senat dann aber doch zurückgezogen. Jetzt ist unklar, ob und wie die BVG an anderen Stellen sparen kann, um die höheren Löhne zu zahlen.In Berlin sieht man die Verheerungen der Schuldenbremse, die bricht den Kommunen das Genick. Letztlich müsste die Finanzierung auch über eine stärkere Besteuerung der Reichen geregelt werden. Mit dieser Bundesregierung stehen aber weder Vermögenssteuer noch andere Möglichkeiten auf der Tagesordnung. Wir sind ein reiches Land. Geld ist da – es ist nur nicht gerecht verteilt. Da müssen wir ran.

Lara: Ja, Geld ist vorhanden! Es muss anders verteilt werden. Zum Beispiel sollten wir aufhören, weiterhin fossile Energien oder konkret die Autoindustrie zu subventionieren. Aktuell wird mit massiven Steuer¬vorteilen der Kauf von luxuriösen Dienstwagen angekurbelt, die einen hohen Ausstoß haben. Ganz zu schweigen vom Straßenbau, in den irre viel öffentliches Geld gesteckt wird, ganz im Gegensatz zu Schienen – die werden vielerorts sogar abgebaut. Skandalös ist auch, dass die Autokonzerne davon ausgehen, dass die Ladeinfrastruktur, die für einen Umstieg auf E-Mobilität nötig ist, aus Steuermitteln finanziert wird. Hier droht eine ökologisch sehr zweifelhafte Technologie viel Geld zu verschlingen, das für den Ausbau des ÖPNV dringend gebraucht würde.

Das geht ja über Tarifverhandlungen hinaus. Wie wollt ihr hierfür den nötigen politischen Druck aufbauen?

Erdoğan: Wir brauchen eine Bewegung, die weit über ver.di hinausgeht. Auch die anderen Gewerkschaften müssen sich beteiligen und die Zivilgesellschaft. Deshalb ist die Klimabewegung so ein wichtiger Partner.

Lara: Ja, für die Mobilitätswende bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Allianz aus Gewerkschaften, Klimabewegung, NGOs und linken Parteien. In Bezug auf die Gewerkschaften läuft da schon vieles. Ende Februar hatten wir ein Treffen mit etwa 100 Teilnehmer*innen von Fridays for Future und jüngeren Kolleg*innen von ver.di, der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und der IG Metall. Es wurde klar: Viele Gewerkschafter*innen – besonders im Verkehrssektor – machen sich für die Verkehrswende stark. Wenn die Tarifauseinandersetzung näher rückt, überlegen wir, einen Freitagsstreik unter das Motto Verkehrswende zu stellen und gemeinsam mit Gewerkschaftskolleg*innen zu demonstrieren.

Aber es gibt ja auch Widersprüche. Bei der Forderung nach einem Nulltarif zum Beispiel haben Beschäftigte Angst, dass noch weniger Leute eingestellt werden und sich die Arbeit weiter verdichtet.

Erdoğan: Es gibt auch kritische Stimmen zur Bewegung. Wir unterstützen die Klimabewegung nicht zu 100 Prozent. Aber wir diskutieren über ihre Positionen im Betrieb. Und wir sehen, dass die jungen Menschen in der Klimabewegung nicht nur an ihre eigene, sondern auch an unsere Zukunft denken. Es gibt immer auch diejenigen, die weiterhin glauben, dass Klimabewegung und Gewerkschaft keine gemeinsamen Interessen haben. Vielleicht ändert sich das im Laufe des nächsten Jahres ja noch.

Lara: Ja, die Ängste gibt es. Wir müssen deutlich machen, dass wir eine ökologische und sozial gerechte Mobilitätswende wollen. Für uns ist zentral, dass die Beschäftigten die Klimabewegung nicht als Gegner begreifen, sondern wir zusammen für den Erhalt unseres Planeten kämpfen. Für uns ist klar, ein Nulltarif darf nicht zu Lasten der Beschäftigten gehen. Das geht nur, wenn wir die Forderung nach Klimaneutralität mit der nach finanzieller Absicherung – also nach gesellschaftlicher Umverteilung – verbinden. Und es hängt davon ab, ob wir so viel Druck entfalten können, dass ein echter gesellschaftlicher Umbau in den Blick kommt – nicht nur eine »Antriebswende«. Mit Schuldenbremse und den derzeitigen Steuerkonzepten, das hat Erdoğan ja schon gesagt, wird es nicht gehen.

Lara Zschiesche studiert an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist bei Students for Future aktiv, der Uni-Sektion von Fridays for Future.

Erdoğan Kaya ist Personalrat und Mitglied der Tarifkommission der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG).

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gespraech-tarifrunde-im-oepnv-was-verbindet-beschaeftigte-und-klimabewegung

Foto: hybrid-moment / flickr / https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

#Mobilität #Gewerkschaft #Organisierung #Berlin

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Im Interview sprechen Lara Zschiesche, aktiv bei Students for Future, und Erdoğan Kaya, Personalrat bei der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG), über gemeinsame Forderungen von Gewerkschaft und Klimabewegung im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Das Gespräch zeigt auf, wie sich Kämpfe solidarisch miteinander verbinden lassen und warum dies für eine klima- und sozialgerechte Verkehrswende notwendig ist.

Klimastreik Leipzig #fridaysforfuture. Foto: hybrid-moment / flickr / CC BY-NC 2.0

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Arbeiten an der Belastungsgrenze und wirtschaftliche Zwänge, die im Widerspruch zum medizinischen und gesellschaftlichen Bedarf stehen – das war vielen Beschäftigten im Krankenhaus auch vor Corona nicht fremd. Die grundsätzliche Tendenz, das Gesundheitswesen vorrangig als ein Marktsegment zu betrachten, das sich über Wettbewerb steuern ließe, ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Gleiches gilt für den Widerstand von Beschäftigten und ihren Verbündeten. Die Broschüre gibt Einblicke in Kämpfe um Gesundheit in anderen Ländern und zeigt dabei nicht nur Gemeinsamkeiten und Besonderheiten auf, sondern beleuchtet zugleich verschiedene Problemstellungen und Konfliktgegenstände, die sich oft in verblüffender Ähnlichkeit auch hierzulande wiederfinden. So sollen die Beiträge nicht zuletzt auch die Diskussion um Herangehensweisen und Strategien der Krankenhausbewegung in Deutschland bereichern.

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Wie können wir mit jungen Menschen rassismuskritische, offene solidarische und selbstreflektierte Positionen entwickeln? Die Autor_innen sind sich einig, dass die Bildungspraxis entscheidend ist: Es geht darum, wie Bildungsprozesse gestaltet werden und wie wir von- und miteinander lernen. Anders als in einem zunehmend neoliberal ausgerichteten Bildungssystem, das auf die Konformität von Menschen abzielt, lässt sich politische Bildung mit Inhalten füllen, die uns etwas bedeuten. Wir können dort Bildung organisieren, wo wir etwas verändern wollen am Status quo.

In der Broschüre (Heft 7 in der RLS-Reihe «Bildungsmaterialien») werden beispielhaft vier Bereiche und Methodenbausteine ausgewählt, die bildungspolitisch relevant und allgemein von großem Interesse sind: Jugendbildungsarbeit nach dem NSU; Klasse und Klassismus; Organisierung und selbstverwaltete Jugendclubs; Utopie in der politischen Bildung.

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In vielen Städten solidarisieren sich Aktivist*innen der Fridays for Future-Bewegung mit den Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs in den aktuellen Tarifkämpfen. Zwei Welten treffen aufeinander mit einem gemeinsamen Anliegen: Öffentlicher Nahverkehr ist ein wichtiger Baustein für die notwendige Verkehrswende, um die Städte sauberer zu halten und den CO2 Ausstoß von Autos zu reduzieren. Der Kampf ums Klima ist ganz konkret, wenn es um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in Bus und Bahn geht. Der Film begleitet Selma Hertz, eine junge Aktivistin für Klimagerechtigkeit, die mit ihrer Gruppe die Unterstützung der Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe organisiert. Sie trifft auf Erdoğan Kaya, ein Busfahrer und langjähriger Gewerkschafter bei Verdi. Der Film wurde gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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Wie können wir unsere Organisationen demokratischer machen? Wie können wir Inklusion in der Praxis stärker in unserem Aktivismus verankern? Wie können wir als Aktivist*innen, Multiplikator*innen, politische Bildner*innen, Bürger*innen, Mitglieder von Bewegungen und Organisationen feministische Werte in unsere Arbeit und in unseren Alltag einbringen und umsetzen? Die munizipalistische Bewegung hat diese Fragen eingehend diskutiert und politische Vorschläge und Praxen entwickelt, um die Politik zu demokratisieren und dabei den Feminismus ins Zentrum zu rücken. Ergebnis dieser politischen Arbeit ist das vorliegende Toolkit, das als Inspiration, Diskussionsgegenstand und Praxishilfe dienen soll. Die Publikation bietet Einblicke in die Prozesse, Erfahrungen und Diskussionen der Bewegung und stellt zahlreiche praxiserprobte Werkzeuge vor, die in verschiedenen Städten aus der spezifischen munizipalistischen Erfahrung gewonnen wurden.

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Bewegung in der unternehmerischen Stadt

Wie sich das Terrain verändert hat

Juli 2019 • Margit Mayer

Foto: Dan Burton / Unsplash

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Wohnen, Krise, Organisierung, Rekommunalisierung#Wohnen #Krise #Organisierung #Rekommunalisierung

Die Auseinandersetzungen, die heute im und um den städtischen Raum ausgetragen werden, unterscheiden sich in wichtigen Dimensionen von früheren. Urbane Proteste und Bewegungen manifestieren sich spätestens seit der Französischen Revolution, als solche wahrgenommen wurden sie erst ab den 1960er und vor allem 1970er Jahren, als Sozialwissenschaftler wie Manuel Castells und Henri Lefebvre sie zu Forschungsgegenständen machten und als politische Subjekte analysierten. Konzepte und Theorien über städtische Bewegungen wurden vornehmlich an den – heute würden wir sagen: fordistisch geprägten – Kontexten und Konflikten dieser Zeit entwickelt. Der fordistische Urbanismus war allerdings ein sehr spezifischer historischer Moment. Er prägte das Aufbegehren der Bewegungen gegen die technokratische Zurichtung und die daraus resultierende »Unwirtlichkeit unserer Städte« (Mitscherlich 1965).

Die städtischen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre waren Teil eines Protestzyklus, der sich aus der Kritik am Fordismus und den ihm eigenen Produktions-, Regierungs- und Lebensweisen entwickelte. Die Funktion der Städte und die Bedingungen städtischen Lebens spielten dabei zentrale Rollen. Der Angelpunkt der Kämpfe hatte sich von der »produktiven« hin zur »reproduktiven Sphäre« mit ihren öffentlichen Infrastrukturen und Dienstleistungen verschoben, deren kulturelle Normen genauso hinterfragt wurden wie ihr Preis und ihre Qualität. Die Bewegungen forderten nicht nur eine Verbesserung dieser Einrichtungen des kollektiven Konsums, sondern auch eine stärkere Beteiligung an deren Gestaltung. Während sie so auf eine am Gebrauchswert orientierte Stadt drängten, entwickelten sie selbst autonome lokale Szenen und Projekte gegen die Standardisierung und einseitige Planung von Lebens-, Kultur- und Arbeitsweisen. In vielen Städten entstand eine dynamische Bewegungsinfrastruktur von Stadtteil- und Jugendzentren, Kinderläden, Gesundheitszentren und anderen selbstverwalteten Projekten. Die Bewegungen richteten sich also gegen die »keynesianische Stadt«, in der ein Großteil der sozialen Reproduktion vom (lokalen) Staat übernommen wird, weshalb zeitgenössische Autor*innen das Städtische explizit in Kategorien kollektiven Konsums definierten (vgl. Castells 1983). Heute, nach mehreren Runden neoliberaler Umstrukturierung, agieren die städtischen Bewegungen in einem völlig anderen Setting. Sie konfrontieren keine »keynesianische« Stadt mehr. Auf die Rollback-Phase der 1980er Jahre, in der der keynesianische Wohlfahrtsstaat geschliffen wurde, und die Rollout-Phase der 1990er Jahre, in der die Folgen dieser Sparpolitik durch flankierende Maßnahmen abgemildert werden sollten, folgte die durch die Finanz- und Wirtschaftskrise geprägte Phase der Austerität. Entscheidende Dimensionen der Stadtpolitik werden heute weniger von kommunalpolitischen Institutionen als von zunehmend globalen Wirtschafts-, Finanz- und Immobilieninteressen bestimmt. Statt zentral regulierter wohlfahrtsstaatlicher Politik sehen sich die Bewegungen multi-skalaren Aktivierungsstrategien – und machtvollen privaten Developern und Investoren gegenüber. Die Aufgabe von Stadtpolitik hat sich darauf verengt, das (ungezügelte) Wirken »des Markts« zu ermöglichen – was inzwischen aber auch Gegenwehr hervorruft.

Vier Merkmale kennzeichnen die heutige Neoliberalisierung des Städtischen bzw. der Stadtpolitik

1 | Nach wie vor ist der neoliberale Urbanismus bestimmt vom obersten Ziel, Wachstum zu befördern. Um sich in der verschärften interurbanen Konkurrenz gut zu platzieren, bemühen sich Lokalpolitiker*innen, Investitionsströme in ihre Stadt zu schleusen. In dieser Konkurrenz können nicht alle Städte gewinnen, doch sie hat überall Bodennutzungsentscheidungen hervorgebracht, die auf die größtmögliche Renditeerwartung setzen und somit für die Ausbreitung von Gentrifizierung, neuer privatisierter Enklaven für den Elitenkonsum und desinfizierter Räume sozialer Reproduktion sorgen. Diese Wachstumspolitik (häufig angeheizt durch internationale Boden- und Immobilienspekulation) hat nicht nur die gebaute Umwelt transformiert, sondern auch die Boden- und Immobilienpreise explodieren lassen, was Verdrängungsprozesse, vermehrte Räumungen und eine neue Wohnungs- und Obdachlosigkeitskrise zur Folge hat. Im Gegensatz zu den führenden Global Cities sehen sich die meisten »normalen« Städte schrumpfenden Haushalten gegenüber. Sie können das Wachstum also kaum noch mithilfe der in den 1980er Jahren gängigen Standortpolitik beflügeln, die auf teure Groß-Events wie Gartenshows oder Bauausstellungen setzte. Stattdessen haben sie sich eher symbolischen, preisgünstigen Formen der Standortpolitik zugewandt, um ihr lokales Flair aufzumöbeln und »kreative Klassen« und in der Folge auch Investoren anzuziehen, darunter so simple Maßnahmen wie erleichterte Vorschriften für die Gründung von Internetcafés. Solche innovativen, zunehmend kulturellen Branding-Strategien kommen unter anderem alternativen und subkulturellen Bewegungen zugute. Stadtmanager*innen haben festgestellt, dass sich solche Bewegungen als nützlich für Vermarktungsstrategien erweisen und leicht in »Kreative-Stadt-Projekte« eingepasst werden können.

2 | Städte haben in mehr und mehr Bereichen ihres Regierungshandelns unternehmerische Formen von Governance eingeführt. Sie nutzen dabei nicht nur angeblich effizientere betriebswirtschaftliche Modelle, sondern vergeben immer mehr Aufgaben an private Akteure (in Form von Sub- und Out-Contracting), etwa bei Ausschreibungen für (spekulative) Investitionsprojekte oder die Entwicklung bestimmter Stadtteile. Indem Bürgermeister*innen zusammen mit ihren Partnern aus der Wirtschaft für einzelne Projekte spezielle Träger beauftragen oder Public-Private-Partnerships einrichten, werden Stadträte zunehmend umgangen. Hegemonie wird hier, wenn überhaupt, nur über kleinteilige Einbindungen hergestellt. An die Stelle von langfristigen, tripartistisch angelegten Regulierungsmodi treten flexible, ständig wechselnde Zugeständnisse an verschiedene Gruppen. Dieser Trend einer »Projektepolitik« hat die kommunale Planung deutlich verändert und informelle und kooperative Prozesse verankert. Die von der Kommune orchestrierten kooperativen Planungsverfahren beteiligen neben (globalen) Developern und allerlei Experten für technologische, logistische und algorithmische Lösungen vermehrt auch zivilgesellschaftliche Gruppen. Diese Praxis von »Adhocismus« und Informalisierung der Politik verschafft externen und internationalen Akteuren wie Developern und Investoren einen wachsenden Einfluss, eröffnet aber auch neue Zugänge für artikulationsstarke Bewegungsakteure. Die fehlende öffentliche Transparenz dieser Strategie ruft aber auch neue Proteste auf den Plan, weil unberücksichtigte Gruppen sich von der Gestaltung der Stadt ausgeschlossen sehen und gegen die Erosion repräsentativer Demokratie zur Wehr setzen.

3 | Intensivierte Privatisierungsprozesse – sei es von kommunalem Vermögen oder öffentlichen Diensten – nehmen immer extremere Formen an und haben die traditionelle Beziehung und Abgrenzung von öffentlicher und privater Sphäre transformiert. Soziale Einrichtungen wurden abgebaut bzw. reorganisiert und kollektive Dienstleistungen und Infrastrukturen wie Versorgungsunternehmen dem Markt ausgesetzt. Zunehmend wird aus Privatisierung sogar Finanzialisierung, indem kommunale Verkehrssysteme oder Sozialwohnblöcke auf den Finanzmärkten verhökert werden. Bei dieser Plünderung öffentlicher Haushalte werden städtische Ressourcen und öffentliche Dienstleistungen zu Optionen für eine erweiterte Kapitalakkumulation durch Enteignung. Besonders gern haben Städte die Privatisierung öffentlicher Räume vorangetrieben. Je mehr private Räume dem Elitenkonsum gewidmet werden, umso besser kann eine maximale Bodenrente realisiert werden. Dies hat spürbare Effekte auf die Stadtlandschaft: Die Privatisierung von Plätzen, Bahnhöfen und quasi-öffentlichen Einkaufszentren hat den Zugang zu kollektiven Infrastrukturen beschränkt oder verteuert. Längst sind ganze Stadtzentren, von Paris, New York und London bis Hongkong oder Singapur, zu exklusiven »Zitadellen der Eliten« geworden. Gegen diese Einhegungen regt sich vielfältiger Protest, etwa gegen die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen oder für Rekommunalisierungen.

4 | Ein weiteres wichtiges Merkmal ist eine neue Doppelstrategie im Umgang mit der wachsenden sozialräumlichen Polarisierung. In den frühen Phasen der Neoliberalisierung in den 1980er und 1990er Jahren bestanden die einschlägigen Instrumente vor allem aus quartiersbezogenen Revitalisierungs- und Aktivierungsprogrammen, die eine unterstellte Abwärtsspirale in sogenannten Problembezirken aufhalten sollten. Solche Programme sind inzwischen zurückgefahren worden oder werden ersetzt durch eine neue zweigleisige Politik: Sie koppelt einerseits unverblümte Verdrängungsstrategien mit repressiven Maßnahmen und zielt andererseits darauf, mit scheinbar wohlmeinenden Programmen bestimmte ausgewählte verarmte Gebiete und soziale Gruppen in Aufwertungsprozesse einzubeziehen. Die repressiven Instrumente beinhalten Strategien, die unerwünschtes Verhalten sowie unerwünschte Gruppen (wie Obdachlose oder Bettelnde) bestrafen, ebenso wie die Verdrängung unterer Einkommensgruppen in immer entferntere Peripherien oder versteckte Elendsnischen innerhalb der Stadt. Diese punitive Seite der neoliberalen Stadt – mit ihren verschärften Gesetzen, härteren Polizeimaßnahmen, zunehmender Entrechtung – trifft insbesondere Obdachlose, papierlose Migrant*innen, informelle Arbeiter*innen, aber zunehmend auch neue Opfer von Austeritätspolitiken.Die »gutartigen« Instrumente dagegen kommen in Gebieten zum Einsatz, wo sich ein neues Entwicklungspotenzial abzeichnet: alte Industriegebiete oder verfallende Sozialwohnungsbezirke, also eigentlich stigmatisierte Gegenden. Wenn sie günstig gelegen sind, werden sie zu Standorten von Entwicklungsprojekten, die laut Versprechen des Stadtmanagements auch den Anwohner*innen zugutekommen sollen. Diese Strategien greifen nur dort, wo erfolgreiche Verwertungsprozesse, also ein Ansteigen von Immobilienpreisen und Investitionen, winken. Sobald es gelingt, die erwünschte hochpreisige Klientel anzuziehen – häufig durch Vermarktung des vorgefundenen »wilden Urbanismus«, des authentischen Arbeiterklassenmilieus oder der hippen »kulturellen Authentizität« – werden die ärmeren Bewohner*innen verdrängt. Häufig sind begleitende partizipatorische Verfahren vorgesehen, um die antizipierten Konflikte um die gegensätzlichen Interessen kleinzuarbeiten.

Aktuelle Konflikte und Kämpfe um die neoliberale Stadt

Die vielfältigen und vielschichtigen, mit der neoliberalen Stadtentwicklung einhergehenden Ausgrenzungs-, Verdrängungs-, Enteignungs- und Entrechtungsprozesse haben der Bewegungslandschaft neue unkonventionelle Akteure zugeführt und sie zugleich heterogenisiert und fragmentiert. Während die Folgen der intensivierten Wachstumspolitik Proteste von Anwohner*innen und unterschiedlichsten Betroffenen hervorbrachten – gegen Aufwertung und Verdrängung, gegen Touristifizierung oder Zweckentfremdung –, haben die neuen Wachstumsstrategien der »Kreative-Stadt-Politik« neue Spaltungslinien innerhalb der Bewegungslandschaft produziert. Prekäre, aber in diesem Kontext über »symbolisches Kapital« verfügende Kulturschaffende und Künstler*innen konnten hier zumindest temporär zu potenziellen »Profiteuren« der neoliberalen Stadtpolitik werden. Auch besetzte Häuser oder selbstverwaltete soziale Zentren konnten mancherorts über Jahre überleben, weil sie als Attraktivitätsmarker fungierten in einem Prozess, der über kurz oder lang von Investoren in lukratives Development überführt wird – womit meist eine neue Runde (nun defensiver) Kämpfe beginnt. Bewegungen, die sich nicht so zweckdienlich in lokale Standortpolitik und Vermarktungsstrategien einbinden lassen, haben weniger Entgegenkommen von staatlicher Seite zu erwarten.

Dennoch erstarken neben Protesten gegen Aufwertung und Verdrängung auch unter ressourcenarmen Gruppen diejenigen, die sich gegen Austeritätspolitik und Sozialkürzungen sowie gegen Privatisierung und überhaupt gegen das Vordringen globaler (Finanz-)Markt-Akteure in die Stadtentwicklung und die damit verbundene Erosion lokaler Demokratie richten. So hat sich vielerorts eine öffentlichkeitswirksame Bewegungsszene herausgebildet, welche die politischen Eliten massiv unter Druck setzt. Viele dieser – seit Kurzem und seit Langem – Bewegten kommen unter dem Dach des Protests gegen »Mietenwahnsinn« zusammen[1]. Die großen Demonstrationen im April 2019 in Berlin, München, Leipzig, Stuttgart, Frankfurt am Main und weiteren Städten markierten einen vorläufigen Höhepunkt. Dahinter stehen rasante Selbstorganisationsprozesse unterschiedlichster Mietergruppen, die sich mit kreativen Aktionen gegen exorbitante Mietsteigerungen zur Wehr setzen und zunehmend mit anderen Protestgruppen verbünden – etwa jenen gegen Gentrifizierung, Zwangsräumungen und Zweckentfremdung; für Rekommunalisierung, gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbau und Enteignung großer Wohnungsunternehmen. Allein in Berlin hatten 280 Initiativen zu dem bundesweiten Protesttag am 6. April aufgerufen. Dahinter stehen auch lokale Aktivistengruppen, die sich seit Jahren unter dem Banner »Recht auf Stadt«[2] über Landesgrenzen hinweg vernetzen, um ihren Kampf um bezahlbaren Wohnraum oder gegen Zwangsräumungen[3] multi-skalar zu führen. Den derart erstarkten Bewegungen neuer und alter urban outcasts gelingt es zunehmend, ihre Themen auf die mediale und politische Agenda zu setzen, gewisse Konzessionen zu erstreiten und mancherorts auch bewegungsnahe Politiker*innen in kommunale Ämter zu hieven. Da die eigentlichen Adressaten der Proteste, die global agierenden Investmentfirmen und Developer, schwer greifbar sind und die Kommune oft nicht mehr als Feind der Bewegungen wahrgenommen wird, kommt es zu Annäherung und Kooperationen »zwischen Zivilgesellschaft und Politik«, vor allem dort, wo Letztere zugänglich erscheint. Unter dem Label des »neuen Munizipalismus« finden Bewegungsforderungen Fürsprache bei Stadträten und/oder Bürgermeister*innen – von Barcelona über Zagreb, Warschau, Bologna und Berlin bis nach Jackson (Mississippi) und jüngst auch in Chicago.

Die Versuche, nicht nur Forderungen, sondern auch Akteure der Bewegung in lokale Institutionen und Regierungen hineinzuheben, rufen erheblichen Widerstand der etablierten Parteien und vor allem des Immobilien- und Finanzkapitals hervor. Gleichzeitig generieren sie Friktionen aufseiten von Bewegungsgruppen, deren Erwartungen über das »realpolitisch Durchsetzbare« oft hinausgehen. Oder sie verstärken vorhandene Spaltungslinien, weil die bereitgestellten Partizipationsformate eher von »Bewegungseliten« genutzt werden (Balcerowiak 2018). Meist sind es langwierige und mühsame Kämpfe, in denen Initiativen wie »Stadt von unten« darauf drängen, gerade NICHT »ein paar Projektorchideen für ein paar Glückliche zu schaffen« (Stadt von unten 2018).

»Stadt von unten« wurde 2014 in Berlin gegründet, um ein Modellprojekt in kommunalem Eigentum am Dragoner-Areal, einem größeren, von der Bundesanstalt für Immobilien (BIMA) zum Verkauf bestimmten bebauten Gebiet in Berlin-Kreuzberg durchzusetzen. Gemeinsam mit anderen Initiativen gelang es ihnen 2016, eine Privatisierung des Areals zu verhindern und es zum Sanierungsgebiet erklären zu lassen.[4] Mit der Kommunalisierung verknüpfen sie als Hauptziel die Demokratisierung der Wohnungsunternehmen und substanzielle Mitbestimmungsrechte der Mieter*innen, die eine langfristige soziale Ausrichtung und bezahlbare Mieten gewährleisten sollen. 2018 gelang es ihnen, einen paritätisch besetzten »Gründungsrat« zu etablieren und dort gemeinsam mit allen Projektbeteiligten Leitlinien für eine Kooperation zu entwerfen. Es zeichnete sich aber ab, dass Senat und Bezirk sich nicht auf inhaltliche Vorgaben einlassen wollten, die über die üblichen Auflagen für Sanierungsgebiete hinausgehen, wie zum Beispiel das Erbbaurecht. Noch bevor die Kooperationsvereinbarung unterzeichnet war, berief die Kreuzberger Bezirksverwaltung eine eher exklusive (da tagsüber im Rathaus tagende) »Beteiligungswerkstatt« ein, um Bau- und Nutzungsanforderungen zu klären – worauf die Initiativen mit Boykott reagierten (Stadt von unten 2019).

Während die Initiativen beim Tauziehen mit politischen Entscheidungsträger*innen in Gremien wie dem Gründungsrat kaum Zugeständnisse bei inhaltlichen Vorgaben und Leitlinien der Kooperationsvereinbarung erreichen können, konzediert die Politik auf Bezirkswie übergeordneter Ebene neue, informelle wie formelle Arbeits- und Koordinierungsstellen, die es ermöglichen, bislang ehrenamtliche und deshalb oft prekäre aktivistische Arbeit auf solidere Beine zu stellen. Dadurch werden Teile der Initiativen professionalisiert und in eine »gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung« eingebunden. Derartige Stellen steigern allerdings, genauso wie die oft umkämpften Kooperationsverfahren (vgl. Ziehl 2018), ohne aufmerksame Begleitung das Risiko von Intransparenz und Demokratiemangel in den Planungs- und Entscheidungsprozessen (vgl. Mayer 2019). Wo es also um die Umsetzung von Bewegungszielen geht, bewirken sowohl die unter »neuen munizipalistischen« Vorzeichen eröffneten Verhandlungs- und Kooperationsrunden als auch die Projektplanungen im Rahmen einer unternehmerischen Governance ein Auseinanderdividieren von Bewegungsakteuren: ein Teil entscheidet sich für eine Mitwirkung in diesen Gremien, ein anderer kritisiert deren fehlende öffentliche Transparenz.

Erfolg oder Scheitern heutiger städtischer Bewegungen lässt sich nicht bestimmen, indem man sie mit früheren fordistischen Bewegungen vergleicht. Aber so wie die damaligen Bewegungen die fordistische Stadt widerspiegelten und schließlich zu ihrer Krise beitrugen, so lassen sich auch die heutigen erst in ihrer Relation zum neoliberalen Urbanismus begreifen. Ihr Erfolg wird nur an dessen Demontage zu messen sein. Daraus folgt, dass Linke bei der Wahl ihrer stadtpolitischen Aktionen und Kampagnen die Dynamik der neoliberalen Stadtpolitik und deren Auswirkungen auf die Bewegungslandschaft beachten sollten. Die Wohnraumfrage etwa bietet Mobilisierungs- und Politisierungschancen, allerdings nur, wenn es gelingt, auf die große Masse der Betroffenen und auf Solidarität zwischen ressourcenarmen und mehr oder weniger privilegierten Gruppen hin zu orientieren und so den inhärenten Spaltungstendenzen entgegenzuwirken. Eine Vereinnahmung und Kooptierung von Akteuren, die über Artikulationsstärke, kulturelles Kapital oder sonstige für die »kreative Stadt« nützliche Kompetenzen verfügen, torpediert das cross-movement building, das so nötig ist. Nur wenn viele verschiedene Bewegungen sich hinter eine Forderung wie etwa die von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen!« stellen, besteht die Chance, über kosmetische Veränderungen hinauszukommen.

Fußnoten

[1] Vgl. die Pressemitteilung von Bundesweites Bündnis #Mietenwahnsinn vom 22.3.2019.

[2] Siehe z. B. www.realize-ruhrgebiet.de/2018/05/14/recht-auf-stadt-zwischen-abwehr-kaempfen-radikaler-realpolitik-und-alternativen.

[3] Siehe z. B. European Action Coalition for the Right to Housing and to the City aus Anti-Zwangsräumungsinitiativen aus 13 europäischen Ländern: www.rosalux.eu/publications/resisting-evictions-across-europe.

[4] Das Areal ist seither im Besitz des Landes Berlin. Die BIMA regelte, dass 90 Prozent der Fläche kommunal (also von einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft) bewirtschaftet werden müssen, das heißt, maximal zehn Prozent könnten selbstverwaltet bzw. in Erbbaurecht gemanagt werden.

Literatur

Balcerowiak, Rainer, 2018: Gegenteil einer sozialen Bewegung. In Großstädten tritt immer häufiger ein links-alternatives Bürgertum auf, das ein Recht auf Stadt einfordert – für sich und nicht für Wohnungslose, in: die tageszeitung, 15.11.2018.

Castells, Manuel, 1983: The City and the Grassroots, Berkeley.

Mayer, Margit, 2019: The Promise and Limits of Participatory Discourses and Practices, in: Ülker, Bariş/Mar Castro, Maria do (Hg.), Doing Tolerance. Democracy, Citizenship and Social Protests, Leverkusen.

Mitscherlich, Alexander, 1965: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt a.M.

Stadt von unten, 2018: Kommunal ist nicht genug! Übertragungsvertrag zum Dragonerareal frisst Modellprojekt, 9.10.2018, https://stadtvonunten.de/kommunal-ist-nicht-genug-uebertragungsvertrag-zum-dragonerareal-frisst-modellprojekt

Stadt von unten, 2019: Rathausblock/Dragonerareal: Stadtpolitische Initiative verweigert Mitarbeit an Werkstatt zur »Beteiligung«, 4.4.2019, https://stadtvonunten.de/pressemitteilung-rathausblockdragonerareal-stadtpolitische-initiative-verweigert-mitarbeit-an-werkstatt-zur-beteiligung

Ziehl, Michael, 2018: Zukunftsfähigkeit durch Kooperation. Ein Laborbericht, http://urban-upcycling.de/laborbericht

 

Margit Mayer ist Politikwissenschaftlerin und Professorin a. D. an der Freien Universität Berlin und Senior Fellow am Center for Metropolitan Studies Berlin. Sie forscht seit Langem zu städtischen Themen und sozialen Bewegungen in den USA und Deutschland.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/bewegung-in-der-unternehmerischen-stadt

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Entscheidende Dimensionen der Stadtpolitik werden heute weniger von kommunalpolitischen Institutionen als von zunehmend globalen Wirtschafts-, Finanz- und Immobilieninteressen bestimmt. Die mit der neoliberalen Stadtentwicklung einhergehenden Ausgrenzungs-, Verdrängungs-, Enteignungs- und Entrechtungsprozesse ruft aber auch Gegenwehr hervor. Margit Mayer skizziert Merkmale der Neoliberalisierung des Städtischen sowie Konflikte und Kämpfe um die neoliberale Stadt.

Foto: Dan Burton / Unsplash

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»Wir haben nicht satt«

Mai 2018 • Barbara Fried im Gespräch mit Michael Bättig

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Gutes Essen ist meist etwas für Menschen mit gehobenem Lebensstandard. Nicht nur wegen der Preise. Essen ist auch eine Kulturpraxis, über die sozialer Status (re)produziert wird. Wie kommt ihr als Arbeitsloseninitiative dazu, euch mit Ernährungsfragen zu beschäftigen?

Es fing damit an, dass die Ausgaben für Schnaps, Smartphone und Videostreaming zunehmend den Anteil für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke im Hartz-IV-Regelsatz auffraßen. Als wir eine Erhöhung forderten, rieten uns auch wohlmeinende Menschen, wir sollten doch erstmal mit dem Rauchen aufhören und die Heizung beim Lüften ausdrehen. Man könne sich doch auch mit wenig Geld gesund und ökologisch ernähren. Tatsächlich steigt seit Jahren der Pro-Kopf-Energieverbrauch für Wohnen, Essen, Auto, Reisen proportional zur Höhe des Einkommens. Und zwar völlig unbeeinflusst vom pseudogrünen Postwachstumsdiskurs und unabhängig von Bildungsstand und politischer Einstellung.[1] Auf der ersten »Wir haben es satt«-Demonstration 2011 in Berlin haben wir es auf unserem Flugblatt so ausgedrückt: »Ehrlich gesagt: Wir haben nicht satt! Wie auch: 4,83 Euro sind für einen Erwachsenen für Essen und Trinken pro Tag im Hartz-IV-Regelsatz vorgesehen, für ein 14-jähriges Kind 3,99 Euro. Davon wird niemand satt. An gesunde oder gar Bio-Lebensmittel ist nicht zu denken. Was bleibt, ist der Weg zum Discounter. Und da schauen wir nicht auf Gentechnik oder faire Produktion, sondern nach den günstigsten Preisen. Weil sonst am Ende des Geldes zu viel Monat übrigbleibt. Die Aufforderung, wir sollten doch uns und unsere Kinder gesund ernähren, hört sich gut an – führt aber in der Regel nur zu einem sparsamen Gesichtsausdruck. Ihr schüttelt über unsere ›Konsumgewohnheiten‹ den Kopf, und wir halten Eure Bioläden für Luxus.«[2] 

Ihr habt viel Aufmerksamkeit bekommen, als ihr gemeinsam mit Bäuer*innen faire Preise und »gesundes Essen für alle« gefordert habt.

Unsere Bündnisarbeit in diesem Bereich begann mit den europäischen Bauernprotesten 2008/09. Damals wurde mit Blockaden, Demonstrationen, Streiks und Misthaufenvor Regierungsgebäuden für höhere Milchpreise gekämpft. Bäuer*innen in unserer Region, die im Bundesverband Deutscher Milchviehhalter organisiert waren – eine Alternative zum traditionellen Bauernverband, der eher Lobbyist der Agrarindustrie ist –, wollten damals mit anderen gesellschaftlichen Gruppen wie Studierenden und Erwerbslosen zusammenarbeiten. So haben wir angefangen, über gemeinsame Interessen und dann auch Aktionen nachzudenken. Wir haben Kontakte zu Gewerkschaften, zu kirchlichen Organisationen und sozialen Einrichtungen geknüpft und das bundesweite Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum initiiert. Gemeinsam blockierten wir zum Beispiel einen Schlachthof, um gegen Lohndumping zu protestieren, oder einen Hafen aus Protest gegen Futtermittelimporte aus der »Dritten Welt«. Und wir waren auch bei anderen Aktionen wie den »Wir haben es satt«-Demos dabei. Über die Zeit ist in der Region ein informelles Netzwerk sozialer und ökologischer Initiativen entstanden.

Dass Erwerbslose sich gegen Lohndumping organisieren, ist nicht selbstverständlich. Wie genau mobilisiert ihr, wenn es um diese Themen geht?

Rund ein Drittel aller Haushalte in Deutschland hat für Lebensmittel ungefähr so viel zur Verfügung wie auch im Hartz-IV-Regelsatz vorgesehen ist: pro Monat etwa 145 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen. Das reicht für eine halbwegs ausgewogene Ernährung (nicht bio!) auch dann kaum, wenn man den ganzen Tag damit verbringt, den billigsten Angeboten hinterherzurennen. Dieses Problem betrifft also längst nicht nur Menschen im Hartz-IV-Bezug. Zugleich sind die Lebensmittelpreise Druckmittel für Löhne. 300.000 Bäuer*innen ernähren in Deutschland 80 Millionen Menschen. Ihre Produkte werden zu über 90 Prozent von fünf Ketten vermarktet: Edeka, Rewe, Aldi, Lidl und Metro. Sie diktieren Preise, Qualität, die Bedingungen der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung. Ihre wachsende Marktmacht bedroht die Existenz kleiner Lebensmittelproduzent*innen. Sie sind verantwortlich für unmenschliche Löhne und Arbeitsbedingungen weltweit und zerstören mit den immer weiteren Transportwegen die Umwelt. Mit Hartz IV sind wir aber gezwungen, bei Aldi und Lidl einzukaufen. Wir werden als Rechtfertigung für den Preiskrieg der Discounter missbraucht. Billiglöhne sind nur mit billigen Lebensmitteln möglich und billige Lebensmittel sind nur mit Billiglöhnen herzustellen. Auf diesen Zusammenhang versuchen wir unsere Leute hinzuweisen. Uns ist die Qualität unserer Ernährung und unserer Umwelt nicht egal. Und uns ist auch nicht egal, unter welchen Bedingungen die Lebensmittel produziert werden und wie dabei mit der Umwelt und den Tieren umgegangen wird. Die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze ist also keine isolierte Forderung, sondern Teil eines größeren Projekts. Konkret mobilisieren wir je nach Anlass hier im Arbeitslosenzentrum, über unsere Sozialberatung oder über befreundete Initiativen und Bündnisse. Einmal im Monat, an den »Zahltagen«, sind wir vor dem Jobcenter, verteilen Flugblätter und sprechen mit den Leuten. Außerdem schreiben wir natürlich Artikel und geben Interviews, so wie euch gerade.

Was müsste passieren, um mit diesem größeren Projekt weiterzukommen?

Die Kunst der politischen Aufklärung besteht zurzeit darin, konkrete Handlungsperspektiven aufzuzeigen – jenseits der Ideologie, dass das individuelle Konsumverhalten für die globale Nahrungsmittelproduktion verantwortlich ist, und jenseits davon, einfach resignativ-fatalistisch weiterzugrillen, weil sich ja strukturell eh nichts ändern lässt. Seit ein paar Jahren kauft die ALSO für das wöchentliche öffentliche Frühstück im Arbeitslosenzentrum im benachbarten Bioladen ein. Das hat den Kapitalismus bislang nur wenig erschüttert, führt aber zu Diskussionen und neuen Verbindungen zwischen Menschen und Initiativen. Für die größeren Veränderungen müssen die sozialen und ökologischen Projekte vor Ort zusammenfinden. In diesem Sinne weiten wir aktuell unsere Sozialberatung auf die angrenzenden Landkreise Vechta und Oldenburg aus. Dort befinden sich europäische Zentren der industriellen Fleisch- und Nahrungsmittelproduktion. In den letzten 15 bis 20 Jahren wurde hier vor allem mit Leiharbeiter*innen aus Osteuropa ein riesiger Billiglohnsektor aufgebaut, in dem zum Teil unvorstellbare Ausbeutungs- und Lebensverhältnisse herrschen. Betroffene berichten, dass sie von Vorarbeitern rassistisch beschimpft und in einzelnen Fällen gar geschlagen werden. In unseren Beratungsgesprächen erfahren wir davon und teilen dies auch anderen Beratungsstellen und Gewerkschaften mit. Leider nehmen auch namhafte Bio-Lebensmittelproduzenten die Dienstleistungen solcher Betriebe in Anspruch, zum Beispiel für die Ausstallung der Tiere vor dem Schlachten. Inzwischen ist es uns gelungen, in den migrantischen Communities Vertrauen aufzubauen. Wir leisten in Kooperation mit lokalen Gewerkschafts-, Kirchen- und Wohlfahrtsverbänden direkte Unterstützung für Betroffene, um Ansprüche gegen die Jobcenter durchzusetzen und um die Wohnverhältnisse zu verbessern. Hier gibt es vonseiten der Nahrungsmittelgewerkschaft NGG, der IG BAU und ver.di durchaus ernsthafte Organisierungsbemühungen und eine gute Zusammenarbeit bei Beratungen und Aktionen.

Wie reagieren Gewerkschafter*innen denn auf eure Forderung nach höheren Regelsätzen?

Naja, wenn es direkt um die Erhöhung des Regelsatzes oder gar ein Grundeinkommen geht, tun sich Gewerkschafter*innen noch immer schwer. Einkommen und Erwerbsarbeit zu entkoppeln ist angstbesetzt – das sieht man ja momentan auch bei der Rentendiskussion. Gerade deshalb weisen wir ja auf den Zusammenhang von Arbeits- und Produktionsbedingungen, von Dumpingpreisen im Discounter und niedrigen Hartz-IV-Sätzen hin. Vor Ort konkret zusammenzuarbeiten, erleichtert das gegenseitige Verständnis. Aber es ist auch noch ein Stück Weg zu gehen.

Was ist für euch das Wegweisende an dieser Bündnisarbeit?

Neue sozialökologische Bündnisse lassen sich nicht darauf reduzieren, dass Erwerbslose auch Biolebensmittelkaufen wollen. Lebensmittel sind nicht nur Mittel zum Leben, sie sind auch ein Vehikel, um Profite zu maximieren. Die enormen Produktivitätsfortschritte in der Landwirtschaft haben großen Anteil daran, dass die Kosten zur Wiederherstellung der Arbeitskraft so gering bleiben konnten. Wenn die Lebensmittel billig sind, brauchen die Löhne nicht so hoch zu sein, und die Profite steigen. Wir sehen deshalb zentrale Auseinandersetzungen in der Nahrungsmittelproduktion mit ihren zerstörerischen Auswirkungen auf Mensch und Natur und im Dienstleistungs- und Handelssektor mit der verschärften Ausbeutung der meist migrantischen Arbeitskräfte. Hier liegt der materialistische Kern der neuen Bündnisse aus Gewerkschaften, Bauern- und Umweltverbänden, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Erwerbslosennetzwerken. Was wir daraus machen, liegt auch an uns. Anders als in klassischen gewerkschaftlichen Kämpfen für mehr Lohn geht es uns darum, warum und wie produziert wird und um das, was wir unter einem »guten Leben für alle« verstehen. Wir kämpfen darum gegen die Exportorientierung der Agrarindustrie und für eine ökologische, faire, regionale und bäuerliche Landwirtschaft. Und natürlich kämpfen wir für eine ausreichende Grundsicherung auf europäischer Ebene, damit wir alle uns ökologisch und fair produzierte Lebensmittel leisten können. Und den Schnaps.

Anmerkungen

[1] Vgl. Umweltbundesamt, 2016: Repräsentative Erhebung von Pro-Kopf-Verbräuchen natürlicher Ressourcen in Deutschland, Berlin. 

[2] Die Zahlen sind für 2018 angepasst.

Michael Bättig ist seit mehr als 30 Jahren in der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) aktiv. Die ALSO ist eine der ältesten unabhängigen Erwerbsloseninitiativen in der Bundesrepublik.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-haben-nicht-satt

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Lebensmittel sind nicht nur Mittel zum Leben, sie sind auch ein Vehikel, um Profite zu maximieren. Michael Bättig, aktiv in der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), spricht im Interview über den Zusammenhang von Arbeits- und Produktionsbedingungen, von Dumpingpreisen im Discounter und niedrigen Hartz-IV-Sätzen. Die Arbeitsloseninitiative knüpft erfolgreich neue sozial-ökologische Bündnisse. Anders als in klassischen gewerkschaftlichen Kämpfen für mehr Lohn geht es ihnen darum, warum und wie produziert wird und um das, was wir unter einem »guten Leben für alle« verstehen.

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In den großen Städten explodieren die Mieten, bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Das birgt sozialen Sprengstoff. Dass es problematische Folgen hat, Wohnraum marktförmig zu organisieren, ist eine alte linke Erkenntnis. In der aktuellen Wohnungskrise ist sie vielen neu bewusst geworden.

Stadtpolitik ist aber auch ein Feld der politischen Hoffnung und des solidarischen Widerstands. In Hausgemeinschaften und Nachbarschaften, mit Kampagnen und Demonstrationen machen immer mehr Menschen gegen den Mietenwahnsinn mobil. Die Forderung nach Enteignung großer Immobilienkonzerne gewinnt ungeahnte Zustimmung. Diese Proteste haben die Wohnungsfrage wieder auf die politische Agenda gesetzt.

Wie kann eine Wohnungspolitik aussehen, die sich am Gemeinwohl orientiert, die Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausspielt, die inklusiv und zugänglich für alle ist? Dies beleuchtet diese Ausgabe der Zeitschrift «LuXemburg» 2/2019 zu Wohnungskrise und Stadtpolitik.

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„Bis unsere Arbeit nicht mehr nötig ist, braucht es viele weitere Schritte“

Mai 2017

Foto: Medibüro Berlin / facebook.com/medibuero.berlin.kampagne

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Anti-Rassismus, Migration, Alternativen, Organisierung#Anti-Rassismus #Migration #Alternativen #Organisierung

Als Medibüro organisiert ihr nicht nur konkrete Unterstützung für Menschen ohne Papiere, sondern seid auch eine politische Initiative, die universalen Zugang zu Gesundheitsleistungen fordert. Inwiefern haben sich die Bedingungen dafür mit dem Regierungswechsel in Berlin geändert ?

Wir begrüßen es zunächst einmal, dass eine unserer Forderungen Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat: die Umsetzung eines anonymisierten Krankenscheins. Gemeinsam mit vielen anderen Organisationen fordern wir Medibüros schon seit langem, die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus zu verbessern. In Berlin haben wir bereits 2007/2008 das Konzept der Vergabe eines solchen Krankenscheins entwickelt, der die Betroffenen in die entsprechende Regelversorgung integriert, ohne dass ihre Daten über das Sozialamt an die Ausländerbehörden weitergegeben werden. Im rot-roten Senat der vorletzten Legislaturperiode ist das Projekt aber am Widerstand des SPD-geführten Innensenats gescheitert. Die schwarz-rote Koalition hat es dann bereits im Koalitionsvertrag ausgeschlossen. Das Thema war von der politischen Agenda verschwunden. Es ist also gut, dass es jetzt endlich in Angriff genommen wird. Das hat auch damit zu tun, dass das Bewusstsein für die Problematik gewachsen ist. Die Proteste und Forderungen zahlreicher Initiativen und Geflüchteter sind nicht mehr so einfach zu ignorieren. Andere Bundesländer sind mittlerweile auch schon an Berlin vorbei gezogen: In Niedersachsen wurde der anonymisierte Krankenschein auf Initiative der Medinetze in Göttingen und Hannover als dreijähriges Pilotprojekt eingeführt. In Hamburg und Düsseldorf wurden vergleichbare Modelle umgesetzt. Allerdings muss man dazu sagen, dass bei keinem dieser Modelle ein wirklicher Krankenschein ausgegeben wird, der ein individuelles Recht auf Gesundheitsversorgung umsetzt. Die Modelle basieren auf Fondsgelder. Wenn die aufgebraucht sind, können keine weiteren Behandlungen mehr finanziert werden. Auch in Berlin wird es eine solche Begrenzung geben. Wie hoch diese sein wird, steht noch nicht fest.

Wie weit ist denn dieses Ziel bis jetzt umgesetzt worden in Berlin?

Das Medibüro beteiligt sich aktuell intensiv an einer Konzeptentwicklung für Berlin zusammen mit der Senatsverwaltung für Gesundheit sowie anderen Initiativen und Einrichtungen. Inwieweit es tatsächlich gelingt, auf diese Weise den Zugang zu medizinischer Versorgung für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Berlin zu verbessern, hängt maßgeblich von der konkreten Ausgestaltung ab. Hier sind noch viele Punkte offen und umstritten. Es ist aber schon jetzt klar, dass mit dem Modell nicht alle Probleme gelöst werden. Zum einen aufgrund des beschränkten Budgets des Fonds. Zum anderen wegen der Frage des Zugangs: wer wird den Schein wirklich nutzen können, wer bleibt ausgeschlossen? Das hängt auch von den Vergabemodalitäten ab und von der alltagstauglichen Gestaltung des Zugangs. Wahrscheinlich wird das Ergebnis nicht all unseren Idealvorstellungen entsprechen.

Was wäre denn aus eurer Sicht entscheidend in der Umsetzung?

Eine eingeschränkte oder fehlende Versorgung trifft nicht nur Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus, sondern auch Menschen aus anderen EU-Staaten. Darunter sind zum Beispiel auch sogenannte Drittstaatsangehörige, die einen Aufenthaltstitel in anderen EU-Ländern haben, aber in Berlin leben, weil die Lebensbedingungen z.B. in Auffanglagern in Italien nicht tragbar sind. Es ist noch offen, inwiefern für diese genannten Gruppen im Rahmen des Konzepts eine Lösung gefunden werden kann. Klar ist aber, dass es zumindest ein vertieftes Beratungsangebot geben soll, um bestehende Rechtsansprüche der Personen zu verwirklichen. Was die Versorgung von EU-Bürgerinnen anbelangt, ist hier sicherlich nicht nur der Gesundheits-, sondern auch der Sozialsenat gefragt.

Natürlich ist klar: Nicht alle Probleme können auf Länderebene gelöst werden. Unsere Forderungen zielen auf gleiche soziale und politische Rechte für alle und somit eine gleiche Gesundheitsversorgung aller Menschen, die hier leben. Vom Berliner Senat fordern wir aber, dass die Grenzen des Möglichen ausgelotet werden und alles für die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus und ohne Krankenversicherung getan wird. In anderen Bereichen kritisieren wie außerdem neue Einschränkungen im Vergleich zu bisherigen Regelungen. So ist gerade erst die seit über sechs Jahren bestehende erweiterte Duldungsregelung für Schwangere verschärft worden, eine Maßnahme, die noch vom rot-schwarzen Senat initiiert wurde. Wir haben die Hoffnung und fordern vom Senat, dass das wieder rückgängig gemacht wird.

Ihr seid ja nun selbst in die Kommunikation mit dem Senat eingebunden. Wir erlebt ihr die Zusammenarbeit?

Auf Basis des Runden Tischs und im Rahmen der Konzeptausarbeitung des anonymisierten Krankenscheins kommunizieren wir intensiv mit dem Senat, bislang nur mit dem Gesundheitssenat. Das Gesprächsklima erleben wir dabei als respektvoll und interessiert. Gespräche mit selbstorganisierten Initiativen von Geflüchteten hat es zu der Thematik unseres Wissens aber bislang nicht gegeben. Um praktische Probleme und Bedürfnisse im Lebensalltag der Menschen zu erfahren, fordern wir, auch auf selbstorganisierte Gruppen Geflüchteter und anderer Migrantinnen zuzugehen und Menschen einzubeziehen, die selbst Fluchterfahrungen oder Erfahrung mit unsicherem Aufenthaltsstatus haben.

Verändert die neue politische Konstellation auch eure Arbeit und eure Strategie als Initiative?

Prinzipiell hat sich die Arbeit des Medibüros dadurch nicht verändert. Unsere Strategie verbindet ja die praktische Unterstützungsarbeit mit politischer Arbeit, die Regierungsstellen und Öffentlichkeit adressiert. Das ist leider auch weiterhin notwendig. Die sachbezogene Gremien- und Lobbyarbeit führen wir fort. Voraussichtlich werden zunächst mühsame Kompromisse erzielt werden, die nicht unseren Anspruch einlösen werden, allen hier lebenden Menschen einen gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Wir werden dies also auch weiterhin fordern und an den Senat bzw. die Öffentlichkeit herantragen. Bis unsere Arbeit nicht mehr nötig sein wird, braucht es noch viele weitere Schritte.

 

Das Medibüro Berlin (Netzwerk für das Recht auf Gesundheitsversorgung aller Migrantinnen) existiert seit 1996 als selbstorganisiertes Projekt, das Menschen ohne Aufenthaltsstatus und ohne Krankenversicherung anonyme und kostenlose medizinische Behandlung vermittelt. Seit der Gründung verfolgt die antirassistische Initiative das Ziel, die Gesundheitsversorgung von illegalisierten Geflüchteten und Migrant_innnen auf politischem und pragmatischem Wege zu verbessern.

Hanna Schuh ist Psychologin und wirkt seit 2011 im Medibüro Berlin – Netzwerk für das Recht auf Gesundheitsversorgung aller Migrantinnen mit.

Burkhard Bartholome ist Arzt und seit 2001 beim Medibüro Berlin

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/medibuero-viele-weitere-schritte/

Foto: Foto: Medibüro Berlin / facebook.com/medibuero.berlin.kampagne

#Anti-Rassismus #Migration #Alternativen #Organisierung

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Interview mit Hanna Schuh und Burkhard Bartholome vom Medibüro Berlin über die Realität und die politischen Forderungen beim Zugang zu medizinischer Versorgung für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Berlin.

Foto: Medibüro Berlin / facebook.com/medibuero.berlin.kampagne

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Eine soziale Wohnungsversorgung muss fast immer gegen private Gewinninteressen durchgesetzt werden. Diese Broschüre soll all jene mit Informationen und Argumenten ausstatten, die sich im Alltag oder in ihrer professionellen bzw. politischen Funktion für eine sozialere Wohnungspolitik einsetzen. Können es Private wirklich besser? Muss Neubau immer teuer sein? Schützt das Mietrecht vor Verdrängung? Gängige Behauptungen gegenwärtiger wohnungspolitischer Auseinandersetzungen werden auf den Prüfstand gestellt. Sie soll dabei helfen, die üblichen Argumente für den sogenannten freien Wohnungsmarkt kritisch zu hinterfragen und den Blick für bedürfnisgerechtere Formen der Wohnungsversorgung zu öffnen. Konzepte für eine andere Wohnungspolitik liegen längst vor. Insbesondere die vielen Mieterinitiativen und selbstverwalteten Wohnprojekte haben für zahlreiche Fragen und Probleme bereits sehr konkrete Antworten und Lösungen entwickelt und Vorschläge formuliert, wie diese umgesetzt werden könnten.

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«Futuring Health Care» - Gesundheitszentren als Orte gesellschaftlicher Transformation

August 2017 • Renia Vagkopoulou und Kirsten Schubert

UmCare – Strategiekonferenz Pflege und Gesundheit. Foto: Rosa-Luxemburg Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

UmCare – Strategiekonferenz Pflege und Gesundheit. Foto: Rosa-Luxemburg Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Krankenhaus, Pflege, Organisierung, Alternativen#Krankenhaus #Pflege #Organisierung #Alternativen

Gesundheitszentren als Orte politischen Handelns und gesellschaftlicher Veränderung zu verstehen, liegt für die meisten Menschen nicht unbedingt nahe. Gesundheitsversorgung wird eher als Serviceleistung wahrgenommen und Arztpraxen als Orte, die man nur krank aufsucht. Zwar ist im Prinzip bekannt, dass sich Arbeitsbedingungen, soziales Umfeld und finanzielle Möglichkeiten auf die Gesundheit auswirken. Selten werden jedoch die «sozialen Determinanten von Gesundheit» (Weltgesundheitsorganisation) explizit zum Gegenstand von Gesundheitsarbeit gemacht.[1] Im Folgenden stellen wir alternative Gesundheitszentren vor, die eine solche soziale Gesundheitsarbeit zum Gegenstand haben.  Ausgehend von diesen Beispielen diskutieren wir, wie zukünftige Gesundheitssysteme aussehen können und inwiefern bestehende Gesundheitszentren Wege dorthin öffnen: Was ist ihr Potenzial für eine gesamtgesellschaftliche Transformation?

Gesundheit und Transformation

Gesundheit[2] stand in Europa lange Zeit nicht im Fokus sozialer Bewegungen. Mit der zunehmenden Ökonomisierung und Privatisierung der Krankenversorgung und den dramatischen Folgen der Sparpolitik für die Gesundheit der Menschen vor allem in den krisengeschüttelten Ländern in Südeuropa hat sich dies geändert. Die Notwendigkeit für Veränderung – im Gesundheitssystem und darüber hinaus – ist vielen Menschen deutlich geworden.

Es gibt unterschiedliche Theorien, wie sich eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung erreichen lässt. Um das Veränderungspotenzial der von uns untersuchten Gesundheitszentren einzuschätzen, beziehen wir uns auf das Konzept der Transformation, wie es im und rund um das Institut für Gesellschaftsanalyse (IfG) der Rosa-Luxemburg-Stiftung entwickelt wurde. Es verweist auf die Idee «revolutionärer Realpolitik» von Rosa Luxemburg, die damit den falschen und unproduktiven Gegensatz zwischen Revolution und Reform überwindet. Reform und Revolution, so Luxemburg, sind nicht «verschiedene Methoden», sondern «verschiedene Momente in der Entwicklung».[3] Demnach muss auch eine tiefgreifende Umwälzung der Verhältnisse unter den gegebenen Bedingungen beginnen und mit konkreten Verbesserungen der Lebenssituation der Menschen einhergehen. Im günstigen Fall lassen sich so Handlungsspielräume erweitern und neue Praxen entwickeln, die es ermöglichen, Schritt für Schritt und nachhaltig eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu bewirken. Das bedeutet auch, realpolitische Schritte und Reformen auf ihr in diesem Sinne revolutionäres Potenzial hin zu befragen. Zwar gilt es, an den konkreten und alltäglichen Sorgen und Nöten der Einzelnen anzusetzen, sie aber zu einem übergreifenden Projekt zu verallgemeinern. Nur dann kann es gelingen, Brüche mit den bestehenden Kräfteverhältnissen herbeizuführen.

Um einen solchen Übergang zu gestalten, bedarf es politischer Praxen, die die bisherigen Akteure und Handlungsstrategien infrage stellen – sogenannter Einstiegsprojekte.[4] Es geht darum, Hierarchien in Zweifel zu ziehen und Orte zu schaffen, in denen eine kollektive Wissensproduktion stattfinden und partizipative Entscheidungsfindung erprobt werden kann. Solche Praxen fordern die herrschende «Ökonomie der Zeit» (Marx) unmittelbar heraus – sie sind unvereinbar mit Profitdruck, Konkurrenz und Existenzangst im Kapitalismus. Um diese Erkenntnis in der Mehrheitsgesellschaft zu etablieren, müssen konkrete Alternativen erlebbar werden.

Wie also können Wege beschritten werden hin zu einer Gesellschaft, in der Wirtschaft, Politik und Kultur solidarisch und durch partizipative Demokratie organisiert sind? Wie könnten konkrete Alternativen im Gesundheitsbereich aussehen? Lassen sich solche Einstiegsprojekte auch auf alternative Strukturen der Daseinsvorsorge wie zum Beispiel Gesundheitszentren übertragen?

Transformatorische Konzepte im Gesundheitsbereich

Gesundheit spielt in den Debatten um Transformation selten eine Rolle. Vermittelt über Diskussionen um Care – also um Pflege und Sorgearbeit – werden gesundheitspolitische Fragen jedoch thematisiert. Hier wird das Projekt einer «bedürfnisorientierten solidarischen Care Economy» vorgeschlagen. Es geht um «eine Reorientierung auf öffentliche Gesundheit, Erziehung und Bildung, Forschung, soziale Dienste, Ernährung(ssouveränität), Pflege und Schutz unserer natürlichen Umwelten».[5] Der Care-Bereich biete unter anderem deshalb strategische Eingriffspunkte, weil sich hier Menschen erreichen lassen, «die bisher nicht in linken Strukturen zu Hause sind, die sich insgesamt von ‹Politik› nicht viel versprechen».[6] Gabriele Winker schlägt eine feministische Transformationsstrategie hin zu einer Care Revolution vor, die «die grundlegende Bedeutung der Sorgearbeit ins Zentrum stellt und darauf abzielt, das gesellschaftliche Zusammenleben ausgehend von menschlichen Bedürfnissen zu gestalten».[7] Auf dem Weg zur «Demokratisierung und Selbstverwaltung des Care-Bereichs» verweist sie unter anderem auf die Rolle von stadtteilbezogenen Gesundheitszentren, die über die ärztliche Versorgung hinausgehen und beispielsweise auch Gemeinschaftsküchen oder Wohngenossenschaften umfassen.[8] Hier zeigen sich Bezüge zur Theorie der sozialen Infrastruktur,[9] die die Reorganisation öffentlicher Güter und der Daseinsvorsorge ins Zentrum eines gesellschaftlichen Umbaus stellt. Krampe et al. schlagen vor, lokale Gesundheitszentren aufzubauen, in denen vor allem Pflegekräfte eine tragende Rolle spielen. Zugleich würden damit Gesundheitsgefährdungen im Stadtteil besser aufgefangen. Die Gesundheitszentren könnten in regionalen und überregionalen Gesundheitsplattformen zusammengeführt werden.[10]

Allen Ansätzen ist gemein, dass sie das Öffentliche, die Gemeingüter ins Zentrum stellen und im Umgang mit ihnen ein «Commoning»[11] zu etablieren suchen, ein kollektives Kümmern um das Gemeinsame. Wie kann also «Gesundheit als Commons» gedacht und praktiziert werden? Einige Erklärungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bieten hierfür interessante Referenzpunkte.

Gesundheit für alle – aber wie?

Eine Basisgesundheitsversorgung (Primary Health Care/PHC), die «Gesundheit für alle» garantieren sollte, wurde in der Erklärung der WHO von 1978 mit fünf Prinzipien skizziert. Diese sind Gleichheit und Gerechtigkeit, Partizipation, ein interdisziplinärer Ansatz, regional, technisch und kulturell angepasste Methoden sowie ein umfassender Gesundheitsbegriff, der Gesundheitsförderung, Krankheitsverhütung, Behandlung und Rehabilitation einschließt. Dabei sollen sogenannte GemeindepflegerInnen, Gesundheitszentren und multisektorale Stadtteilarbeit die Basis der Versorgung bilden. Zentral ist dem hier geprägten und im Folgedokument ausformulierten Konzept der «Gesundheit für alle» die Umorientierung von der Verhütung von Krankheit zur Förderung von Gesundheit (Ottawa Charta 1986). In der Praxis wurde der Ansatz jedoch zunehmend verwässert und neoliberal umgedeutet: Vertikal implementierte Gesundheitsprogramme traten an die Stelle horizontaler, partizipativ entwickelter Ansätze. Individuelle Verhaltensprävention trat an die Stelle von gesellschaftlicher Verhältnisprävention.

Hält man am Leitbild der Basisgesundheitsversorgung fest und stellt es in den Kontext der dargestellten Ansätze der Transformationsforschung, so lassen sich Gesundheitszentren als wichtige Orte der Daseinsvorsorge bestimmen. Es entsteht das Modell eines Gesundheitszentrums, das partizipativ auf allen Ebenen sowie stadtteil- und bedarfsorientiert arbeitet, in dem ein multiprofessionelles Team einem umfassenden Gesundheitsverständnis Rechnung trägt und Fragen von Umwelt und Care-Arbeit in den Mittelpunkt rückt. Die Zentren erscheinen als Laboratorien für gesellschaftliche Veränderung.

Alternative Gesundheitszentren – drei Beispiele aus Europa

In unserer Studie haben wir drei alternative Gesundheitsinitiativen in Griechenland, Belgien und Österreich untersucht und auf ihr transformatorisches Potenzial hin befragt. Ausgangspunkt und prominentestes Beispiel war die Solidarische Klinik in Thessaloniki (Solidarity Social Medical Center/SSMC), deren Arbeit in der (linken) deutschen Öffentlichkeit vielfach vorgestellt wurde. Entstanden als Initiative zur medizinischen Versorgung von MigrantInnen und Geflüchteten ohne Versicherung, wurde das Zentrum im Zuge der Krise zum Anlaufpunkt für immer mehr Bevölkerungsgruppen. Alle EinwohnerInnen ohne Krankenversicherung können dort eine medizinische Grundversorgung erhalten. Die Klinik versteht sich als Teil der Bewegung gegen die Austeritätspolitik und ist eingebunden in antirassistische und antifaschistische Bewegungen sowie in Netzwerke solidarischer Ökonomie. Das basisdemokratisch organisierte Kollektiv legt wert auf Unabhängigkeit vom Staat, von der EU und der Kirche, von politischen Parteien und vom Markt – es basiert allein auf Solidarstrukturen, Freiwilligenarbeit und Spenden.[12]

Auch wenn das griechische Beispiel aus Platzgründen hier nicht weiter ausgeführt werden kann, bietet es doch eine interessante Vergleichsfolie zu den anderen Fallbeispielen. Sie zeigen unterschiedliche Wege einer alternativen ambulanten Versorgung auf – jenseits der verschärften Bedingungen der Krise, aber ebenfalls konfrontiert mit Kostendruck und getragen vom Versuch der solidarischen Organisierung.

Der Stadtteil im Fokus – das Sozialmedizinische Zentrum in Graz, Österreich

Das Sozialmedizinische Zentrum (SMZ) im Grazer Stadtteil Liebenau vereint primärmedizinische Versorgung, soziale Arbeit, Gesundheitsförderung, Gemeinwesenarbeit, Musiktherapie sowie psychosoziale und rechtliche Beratung unter einem Dach. Gegründet 1984, ist es das erste und bis heute einzige Zentrum dieser Art in Österreich. Die Gründer waren geprägt von der kritischen Medizinerbewegung und den Erfahrungen marxistisch-leninistischer K-Gruppen. Einen Bezugsrahmen für ihre Arbeit fanden sie in den genannten Erklärungen der WHO zur Basisgesundheitsversorgung. Dieser Ansatz bietet Raum für breitere Allianzen und ermöglicht zugleich eine systemkritische Arbeit unter dem Motto «Gesundheit für alle». Das SMZ zielt zwar darauf ab, solidarische Netzwerke und Selbstermächtigung zu fördern. Eine linke solidarische Bewegung, die dessen Arbeit konkret unterstützt hätte, gab es jedoch bei Gründung – und gibt es bis heute – nicht.

Im SMZ arbeitet ein multiprofessionelles Team stadtteilorientiert und mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung. Dazu gehören eine ärztliche Gemeinschaftspraxis mit zwei Fachärzten, einem Weiterbildungsassistenten und zwei medizinischen Fachangestellten, des Weiteren zwei MitarbeiterInnen für Gemeinwesenarbeit und Gesundheitsförderung, eine Musiktherapeutin und eine Sozialarbeiterin. Eine gelernte Juristin ist zuständig für Verwaltung und Finanzen. Hinzu kommt die Familienberatungsstelle Graz Süd mit einer Rechtsberatung, ärztlicher, psychotherapeutischer und Sexualberatung sowie sozialarbeiterischer Beratung. Über mehrere Jahrzehnte waren auch SoziologInnen, PhysiotherapeutInnen und ein ambulanter Pflegedienst Teil des SMZ. Rechtlicher Träger aller Bereiche ist der Verein für praktische Sozialmedizin, dessen Vorstand alle fünf Jahre gewählt wird.

Die beiden Ärzte und Gründer des Zentrums haben Weiterbildungen in den Bereichen Psychotherapie, Arbeits-, Sucht- und Umweltmedizin absolviert. Sie betreiben eine pharmakritische, psychosomatische Medizin, in der sie sich bewusst Zeit für die PatientInnen nehmen und dafür finanzielle Einbußen in Kauf nehmen. Die Sozialarbeiterin kooperiert eng mit den Ärzten und ist für die sozialrechtliche Beratung zuständig; sie hilft bei Behördengängen oder Wohnungsproblemen. Zusammen mit der Musiktherapeutin und zwei MitarbeiterInnen für Gemeinwesen und Gesundheitsförderung ist sie viel im Stadtteil unterwegs. Das Team geht dorthin, wo die Menschen leben, lernen oder arbeiten – entsprechend hat das SMZ Außenstellen in verschiedenen Bezirken aufgebaut. Es betreibt außerdem Öffentlichkeitsarbeit mit einer regelmäßig erscheinenden Zeitschrift und einer Veranstaltungsreihe.

Während sich die Gemeinschaftspraxis durch reguläre Gelder der Sozialversicherung trägt, werden soziale Arbeit und Betrieb der Familienberatungsstelle aus öffentlichen Geldern der Sozialministerien finanziert. Alle anderen Bereiche werden mit ein- bis dreijährigen Verträgen mittels (zeitaufwendiger) Projektanträge finanziert.Knotenpunkt für die Arbeit des Teams ist die wöchentliche, verpflichtende Teamsitzung, wo die MitarbeiterInnen bei gleichem Mitspracherecht Ideen und Probleme einbringen können. Hinzu kommen monatlich stattfindende interdisziplinäre Fallkonferenzen. Bei Bedarf wird eine Helferkonferenz einberufen, in der PatientInnen, Angehörige und Betreuende gemeinsam eine individuelle Situation besprechen und die für die PatientIn beste Lösung suchen.Entscheidungen, die das Zentrum betreffen, werden meist im Konsens gefällt. Es gibt jedoch bewusst akzeptierte Hierarchien. So fungiert einer der Ärzte von Beginn an als Vorstandsvorsitzender. Wichtige oder dringende Entscheidungen werden von den Ärzten gefällt. Zum einen spiegelt das die finanzielle und rechtliche Verantwortung der Ärzte wider, zum anderen möchten viele MitarbeiterInnen diese Verantwortung nicht mittragen. PatientInnen sind hier – im Unterschied zu den beiden anderen Projekten – nicht in die interne Arbeit des Zentrums eingebunden.

Die Arbeit im Stadtteil ist jedoch beteiligungsorientiert. Sie findet auf vier Ebenen statt: zunächst in der Einzelfallarbeit insofern, als durch den interdisziplinären und ganzheitlichen Ansatz immer die Lebens- und Arbeitsbedingungen mitreflektiert werden; außerdem in den wöchentlichen Gruppenangeboten wie geselligen Brunchs, Gartenarbeit, Kochen, Musizieren oder Walken, die mit den AnwohnerInnen gemeinsam entwickelt werden. Hier sollen soziale Netze gestärkt und Gesundheit gefördert werden. Die AnwohnerInnen schätzen den niedrigschwelligen Kontakt zu den SMZ-MitarbeiterInnen.

Darüber hinaus hat das SMZ lokale Gesundheitsplattformen initiiert, um Gesundheit im Stadtteil tatsächlich sektorenübergreifend und partizipativ zu verhandeln. Bei der größten, der Gesundheitsplattform Liebenau, treffen sich sechsmal im Jahr VertreterInnen von Bürgerinitiativen, der Kirche, Schulen, Seniorenvereinen, Parteien oder dem Bezirk. Die Plattform ist offen für alle AnwohnerInnen und konnte schon diverse konkrete Erfolge im Stadtteil erzielen, beispielsweise die Umwidmung von Grünflächen in Industriegebiete verhindern und die Feinstaubbelastung reduzieren. Sie war ein Katalysator für soziale Bewegungen im Stadtteil und hat diverse Bürgerbündnisse hervorgebracht. Schließlich macht das SMZ eigene politische Arbeit und ist in vielen kommunalen Netzwerken aktiv. Es hat sich erfolgreich gegen ein Energiekraftwerk und die Umleitung des anliegenden Flusses Mur sowie den Abriss einer Wohnsiedlung eingesetzt und den Arbeitskampf gegen die Schließung der ansässigen Zweiradproduktion unterstützt. Im Zuge dieser Aktivitäten war es auch in die kritische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Stadtteils involviert – dabei wurde unter anderem die Geschichte eines lokalen Zwangsarbeiterlagers aufgedeckt. Zusätzlich ist das Zentrum mit den Grazer Universitäten vernetzt und hat viele Forschungsprojekte der partizipativen Sozialforschung initiiert oder unterstützt.

Das SMZ ist mit seinem stadtteilorientierten Ansatz ein Pionier- und Leuchtturmprojekt in Österreich. Im Gegensatz zum folgenden Beispiel – dem belgischen Médecine pour le peuple – konnte es jedoch kein landesweites solidarisches Netzwerk aufbauen.

Gesundheitsversorgung zwischen Partei und Bewegung – Médecine pour le peuple in Belgien

Médecine pour le peuple (MPLP) betreiben in Belgien insgesamt elf Gesundheitszentren, die an die 30.000 PatientInnen versorgen – immerhin fünf Prozent der belgischen Bevölkerung. Die Organisation hat ihren Ursprung in der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre und der damals gegründeten marxistischen Arbeiterpartei Belgiens (Parti du Travail de Belgique/PTB). Das erste Gesundheitszentrum entstand 1971 aus der Solidaritätsarbeit für streikende Hafenarbeiter. Obwohl MPLP aus der Partei hervorgegangen sind und ihre politischen Positionen teilen, sind sie wirtschaftlich und organisatorisch unabhängig. Die Gesundheitszentren arbeiten nach drei Prinzipien: Sie sollen den kostenfreien Zugang aller zu einer hochwertigen medizinischen Versorgung sicherstellen, die gesellschaftlichen und ökonomischen Einflussfaktoren auf Gesundheit thematisieren, dabei die Forderungen und Bedürfnisse von PatientInnen und BürgerInnen einbeziehen und diese umfassend beteiligen. Die Mitarbeit in den Zentren setzt keine Parteimitgliedschaft voraus, es wird allerdings eine gewisse politische Loyalität und Nähe zur Partei erwartet.

Seit dem Jahr 2000 wird die Arbeit durch ein solidarisches Umlageverfahren, das sogenannte Forfait-System finanziert. Auf Grundlage einer Vereinbarung mit den staatlichen Sozialversicherungsträgern erhält jedes Gesundheitszentrum – gemessen an der Zahl der dort registrierten PatientInnen – monatlich einen festen Betrag aus deren Kassen. Diese werden unabhängig davon, ob die Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden, an die Gesundheitszentren ausgezahlt. Die PatientInnen selbst müssen – im Gegensatz zu vielen anderen Einrichtungen des belgischen Gesundheitswesens – keine Zusatzzahlungen leisten. Alle MitarbeiterInnen sind fest angestellt und beziehen einen kollektiv vereinbarten Lohn. Das Gehalt der ÄrztInnen liegt dabei deutlich unter dem Durchschnitt ihrer KollegInnen in Belgien, jedoch über dem der anderen MitarbeiterInnen im Zentrum. Das an dieser Stelle eingesparte Geld wird für nachbar- und bürgerschaftliches Engagement verwendet, etwa für gesundheitsfördernde Bildungsangebote, oder in politische Kampagnen investiert, die die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen ins Visier nehmen.

In den Zentren wird eine medizinische Grundversorgung angeboten. Das Team setzt sich aus ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen, VerwaltungsmitarbeiterInnen und mindestens einer weiteren Fachkraft, etwa einer ErnährungswissenschaftlerIn, PsychotherapeutIn oder PsychologIn, zusammen. Um einem ganzheitlichen Ansatz gerecht zu werden, sind pro Behandlung durchschnittlich 20 Minuten vorgesehen. Die angebotenen Dienste sind vor allem für diejenigen gedacht, die besonders bedürftig sind. Deshalb befinden sich die Zentren in Vierteln, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und viele Menschen ohne Papiere leben. Dadurch, dass ehrenamtliche HelferInnen an sämtlichen Aktivitäten von MPLP beteiligt sind, haben sich ihre Zentren auf der kommunalen Ebene zu wichtigen Gemeinschaftsprojekten entwickelt.

MPLP setzen auf das Konzept der partizipativen Demokratie. Angelegenheiten, die alle elf Zentren betreffen, wie etwa Finanzierungsfragen oder bundesweite Kampagnen, werden in einem nationalen, alle zwei Wochen tagenden Koordinierungskreis entschieden. Über ihre alltägliche Arbeit bestimmen die lokalen Zentren selbstständig auf Basis der jeweiligen Bedingungen und Bedürfnisse. Die Verbindungen zwischen den Zentren und der PTB sind eher indirekt. Die Partei macht keine direkten Vorgaben, viele MitarbeiterInnen sind jedoch Parteimitglieder, häufig sogar in den Gemeinde- und Stadträten aktiv. Die enge Verbindung zwischen Organisation und Partei bietet die Möglichkeit, öffentliche Debatten über strukturelle Probleme des Gesundheitswesens anzustoßen und dafür zu sorgen, dass sich die entsprechenden politischen Stellen damit befassen.

Die medizinische Arbeit ist bei MPLP in verschiedener Hinsicht eng mit politischer Arbeit verknüpft. Gesundheitsprobleme, die in einem Zentrum auftreten, werden zu den strukturellen Faktoren in der örtlichen Community ins Verhältnis gesetzt. Ein Schwerpunkt besteht darin, sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, wobei die Bandbreite der Aktivitäten von Beratungstätigkeiten über die Organisierung von Aufklärungskampagnen bis hin zur Mobilisierung der Betroffenen reicht. Auch betreiben die Zentren Forschung zu Umweltfaktoren und den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung. Die Ergebnisse dienen häufig als Grundlage für Kampagnen und werden genutzt, um politischen Druck aufzubauen. Ein Beispiel ist eine Kampagne für Preissenkungen bei Medikamenten. Die MPLP versorgen auch MigrantInnen ohne Papiere, die in Belgien offiziell keinen Zugang zum Gesundheitswesen haben. Das oben erwähnte Finanzierungsverfahren ermöglicht es, einen Teil der staatlichen Zuwendungen zu deren Gunsten «umzuverteilen».

Médecine pour le Tiers Monde (M3M), eine Partnerorganisation von MPLP, betreibt Projekte in Palästina, im Libanon und auf den Philippinen und ist somit Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung. Zuletzt initiierten die Organisationen eine Solidaritätskampagne für Griechenland und gegen die neoliberalen Austeritätsmaßnahmen. Um Leute zu mobilisieren, werden zu solchen Anlässen lokale Informationsveranstaltungen organisiert und die Menschen vor Ort aufgesucht: Mitglieder gehen von Tür zu Tür, in die Fabriken und Unternehmen und üben Solidarität mit Streikenden.

Emanzipatorische Gesundheitszentren als Einstiegsprojekte in eine gesamtgesellschaftliche Transformation?

Alle drei Initiativen – das SSMC in Thessaloniki, das SMZ in Graz und MPLP in Belgien – bieten unabhängig von den unterschiedlichen Entstehungs- und Kontextbedingungen erfahrbare Alternativen zu dominanten Formen der Gesundheitsversorgung. In Deutschland gibt es unseres Wissens keine vergleichbaren Projekte. Ansätze, die diesen Initiativen am nächsten kamen, sind nahezu alle gescheitert.[13] So wurden etwa die Polikliniken der DDR durch die marktkonformen Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) ersetzt.

Um – anknüpfend an die zu Beginn skizzierte Debatte zu gesellschaftlicher Transformation – einzuschätzen zu können, ob die dargestellten Gesundheitsprojekte als «Einstiegsprojekte» und Vorbild für andere Ländern dienen können, bedarf es einer weiteren Beschäftigung mit ihren Organisationsstrukturen und Funktionsweisen. Allerdings lassen sich an dieser Stelle bereits einige Prinzipien und Kriterien benennen, die uns in diesem Zusammenhang besonders relevant erscheinen: solidarisches Handeln, eine Orientierung an Bedürfnissen, ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit, die Fähigkeit zur Verbreiterung und Verallgemeinerung sowie die Bereitschaft, den Bruch mit dem Alten zu wagen.

Solidarisches Handeln

Das Gesundheitswesen ist traditionell von starken Hierarchien und einem großen Machtgefälle zwischen den beteiligten Akteuren geprägt. Die hier vorgestellten Initiativen verfolgen in diesem Feld einen emanzipatorischen Anspruch. PatientInnen und AnwohnerInnen kommt gemeinsam mit den MitarbeiterInnen eine aktive Rolle zu, und Gesundheitsversorgung wird als ein «Gemeingut» begriffen. Aus passiven HilfeempfängerInnen werden aktiv Handelnde, die man zur Selbstbestimmung ermutigt. Die ÄrztInnen, die hier recht eng mit anderen Fachkräften kooperieren, lernen, die Dogmen ihrer eigenen Disziplin infrage zu stellen, ebenso ihre Rolle im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft. Der Aufbau von solch egalitären Beziehungen erfordert eine andere «Ökonomie der Zeit» (Marx). Es geht nicht länger um Gewinnmaximierung, sondern darum, Vertrauensverhältnisse zu schaffen und solidarische Beziehungen aufzubauen.Die vorgestellten Initiativen hinterfragen immer wieder die Legitimation des dominanten Gesundheitssystems und greifen die ihm zugrunde liegenden Machtstrukturen an. Diese Schritte hin zu mehr Gleichheit und gegenseitiger Solidarität können als Voraussetzung für weitere, radikale gesellschaftliche Transformationen betrachtet werden. Nur durch veränderte, stärker auf Gleichberechtigung setzende Beziehungen zwischen den Akteuren im Gesundheitswesen und den Menschen und Communitys, die sie versorgen, wird ein gemeinsamer politischer Kampf mit einer emanzipatorischen Ausrichtung überhaupt vorstellbar.

Bedürfnisorientierung statt Ökonomisierung

Alle dargestellten Initiativen begreifen Gesundheit und Gesundheitsversorgung als öffentliches Gut und bekämpfen dessen zunehmende Kommodifizierung. Sie gehen von den Bedürfnissen der PatientInnen und Communitys aus und betrachten diese als Handelnde im Feld gesundheitlicher Versorgung. Auch den Anliegen des Personals versuchen sie – auf je unterschiedliche Weise – gerecht zu werden.

Das Finanzierungsmodell der Solidarischen Klinik in Thessaloniki orientiert sich am stärksten an einem Commons-Modell. Jede direkte Zusammenarbeit mit Staat und Markt wird abgelehnt – die benötigten Mittel stammen von AnwohnerInnen und anderen privaten Spendern. Auf diese Weise findet ein auf Solidarität und Gegenseitigkeit basierender Austausch von Ressourcen und Leistungen statt, bei dem besonders auf gleichberechtigte Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten geachtet wird.Auch die MPLP richten ihre Arbeit am «Bedarf von unten» aus. Nicht nur, dass die Gesundheitszentren in ehemaligen Industriebezirken mit hoher Arbeitslosigkeit angesiedelt sind, auch das Finanzierungsmodell ermöglicht eine gewisse Umverteilung von Ressourcen hin zu den Bedürftigen und zu Community-Projekten. Außerdem wird Wert auf eine gerechte Entlohnung gelegt.

Das SMZ in Graz schließlich entwickelt seine Stadtteilarbeit ebenfalls zusammen mit den Menschen vor Ort und thematisiert im Rahmen der sektorenübergreifenden Gesundheitsplattformen die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung. Auch wenn die PatientInnen (anders als bei den solidarischen Kliniken) nicht aktiv in die internen Abläufe und Entscheidungen des Zentrums eingebunden sind, so sind sie in diesem Arrangement doch Akteure, die über ihre eigene gesundheitliche Versorgung mitbestimmen.

Ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit

In der wissenschaftsorientierten Medizin dominiert das Leitbild der Fragmentierung und Enteignung: Der menschliche Körper wird in zusammenhanglose Untersysteme zerteilt und der Behandlungsprozess ist ein auf das einzelne Symptom reduzierter medizinischer Akt. Die PatientInnen werden nicht eingebettet in ihren jeweiligen sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Kontext betrachtet – sondern es dominiert die bürgerliche Vorstellung vom «autonomen Individuum».Der Ansatz der Gesundheitszentren unterscheidet sich grundsätzlich davon. Hier ist die Community, die gesellschaftliche Eingebundenheit der Einzelnen, der zentrale Referenzrahmen. Individuum und Gesellschaft werden als wechselseitig vermittelt verstanden. In dieser Sichtweise erscheint Gesundheit als ein sozioökonomisch-biophysikalischer Komplex, dessen Förderung nur mit einem ganzheitlichen und interdisziplinären Ansatz gelingen kann. Dieser erfordert eine Umstellung der beteiligten Akteure und sektorenübergreifende Aktivitäten auf allen Ebenen – auf der lokalen, regionalen und internationalen.

Das SSCM in Thessaloniki gehört zu einem breiten Solidaritätsnetzwerk, das fast alle Aspekte des Lebens umfasst: von der Ernährung über das Wohnen bis hin zu Umweltfragen. Im Zuge ihres Kampfes gegen die Demontage des griechischen Gesundheitssystems haben sie national und weltweit Kontakte geknüpft. Eine Organisation wie die MPLP zeigt, dass solch ein Netzwerk über die Zeit wachsen und sich weiterentwickeln kann, ohne seinen progressiven Ansatz und Anspruch zu verlieren. Zusammen mit ihrer Partnerorganisation Médecine pour le Tiers Monde (M3M) sind MPLP im internationalen Peopleʼs Health Movement und verschiedenen anderen progressiven Netzwerken aktiv.

Die sektorenübergreifenden Plattformen, die das SMZ in seiner Nachbarschaft in Graz eingerichtet hat, stehen ebenfalls für einen ganzheitlichen Ansatz in der Gesundheitspolitik. Sie können als exemplarisch gelten für das, was Winker in ihrem Konzept der Care Revolution als Care-Räte bezeichnet, oder für das, was im Konzept sozialer Infrastrukturen[14] als regionale Gesundheitsplattform beschrieben wird. Die lokalen Strukturen wirken der zunehmenden Anonymisierung und Zentralisierung von Entscheidungen entgegen und stärken den Bezug auf das Gemeinsame. Damit geht von diesen Initiativen für ein anderes Gesundheitswesen eine transformatorische Kraft aus, die alle Lebensbereiche berühren kann.

Verbreitern und Verallgemeinern

Die Frage, inwieweit die vorgestellten Gesundheitsinitiativen Ansätze bieten, die verallgemeinerbar wären und damit Einstiege in Transformation darstellen könnten, ist letztlich nicht konzeptionell zu beantworten, sondern in erster Linie eine Frage verbindender Praxen. Eine Reihe von Herausforderungen und Bedingungen lassen sich formulieren. Alle drei Initiativen sind zunächst stark von ihrem jeweiligen Entstehungszusammenhang geprägt und haben eine unterschiedlich große geografische Reichweite. Nicht alle sind in politische Netzwerke eingebunden.

Bei den MPLP in Belgien scheint besonders die Rolle der PTB in diesem Prozess von Bedeutung. Die Anbindung an die Partei sowie die damit verbundenen Kontinuität der Arbeit hat die Ausweitung der Gesundheitszentren über ganz Belgien befördert und sichert die politische Eingebundenheit der MitarbeiterInnen, sowie eine gemeinsame Zielstellung. Das SSCM wiederum ist Teil eines Netzwerkes von ähnlichen Projekten in ganz Griechenland, von denen die meisten aus der Krise heraus entstanden. Ihr großer Vorteil ist: Auch wenn sich diese in ihren Ansätzen zum Teil unterscheiden, so haben sie doch begonnen, gemeinsame politische Ziele zu entwickeln, und verstehen sich als Teil einer breiten solidarischen Bewegung.

Diese Art von Bewegung fehlt in Österreich. Das SMZ hat im Stadtteil Liebenau zwar viel bewegt und ist dort gut verankert. Es gibt jedoch keine mit Griechenland vergleichbaren überregionalen solidarischen Netzwerke. Das Zentrum ist nicht Teil einer kritischen Bewegung und hat kein gemeinsames politisches Fundament. Damit bleibt es stark an das Engagement von Einzelpersonen gebunden. Mit der anstehenden Pensionierung der Gründer wird sich zeigen, ob das SMZ es schaffen kann, die Fortsetzung seiner kritischen Arbeit zu gewährleisten.

Den Bruch wagen

Neben der politischen Reichweite und der Verallgemeinerbarkeit ist des Weiteren zu fragen, inwieweit in den vorgestellten Projekten bereits ein Bruch mit dem Bestehenden angelegt ist. Von allen drei Initiativen, die wir in unsere Untersuchung einbezogen haben, lässt sich sagen: Sie haben unter den gegebenen Bedingungen versucht, etwas ganz Neues zu schaffen, anstatt sich am Alten festzuhalten. Ob sie damit schon eine Öffnung für weiterreichende Entwicklungen erkennen lassen, die zu einer Abkehr von der allgemeinen Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und anderer Gesellschaftsbereiche beitragen, darüber lässt sich streiten.

So vertreten Brie und Klein die Ansicht, dass ein Bruch mit dem Kapitalismus in solchen lokalen Initiativen zunächst unmöglich sei angesichts der geringen Ressourcen.[15]  Gleichwohl können sie dazu beitragen, eine Transformation vorzubereiten, indem sie Alternativen überhaupt erfahrbar machen. Dazu gehört dann auch, langfristig einen Teil der privilegierten Bevölkerungsgruppen auf die eigene Seite zu ziehen, darüber Mehrheiten zu verschieben und zugleich Ressourcen auszuweiten, die Zeit und Raum für die Verbreiterung von transformativen «Einstiegsprojekten» schaffen. Die hier vorgestellten Initiativen konnten einen solchen Verallgemeinerungsprozess nur partiell durchlaufen. Vielmehr haben sie ihre Aktivitäten und Anstrengungen darauf konzentriert, alternative Räume (gewissermaßen Parallelwelten) zu schaffen, in denen progressive Konzepte umgesetzt werden können. Dabei setzen sie auf unterschiedliche Partner und Strategien.

Die belgische Organisation MPLP ist ganz offensichtlich ganz eng verwoben mit staatlichen Strukturen und nutzt eine linke Partei, um politische gesellschaftlichen Wandel zu bewirken. Dagegen steht der Ansatz der solidarischen Kliniken in Griechenland. Ihre bewusst praktizierte Unabhängigkeit von Staat, politischen Parteien, Markt und Kirche nimmt vorweg, wie sich die Beteiligten eine zukünftige Gesellschaft vorstellen: als eine basisdemokratische Verwaltung der Gemeingüter in den Händen der Community. Das SMZ wiederum hat die lokale Begrenzung nicht überschritten, stellt aber in dem unterprivilegierten Wohnviertel eine wichtige Anlaufstelle für die AnwohnerInnen dar. Es ist ein Ort des Austauschs und der Selbstermächtigung, in dem der Anspruch formulierbar wird, selbst Akteur der eigenen Gesundheit und der dafür maßgeblichen lokalen und gesellschaftlichen Bedingungen zu sein.  

Ausblick: TAMARA statt TINA

Um transformative Prozesse anzustoßen, ist es zentral, das Neue und Andere erleb- und erfahrbar zu machen, denn der Mangel an Perspektiven sichert nach wie vor einen passiven Konsens zum Bestehenden.[16] Der Erfolg der hier vorgestellten Gesundheitsinitiativen und -zentren besteht unserer Ansicht nach vor allen Dingen darin: Sie haben es geschafft, für alle Beteiligten – MitarbeiterInnen wie NutzerInnen –, Alternativen zum herrschenden System der medizinischen Gesundheitsversorgung umzusetzen und damit Alltagspraxen zu entwickeln, die für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung von Bedeutung sind. Die unterschiedlichen Projekte zeigen, dass es innovative Ansätze und realpolitische Lösungen für bestehende Probleme geben kann. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag dazu, das TINA-Syndrom («There Is No Alternative»/«Es gibt keine Alternative») zurückzudrängen und ein TAMARA-Gefühl («There Are Many And Realistic Alternatives»/«Es gibt eine Vielzahl von machbaren Alternativen») zu erzeugen. Sie machen praktisch erlebbar, wie zukünftige, nachhaltige Systeme der Gesundheitsversorgung aussehen könnten, und bereiten den Weg für transformative Prozesse im Gesundheitsbereich.

Wenn wir die dargestellten Gesundheitszentren unter der Fragestellung betrachten, ob sie Momente einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung sein können, so sind neben den bereits genannten Kriterien und Herausforderungen noch weitere zu berücksichtigen. Zunächst einmal muss das Überleben der bereits existierenden Initiativen gesichert werden. Zudem wäre dafür zu sorgen, dass die daran Beteiligten trotz ihrer hohen Arbeitsbelastung den Blick nicht verlieren für weiterreichende Veränderungen und dazu beizutragen, dass ähnliche Projekte an anderen Orten entstehen können. Zudem wohnt allen vorgestellten und ähnlichen Initiativen grundsätzlich die Gefahr inne, von institutionellen Logiken vereinnahmt zu werden und das herrschende System langfristig zu stabilisieren. Daher kommt es darauf an, zu verhindern, dass die Projekte emanzipatorischer Gesundheitsversorgung mit ihrem innovativen Potenzial nicht mit der Zeit vom neoliberalen Kapitalismus integriert werden. Welche Maßnahmen und Schritte dafür geeignet sind, kann jedoch nur in der Praxis und konkreten Auseinandersetzungen herausgefunden werden.Konzeptionell bietet neben der Commons-Diskussion der Ansatz, Gesundheit als Sorgebeziehung zu verstehen und sie in einer Care-Ökonomie zu verorten, wahrscheinlich den vielversprechendsten Ansatz, um breite gesellschaftliche Diskussionen zu initiieren und Bündnisse zu schließen, die notwendig sein werden, um grundlegende sozialpolitische Änderungen durchzusetzen. Verankert zu sein in einer Struktur mit einem transformatorischen Anspruch – sei es Bewegung oder Partei – scheint uns darüber hinaus zentral zu sein, um eine nachhaltige politische Wirkung zu erzielen. Die richtige Balance im Sinne einer «revolutionären Realpolitik» zu finden, bleibt dabei eine gewaltige Herausforderung. Auch wenn die drei von uns untersuchten Gesundheitsinitiativen in Belgien, Griechenland und Österreich nicht alle Anforderungen an «transformatorische Einstiegsprojekte» erfüllen mögen, stehen sie doch beispielhaft dafür, wie das «»Andere aussehen könnte. Mit unserem Beitrag wollen wir sie bekannter machen und dazu ermutigen, ähnliche Projekte aufzubauen.

Fußnoten

[1] Dieser Artikel basiert auf einer umfassenderen vergleichenden Studie zu Gesundheitszentren in Griechenland, Österreich und Belgien, die demnächst veröffentlicht wird.

[2] Gesundheit soll hier nicht als normatives Konzept verstanden werden. Auch geht es nicht um ein individualisiertes Verständnis, das Schönheits- und Verhaltensideale diktiert, gemäß der neoliberalen Logik, alle Sphären des Lebens marktkonform zu gestalten. Wir beziehen uns vielmehr auf das kollektiv entwickelte Verständnis des People’s Health Movement: «Gesundheit ist eine soziale, ökonomische und politische Aufgabe und ist vor allem ein Menschenrecht. […] Gesundheit für Alle bedeutet, mächtige Interessen herauszufordern, […] und politische wie ökonomische Prioritäten drastisch zu verschieben.» Vgl.: www.phmovement.org/sites/www.phmovement.org/files/phm-pch-german.pdf.

[3] Zitiert nach Brand, Ulrich u. a. (Hrsg.): ABC der Alternativen 2.0. Von Alltagskultur bis Zivilgesellschaft, Hamburg 2012, S. 253.

[4] Vgl. Brangsch, Lutz: «Der Unterschied liegt nicht im Was, wohl aber in dem Wie». Einstiegsprojekte als Problem von Zielen und Mitteln im Handeln linker Bewegungen, in: Brie, Michael (Hrsg.): Radikale Realpolitik. Plädoyer für eine andere Politik, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Texte, Berlin 2009, S. 39‒51.

[5] Candeias, Mario: Passive Revolution vs. sozialistische Transformation, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Papers, Berlin 2010, S. 21.

[6] Fried, Barbara/Dück, Julia: Caring for Strategy, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1/2015, S. 85.

[7] Winker, Gabriele: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld 2015.

[8] Winker: Care Revolution, S. 165 ff.

[9] Krampe, Eva-Maria u. a.: Soziale Infrastruktur im Gesundheitsbereich, Frankfurt am Main 2010, unter: www.links-netz.de/K_texte/K_links-netz_gesundheit.html.

[10] Krampe u. a.: Soziale Infrastruktur, S. 100 f.

[11] Vgl. Bollier, David: Think Like a Commoner. A Short Introduction to the Life of the Commons, Gabriola Island 2014.

[12] Vgl. Benos, Alexis: Austerity kills. Warum die Solidarischen Kliniken auch Orte einer Reorganisierung der Linken sind, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1/2014, S. 58 f. und Candeias, Mario/Völpel, Eva: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland, Hamburg 2014, S. 155 f.

[13] Vgl. Hoffmann, Ute u. a.: Gruppenpraxis und Gesundheitszentrum – Neue Modelle medizinischer und psychosozialer Versorgung, Frankfurt am Main/New York 1982.

[14] Vgl. Krampe u. a.: Soziale Infrastruktur im Gesundheitsbereich.

[15] Vgl. Brie (Hrsg.): Radikale Realpolitik; Klein, Dieter/Brangsch, Lutz: Einstiegsprojekte in einen alternativen Entwicklungspfad, Berlin 2004, unter: www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/3Klein.pdf.

[16] Vgl. Candeias: Passive Revolution vs. sozialistische Transformation.

Kirsten Schubert ist Ärztin, Mitglied des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdäa) und aktiv in einem Netzwerk, das kollektive, stadtteilorientierte Gesundheits- und Sozialzentren in Berlin und Hamburg aufbaut.

Renia Vagkopoulou ist Ärztin und spezialisiert auf globale Gesundheit mit einem Fokus auf soziale Bewegungen. Sie ist ebenfalls Mitglied des vdää und in demselben Netzwerk wie Kirsten Schubert zum Aufbau von stadtteilorientierten Gesundheits- und Sozialzentren in Berlin und Hamburg aktiv.

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Der Text erschien zuerst in «UmCare – Gesundheit und Pflege neu organisieren», herausgegeben von Barbara Fried und Hannah Schurian, August 2017 (RLS MATERIALIEN Nr. 13; 2., überarbeitete Auflage). Der vollständige Band kann hier heruntergeladen werden: https://www.rosalux.de/publikation/id/8432/um-care

#Krankenhaus #Pflege #Organisierung #Alternativen

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Renia Vagkopoulou und Kirsten Schubert beleuchten auf Basis einer Studie zu alternativen Gesundheitszentren in Europa, inwiefern diese Projekte Ansatzpunkte für eine gesamtgesellschaftliche Transformation bieten. Sie zeigen, wie radikale soziale Gesundheitsarbeit aussehen kann, die PatientInnen als politische Subjekte begreift und die sozialen Determinanten von Gesundheit mit einbezieht.

Der Text erschien zuerst in «UmCare – Gesundheit und Pflege neu organisieren», herausgegeben von Barbara Fried und Hannah Schurian (RLS MATERIALIEN Nr. 13; 2., überarbeitete Auflage). Der Band «UmCare» sucht nach strategischen Interventionspunkten und Potenzialen für eine andere Gesundheits- und Pflegepolitik. Die Texte arbeiten neue Ansätze der Organisierung heraus – im Sinne einer Interessenvertretung derjenigen, die Pflege- und Gesundheitsarbeit leisten oder auf sie angewiesen sind, und im Sinne einer Neuorganisation der Daseinsvorsorge, des Auf- und Ausbaus einer bedürfnisgerechten Infrastruktur.

UmCare – Strategiekonferenz Pflege und Gesundheit. Foto: Rosa-Luxemburg Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

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Die Initiative «Mieter*innenprotest Deutsche Wohnen» ist ein Zusammenschluss von Mieter:innen-Initiativen und einzelnen Mieter:innen aus ganz Berlin. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, sich mit den Nachbar*innen zusammenzuschließen und gemeinsam aktiv zu werden, um ihre Nachbarschaften und Kieze zu erhalten.

In dem vorliegenden Leitfaden teilen sie die Erfahrungen ihrer Organisierung und beschreiben Schritt für Schritt, was bei der Gründung einer Mieter:innen-Initiative beachtet werden sollte. Er ist für alle Kämpfe mit Vermieter:innen nutzbar, egal ob sie ein einzelnes Haus besitzen oder eine ganze Siedlung. Die AG Starthilfe des Zusammenschlusses organisiert auch Trainings, in denen Vieles von dem, was in dem Leitfaden beschreiben wird, ganz praktisch geübt werden kann.

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»We care« – Aber wer sind ›wir‹?

April 2016 • Michael Zander

Foto: RLS / flickr /  CC BY 2.0 / Fotografin: Nate Pischner

Foto: RLS / flickr / CC BY 2.0 / Fotografin: Nate Pischner

Feminismus, Pflege, Organisierung#Feminismus #Pflege #Organisierung

Wenn in der Linken heute wieder verstärkt über Reproduktionsarbeit diskutiert wird, dann geschieht dies in der Regel unter Rückgriff auf Debatten aus den 1970er Jahren. Damals stellten marxistische FeministInnen Haus-, Familienarbeit und gesellschaftliche Reproduktionsarbeit in den Mittelpunkt ihrer Analysen (vgl. Haug 1999).

Unter anderem ging es darum, bisher nicht berücksichtigte, selbstverständlich vorausgesetzte, also ›unsichtbare‹ Arbeit kenntlich zu machen, ihre Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion herauszuarbeiten und ihr auf diese Weise moralische und vor allem auch finanzielle Anerkennung zu verschaffen. Seit zwei Jahren versucht das Netzwerk Care Revolution aus diesen Analysen Schlussfolgerungen für eine aktuelle politische Praxis zu ziehen. Es ist hier insbesondere das Verdienst von Gabriele Winker, in der Bundesrepublik das Netzwerk Care Revolution tatkräftig mit angeschoben und ihm eine theoretische Grundlage geliefert zu haben (vgl. Winkler 2015). Mit dem angestrebten Theorie-PraxisTransfer ergeben sich allerdings neue Probleme. Soweit das Netzwerk darauf gerichtet ist, ein politisches Bündnis zu schaffen, stellt sich die Frage, wie breit dieses Bündnis sein kann und welche Rolle insbesondere diejenigen spielen, die im Lichte der ›Care-Theorien‹ als diejenigen gelten, die ›Sorgearbeit‹ empfangen, also zum Beispiel behinderte, chronisch kranke oder alte Menschen. Dazu sollen hier einige kritische Thesen formuliert werden.

1 | Der ursprüngliche Zweck des ›Care-Ansatzes‹ bestand darin, ›Sorgearbeit‹ als solche kenntlich zu machen und zu problematisieren, dass diese Arbeit vielfach unentgeltlich oder schlecht bezahlt und meist von Frauen verrichtet wird. Abstrahiert man von diesem Zweck, indem man versucht, auf Basis dieses Ansatzes ein breites politisches Bündnis zu entwickeln, dann erweist sich die auf ›Sorgearbeit‹ gerichtete Perspektive allerdings als unzulänglich und zu eng. Im Zentrum stehen die Arbeitenden, diejenigen, mit denen sie zusammenarbeiten, bleiben im Hintergrund und können höchstens ›mitgedacht‹ werden. Spontan identifizieren sich viele Linke leicht mit abhängig Beschäftigten und ihren Forderungen. Das ist verständlich und begrüßenswert, macht aber erforderlich, immer wieder an diejenigen zu erinnern, mit denen gearbeitet wird.

2 | Das ›Care-Modell‹ impliziert eine problematische Rollenaufteilung, um nicht zu sagen: ein hierarchisches Verhältnis. Die einen leisten ›Sorgearbeit‹, die anderen empfangen sie. In Wirklichkeit hat man es stets mit Beziehungen der Zusammenarbeit zu tun. Ob es sich um Erziehung, Pflege oder Therapie handelt, diese Arbeiten kommen nur als Koproduktion zustande. Dies festzuhalten ist wichtig, weil in den Theorien der ›helfenden Berufe‹ − Pädagogik, Pflegewissenschaft und Psychologie – traditionell der helfenden Seite der aktive Part und der Expertenstatus zugeschrieben wird. Generell vermisst man in den aktuellen ›Care-Debatten‹, dass darin die eigentlich bekannte Ambivalenz des Helfens, nämlich die Ambivalenz von Unterstützung und Kontrolle, thematisiert würde.

3 | Viele emanzipatorische Ansätze haben sich historisch als Kritik an konventioneller ›Sorgearbeit‹ herausgebildet. Gegenstand der Kritik waren Familienbeziehungen, Kindergärten, Schulen, Psychiatrien oder Pflegeeinrichtungen. Die Behindertenbewegung hat das Modell der persönlichen Assistenz als Alternative zu herkömmlicher Pflege entwickelt. Das Ziel bestand gerade darin, das hierarchische ›Sorgeverhältnis‹ aufzuheben. Behinderte Menschen sollen, so der Kerngedanke des Modells, selbst entscheiden, wer ihnen wie, wann, wobei und auf welche Weise hilft. Sie leiten die Tätigkeiten ihrer Assistenzkräfte an. Gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen sowie ein respektvoller Umgang miteinander sind notwendige Rahmenbedingungen, damit dieses Modell funktionieren kann (s.u. und vgl. Zander 2007).

4 | Das Netzwerk hat sich eine »Kultur der Fürsorglichkeit« auf die Fahnen geschrieben. An sich ist gegen Fürsorglichkeit als emotionale Praxis in nahen Beziehungen selbstverständlich nichts einzuwenden. Aber Fürsorge ist für ›Care-Arbeit‹ nicht notwendigerweise konstitutiv. Die Formulierung macht auch deutlich, dass ›Sorgearbeit‹ leicht moralisiert und idealisiert wird. Weder ist jede ›Sorgearbeit‹ gut, noch sind es alle Menschen, die solche Tätigkeiten verrichten. Die Realität sieht etwa in der Pflege nicht selten anders aus, es kann zu Vernachlässigung, Geringschätzung oder gar Gewalt kommen. Mangelnde Ressourcen sind oft, aber nicht immer der Grund dafür. Die Idealisierung von ›Care‹ ist möglicherweise ein ideologisches Moment, das die traditionelle (geschlechtstypische) Arbeitsteilung absichert, indem es die Belastungen dieser Tätigkeiten gleichsam moralisch entlohnt. Die karitative Konnotation dürfte auch der Grund dafür sein, warum man zögern würde, Flüchtlingshilfe als ›Sorgearbeit‹ zu bezeichnen, droht dieser Begriff doch, den politischen Kontext zu verdecken.

5 | Insgesamt stellt sich die Frage, welche Tätigkeiten als ›Care-Work‹ zu bezeichnen sind. Das Netzwerk hat sich für einen sehr breiten Ansatz entschieden, der unter anderem Sexarbeit mit einbezieht. Wenn generell Dienstleistungen gemeint sind, dann ist nicht einsehbar, warum nicht auch zum Beispiel Physiotherapie oder das Friseurhandwerk dazugehören. Nun weisen gerade in der Sexarbeit die Arbeitsbedingungen eine große Bandbreite auf. Zudem ist ein Freier nicht in gleicher Weise auf eine Sexarbeiterin angewiesen wie Kranke auf medizinisches Personal oder Behinderte auf Assistenzkräfte. Dies alles muss nicht dagegen sprechen, dass Sexarbeit ein wichtiges Thema für das Netzwerk ist und Sexarbeiterinnen dort aktiv sind. Nur muss man sich klarmachen, dass man es bei einem sehr breiten ›Care-Begriff‹ mit sehr heterogenen Erfahrungen und Problemlagen zu tun hat.

6 | Wer Bündnisse schaffen will und Gemeinsamkeiten sucht, sollte über Konflikte und Interessen sprechen. Im Flyer zur »UmCareKonferenz« vom Oktober 2015 heißt es: »Auf der Konferenz wollen wir mit Angehörigen und Menschen mit Pflegebedarf, mit Beschäftigten, Gewerkschaften und Sozialverbänden diskutieren und Strategien entwickeln.«[1] Zwischen all diesen Akteuren kann es Gegensätze geben. Sozialverbände mögen im Einzelfall durchaus vernünftige politische Positionen vertreten, aber einige von ihnen betreiben Einrichtungen wie Behindertenwerkstätten, die von Organisationen der Behindertenbewegung scharf kritisiert werden, weil sie exkludieren und ihren Beschäftigten nicht einmal den Mindestlohn zahlen. Ein Beispiel für einen solchen Dissens war der sogenannte Scheißstreik in Berlin 2010. Die im Bereich Persönliche Assistenz Beschäftigten unterstrichen damals ihre Forderung nach besserer Entlohnung damit, dass sie angebliche Exkremente (vermutlich meist Schokocreme) an politische Akteure verschickten, offensichtlich um zu verdeutlichen, welche ›Scheiße‹ sie täglich wegmachen müssen. Strittig war die Frage, ob es sich um eine berechtigte Aktionsform handelt oder um eine Herabwürdigung von Behinderten, deren Ausscheidungen zum öffentlichen Thema gemacht wurden (vgl. Nowak 2010 u. Zander 2010). Trotz dieser Problematik haben damals Beschäftigte und Behinderte gemeinsam und erfolgreich für höhere Assistenzvergütungen in Berlin gestritten. Doch das Beispiel zeigt auch, dass eine Gemeinsamkeit zwischen den diversen Adressaten des Netzwerks nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann, sondern oft erst das Ergebnis von Zusammenarbeit sein kann.

7 | Zusammenarbeit trotz Differenzen gelingt bekanntlich dann, wenn es einen Anlass gibt, der Einigkeit schafft. Dieser kann etwa ein Gesetzentwurf sein, zum Beispiel der voraussichtlich miserable Entwurf des Bundesteilhabegesetzes.[2] Eine solche Zuspitzung fehlt dem Netzwerk bislang. Es steht möglicherweise vor einem ähnlichen Dilemma wie die Sozialforumsbewegung der 2000er Jahre. Diese hatte sich dafür entschieden, Foren zum Austausch und zur Meinungsbildung in einem breiten linken Spektrum zu schaffen. Dafür büßte sie aber an Handlungsfähigkeit ein, entwickelte keinen gemeinsamen Fokus. Verbindende Ziele und Aktionen zu entwerfen blieb weniger komplexen Organisationen überlassen.

8 | Wie könnte ein Fazit lauten? Der ›Care-Begriff‹ gehört noch einmal auf den Prüfstand. ›Care‹ ist nicht das, was ›Care-Worker‹ tun, es ist vielmehr eine Koproduktion aller, die an einer ›Care-Beziehung‹ beteiligt sind. Diese ist in den heutigen Institutionen – aller Inklusionsrhetorik zum Trotz – oft hierarchisch und bevormundend. Deshalb geht es nicht nur um eine besser ausgestattete Unterstützung, sondern um eine ganz andere, emanzipatorische Art, bestimmte Tätigkeiten zu organisieren. Möglicherweise muss man den ›Care-Begriff‹ aufgeben und stattdessen über konkrete gesellschaftliche Bereiche verhandeln – etwa Assistenz, Pflege oder Erziehung –, um einen karitativen Zungenschlag zu vermeiden und zugleich die verschiedenen Akteure an einen Tisch zu bringen.

Anmerkungen

[1] Vgl. www.rosalux.de/documentation/53751 

[2] Vgl. www.bmas.de/DE/Gebaerdensprache/ Bundesteilhabegesetz/bundesteilhabegesetz.html

Literatur

Haug, Frigga, 1999: Familienarbeit/Hausarbeit, in: Haug, Wolfgang Fritz (Hg.), HKWM, Bd. 4, 118−129.

Nowak, Iris, 2010: Organisierung in Pflege- und Sorge- und Hausarbeit, in: LuXemburg 4/2010, 146–150.

Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution, Bielefeld.

Zander, Michael, 2007: Selbstbestimmung, Behinderung und Persönliche Assistenz – politische und psychologische Fragen, in: Forum Kritische Psychologie 51, 38–52.

Ders., 2010: Konflikte um Persönliche Assistenz, in: LuXemburg 4/2010, 151–153.

Michael Zander ist seit vielen Jahren behindertenpolitisch aktiv und Mitglied der bundesweiten AG Disability Studies. Als Kritischer Psychologe lehrt er derzeit im Fach Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/we-care-aber-wer-sind-wir

Foto: RLS / flickr / CC BY 2.0 / Fotografin: Nate Pischner

#Feminismus #Pflege #Organisierung

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Wenn in der Linken heute wieder verstärkt über Reproduktionsarbeit diskutiert wird, dann geschieht dies in der Regel unter Rückgriff auf Debatten aus den 1970er Jahren. Unter anderem ging es darum, bisher nicht berücksichtigte, selbstverständlich vorausgesetzte, also ›unsichtbare‹ Arbeit kenntlich zu machen, ihre Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion herauszuarbeiten und ihr auf diese Weise moralische und vor allem auch finanzielle Anerkennung zu verschaffen. Das Netzwerk Care Revolution versucht aus diesen Analysen Schlussfolgerungen für eine aktuelle politische Praxis zu ziehen. Soweit das Netzwerk darauf gerichtet ist, ein politisches Bündnis zu schaffen, stellt sich die Frage, wie breit dieses sein kann und welche Rolle insbesondere diejenigen spielen, die im Lichte der ›Care-Theorien‹ als diejenigen gelten, die ›Sorgearbeit‹ empfangen, also zum Beispiel behinderte, chronisch kranke oder alte Menschen. Dazu werden hier einige kritische Thesen formuliert werden.

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Kommunal und selbstverwaltet.

Modellprojekt am Kottbusser Tor

Juli 2019 • Jannis Willim

Alternativen, Organisierung, Selbstverwaltung, Wohnen#Alternativen #Organisierung #Selbstverwaltung #Wohnen

Als 2011 am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg der Unmut gegen zu hohe Mieten hochkochte und eine kraftvolle, heterogene Nachbarschaft ihren Protest artikulierte, entstand unsere Initiative Kotti & Co. Viele der Wohnungen dort wurden im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus errichtet. Bei einem näheren Blick wurde deutlich, dass die hohen Mieten die Folgen eines Fördersystems sind, in das die Interessen von privaten Immobilieninvestoren und ihren kreditgebenden Banken eingeschrieben sind und das nur nachgeordnet der Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum für einkommensarme Haushalte dient (vgl. Holm in diesem Heft). Das führt dazu, dass Sozialmieter*innen, die Hartz IV beziehen, einen viel zu hohen Anteil ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen. Eine Reform des sozialen Wohnungsbaus zugunsten einer Mietsenkung wird momentan in der rot-rot-grünen Regierungskoalition blockiert.

Seit 2012 fordern wir daher als langfristige Lösung die (Re-)Kommunalisierung der Sozialwohnungen. Die ersten Ideen für die Selbstverwaltung ganzer Sozialwohnungsbestände haben wir in einer Konferenz 2012 entwickelt. (Hamann/Kaltenborn 2014) nachzulesen sind. Die Kämpfe der letzten Jahre um die Sozialwohnungen – nicht nur am Kottbusser Tor – haben eine andere Ausgangslage geschaffen. So wurde aufgrund der Forderung nach Rekommunalisierung und Selbstverwaltung im Koalitionsvertrag der Berliner rot-rot-grünen Landesregierung von 2016 eine Klausel aufgenommen, auf deren Grundlage diese Forderung zumindest am Kottbusser Tor Realität werden könnte, wenn der politische Wille dazu bestehen bleibt. Die Klausel lautet:

»Die Koalition will den Bestand der Sozialwohnungen zur Wohnraumversorgung bedürftiger Haushalte erhalten. Deshalb sollen sich die städtischen Wohnungsbaugesellschaften bei den geplanten Zukäufen verstärkt um den Erwerb von Sozialwohnungen bemühen, insbesondere in Stadtteilen mit einem Mangel an preiswertem Wohnraum. Die Koalition unterstützt stadtweit Modellprojekte, wie am Falkenhagener Feld und am Kottbusser Tor angedacht, für selbstverwaltete Mietergenossenschaften.«

Mittlerweile wurde das Neue Kreuzberger Zentrum (NKZ) nach massivem öffentlichem Druck insbesondere durch den Mieterrat des NKZ von der Landesregierung kommunalisiert. Auf dieser Grundlage und der im Koalitionsvertrag verankerten Klausel sind Fragen nach einer stärkeren Mieterselbstverwaltung und deren Umsetzung ganz praktische geworden. In diesem Zusammenhang haben wir die Bedarfe der Mieter*innen in einer Studie mit dem Titel »Rekommunalisierung Plus« erhoben. Dabei haben wir auch untersucht, was für Vorstellungen von Mitbestimmung existieren und welche Bereitschaft in einer so benachteiligten Nachbarschaft wie am Kottbusser Tor unter den Mieter*innen besteht, sich aktiv an einer Selbstverwaltung ihrer Wohnungen und Häuser zu beteiligen. Das Plus steht für die größtmögliche Mitbestimmung. Denn unmittelbar in Anschluss an eine Rekommunalisierung – ob über Rückkauf oder Vergesellschaftung mit Entschädigung – stellen sich weitere Fragen: Was ist gewonnen, wenn die Bestände in die öffentliche Hand überführt sind? Schließlich wissen wir, dass öffentliche Wohnungsbauunternehmen seit der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit nach unternehmerischen Prinzipien funktionieren. Hinzu kommt, dass sie große bürokratische Apparate sind, denen die Auseinandersetzung mit lokalen Problemlagen zum Teil mit sehr viel Geduld und Durchhaltevermögen fast schon aufgezwungen werden muss. Ist die politische Mitsprache durch die Mieter*innen automatisch verbessert, wenn die Wohnungen kommunales Eigentum sind? In welchen Bereichen wollen Mieter*innen mitbestimmen? Was ist gemeint, wenn wir etwa die Forderung »kommunal und selbstverwaltet« für Häuser erheben, die von der sozialen Zusammensetzung der Bewohner*innen her nicht unbedingt klassischen Hausprojekten gleichen, sondern deren Bewohnerschaft viel heterogener ist und stärker durch Migrations- und Rassismuserfahrung, Armut und Ausgrenzung geprägt?

Ergebnisse der Studie

An der Erstellung der Studie waren überwiegend Menschen beteiligt, die selbst Sozialmieter*innen am Kottbusser Tor sind. Die Studie soll auch ausloten, wie sich die gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung ausweiten lässt und welche unterschiedlichen Perspektiven auf ein solches Engagement dabei zu berücksichtigen sind. Methodisch haben wir verschiedene Ansätze miteinander verknüpft. Die Palette reichte von Recherchen und einem Community Mapping über Interviews mit wichtigen Akteuren im Kiez, eine quantitative Erhebung, bei der an die 1 255 betroffenen Haushalte des Untersuchungsgebiets Fragebögen verteilt wurden (Antwortquote von 12,9 Prozent, 162 ausgewertete Fragebögen), bis hin zu einer Qualifizierung des Beteiligungspotenzials. Diese Qualifizierung geht von der Forderung von Kotti & Co. und des Mieterrats im NKZ aus, dass die zu entwickelnde Mitbestimmungsformen in Bezug auf das Wohnen und die Nachbarschaft an den realen Ressourcen und Interessen der Nachbarschaft auszurichten sind. Kernziel der Studie war also die Ermittlung handlungsorientierter Mietertypen, die hinsichtlich ihrer Ansprechbarkeit sowie ihrer Einsatz- und Mitwirkungsbereitschaft unterschiedlich sind.

Ein Ergebnis der Studie ist, dass es bei der Bewertung der Wohnzufriedenheit im Vergleich zwischen staatlichen und privaten Vermietern in einem Punkt zu deutlich unterschiedlichen Einschätzungen kommt: nämlich in der Miethöhe. Dass diese bei staatlichen Vermietern besser bewertet wird als bei privaten, ist wenig überraschend. So liegt die Warmmietbelastung bei letzteren durchschnittlich bei 41 Prozent, im Kreuzberger Zentrum hingegen, wo die landeseigene Gewobag die Vermieterin ist, lediglich bei 30 Prozent. Auch in Bezug auf »klassische Themen« der Mitverwaltung zeigt sich, dass die Unzufriedenheit bei Mieter*innen der Deutschen Wohnen – mit Ausnahme des Themas Sicherheit – höher ist als bei Mieter*innen der Gewobag (eines von derzeit sechs kommunalen Wohnungsunternehmen in Berlin).

Dabei lassen sich zwei wichtige Anliegen der Mieter*innen als Ergebnis der Studie feststellen, die zukünftig berücksichtigt werden sollten: Zum einen wurdedie Ansprechbarkeit bei Reparaturen bzw. Hausverwaltungsthemen kritisiert und zum anderen Probleme bei der Müllentsorgung. Überraschenderweise gaben 59 Prozent der befragten Mieter*innen in Gewobag-Häusern an, dass sich seit der Kommunalisierung des NKZ im Januar 2016 die Ansprechbarkeitbei Reparaturen verschlechtert habe. Bei Mieter*innen der Deutschen Wohnen (DW) waren es nur 19 Prozent der Befragten, diein diesem Zeitraum eine Verschlechterung beklagten. Das schlechte Abschneiden der kommunalen Wohnungsunternehmen in diesem Punkt gegenüber dem für seine schlechte Ansprechbarkeit stadtweit bekannten Immobilienaktienunternehmen Deutsche Wohnen, ist unter anderem damit zu erklären, dass sich die Frage nach einer Verschlechterung nur auf die letzten zwei Jahre bezog. Dazu muss man wissen, dass die Privatisierung der GSW (jetzt Deutsche Wohnen) zum Zeitpunkt der Befragung schon 15 Jahre zurücklag und die Mieter*innen seit langer Zeit mit einem schlechten Service der Hausverwaltung konfrontiert waren. Das kürzlich kommunalisierte Gebäude des NKZ mit 300 Wohnungen hatte jedoch bis zum Kauf durch die Gewobag eine private lokale Hausverwaltung, die sehr gut ansprechbar war und einen engen Kontakt zu den Mieter*innen pflegte. Dass es seit Jahren am Kottbusser Tor immer wieder Beschwerden über Vermüllung gibt, ist darauf zurückzuführen, dass für die Abfallentsorgung ein privates Unternehmen, die B&O Berlin Service GmbH, zuständigist, deren Geschäftsmodell auf geringen Personalkosten der vor Ort Beschäftigten beruht. Einige Mieter*innen vermuten auch eine bewusste »Verslumungsstrategie« der Deutsche Wohnen, denn andere Wohnblöcke mit einer ähnlichen Bewohnerstruktur, aber einen anderen Hausverwaltung, haben keine vergleichbaren Probleme.

Diese beiden Teilergebnisse unserer Studie zeigen, wie wichtig es ist, in einer Übergangsphase nach der Rekommunalisierung – in welcher Verwaltungsform auch immer – auf die Bedürfnisse und Vorschläge der Bewohner*innen einzugehen und gemeinsam mit der Nachbarschaft einen »Fahrplan« für die Zukunft zu entwickeln. So gilt es auch zu berücksichtigen, welches die Bereiche sind, bei denen die Mieter*innen mehr Mitsprache einfordern und wo sie sich engagieren wollen. Ein für uns zentrales und motivierendes Ergebnis der Studie ist, dass ein Viertel der befragten Anwohner*innen angab, bereits aktiv zu sein, etwa in einer lokalen Initiative. Die Hälfte der Befragten möchte sich in Zukunft an solchen Aktivitäten beteiligen und nurein Viertel der Bewohner*innen zeigte kein Interesse an einer gegenseitigen Unterstützung in der Nachbarschaft.

Insgesamt ergibt sich ein differenziertes Bild. Deutlich wird, dass sowohl die vorhandenen Strukturen, beispielsweise die Eigentumsverhältnisse und auch die konkreten Eigentümer*innen der Häuser, als auch die jeweiligen finanziellen und zeitlichen Ressourcen der Nachbar*innen am Kotti Einfluss darauf haben, wie und wie stark die Bewohner*innen bereit sind, sich einzubringen. So wird etwa die Sinnhaftigkeit des eigenen Engagements klar an die Besitzverhältnisse der bewohnten Immobilie gekoppelt: »Wieso sollten wir das selbst machen? Der Deutschen Wohnen Geld sparen helfen?« (Clausen et.al. 2018, 41) Reale Möglichkeiten der Mitbestimmung werden zudem als Voraussetzung benannt,um Mieter*innen zu aktivieren:

»Das habe ich damals zum Hausmeister auch gesagt, wenn da Sitzungen stattfinden würden, einmal in der Woche Hausversammlungen [...] einfach, dass man zusammenkommt. Wo der Hausverwalter auch dabei ist und sagt: ‚So, was für Sorgen habt ihr, was für Probleme gibt es, was können wir besser machen?‘ Dass da Gespräche stattfinden und Ideen umgesetzt werden, dann reagieren auch Mieter ganz anders.« (Ebd.)

Bemerkenswert sind zudem die durchaus realistischen Vorstellungen, was die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung und bestimmter persönlicher Voraussetzungen (z.B. die Aneignung von Kompetenzen) bei der Selbstverwaltung von Wohnhäusern angeht: »Nicht alle Mieter können mitverwalten, weil da braucht man schon ein bisschen Erfahrung, bisschen Organisationstalent auch, auch mit der Gesetzeslage sich auseinandersetzen, dass man das mitberücksichtigt. Aber jeder Mieter kann auch mitgestalten, das ist machbar.« (Ebd.) Die für eine Mitbestimmung erforderlichen Zeitressourcen werden ebenfalls angesprochen, was letztlich auch die Frage nach der Bezahlung solchen Engagements in der Selbstverwaltung aufwirft: »Man bekommt bestimmt jetzt nicht viele dazu, sich Vollzeit zu engagieren. Deswegen ist es gut, ein Gremium zu haben oder einen Vorstand und eine Mieterversammlung einmal im Jahr.« (Ebd.)

Perspektiven für eine »Rekommunalisierung plus«

Ziel der Studie war, die Ergebnisse für die Gestaltung der Zukunft der Bewohner*innen im Untersuchungsgebiet nutzbar zu machen. Für diesen Zweck wurden mit den Fragebögen auch Informationen zu Einkommen, Wohndauer und Haushaltsgröße abgefragt, um aus diesem Wissen über die sozioökonomische Lage sowie aus den Positionen der Mieter*innen modellhafte Handlungsansätze für zukünftige Formen der nachbarschaftlichen Unterstützung ableiten zu können. Die Voraussetzungen und das Interesse der Menschen, an nachbarschaftlichen Projekten mitzuwirken, sind sehr unterschiedlich. Dieses Wissen ist für uns zentral, um geeignete Formate und Orte für die gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung zu finden. Wir betrachten die Selbstorganisierung und das Vorhandensein nachbarschaftlicher Netzwerke als Grundlage für die erfolgreiche Mitbestimmung von Mieter*innen im kommunalem Wohnungsbestand.

Wie unsere Studie zeigt, sind diese nachbarschaftlichen Netzwerke am Kottbusser Tor auch immer migrantische Netzwerke. Einerseits zeigt die hohe Anzahl der türkisch- und arabischsprachigen Haushalte die Bedeutung der Migrationsgeschichte im untersuchten Gebiet. Dabei ist auch interessant, dass diese Gruppen überdurchschnittlich lange (12,5 Jahre) am Kottbusser Tor wohnen und ihr Einkommen im Vergleich zum Durchschnitt niedriger ist (913 Euro im Verhältnis zum Berliner Durchschnitt von 1250 Euro). Insgesamt beträgt das Durchschnittseinkommen im Untersuchungsgebiet nur 77 Prozent des Durchschnittseinkommens in der Umgebung. (ebd., 38) Daraus ist zu schließen, dass der Verdrängungsdruck, der auf der ansässigen Bewohnerschaft lastet, besonders groß ist. Dies gilt umso mehr für die türkisch- und arabischsprachigen Haushalte und Familien. Andererseits ist interessant, dass in jüngerer Zeit deutlich mehr Französisch, Italienisch, Hebräisch und Spanisch am Kottbusser Tor gesprochen wird. Dies lässt sich auf jüngere Migrationsbewegungen von gut ausgebildeten Fachkräften und Studierenden zurückführen (ebd., 40). Sie sind Ausdruck der europäischen Krise, die sich auch hier räumlich niederschlägt. Denn es ist anzunehmen, dass diese junge Generation für eine bessere Lebensperspektive nach Deutschland migriert ist. Tatsächlich liegt das Durchschnittsalter dieser Personengruppen mit 31,6 Jahren deutlich unter dem Gesamtdurchschnitt von 54,4 Jahren.

Die Heterogenität unserer Nachbarschaft verstehen wir dabei als Vorteil. Unser gemeinsamer Kampf um bezahlbaren Wohnraum ist von gegenseitigem Interesse an unseren Unterschiedlichkeiten geprägt. Das hat sich als sehr bereichernd erwiesen, für das Wohnen und Zusammenleben im Alltag, aber auch für die politische Zusammenarbeit. Wir haben zum Teil selbst erlebt, was es bedeutet, in einem Kiez anzukommen und sich dort eine (neue) Heimat zu schaffen. Wir sind stolz darauf, wie wir gemeinsam unser Viertel zu dem gemacht haben, was es heute ist – auch wenn die Gentrifizierung uns die Möglichkeiten nimmt, unsere Vorstellungen vom Zusammenleben in einer postmigrantischen Stadt und von einem solidarischen Miteinander im Alltag umzusetzen. Genauso werden wir nie aufhören darüber zu reden, dass Rassismus ein beständiger Begleiter von vielen von ist, sei es auf der Straße, bei der Wohnungssuche oder beim Jobcenter.

Wir wollen am Kottbusser Tor mit »Rekommunalisierung Plus« nun einen nächsten Schritt gehen. Dazu soll nicht nur die vielfältige nachbarschaftliche Unterstützung sichtbarer werden, sondern wir wollen erstmals diese Ansprüche auch in selbstverwalteten Mieterstrukturen in landeseigenen Wohnungsbeständen umsetzen. Wichtig ist dabei:

1 | Selbstverwaltung bedeutet Ressourcenaufwand – damit sie von einer breiten, diversen nachbarschaftlichen Mischung getragen wird, muss sie vor allem Auswirkungen auf die Miete haben und der Sicherung einer guten Wohnqualität dienen.

2 | Für die Mitbestimmung bei voraussetzungsvollen Themen wie Instandhaltung, Gewerbeentwicklung, Modernisierung, Planungsprozesse etc. kann es kein allgemeingültiges Rezept geben. Vielmehr schlagen wir ein Bausteinsystem vor, welches die Ausgangsbedingungen des jeweiligen Organisationsgrades der Mieter*innen berücksichtigt. Mehr dazu unter: https://kommunal-selbstverwaltet-wohnen.de

3 | Die Reprivatisierung rekommunalisierter Wohnungsbestände muss dauerhaft unterbunden werden. 

Letzten Endes geht es darum, dass in Zukunft mehr Menschen in unserem Viertel darüber mitentscheiden können, was mitden Häusern, in denen wir leben, passiert.Es lohnt sich, in Richtung größtmöglicher Mitbestimmung von Sozialmieter*innen weiterzudenken. Die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften werden diesen Prozess von sich heraus weder anstoßen noch meistern – »Insellösungen« von einzelnen Hausprojekten sind dagegen zu klein dimensioniert. Beidem »Modellprojekt Kottbusser Tor« gehtes deshalb darum, auszuprobieren, wie eine Rekommunalisierung mit realer Demokratisierung und Teilhabe der postmigrantischen Gesellschaft verbunden werden kann.

Literatur

Holm, Andrej/Hamann, Ulrike/Kaltenborn, Sandy, 2016: Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau, Berlin

Clausen, Matthias et al., 2018: Rekommunalisierung Plus: Modellprojekt am Kottbusser Tor, Berlin

Hamann, Ulrike/Kaltenborn, Sandy (Hg.), 2014: Nichts läufthier richtig. Informationsbroschüre zum sozialen Wohnungsbau in Berlin, http://www.nichts-laeuft-hier-richtig.de/

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/modellprojekt-kottbusser-tor

#Alternativen #Organisierung #Selbstverwaltung #Wohnen

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Als 2011 am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg der Unmut gegen zu hohe Mieten hochkochte und eine kraftvolle, heterogene Nachbarschaft ihren Protest artikulierte, entstand die Initiative Kotti & Co, die die Rekommunalisierung des Neuen Kreuzberger Zentrums erreichte. Bei dem »Modellprojekt Kottbusser Tor« geht es darum, auszuprobieren, wie eine solche Rekommunalisierung mit realer Demokratisierung und Teilhabe der postmigrantischen Gesellschaft verbunden werden kann.

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Altenpflege organisieren und (lokal)politisch Druck machen

April 2016 • Mia Lindemann und Michael Zimmer

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Pflege, Gewerkschaft, Organisierung#Pflege #Gewerkschaft #Organisierung

Dass die Organisierung von Beschäftigten in der Altenpflege schwierig ist, wird regelmäßig wiederholt. Doch wir sind der Meinung, dass sich durchaus realistische Streik- und Arbeitskampfformen für die Altenpflege entwickeln lassen. Man muss es nur tun. Entscheidend ist nicht zuletzt, den Kontext oder auch größeren Rahmen der jeweiligen Arbeitsbedingungen mit einzubeziehen. Denn den konkreten Problemen liegen politisch gewollte Strukturen zugrunde: Die ständige Unterbesetzung beim Personal durch die Entscheidung für ein familienbasiertes Pflegesystem oder die neoliberal begründete systematische Unterfinanzierung der öffentlichen Pflege. Deshalb ist es nötig, auf mehreren Ebenen zu agieren: im Betrieb, in der Kommune, auf Landes- und auf Bundesebene. In unserer gewerkschaftlichen Betreuung von Betrieben der Altenhilfe im Bezirk Mannheim haben wir damit gute Erfahrungen gemacht: wir haben die Belegschaften organisiert und zugleich von Anfang an auf eine (lokale) Politisierung der Konflikte gesetzt. Ein kurzer Bericht unserer kleinen großen Erfolge.

Organisierung im Konflikt

Unsere ersten Organisierungserfahrungen machten wir in einem betrieblichen Konflikt. Der neue Träger eines privaten Altenpflegeheims war bereits für arbeitsrechtlich dubiose Praktiken bekannt. Er verlangte von den über hundert Beschäftigten, für eine Übernahmen schlechtere Arbeitsverträge zu unterschreiben und weniger Lohn zu akzeptieren. In dieser Situation bewährte sich der aktive ver.di-Betriebsrat, der gemeinsam mit der Gewerkschaftssekretärin die Beschäftigten ermutigte, sich zu wehren und statt der Verträge eine Beitrittserklärung bei ver.di zu unterschreiben. Darüber hinaus führte er erfolgreiche gerichtliche Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber, der sich immer wieder über die Mitbestimmungsrechte hinwegsetzte. Die skandalöse Vorgehensweise interessierte die lokale Presse und so kam es – durch entsprechende Zuarbeit von ver.di – zu einer kontinuierlichen Berichterstattung, bis ins Lokalfernsehen. Ver.di veröffentlichte täglich online die neuesten Nachrichten zum Arbeitskampf. Dadurch entstand im Netz eine bundesweite Solidarisierung der Beschäftigten dieses Konzerns. Als der Arbeitgeber den Konflikt durch verspätete Lohnzahlungen zuspitzte, initiierte ver.di einen offenen Brief, den der halbe Gemeinderat und viele Prominente und nicht prominente Bürger der Stadt unterschrieben. Als der Arbeitgeber schließlich gar die Bewohner aufforderte, binnen weniger Monate auszuziehen, hatte er auch die kommunalen Behörden gegen sich und musste den Betrieb verkaufen. Die alten Arbeitsverträge blieben, die Löhne mussten nachgezahlt werden. Was verhalf dieser Auseinandersetzung zum Erfolg? Wie wurde die Belegschaft zu einem widerstandsfähigen Kollektiv? Die erste Voraussetzung bestand darin, die Alltagskonflikte ernst zu nehmen. Die zweite lag darin, das Lösen von Konflikten zu einer kollektiven Aufgabe zu machen. Dazu braucht es einen Betriebsrat, der sich dieser Herausforderung bewusst ist. Die dritte Aufgabe ist es, die Konflikte in den gesellschaftlichen Raum zu tragen, Bündnisse zu schließen und die zuständigen politischen Träger in die Pflicht zu nehmen. Alle drei Aufgaben sind von Beschäftigten, Betriebsrat und Gewerkschaft gemeinsam zu lösen.

Altenpflegeprojekt

Ver.di organisierte daraufhin ein Projekt, im Rahmen dessen ein Vertrauensmann die Altenpflegeheime der Region besuchte und den Auftrag hatte, den Beschäftigten sein Ohr zu leihen, ihre Beratungsbedürfnisse an die GewerkschaftssekretärInnen weiterzuvermitteln, gewerkschaftliche Infos in die Betriebe zu bringen und Nachrichten von dort, zum Beispiel über Konflikte, in die Gewerkschaft. So konnten wir aus betrieblichen Konflikten überbetriebliche machen – und manchen Erfolg verbuchen.

Kampagne »Freie Heimwahl«

Wie in vielen anderen Regionen auch beschloss der Mannheimer Gemeinderat, alle Pflegebedürftigen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, in die ›billigeren‹ Heime zu schicken. ›Billige‹ Heime sind aber insbesondere diejenigen, die keine Tarifverträge hatten, während beispielsweise alle kommunalen Heime (mit TVÖD und Betriebsräten) zu den teuren Heimen zählten. ›Billig‹ waren also in erster Linie die Altenpflegeheime, die absolut gewerkschafts- und betriebsratsfeindlich waren. Da die Altenpflegeheime schnell in die roten Zahlen geraten, wenn die Betten nicht belegt sind, stellte dieses Verfahren eine Gefährdung der Arbeitsplätze gerade in den Heimen dar, die nach Tarif zahlten und Betriebsräte hatten. In den AWO-Haustarifverhandlungen vor Ort spielte das eine Rolle. Wir machten daher mit den Betriebsräten und Belegschaften der Heime eine Kampagne für »freie Heimwahl«. Es gelang, viele Unterschriften zu sammeln und letztlich den Gemeinderat Mannheims dazu zu bringen, seinen ein Jahr vorher gefassten Beschluss zurückzunehmen.

Demokratie im Betrieb durchsetzen

In dem großen – für uns erfolgreichen – Konflikt um einen Tarifvertrag für die Beschäftigten der Stadtmission Heidelberg mit zirka 1500 Beschäftigten wurde die Differenz zwischen der schon kämpferischen Belegschaft des Krankenhauses Salem und den ganz überwiegend zurückhaltenden Kolleginnen und Kollegen der Altenpflege besonders deutlich. Letztere waren stark eingeschüchtert und der autoritäre Druck der Heimleitungen lähmte mit seinen Hinweisen auf die strukturellen Probleme der Pflegeheime die verantwortungsbewussten Beschäftigten. Aber auf Dauer wollten sie sich den bunten und lustigen Infoständen der ver.di-KollegInnen auch nicht entziehen. Und während die Heimleitungen versuchten, ver.di zu vertreiben und ihnen den Zugang zu den Heimen zu verwehren, brachten die KollegInnen sie immer wieder durch große, selbst gefertigte Wandplakate, die sie an Stelle von ›unüblichen‹ Schwarzen Brettern der Gewerkschaft aufhängten, in Aufregung. Schließlich setzten wir die Schwarzen Bretter der Gewerkschaft auch gerichtlich durch. Die Kolleginnen und Kollegen lernten, dass sie demokratische Rechte haben, die ein autoritärer Heimleiter, und wenn er noch so laut schreit, ihnen nicht nehmen kann.

Probleme der Pflege politisch angehen

Den Kern des Problems in der Altenpflege, die Personalnot, berührten wir mit dem ›Personalcheck‹ in den Pflegeheimen, der den Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit politischer Wirksamkeit vor Augen führte. Die Resultate des Personalchecks wurden auf dem Stuttgarter Schlossplatz einer Kommission des Landtags übergeben. Immer waren unsere Kampagnen gesteuert durch Betriebsgruppen, Arbeitskreis Altenpflege, Fachbereichsvorstand – Gremien, in denen sich die Aktiven selbst organisierten. Wir haben viele dazu gewonnen. Sie haben sich verändert, ihr Leben in die Hand genommen. Das hoffen wir, als ermutigende Erfahrung weitergeben zu können.

Mia Lindemann ist Gewerkschaftssekretärin bei ver.di Rhein-Neckar.

Michael Zimmer ist Gewerkschaftssekretär bei ver.di Rhein-Neckar.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/altenpflege-organisieren-und-lokalpolitisch-druck-machen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

#Pflege #Gewerkschaft #Organisierung

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In der Pflege stehen Gewerkschaften vor besonderen Herausforderungen. Besonders in kleinen und/oder ambulanten Betrieben lässt sich nur schwer ökonomischer und politischer Druck aufbauen und Repressionen von Seiten der Arbeitgeber sind schwer abzuwehren. Doch auch in großen Krankenhäusern fällt es vielen Pflegekräften schwer, im Streik die Arbeit niederzulegen – oft aus Angst, PatientInnen und KollegInnen allein zu lassen. Aber der Leidensdruck ist hoch: Weil immer mehr Arbeit auf immer weniger Schultern lastet, nehmen Stress und Überlastung zu. Wenn es unter diesen Umständen dennoch gelingt, Widerstand zu organisieren, gleicht das einer »kleinen Revolution«; einer, die viele kleine Schritte braucht und oft jenseits klassischer Arbeitskämpfe stattfindet. Dazu bedarf es neuer Wege der Organisierung – und neuer Wege, um effektiv Druck aufzubauen. Wie dies auch jenseits der großen Streiks gelingen kann, zeigt das Beispiel aus Mannheim.

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

  • #Pflege
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«Sanctuary Cities sind in Deutschland nicht utopisch.»

April 2017 • Helene Heuser

Foto: Chris Devers / Flickr

Foto: Chris Devers / Flickr

Migration, Organisierung#Migration #Organisierung

Die Begriffe stammen aus dem Alten Testament. Moses fordert die Israeliten auf, Städte einzurichten, die Flüchtlinge schützen. Je nach Übersetzung werden diese als Städte der Zuflucht, Asylstädte oder auch Freie Städte bezeichnet, auf Englisch als Sanctuary Cities, Cities of Refuge oder Asylum Cities. In der Bibel geht es darum, allen, die wegen privater Blutrache um ihr Leben fürchten, eine sichere Zuflucht zu ermöglichen, heute beleben kirchliche und säkulare soziale Bewegungen diese alte Tradition gemeinsam wieder. Sanctuary City betont, dass die Stadt ein sicherer Ort sein soll, dass keine Gefahr der Auslieferung besteht und die Versorgung mit Kleidung und Nahrung gesichert ist. In Stadt der Zuflucht schwingt mit, dass auch der Weg vom Ort der Verfolgung dorthin sicher sein soll. Genau so werden die beiden Begriffe auch heute verwendet. Sanctuary Cities nennen sich Städte, die Undokumentierte, die schon vor Ort leben, vor Deportation schützen wollen. Präsident Trump hat ihnen in den USA gerade den Kampf angesagt (vgl. Lebuhn 2016). Städte der Zuflucht hingegen setzen sich für die Aufnahme von Asylsuchenden aus dem Ausland in ihre Stadt oder Kommune ein, versuchen also legale Fluchtwege bereitzustellen. Beispiele dafür finden sich in Europa, Lateinamerika und Kanada.

Helene Heuser ist Juristin und Philosophin und‭ promoviert zum Thema‭ »‬Städte der Zuflucht‭«‬.‭ ‬Sie‭ hat die Refugee Law Clinic Hamburg mit aufgebaut,‭ die Studierende dazu ausbildet,‭ ‬Geflüchteten eine‭ kostenfreie Rechtsberatung anzubieten.‭

Ursprünglich veröffentlicht auf: »sanctuary cities sind in Deutschland nicht utopisch« | Zeitschrift Luxemburg (zeitschrift-luxemburg.de)

Foto: “We Are One Somerville: Sanctuary City Rally” | Chris Devers | Flickr

#Migration #Organisierung

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Seit einigen Jahren sammeln sich weltweit migrationspolitische Initiativen unter der Überschrift »Städte der Zuflucht« oder auch «Sanctuary Cities». Was genau ist damit gemeint?

Foto: Chris Devers / Flickr

  • #Migration
  • #Organisierung

«In den nächsten Jahren werden wir Proteste sehen!»

Organisierung in der Altenpflege

April 2016 • Melanie Stitz im Gespräch mit Katharina Schwabedissen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Pflege, Gewerkschaft, Organisierung#Pflege #Gewerkschaft #Organisierung

Wie stellt sich die Situation in der Altenpflege derzeit dar?

Die Arbeitsbedingungen und Gehälter stehen in keinem Verhältnis zu der gesellschaftlichen Wichtigkeit dieser Aufgabe: 76 Prozent der KollegInnen geben an, unter hohem Zeit- und Termindruck zu arbeiten. Dabei versuchen sie alles, um sich dies bei der Arbeit nicht anmerken zu lassen oder den Druck weiterzugeben: Es soll den Menschen, mit denen sie arbeiten, gut gehen – natürlich klappt das nicht immer. 80 Prozent der Beschäftigten sind Frauen, und die Bezahlung ist schlecht. Eine Fachkraft verdient im Durschnitt 2 190 Euro brutto. Zum Vergleich: Ein Elektrotechniker erhält zirka 3 600 Euro. AltenpflegehelferInnen finden durchschnittlich 1 890 Euro brutto in ihrer Lohntüte. Wir reden hier von Vollzeitstellen, die in der Altenpflege die Ausnahme sind. Minijobs und Teilzeit bestimmen das Feld und die Gehälter. Das liegt nicht nur daran, dass Teilzeitkräfte flexibler eingesetzt werden können, sondern auch daran, dass die Kraft für eine 38-Stundenwoche oft nicht ausreicht. 83 Prozent der Altenpflegenden verrichten schwere körperliche Arbeit. Dazu kommen die psychische Belastung, die ›Zweite Schicht‹ zu Hause sowie mangelnde Wertschätzung. 73 Prozent der Beschäftigten gehen nicht davon aus, dass sie ihren Job bis zur Rente durchhalten. Und wenn sie die Rente erreichen, reicht das Geld zum Leben nicht. Altenpflege bedeutet in diesem Land fast zwangsläufig Altersarmut nach dem Job.

Was wollt ihr bei ver.di mit Eurem Projekt erreichen?

Es geht darum, dass sich die KollegInnen gemeinsam für ihre Interessen einsetzen und sich bei ver.di organisieren – derzeit tun das nur 17 Prozent. Alleine setzen sich aber nur die Starken durch. In der Altenpflege herrscht bereits heute Fachkräftemangel, und der Bedarf wird steigen. Die Nachfrage allein bestimmt aber eben nicht den Marktwert, sonst lägen die Gehälter deutlich höher und die Arbeitsbedingungen wären besser. In der momentanen Situation bedeutet der permanente Personalmangel vor allem, keine Ruhe mit den Menschen zu haben, die versorgt werden. Jede Ausnahme wird zur Katastrophe, weil die Regelarbeit gerade so hinhaut. So steht eben nicht die Selbstständigkeit der BewohnerInnen im Vordergrund, sondern das Tempo: Ein älterer Mensch ist schneller gewaschen, wenn er es nicht selber macht. Das gilt auch für das Essen, den Weg in den großen Saal und für’s Anziehen. ›Aktivierende‹, unterstützende Pflege, die auf den Erhalt von Selbständigkeit setzt, braucht Zeit und Geduld. Wenn KollegInnen krank werden, müssen Doppelschichten gemacht werden, das freie Wochenende ist weg, Überstunden wachsen an. Am Ende all dieser ›Ausnahmen‹ steht die Erschöpfung. Und dann reicht nicht einmal das Gehalt für einen wirklichen Erholungsurlaub im Jahr. Junge Menschen überlegen gut, welchen Beruf sie ergreifen. Wenn sich die Zustände nicht ändern, werden sie sich nicht für Pflege entscheiden. Mit der Veränderung des Familien- und Frauenbildes in der Gesellschaft verändert sich auf die Berufswahl von Frauen. Und sie sind es bisher, die die Pflege tragen – in den Heimen und zu Hause.

Was macht die (Selbst-)Organisierung der KollegInnen so schwer?

Pflegende haben häufig ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Arbeit, die in dieser Gesellschaft nicht viel zählt, unter anderem, weil sie wenig Profit abwirft. Der Versuch, aus der Pflege dennoch Profit zu ziehen, führt zu unmenschlichen Verhältnissen: erst bei den Beschäftigten, dann bei den Betroffenen selbst. Außerdem gelten so typisch weibliche Aufgaben wie Waschen, Essen reichen, Gespräche führen, Anziehen, Spazieren gehen oft gar nicht als Arbeit – das kann doch schließlich jeder – mindestens aber eine jede. Pflege wird daher oft als ›Liebesdienst‹ verstanden – auch von den Pflegenden selbst. Diese Vorstellung zieht sich durch die Entwicklung der Pflege. Sie hat sich dadurch professionalisiert, dass sie von Ordensschwestern übernommen wurde. Aus all diesen Gründen fehlt den Beschäftigten mitunter der ›ProduzentInnenstolz‹ für ihre Arbeit. Auch deshalb fällt es Pflegenden mitunter schwer, sich für ihre Interessen selbstbewusst einzusetzen. Sie sind gewöhnt, dass es meist um andere geht, nicht um sie selbst. Hinzu kommt oft Angst, den Job zu verlieren, Sorge um die Situation der BewohnerInnen und auch um die gesellschaftliche Reaktion auf solche Arbeitskämpfe. Hier müssen auch wir uns an die eigene Nase fassen: Wir wollen, dass unsere Lieben gut versorgt werden, aber wenn die Beschäftigten dafür kämpfen, dass sie diese Arbeit dauerhaft, gesund und gut leisten können, dann ist unsere Geduld nach 14 Tagen Streik schnell am Ende.

Wie arbeitet Ihr mit dieser Situation?

Wir wollen erreichen, dass die KollegInnen mindestens so verantwortlich und solidarisch mit sich selbst umgehen, wie mit ihren KollegInnen und den BewohnerInnen. Hier fängt an, sich etwas zu verändern. Wertschätzung steht ganz oben auf der Agenda, auch Sichtbarkeit. Ich bin sicher, dass es in den nächsten Jahren gerade in diesem Bereichen wahrnehmbare Proteste gegen diese unmenschlichen Entwicklungen geben wird – seitens der Beschäftigten, aber auch von Seiten der BewohnerInnen und ihren Angehörigen. Wir arbeiten im Moment in 15 Altenpflegeeinrichtungen und mit einem überbetrieblichen Projekt. Die GewerkschaftssekretärInnen vor Ort koordinieren die Organisierung in den als ›Projektbetriebe‹ ausgewählten Heimen. Die Hauptpersonen sind aber die Aktiven im Betrieb. Konkret sieht das so aus, dass wir in einer Einrichtung gewerkschaftlich Aktive suchen und mit ihnen gemeinsam zunächst erfragen, was die Themen der Beschäftigten sind. Wir gehen als Gewerkschaft oft davon aus, dass unsere Themen auch den KollegInnen vor Ort auf den Nägeln brennen. Das trifft aber nicht immer zu. Oft sind es Kleinigkeiten, die sie belasten: Kein Raum für die Pause; zu lange Wege innerhalb des Wohnbereichs; Hilfsgeräte, die nicht funktionieren; eine Leitung, die Druck ausübt. Es geht also zunächst darum, Kontakte zu knüpfen, mehr zu werden, Netzwerke aufzubauen und Wertschätzung erfahrbar zu machen. Wir lernen gerade viel voneinander: ver.di lernt die Besonderheiten der Altenpflege (besser) kennen und die KollegInnen vor Ort erleben, dass sie die Fachleute sind, auf die es ankommt. Das ist spannend – und manchmal auch neu für alle Beteiligten.

So verändern sich also auch die gewerkschaftlichen Kämpfe selbst?

Normalerweise organisiert eine Gewerkschaft die KollegInnen, schafft Strukturen im Betrieb und geht dann in Konfrontation mit dem Arbeitgeber. Meist geht es um mehr Gehalt und kürzere Arbeitszeit. Das Ergebnis sind Tarifverträge. Die Ziele in der Altenpflege sind im Prinzip die gleichen. Wir brauchen aber ergänzend ›neue Wege‹, um sie zu erreichen. Wenn die Beschäftigten streiken, dann bestreiken sie zwar in erster Linie ihren Arbeitgeber, aber sie ›bestreiken‹ auch die Menschen, die auf sie angewiesen sind. Das ist einerseits ein Dilemma, führt aber – zu Ende gedacht – auch aus ihm heraus: Der Kreis von Menschen, die ein Interesse an gemeinsamer Organisierung und einer Verbesserung der Arbeit in der Altenpflege haben, reicht weit über die Beschäftigten hinaus, er schließt auch BewohnerInnen und Angehörige ein. Und jede und jeder von uns ist potenziell Betroffene, kann morgen pflegebedürftig werden oder Angehörige von Pflegebedürftigen. Die Debatte um die Pflege gehört also in die Mitte der Gesellschaft. Die Pflegenden stellen die Frage nach einem würdigen Leben im Alter. Darauf gibt es zwei Antworten: Es wird von allen für alle finanziert oder alle finanzieren das Leben einiger weniger Reicher. Es gilt also, die BewohnerInnen, ihre Angehörigen und das gesamte Umfeld der Altenpflegeeinrichtungen in die Arbeitskämpfe einzubeziehen – im Zweifel auch im Bündnis mit den direkten Arbeitgebern, wenn es um die Refinanzierung sozialer Dienste durch die Verantwortlichen in den Parlamenten geht. Die vermeintliche Schwäche der Pflege ist ihre größte Stärke: Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Altenpflege ist kein Kampffeld, sondern ein Lebensraum. Und so müssen auch die Organisierung und die Arbeitskämpfe aussehen. Diese versuchen wir zu entwickeln.

Das Gespräch führte Melanie Stitz. Das Interview erschien zuerst in der Zeitschrift wir frauen 1/2016.

Katharina Schwabedissen ist examinierte Krankenschwester und hat Philosophie und Geschichte studiert. Sie ist in der LINKEN aktiv, besonders gerne bei der bundesweiten Frauenarbeitsgemeinschaft LISA in Nordrhein-Westfalen und bei den Dialektikfrauen um Frigga Haug. Seit Juni 2014 koordiniert sie das Erschließungsprojekt Altenpflege von ver.di in Nordrhein-Westfalen.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/in-den-naechsten-jahren-werden-wir-proteste-sehen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

#Pflege #Gewerkschaft #Organisierung

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Normalerweise organisiert eine Gewerkschaft die KollegInnen, schafft Strukturen im Betrieb und geht dann in Konfrontation mit dem Arbeitgeber. Meist geht es um mehr Gehalt und kürzere Arbeitszeit. Das Ergebnis sind Tarifverträge. Die Ziele in der Altenpflege sind im Prinzip die gleichen. Doch es braucht ergänzend ›neue Wege‹, um sie zu erreichen, denn nur ein geringer Anteil der Pflegekräfte sind gewerkschaftlich organisiert. Im Interview erklärt Katharina Schwabedissen von den Arbeitsbedingungen in der Altenpflege, was die Organisierung so schwierig macht und wie sie das mit dem Erschließungsprojekt Altenpflege von ver.di in Nordrhein-Westfalen ändern will. Die vermeintliche Schwäche der Pflege ist ihre größte Stärke: Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Altenpflege ist kein Kampffeld, sondern ein Lebensraum. Und so müssen auch die Organisierung und die Arbeitskämpfe aussehen.

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

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