Weiter zum Inhalt
Stadtplan
Bushaltestelle
Gesundheitszentrum
Internationaler Treffpunkt
Konferenz: Sorgende Städte
Nachbarschaftszentrum
Park
Rathaus
Schule
Seniorenresidenz
Stadtbibliothek
Theater
Willkommenszentrum
Zuhause
Wer wir sind
  • ESP /
  • ENG /
  • DEU
Datei öffnen ↓
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Im Sommer und Herbst 2021 hat es die von ver.di initiierte Berliner Krankenhausbewegung geschafft, mit ihren Streiks in den beiden größten landeseigenen Krankenhäusern Charité und Vivantes und bei den Tochterunternehmen von Vivantes für Schlagzeilen zu sorgen. Sie hat damit die Berliner Gesundheitsversorgung in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die Beschäftigten forderten Entlastung in den Krankenhäusern und die Bezahlung nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Diensts (TVöD) für die ausgegliederten Bereiche. Sie prangerten damit auch die Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern an, den Personalmangel in der Pflege, Zeitdruck und Arbeitsverdichtungen sowie die damit einhergehende Gefährdung der Patient*innen.

Innerhalb dieser Debatte bleiben die Auswirkungen auf die inhaltliche Ausgestaltung der Arbeit dabei mitunter außen vor. Mit der vorliegenden Broschüre wollen wir den Blick darauf lenken, warum es immer zuerst menschliche Bedürfnisse nach emotionalem Beistand, nach Betreuung von der ersten bis zur letzten Wehe oder einem Händedruck in Zeiten der Not sind, für die die Kapazitäten nicht reichen.

  • #Pflege
  • #Organisierung
  • #Feminismus

Die neue Kultur des Helfens

Februar 2022 • Tine Haubner

Foto: Mat Napo / Unsplash

Foto: Mat Napo / Unsplash

Pflege, Krise, Migration#Pflege #Krise #Migration

»Seit Jahren fehlen Altenpfleger – bei den Löhnen kein Wunder! Die müssen rauf, klar. Um den Notstand aber abzuwenden, sollten diejenigen helfen, die sonst nur warten« (Heine 2015). Dieser Zeitungskommentar ist nur eine von vielen Stimmen, die aktuell den Einsatz von Flüchtlingen in der Altenpflege fordern.

Er bildet einen Ausschnitt der sozialpolitischen Suchbewegung nach neuen Arbeitskraftpotenzialen in der Care-Krise, die sich durch pflegepolitischen Handlungsdruck intensiviert. Ob ein solches Krisenmanagement tatsächlich zumindest übergangsweise eine ›Win-win-Situation‹ für Flüchtlinge und den Pflegesektor darstellen kann oder ob mit den Flüchtlingen eine sozial verwundbare Gruppe an der Schwelle zum Niedriglohnsektor für den Social-Investment-State[1]  mobilisiert werden soll, ist angesichts laufender Informalisierungs- und Deprofessionalisierungstendenzen in der Pflege durchaus fraglich. Eine andere, schon länger verfolgte Strategie ist der staatlich geförderte Einsatz freiwillig Engagierter in der Pflege.

Ein Blick auf die vergangenen Jahrzehnte zeigt: Sowohl Renaissance als auch Krise des Freiwilligen Engagements werden regelmäßig ausgerufen. Diagnostizieren ForscherInnen noch Mitte der 1980er Jahre eine Rekrutierungskrise »helfender Hände«, wird zur Jahrtausendwende mit »Freiwillige vor!« (Schlagzeile eines ZEIT-Artikels) das neu entfachte Interesse für das Ehrenamt in eine Parole gegossen (Heuser/v. Randow 2000). Die Konjunkturzyklen der Aufmerksamkeit für das freiwillige Engagement folgen dabei ökonomischen und politischen Krisenrhythmen – ein Aspekt, der in der öffentlichen Debatte häufig von moralischen Appellen an den Bürger- und Gemeinsinn überlagert wird.

Das neue Ehrenamt im Kontext wohlfahrtsstaatlichen Wandels

Die Renaissance des Ehrenamts in der Pflege, deren Ausläufer wir gegenwärtig miterleben, beginnt daher nicht zufällig in den 1990er Jahren, als die Krise von Arbeitsgesellschaft, Wohlfahrtsstaat und Demokratie im Kontext des neoliberalen Siegeszuges die Gemüter erregte. Auch die soziale Reproduktion geriet in eine Krise: Die Bevölkerung altert, traditionelle Haushalts- und Familienstrukturen wandeln sich, die weibliche Erwerbsbeteiligung steigt global, die räumliche und zeitliche Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse nimmt zu und das Ernährermodell – mitsamt der alimentierten informellen Pflege durch Hausfrauen – erodiert. Daneben führten die seit den 1980er Jahren steigende Sockelarbeitslosigkeit und der Abbau gut bezahlter Industriearbeitsplätze zu sinkenden Beitrags- und Steuereinnahmen (bei gleichzeitig steigenden Sozialhilfeempfängerzahlen) und belasteten so die kommunalen Haushalte.

Galt der Sozialstaat in der Nachkriegszeit noch als Garant sozialen Friedens und wirtschaftlicher Prosperität, geriet er nun zunehmend in den Verdacht, den Standort Deutschland durch mangelnde Flexibilität, Reformstau und zu hohe Lohnnebenkosten im globalen Wettbewerb zu benachteiligen (vgl. Lessenich 2008).

Neben den vielbeschworenen demokratisierenden Potenzialen und haushaltspolitischen Vorzügen kam dem neuen Ehrenamt im deutschen Diskurs der 1980er und 1990er Jahre deshalb vor allem eine arbeitsmarktpolitische Bedeutung zu. Der zwischen Markt und Staat befindliche Dritte Sektor mit staatlich kofinanzierten und auch unentgoltenen Sozialdienstleistungen wurde zunehmend als Hoffnungsträger des gesellschaftlichen Zusammenhalts gehandelt. Die staatliche Förderung des Ehrenamts galt immer häufiger als probate Arbeitsmarktstrategie vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Spaltungstendenzen.

In dieser Übergangsphase, in welcher der Wohlfahrtsstaat ›alter Prägung‹ durch verschiedene Wandlungsprozesse unter Druck geriet, stellte sich die Frage, wie die vielbeklagten ›leeren Staatskassen‹ geschont werden sollten, wenn zugleich der Bedarf an pflegerischer Versorgung wächst. Das Rekrutierungsproblem von sowohl bezahlten als auch unbezahlten Pflegekräften treibt die Sozial- und Pflegepolitik in Deutschland seither um: Wer füllt die Lücke, die überforderte Familien, erwerbstätige Frauen, erschöpfte Pflegefachkräfte und ein sich »aktiv selbst zurücknehmender Staat« hinterlassen (Kommission für Zukunftsfragen 1997, 169)? Die Wahl sollte, soviel ist sicher, auf eine möglichst kostengünstige Gruppe fallen.

Die neue Konjunktur des ›Bürgersinns‹

Die politisch-philosophische Strömung des Kommunitarismus lieferte der »neuen Kultur des Helfens« (Fink 1990) zu Beginn der 1990er Jahre auch außerhalb akademischer Fachdebatten medienwirksame Schlagworte. Mit Appellen an Gemeinschaft und Gemeinsinn sowie mit der Betonung von ›Aktivierung‹ und Werteorientierung hebt sie unermüdlich die Bedeutung sozialen Zusammenhalts in Zeiten neoliberaler Vereinzelung hervor.

Mit einer Studie zu Entwicklungspfaden italienischer Gemeinden zeigte der kommunitaristische Soziologe Robert Putnam (1993), dass die Effizienz lokaler partizipativer Entscheidungsprozesse mit der Anzahl der bürgerschaftlichen Vereine und dem ehrenamtlichen Engagement korreliert. Sein daraus entwickeltes Konzept des Sozialkapitals avancierte zu einem vielzitierten Gradmesser gesellschaftlicher Integration. Es soll helfen, den sozialen, kulturellen und ökonomischen Nutzen politischer Beteiligung und sozialer Netzwerkbildung zu vermessen – und zu akkumulieren. Entsprechend begann die Bundesregierung in den 1990er Jahren damit, großflächig Modellprojekte zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements zu finanzieren.

Forschungsberichte über vorhandene »Humankapitalressourcen« (wie das erste Freiwilligen-Survey oder der erste Engagement-Bericht) wurden veröffentlicht, 1999 wurde die Enquete-Kommission »Zukunft des ehrenamtlichen Engagements« eingesetzt, die EU-Kommission erklärte 2011 zum »Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit«, es folgten die Gründung des Bundesfreiwilligendiensts und 2013 ein Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts. Der Nonprofit-Sektor wächst seither weltweit rasant: 1995 erreichte die Zahl der darin Beschäftigten allein in Deutschland mit 1,4 Millionen Vollzeitäquivalenten einen Anteil von fast 5 Prozent an der Gesamtbeschäftigung – jeder fünfte Erwachsene war zu dieser Zeit unentgeltlich aktiv (Priller/Zimmer 2001). Im Jahr 2009 erzeugten Freiwillige einen geschätzten Arbeitswert von 35 Milliarden Euro (Pinl 2013).

Das neue Ehrenamt in der Pflege

Das Ehrenamt in der Pflege ist jedoch kein neues Phänomen. Bevor der Beruf der Altenpflege in den 1960er Jahren offiziell eingeführt wurde, waren zumeist bürgerliche Frauen als sogenannte Diakonissen und Ordensschwestern unentgeltlich in der Alten- und Krankenpflege tätig. Das Normalarbeitsverhältnis war für den Pflegebereich, historisch betrachtet, nie maßgeblich prägend, die Abgrenzung zwischen professioneller Fach- und Laienpflege immer prekär und umkämpft.

Diese Diffusität von beruflichen Tätigkeitsprofilen und qualifikationsbasierten Zuständigkeiten spielt auch heute eine zentrale Rolle, wenn Freiwillige für pflegerische Betreuungsleistungen mobilisiert werden. So erfasste die Wiederentdeckung des bürgerschaftlichen Engagements ab den 1990er Jahren auch den Pflegebereich, wo freiwillige Gratisarbeit durch die Professionalisierung der Sozial- und Gesundheitsberufe zwischenzeitlich an den Rand gedrängt worden war.

Der Einsatz von Freiwilligen wird seither vor allem durch die Sozialgesetzgebung gestärkt und ausgeweitet. Das Pflegeleistungsergänzungsgesetz von 2001 zielte mit der finanziellen Förderung niedrigschwelliger Betreuungsangebote auf die Stärkung häuslicher Betreuung auch durch Ehrenamtliche ab. In diesem Jahr erhielt bereits jeder zehnte Pflegehaushalt Unterstützung durch Freiwillige (ZQP 2013). Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz ergänzte sieben Jahre später Fördermöglichkeiten für Selbsthilfe und Ehrenamt auch für körperlich Kranke. In dieser Zeit wurde auch der Spitzenverband der Pflegekassen dazu verpflichtet, niedrigschwellige Betreuungsangebote und ehrenamtlich Pflegende mit 25 Millionen Euro jährlich zu unterstützen. Das Pflege-Neuausrichtungsgesetz von 2012 gestattete stationären Einrichtungen, Aufwandsentschädigungen an Ehrenamtliche zu zahlen.

Diese Förderung des bürgerschaftlichen Engagements gewann mit der Verschärfung der Pflegekrise sukzessive an Fahrt und ist darüber hinaus schon länger Teil der »Demografie-Strategie der Bundesregierung« sowie der »Nationalen Engagement-Strategie«. Für die nächsten Jahre wird mit der Versorgung von Flüchtlingen eine weitere Etappe des neuen Engagement-Diskurses prophezeit, wobei »die Entwicklung hin zu einer Tätigkeitsgesellschaft« die Abgrenzung zwischen beruflicher- und unentgeltlicher Arbeit ohnehin zunehmend erschwert (Evers u.a. 2015). Die Engpässe in der professionellen Pflege sowie die Tatsache, dass die Pflegeversicherung auch in Zukunft eine Teilkaskoversicherung[2]  bleiben soll, legen nahe, dass sich dieser Trend fortsetzen wird.

Professionalisiertes ›weibliches‹ Engagement an der Schnittstelle zum Niedriglohn

Mit nur 2 Prozent der insgesamt ehrenamtlich Tätigen, gehört Engagement in der Pflege nicht zu den beliebtesten Bereichen freiwilliger Arbeit. Ein Blick auf die dort Engagierten ist dennoch aufschlussreich: Laut Freiwilligen-Survey engagieren sich dort häufig ältere, zu 80 Prozent weibliche, gut qualifizierte, materiell durchschnittlich abgesicherte Personen. Pflegende Angehörige sind in dieser Gruppe überdurchschnittlich oft vertreten (ZQP 2013). Von einer qualitativ neuen und geschlechtergerechten Arbeitsverteilung kann hier also offensichtlich nicht die Rede sein – das Engagement in Pflege und Gesundheit bleibt überwiegend ›weiblich‹.

Weil das Ehrenamt jedoch weder eine konstante und verbindliche (geschweige denn professionelle) Versorgung von Pflegebedürftigen gewährleisten kann, wird es zunehmend als soziale Dienstleistung professionalisiert und über materielle Anreize gesteuert – etwa mittels pauschaler Entschädigungen und Versicherungsleistungen. Häufig wird der ehrenamtliche Pflegeeinsatz über Leistungen der Pflegeversicherung für sogenannte niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsleistungen finanziert. Denn mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz haben Pflegebedürftige und Personen mit »eingeschränkter Alltagskompetenz« erhöhten Anspruch auf zusätzliche Betreuung. Mit dieser ›Betreuungspauschale‹ stehen ihnen seit 2015 monatlich zusätzlich zum Pflegegeld zwischen 104 und 208 Euro an zweckgebundenen Beträgen für die Inanspruchnahme freiwilliger Helferinnen zur Verfügung.

Auf diese Weise avanciert das Ehrenamt zu einer nebenberuflichen Beschäftigung mit Stundensätzen zwischen fünf und zehn Euro, die zum Teil weit unter dem gesetzlichen Pflegemindestlohn liegen und vor allem für diejenigen attraktiv werden, die von geringen Rentenleistungen und Altersarmut betroffen sind.

Das Ehrenamt als kostengünstiger Pflegedienstleister

Dass sich das Ehrenamt dabei mitunter zu einem konkurrierenden Anbieter pflegerischer Dienste mausert, zeigt das Beispiel einer ehemaligen Pflegehilfskraft. Die erwerbsunfähige Rentnerin engagiert sich nach einem erlittenen Burn-out ehrenamtlich als Demenzhelferin für fünf Euro die Stunde, um ihre dürftige Rente aufzubessern. In einem 2014 geführten Interview[3]  berichtete sie stolz, ihr Verein sei wesentlich kostengünstiger als andere Anbieter. Und auch die Leiterin des Vereins hob hervor, dass sie aufgrund der geringeren Vergütung der freiwilligen Mitarbeiterinnen – im Vergleich zum Personal ambulanter Pflegedienste – mehr Zeit für die Pflegebedürftigen anbieten könne.

Sowohl aufseiten der caregiver wie aufseiten der care receiver ist die Altersarmut der zentrale Treiber dieses Unterbietungswettbewerbs. Die Konkurrenz von ambulanten Pflegediensten und Freiwilligenvereinen um die niedrigschwelligen Betreuungsleistungen nimmt zu. Wenn hier Ehrenamtliche nicht selten selbst grund- und sogar behandlungspflegerische Aufgaben (wie Injektionen oder Wundversorgung) übernehmen, werden damit nicht nur Prozesse der Entprofessionalisierung in der Pflege fortgeschrieben, die das traditionelle Negativimage des Berufes als einer ›Jederfrautätigkeit‹ festigen.

Auch die Engagierten selbst werden während ihrer Einsätze häufig überfordert. Ein anschauliches Beispiel solcher Überforderung schilderte die bereits genannte Demenzhelferin. Es geht um einen Zwischenfall im Haushalt einer hochaltrigen Pflegebedürftigen, die während des Einsatzes einen Atemstillstand erlitt. Da die Angehörigen entschieden, keinen Arzt zu konsultieren, wohnte die Demenzhelferin dem Geschehen als hilflose Zeugin bei: »Das ging mir ganz schön nah. Die hätte mir ja auch unter den Händen wegsterben können.«

Das Beispiel zeigt eindrücklich, mit welchen Anforderungen pflegende Angehörige und Ehrenamtliche in der Pflege alleingelassen werden – ein mehrwöchiger Crashkurs zum Thema Demenzbetreuung kann eine dreijährige Berufsausbildung zur Altenpflegekraft nicht ersetzen. Zugleich wird hier die essenzielle Bedeutung des Engagements in der maroden Pflegelandschaft deutlich, bieten doch freiwillige Demenzhelferinnen oftmals die einzige Betreuung neben den häufig überlasteten Angehörigen und den im engen Takt der Minutenpflege ächzenden Pflegediensten.

Lösungen jenseits von Staat und Markt?

Wurde die sozialpolitische Instrumentalisierung des Ehrenamts noch in den 1980er und 1990er Jahren von Arbeits-, Sozialwissenschaften und Gewerkschaften problematisiert, ist diese Kritik vielfach verstummt: Das Engagement wird mehr und mehr zu einer materiell entschädigten, mittels Passungsfähigkeit und Talentmanagement quasi personalpolitisch gemanagten und professionalisierten Sozialdienstleistung – eine Entwicklung, die selbst in Teilen der gesellschaftlichen Linken begrüßt wird. Die kollektiv-selbsttätige Organisation der Reproduktion »jenseits von Markt und Staat« wird vielerorts als Gegenstrategie zur privatwirtschaftlichen wie auch staatlichen Vereinnahmung begriffen (Lent/Trumann 2015, 105).

Indem allerdings auch die Care-Commons den Sozialstaat von Reproduktionskosten entlasten, gleichen sie weniger »Inseln« (trouble everyday collective 2014, 69) als vielmehr innerkapitalistischen Kolonien (vgl. Werlhof et al. 1988). Caring-Communities oder Bürgerkommunen genießen dennoch nicht selten den Ruf, Manifestationen realutopischer Entwürfe einer solidarischen Zukunftsgesellschaft zu sein. Dass sie jedoch mitunter auch zu einer Entprofessionalisierung in der Pflege beitragen und freimütig Niedriglohnbeschäftigung organisieren, zeigt das Zitat des Bürgermeisters einer Caring-Community, der in einer Forschungsstudie den Gestaltwandel des Ehrenamts wie folgt bewirbt:

»Die Engagierten, die wir vermitteln, unterstützen hilfe- und pflegebedürftige Mitbürger deutlich intensiver als in der traditionellen Nachbarschaftshilfe. Sie werden von uns geschult und nicht nur in der Alltagsbegleitung, sondern auch in der Grundpflege und in der Hauswirtschaft eingesetzt. Dafür erhalten sie eine Aufwandsentschädigung von sieben bis acht Euro netto pro Stunde« (ZQP 2013, 62).

Eine solche vorauseilende und kostengünstige Umsetzung des Subsidiaritätsgedankens[4]  kann ein konservativer Wohlfahrtsstaat wie der deutsche nur begrüßen – er bürdet traditionell den Großteil der pflegerischen Versorgung kleinen Netzwerken auf, mehrheitlich unbezahlt.

Der staatliche Appell an die Freiwilligen und deren beinah euphorische Würdigung als »Elite der Gesellschaft« sollten zudem Skepsis hervorrufen, wenn es heißt: »Die Ehrenamtlichen kümmern sich viel persönlicher, als dies die beste staatliche Jobagentur kann […]. Das ist nicht nur positiv, das ist wunderbar. Die Ehrenamtlichen haben Fantasie. Die Ehrenamtlichen sind die Unbezahlbaren dieser Gesellschaft, sie sorgen dafür, dass aus Demokratie nicht Dekadenz wird« (Prantl 2010).  Das Ehrenamt wird hier als ›unbezahlbare‹ Prävention gegen sozialstaatliche Generosität begrüßt, getragen von aktiven, für ihre Belange selbst verantwortlichen Bürgerinnen.

Ungehorsames Engagement

Aus einer kritischen Perspektive stellt sich die Frage, wie den bestehenden Versorgungslücken in der Pflege begegnet werden kann, ohne bereitwillig zu akzeptieren, dass die sozialstaatliche Daseinsfürsorge durch die Gratisarbeit sorgender Gemeinschaften substituiert wird. Die Losung »Es ist uns keine Ehre« des Berliner Medibüros (vgl. Schuh in diesem Heft), das eine unentgeltliche medizinische Versorgung für Flüchtlinge organisiert, stellt einen reflektierten Versuch dar, die eigene Tätigkeit als aus der Not geborene Hilfeleistung und die Gefahr der sozialpolitischen Instrumentalisierung öffentlich zu problematisieren. Darin artikuliert sich ein Selbstverständnis, das als »ungehorsames Engagement« bezeichnet werden könnte und das sich jenseits einer zynischen Generalabsage von linker Seite an praktische Unterstützung von Hilfebedürftigen verortet. Aber auch jenseits bürgerlicher Selbstaufopferung. Hier wird aufgezeigt, dass Care-Work unter den Bedingungen kapitalistischer Verwertung und sozialpolitischer Instrumentalisierung schlechterdings unmöglich ohne Ausbeutung zu haben ist (Van Dyk et al. 2016).

Eine andere Form, auf die Instrumentalisierung des freiwilligen Engagements hinzuweisen, bestünde hingegen in einer demonstrativen Verweigerung – die Hausfrauenstreiks der 1970er Jahre könnten dafür Pate stehen. Ein Streik von Freiwilligen könnte sowohl auf die essenzielle Bedeutung unsichtbarer Arbeit als auch auf ihre Instrumentalisierung hinweisen. Die Entwicklung solcher Protestformen gehört auf die Agenda einer emanzipatorischen Politik, die sich den Fragen sozialer Reproduktion zuwendet.

Anmerkungen

[1] Mit dem Begriff Social-Investment-State wird der Strukturwandel des deutschen Sozialstaates im Zuge der 1990er Jahre bezeichnet, in dessen Folge Aktivität, Eigentätigkeit und Selbststeuerung der BürgerInnen sozialpolitisch an Bedeutung gewinnen (vgl. Lessenich 2008). 

[2] Die 1995 eingeführte deutsche Pflegeversicherung ist eine »beitragsfinanzierte Teilkaskoversicherung« in Abgrenzung zu einer »bedarfsorientierten Vollkaskoversicherung«, das heißt, die budgetierten Versicherungsleistungen decken lediglich einen Teil der entstehenden Kosten ab und sollen die informelle Pflege durch Angehörige, Nachbarn oder Freunde nur »ergänzen« (§4 SGB XI). Sie setzt die Bereitschaft zur unbezahlten Übernahme pflegerischer Tätigkeiten durch soziale Netzwerke immer schon voraus. 

[3] Dieses und andere Interviews mit überwiegend ›informellen‹ Pflegekräften wie Angehörigen, Ehrenamtlichen und migrantischen Pflegekräften führte ich im Rahmen meiner Dissertation zur sozialpolitischen Regulierung der deutschen Pflegekrise 2014. 

[4] Der deutsche Sozialstaat zeichnet sich durch seine am Subsidiaritätsprinzip ausgerichtete »privatistischfamilialistische Pflegekultur« aus (Lessenich 2003). Die jeweils kleinere soziale Einheit wie etwa die Familie ist die bevorzugte ökonomische und soziale Unterstützungsinstanz.

Literatur

Evers, Adalbert et al., 2015: Die Vielfalt des Engagements. Eine Herausforderung an Gesellschaft und Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 30.3.2015, 3–9.

Fink, Ulf, 1990: Die neue Kultur des Helfens. Nicht Abbau, sondern Umbau des Sozialstaats, München/Zürich.

Heine, Hannes, 2015: Hilfe aus Syrien. Flüchtlinge als Altenpfleger, in: Der Tagesspiegel, 27.1.2015.

Heuser, Uwe Jean und Gero v. Randow, 2000: Freiwillige vor! Der Gemeinsinn wächst – trotz Geldfiebers und schwarzer Konten. Ehrlichkeit und Mitmenschlichkeit gehen nicht unter, in: ZEIT online, 16.3.2000.

Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, 1997: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Teil 3: Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage, Bonn.

Lent, Lilly und Andrea Trumann, 2015: Kritik des Staatsfeminismus. Oder: Kinder, Küche, Kapitalismus, Berlin.

Lessenich, Stephan, 2008: Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld.

Ders., 2003: Dynamischer Immobilismus. Kontinuität und Wandel im deutschen Sozialmodell, Frankfurt a.M./New York.

Pinl, Claudia, 2013: Freiwillig zu Diensten? Über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit, Frankfurt a.M.

Prantl, Heribert, 2010: Im Himmel sind wir dann alle gleich. Die Elite und die kleinen Leute – Politik und Verantwortung nach der großen Wirtschaftskrise. Festrede beim Neujahrsempfang der Stadt Friedrichshafen am 17. Januar 2010.

Priller, Eckhard und Annette Zimmer (Hg.), 2001: Der Dritte Sektor international. Mehr Markt – weniger Staat?, Berlin.

Putnam, Robert D., 1993: Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton.

trouble everyday collective, 2014: Die Krise der sozialen Reproduktion. Kritik, Perspektiven, Strategien und Utopien, Münster.

Van Dyk, Silke et al., 2016: Für ein rebellisches Engagement, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2016, 37–40.

Werlhof, Claudia v. et al., 1988: Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit, Reinbek.

Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP), 2013: Freiwilliges Engagement im pflegerischen Versorgungsmix. ZQP-Themenreport, Berlin, http://zqp.de/upload/content.000/ id00367/attachment00.pdf.

Tine Haubner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und beschäftigt sich mit der Soziologie der Arbeit, unter anderem mit Reproduktions- und Sorgearbeit, mit Prekarisierung und sozialer Ungleichheit.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/die-neue-kultur-des-helfens

#Pflege #Krise #Migration

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Wurde die sozialpolitische Instrumentalisierung des Ehrenamts noch in den 1980er und 1990er problematisiert, ist diese Kritik vielfach verstummt. Caring-Communities oder Bürgerkommunen genießen nicht selten den Ruf, Ausdruck realutopischer Entwürfe einer solidarischen Zukunftsgesellschaft zu sein. Für die nächsten Jahre wird mit der Versorgung von Geflüchteten eine weitere Etappe des neuen Engagement-Diskurses prophezeit.

Der Artikel beleuchtet, wie der staatlich geförderte Einsatz freiwillig Engagierter in der Pflege schon länger eine verfolgte Strategie ist, um dem Pflegenotstand beizukommen und wie dies zu einer Entprofessionalisierung in der Pflege beiträgt, das Image des Berufes als einer ›Jederfrautätigkeit‹ festigt und Niedriglohnbeschäftigung fördert. Schließlich wird aufgezeigt, wie den bestehenden Versorgungslücken begegnet werden kann, ohne bereitwillig zu akzeptieren, dass die sozialstaatliche Daseinsfürsorge durch die Gratisarbeit sorgender Gemeinschaften ersetzt wird.

Foto: Mat Napo / Unsplash

  • #Pflege
  • #Krise
  • #Migration
#Krankenhaus #Pflege #Rekommunalisierung
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Privatisierungen von Krankenhäusern haben massive Folgen für Beschäftigte und für die Versorgungssituation von Patient*innen. Stellenabbau, Outsourcing oder Lohnsenkungen sind hier Alltag. Für gewinnorientierte Klinikkonzerne steht nicht die Gesundheitsversorgung oder gute Arbeitsbedingungen an erster Stelle, sondern Profite und Gewinnausschüttungen an ihre Aktionär*innen. Das haben etwa die Beschäftigten und Patient*innen in Gießen-Marburg sowie in Seesen erfahren müssen: Vor gut 15 Jahren wurde mit der Uniklinik Gießen-Marburg die erste Universitätsklinik in Deutschland privatisiert. Seit dem steigen nicht nur die Arbeitsbelastungen. Auch die Versorgungssituation leidet. In Seesen wurde die renommierte Reha-Klinik von Asklepios Ende des Jahres 2020 geschlossen - als Reaktion auf Tarifkonflikte um angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen, die seit über einem Jahr im Betrieb heiß liefen.

Nun aber gibt es Hoffnung: Das Land Hessen könnte Asklepios enteignen und das Uniklinikum Gießen/Marburg wieder in öffentliches Eigentum zurückholen – das sagt ein neues Rechtsgutachten. Enteignen nach Artikel 15 des Grundgesetzes ist also nicht nur für Wohnfragen relevant. Auch die Gesundheitsversorgung kann aus der Hand profitorientierter Anleger*innen zurückgeholt werden.

Wir diskutieren, wie das möglich ist, für welche private Kliniken das geht und warum es dringend notwendig ist, die Gesundheitsversorgung zurück in öffentliche Hand zu holen.

Leonhard Lenz, CC0, via Wikimedia Commons

  • #Krankenhaus
  • #Pflege
  • #Rekommunalisierung

Von R wie Rettungspakete zu R wie Rekommunalisierung

Mai 2021 • Julia Dück

Foto: camilo jimenez / Unsplash

Foto: camilo jimenez / Unsplash

Krankenhaus, Krise, Pflege, Rekommunalisierung#Krankenhaus #Krise #Pflege #Rekommunalisierung

Ein Jahr Corona-Pandemie, mitten in der dritten Welle, drei Rettungspakete: Die letzten Monate standen im Zeichen der Krisenfinanzierung. Nicht nur Gastronomie, Kultureinrichtungen oder die Reisebranche, auch Krankenhäuser bangen um ihr Überleben. Und dies mitten in der Pandemie, in der, so sollte man eigentlich meinen, alle Kapazitäten gebraucht würden. Für die Kliniken wurden daher Rettungspakete geschnürt – seit Beginn der Pandemie bisher drei. Alle drei Hilfspakete sollten die finanziellen Mehrbelastungen der Krankenhäuser durch die aktuelle Krise kompensieren. Ob dies tatsächlich gelungen ist, darum tobt derzeit ein Streit.

So moniert etwa die AOK, dass Milliardenbeträge in die Krankenhäuser flossen, obwohl die Fallzahlen im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr gesunken sind. Gleichzeitig schrieben die Wissenschaftsminister aller 16 Bundesländer einen Brandbrief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), in dem sie sich für finanzielle Nachbesserungen des letzten Corona-Hilfspakets aussprechen und auf die besondere Rolle der Uniklinika und anderer Maximalversorger in der aktuellen Pandemie aufmerksam machen. Zudem sind nicht nur große, sondern besonders kleine Kliniken in Gefahr, die finanziellen Mehrbelastungen wirtschaftlich nicht zu überstehen. Wie etwa die ARD berichtete, mussten vergangenes Jahr rund 20 Kliniken schließen – auch solche, die Covid 19-Patient*innen behandelt haben. Auf der anderen Seite konnten viele Krankenhäuser „dank der üppigen Corona-Hilfen ihre Erlöse kräftig steigern“, wie etwa der Focus kritisierte.  Allein von Januar bis Mai 2020 sind in privaten Kliniken die Nettoerlöse im Durchschnitt um 14,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen. Wie passt das zusammen?

Tatsächlich geschieht im Zuge der Hilfspakete beides gleichzeitig: Es kommt sowohl zu einer Verschwendung staatlicher Mittel als auch zu wirtschaftlichen Einbußen und Schließungen von Krankenhäusern. Die Rettungspakete helfen also weder den Krankenhäusern noch sichern sie eine gute Versorgung von Patient*innen. Sie produzieren vielmehr Krisengewinner und -verlierer unter den Kliniken und verschärfen so die schon vorher bestandene Polarisierung im Krankenhaussektor. Private Häuser profitieren, während öffentliche Kliniken rote Zahlen schreiben. Dies zeigt einmal mehr: Wir müssen weg von einer Finanzierung nach DRGs und einem ökonomisierten Gesundheitssystem hin zu einer bedarfsorientierten und öffentlichen Versorgung sowie kostendeckender Finanzierung.

Bilanz der Corona-Hilfspakete – Eine Geschichte des Scheiterns

Mit dem Beginn der Pandemie in Deutschland und der Sorge um ihre Bewältigung wurde im März 2020 das erste Hilfspaket für die Krankenhäuser beschlossen. Zuvor waren die Krankenhäuser politisch aufgefordert worden, alle planbaren Behandlungen (sogenannte elektive Eingriffe) soweit wie möglich zu reduzieren, um Bettenkapazitäten für die erwartete hohe Anzahl an Covid-19 Patient*innen frei zu halten. Da in einer erlösorientierten Finanzierung nach Pauschalen (den sogenannten DRGs) wirtschaftliche Verluste durch diese Reduzierungen drohten, wurde das erste Rettungspaket (Gesetz „Zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“) beschlossen. Dieses sollte die wirtschaftlichen Einbußen kompensieren. Es sah unter anderem eine Freihaltepauschale vor: Für jedes Bett, das pandemiebedingt im Zeitraum ab Mitte März 2020 nicht belegt wurde, bekamen Krankenhäuser eine Pauschale in Höhe von 560 Euro pro Tag. Durch diese Regelung wurde jedoch zugleich ein finanzieller Anreiz geschaffen, mit der Pauschale zu kalkulieren. So manche Klinikleitung fing an, zu berechnen, in welcher Fachrichtung und für welche Behandlungen es lohnt, Betten nicht zu belegen und stattdessen die Pauschale zu kassieren und wo stattdessen die Aufrechterhaltung geplanter Eingriffe lukrativer ist (vgl. Krankenhaus statt Fabrik). In der Folge führte die Pauschalregelung je nach Krankenhaus zu unterschiedlichen Effekten, wie ein vom Bundesgesundheitsministerium eingesetzter Expertenbeirat analysiert hat: Einerseits haben Kliniken profitiert, die teilstationäre Leistungen erbringen, oder Einrichtungen, die mit der Pandemie kaum etwas zu tun hatten (wie etwa psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen). Hier führte die einheitliche Pauschale zu einer Überkompensation der Erlösausfälle. Andererseits mussten größere Krankenhäuser, die Kapazitäten für Covid-19-Patient*innen freihalten sollten, in vielen Fällen herbe Einbußen erleiden. Dies betraf vor allem die großen Universitätskliniken und Krankenhäuser der Maximalversorgung. Denn diese müssen etwa auch Kapazitäten in der Notfallversorgung, auf Geburtshilfe- oder Kinderstationen vorhalten, die im Fallpauschalensystem nicht ausreichend vergütet werden und daher wenig gewinnträchtig sind. In seiner Begleitstudie kommt der Expertenbeirat zu dem Schluss: „Freigemeinnützige und private Krankenhäuser haben überdurchschnittliche Erlössteigerungen realisiert, während Universitätskliniken Erlösrückgänge von bis zu -6,0% aufweisen“(BMG 2020).

Mit dem zweiten Hilfspaket sollte auf diese Fehlentwicklungen reagiert werden, indem die Freihaltepauschale nunmehr differenziert wurde. So sollten die Kliniken fortan zwischen 360€ bis 760€ pro leergehaltenem Bett erhalten. Allerdings hat auch dieses Hilfspaket die Probleme nicht gelöst. Denn vereinfacht gesprochen wurden die durchschnittlichen Kosten für Behandlungen in einer Klinik zugrunde gelegt, um zu entscheiden, ob das jeweilige Krankenhaus eine höhere oder niedrigere Fallpauschale für das Freihalten von Betten bekommt. Wo also normalerweise teure Hüftgelenksoperationen stattfanden und somit hohe Fallpauschalen abgerechnet werden konnten, flossen die höchsten Ausgleichssummen für freigehaltene Kapazitäten. Sogenannte Maximalversorger, also Kliniken, die umfassende und auch weniger lukrative Leistungen anbieten, erhielten dagegen im Schnitt 200 Euro weniger Pauschale. Dies entspricht aber nicht unbedingt den tatsächlich entstandenen Erlösausfällen, welche die Krankenhäuser verzeichnen. Denn nicht berücksichtigt wurde etwa, welche Kosten durch das Freihalten von Betten und die Verschiebung von Behandlungen entstanden sind, und welche Ausgaben dadurch eingespart werden konnten. Kurzum: Auch mit diesem Paket konnten weder Mitnahmeeffekte noch wirtschaftliche Einbußen verhindert werden.

Mit dem „Dritten Bevölkerungsschutzgesetz“ wurde eine Vielzahl von Einschränkungen, Bedingungen und Kürzungen hinzugefügt, um wirtschaftliche Fehlanreize und Mitnahmeeffekte unter Kontrolle zu bekommen: So wurden die Freihaltepauschalen pauschal um je 10% gekürzt und der Kreis der Krankenhäuser begrenzt, der die Pauschale in Anspruch nehmen kann. Zudem werden die Pauschalen nur noch für Häuser in jenen Regionen gezahlt, die über hohe Inzidenzzahlen sowie über knappe Intensivkapazitäten verfügen. Auch dieses – nunmehr dritte – Paket löst die Probleme jedoch nicht und lässt zudem neue Schwierigkeiten entstehen. So führt die Neuregelung dazu, dass nun die Behandlungen in jenen Regionen wieder hochgefahren werden, wo (bislang) niedrige Inzidenzwerte und/oder (noch) freie Intensivbetten bestehen. Wie wir im Verlauf des letzten Jahres gelernt haben, kann sich das Pandemiegeschehen aber sehr schnell verändern. Den finanziellen Ausgleich von Erlösausfällen an Inzidenzwerte zu koppeln, ist für eine krisenfeste Gesundheitsversorgung also gefährlich. Darüber hinaus führt das Hochfahren von Behandlungen zu einer erneuten Überlastung von (Pflege-)Personal in den Krankenhäusern. Der wirtschaftliche Druck auf die Krankenhäuser und das finanzielle Risiko bleiben zudem bestehen, etwa wenn Patient*innen aus Angst vor Ansteckungen wegbleiben oder nach wie vor unklar ist, ob die Fördergelder des ‚Rettungspakets‘ die Erlösausfälle im jeweiligen Haus decken oder nicht.

Weil eine selbstkostendeckende Finanzierung der Krankenhäuser, wie sie die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) zu Beginn der Pandemie gefordert hat, für die Dauer der Krise vom Bundesgesundheitsministerium nicht umgesetzt wurde, sind Steuergelder also in den Kassen privater Kliniken verschwunden. Zugleich mussten im Corona-Jahr 2020 eine Reihe kleiner öffentlicher Häuser schließen.

So sehen Sieger aus, schalalalala? – Schlupflöcher und Personalkrise

Ein weiteres Schlupfloch ist mit der Entscheidung entstanden, die Kosten der Pandemie nicht über ein System der Selbstkostendeckung, sondern über wirtschaftliche Anreize bearbeiten zu wollen: Die Krankenhäuser sollten zur Schaffung neuer Intensivbetten angeregt werden und erhielten daher für jedes zusätzlich geschaffene Intensivbett im ersten Halbjahr 2020 einen Zuschuss in Höhe von 50.000 Euro. Auf dem Papier hat dies gut funktioniert. Doch laut Recherchen des ARD-Politikmagazins „Kontraste“ wurden im Frühsommer mehr Betten bezahlt als im DIVI-Register[1] gemeldet waren.So gab es Ende Juni 2020 nur rund 32.400 Intensivbetten; gezahlt wurden jedoch Gelder für mehr als 39.700 Betten – also für rund 7300 Betten mehr als gemeldet wurden. Medial wurde hier kritisiert, dass Fördergelder in Höhe von etwa 365 Millionen Euro verschwunden sind. Allerdings liegt das Problem bei den Zahlen eher darin, dass im DIVI-Register nur jene Betten gemeldet werden dürfen, die auch betrieben werden können. Wenn also Betten und Geräte zwar bestellt wurden, aber nicht genügend (Pflege-)Personal da ist, um die Intensivbetten ausreichend bereuen zu können, werden diese im Intensivbettenregister nicht gezählt. Das zentrale Problem der Gesundheitsversorgung im Krankenhaus bleibt also weiterhin der massive Personalmangel. Materielle Ressourcen zu schaffen und hierfür Pauschalen zu kassieren, führt nicht notwendigerweise zu einer realen Zunahme an Versorgungskapazitäten. Auch hier gab es offensichtlich Mitnahmeeffekte, Gewinner und Verlierer der Krankenhausfinanzierung und Rettungspakete.

Im Zusammenhang mit der Frage, wo wirklich neue Kapazitäten für Intensivpatient*innen geschaffen wurden, ist ein Verfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig bekannt geworden, die eine Ermittlung gegen das Asklepios-Klinikum Schildautal in Seesen wegen des Verdachts auf Subventionsbetrug eingeleitet hat.[2]

Der Hintergrund seien möglicherweise „zu Unrecht erhaltene Zahlungen für freigehaltene Corona-Betten“, wie ein Sprecher der Behörde berichtete. Damit steht ausgerechnet jenes Klinikum im Verdacht, Gelder veruntreut zu haben, das erst jüngst negative Schlagzeilen machte. Das Management von Asklepios in Seesen hat Ende des Jahres 2020 die renommierte Rehaklinik geschlossen und damit auf Tarifkonflikte um angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen reagiert, die seit über einem Jahr im Betrieb heiß liefen. Die Gewerkschaft ver.di hatte für das Unternehmen einen Tarifvertrag nach Vorbild des öffentlichen Dienstes gefordert. Der Konzern reagierte darauf mit Einschüchterungsversuchen, Ausgliederungen und Entlassungen – und letztlich mit der Schließung des Reha-Klinikums. Klarer konnte die Konzernspitze ihre Strategie der Profitmaximierung nicht demonstrieren. Dass dem gleichen Konzern nun das unberechtigte Abrufen von Hilfsgeldern vorgeworfen wird, unterstreicht, wo das Interesse des Unternehmens liegt: Es scheint nicht an einer guten Gesundheitsversorgung und guten Arbeitsbedingungen, sondern an Gewinnen ausgerichtet zu sein.

Ein anderer Sieger des letzten Jahres sieht ähnlich aus: Fresenius Helios, Europas führender privater Klinikbetreiber, konnte seinen Umsatz bei Helios Deutschland im 4. Quartal des Jahres 2020 um 11 Prozent (auf 1,64 Milliarden Euro) steigern. Der Umsatz liegt damit sogar noch höher als im Vergleichsquartal des Vorjahres. Auf das gesamte Geschäftsjahr 2020 bezogen, konnte Helios Deutschland Umsatzsteigerungen (um 7 Prozent auf 6,34 Milliarden Euro) verzeichnen. Für das Geschäftsjahr 2021 erwartet Fresenius Helios überdies ein organisches Umsatzwachstum im niedrigen bis mittleren einstelligen Prozentbereich – und dies trotz der Covid-19-Effekte, wie der Konzern berichtet. Zugleich aber geht das Unternehmen auf Konfrontation zu seinen Beschäftigten: So werden in einigen Helios-Kliniken Assistenzärzt* innen aufgefordert, »freiwillig« auf Gehalt zu verzichten, im Helios-Konzerntarifvertrag hat das Unternehmen die Vereinbarung zur Pflegezulage gekündigt und bei den kürzlich abgeschlossenen Verhandlungen zum Konzerntarifvertrag wollte Helios sich lange Zeit lediglich auf Entgeltsteigerungen einlassen, die Reallohnverluste bedeuten würden. Darüber hinaus scheint Helios nach Angaben der Gewerkschaft Marburger Bund auch bei den ärztlichen Stellen einen starken Abbau von Personal für das noch laufende Jahr zu planen. Dabei hat Fresenius für das Jahr 2020 trotz Pandemie ein Konzernergebnis von 1,8 Milliarden Euro eingefahren und darüber hinaus angekündigt, die Dividende für seine Aktionär*innen zum 28. Mal in Folge zu erhöhen.

Beide Beispiele machen deutlich: Private Klinikkonzerne haben in der Gesundheitsversorgung nichts verloren. Auf Forderungen ihrer Beschäftigten reagieren sie mit Drohungen, Kündigungen und Einschüchterungsversuchen. Das Lohnniveau liegt oftmals unter dem Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes. Und es finden sich zahlreiche Beispiele von Ausgliederungen von Krankenhausbereichen, in denen schließlich schlechter und/oder nicht tariflich bezahlt wird. In der Pandemie mehren sich zudem Berichte, die darauf hindeuten, dass vor allem kommunale oder öffentliche Kliniken die Versorgung von Covid-Patient*innen und damit auch das finanzielle Risiko der Versorgung übernehmen, während sich private Unternehmen teilweise wegducken, möglicherweise Steuergelder veruntreuen oder berechnen, welche Behandlungen und welche gesetzlichen Regelungen sich wirtschaftlich besser nutzen lassen. Diese Schlupflöcher werden zwar politisch geschaffen, schließlich aber auch betriebswirtschaftlich genutzt.

Den Privaten den Kampf ansagen – Die Eigentumsfrage stellen

Anstelle einer kostendeckenden Finanzierung, die Gewinne und Verluste und somit auch ökonomische Fehlanreize unterbinden würde, wurde durch die Rettungspakete Geld verschwendet. Zugleich hat dies die Polarisierung zwischen ‚profitablen‘ und ‚nicht profitablen‘ Krankenhäusern verstärkt. Zwei Lehren lassen sich daher aus dieser Bilanz ziehen: Die Finanzierung nach Fallpauschalen muss überwunden werden. Zudem ist eine Abkehr von privaten Krankenhausträgern nötig. Denn diese treiben die Profitmaximierung durch Outsourcing, Stellenabbau oder Lohnsenkungen nicht nur oft aggressiver voran, sie konzentrieren sich zudem meist auf lukrativere Behandlungen und setzen öffentliche Träger dadurch zusätzlich unter Druck. Selbst in der Pandemie ist ein Umdenken zugunsten einer möglichst guten Gesundheitsversorgung nicht zu erkennen. Vielmehr herrscht die Profitorientierung privater Gesundheitsunternehmen ungebrochen weiter.

Strategische Forderungen bewegungspolitischer Akteure im Gesundheitsbereich müssen also eine kostendeckende Finanzierung einerseits sowie die Rekommunalisierung privater Krankenhausträger andererseits adressieren. Eine Einschränkung von Profitinteressen sowie die Rückgewinnung und der Ausbau des Öffentlichen sind angesichts des wachsenden Einflusses privater Unternehmen und der fortgeführten marktförmigen Reorganisierung des öffentlichen Gesundheitswesens wichtiger denn je. Es ist daher zentral, neben den neuen Konzepten der Finanzierung auch die Eigentumsfrage auf die politische Agenda zu setzen: Die Planung und Ausgestaltung der Daseinsvorsorge darf nicht dem Markt überlassen werden – etwa die Entscheidung darüber, ob und wo eine Klinik wirtschaftlich noch zu halten ist oder geschlossen werden muss; oder wie viele (Betten-)Kapazitäten aus betriebswirtschaftlicher Perspektive für Notfälle vorgehalten werden sollen. Dies sind Entscheidungen, die entlang einer Bedarfsplanung getroffen werden müssen. Die Enteignung und Vergesellschaftung sozialer Infrastrukturen sind also wichtige Bausteine für eine bedarfsorientierte, demokratische und solidarische Gesundheitsversorgung. Dass die Eigentumsfrage folglich nicht nur im Feld des Wohnens zentral ist und dass sie offensiv gestellt werden muss, um eine gute Versorgung für alle zu ermöglichen – das lehrt uns die Pandemie erneut und verstärkt.

Fußnoten:

[1] Das Divi-Intensivregister liefert täglich Zahlen zu freien und belegten Intensivbetten von rund 1.300 Krankenhäusern in Deutschland. Es wurde während der ersten Corona-Welle im Frühjahr von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin gemeinsam mit dem Robert Koch-Institut aufgebaut. Für Kliniken mit Intensivkapazitäten gibt es eine Meldepflicht an das Register. Übermittelt werden Daten zu freien und belegten Intensivbetten insgesamt.

[2] Asklepios betreibt nach Angaben des Bundeskartellamtes deutschlandweit 160 Gesundheitseinrichtungen, darunter neben Krankenhäusern auch medizinische Versorgungszentren und Rehakliniken. Asklepios ist hinter der Fresenius-Tochter Helios der zweitgrößte private Klinikbetreiber in Deutschland.

Julia Dück ist Referentin für soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg-Stiftung. Ihr Schwerpunkt ist Gesundheits- und Pflegepolitik sowie Soziale Reproduktion und Care-Arbeit.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/von-r-wie-rettungspakete-zu-r-wie-rekommunalisierung

#Krankenhaus #Krise #Pflege #Rekommunalisierung

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Rettungspakete sollten die finanziellen Mehrbelastungen der Krankenhäuser durch die Corona-Pandemie kompensieren. Tatsächlich kam es sowohl zu einer Verschwendung staatlicher Mittel als auch zu wirtschaftlichen Einbußen und Schließungen von Krankenhäusern. Die Hilfspakete helfen also weder den Krankenhäusern noch sichern sie eine gute Versorgung von Patient*innen. Sie verschärfen die schon vorher bestandene Polarisierung von Krisengewinnern und Krisenverlierern im Krankenhaussektor: Private Häuser profitieren, während öffentliche Kliniken rote Zahlen schreiben. Dies zeigt einmal mehr, argumentiert die Autorin, dass es eine Abkehr braucht vom ökonomisierten Gesundheitssystem und von der Finanzierung nach diagnosebasierten Fallpauschalen („Diagnosis Related Groups“, DRG). Um eine gute Gesundheitsversorgung für alle zu ermöglichen, müssen eine kostendeckende Finanzierung einerseits sowie die Rekommunalisierung privater Krankenhausträger auf die politische Agenda.

Foto: camilo jimenez / Unsplash

  • #Krankenhaus
  • #Krise
  • #Pflege
  • #Rekommunalisierung
Datei öffnen ↓
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurden plötzlich jene in «systemrelevanten Berufen» – zum Beispiel Ärzt*innen, Reinigungskräfte, IT-Systemadministrator*innen und Kraftfahrer*innen, Lehrer*innen und Kranken- und Altenpfleger*innen, Kassierer*innen – viel beklatschte Held*innen. Seither wird darüber diskutiert, mit welchen Maßnahmen solche Tätigkeiten aufgewertet werden können – sowohl was die Bezahlung als auch die öffentliche Wertschätzung angeht.

Das Ergebnis dieser Studie: Eine zielgerichtete und nachhaltige Aufwertung systemrelevanter Arbeit kann am besten erreicht werden durch eine Kombination aus Sonderzahlungen und substanziellen Lohnerhöhungen, begleitet von einer Stärkung der Tarifbindung sowie Maßnahmen zur Zurückdrängung des Niedriglohnsektors. Ebenso wichtig sind Maßnahmen gegen Lohnungleichheiten zwischen Männern und Frauen, wozu eine Ausweitung der Partnermonate beim Elterngeld, ein Ausbau der Kinderbetreuung sowie die Förderung flexibler Arbeitszeitmodelle gehören.

Foto: Logan Weaver / Unsplash

  • #Krise
  • #Alternativen
  • #Pflege
  • #Krankenhaus

Krankenhausstreik: Do it yourself!

November 2021 • Fanni Stolz

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

Krankenhaus, Gewerkschaft, Organisierung, Pflege#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Pflege

Dienstag, 12. Oktober, 16:10 Uhr im Streiklokal am Krankenhaus in Neukölln. Das Handy vibriert: „IHR HABT GEWONNEN! Große Mehrheit der Teamdelegierten stimmt für das Eckpunktepapier zum TV Entlastung“. Es ist also geschafft. Der Jubel ist riesig. 147 Pflegekräfte des Berliner Klinikkonzerns Vivantes haben im Namen ihrer Teams dem vorläufigen Verhandlungsergebnis zugestimmt. Nun soll ein Tarifvertrag »Entlastung« ausgearbeitet werden, der Personalmangel und Dauerstress ein Ende bereiten soll. Wird die ausgehandelte Anzahl von Pflegekräften pro Station unterschritten, gibt es dann einen verbindlichen Freizeitausgleich – die bisher wohl besten Tarifregelungen zur Entlastung in Deutschland. Gestreikt wurde auch am anderen landeseigenen Krankenhaus, der Charité und bei den ausgegliederten Tochterunternehmen von Vivantes – und zwar über die Berufsgruppen hinweg. Auch dort wurden Einigungen erzielt.

Das Handy vibriert nun alle paar Sekunden. Von überall kommen Glückwünsche. Die Erleichterung ist groß. Denn der Weg hierher war nicht einfach und der Erfolg alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil: die Arbeitgeber bewegten sich lange nicht und der Arbeitskampf zog sich. Fünf Wochen (bzw. acht bei den ausgelagerten Servicebetrieben) – so lange wurde an deutschen Kliniken sehr selten gestreikt. Um zu verstehen, warum der Streik am Ende Erfolg hatte, muss man den ganzen Arbeitskampf betrachten, der lange vor dem ersten Streiktag begann. Schon lange vorher organisierten sich die Kolleg*innen und bauten eine Stärke auf, die nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ beeindruckt.

Ich habe mit einigen der Aktiven des Streiks gesprochen. Ihre Erzählungen machen deutlich: Die Berliner Krankenhausbewegung ist eine Geschichte der Selbstermächtigung. Die entstand nicht durch Zuruf, sondern indem systematisch demokratische Strukturen aufgebaut wurden. Die Kolleg*innen hatten ihren Arbeitskampf selbst in der Hand, was für eine Tarifauseinandersetzung nicht immer selbstverständlich ist: Sie bestimmten ihre Forderungen, sie waren an den Verhandlungen beteiligt, sie entschieden über das Ergebnis. Ihre Stärke und ihr Durchhaltevermögen waren Produkt ihrer eigenen Arbeit. Nur so konnte das Selbstvertrauen entstehen, das nötig war, um sich gegen die Härte der Arbeitgeber durchzusetzen.

„Man kennt sich jetzt im Krankenhaus“

Zwei Wochen später: Vor mir sitzt Camilla, sie ist seit 38 Jahren Pflegekraft im OP und seit 30 Jahren Ver.di Mitglied. Heute ist sie erkältet. Die Anspannung des Streiks lässt nach und die Erleichterung ist ihr deutlich anzumerken. Während unseres Gesprächs wandern ihre Blicke immer wieder auf die andere Straßenseite, wo sie an einigen der 34 Tage mit ihren Kolleg*innen am Streikposten stand. Nachdem Camilla zu Beginn der Kampagne zögerlich war, ist sie im Juli aktiv in die Bewegung eingestiegen und übernahm sogar an einzelnen Tagen die Streikleitung. Damit war sie eine der Personen, die entscheiden musste, welche Kolleg*innen streiken konnten und welche Notdienst leisten mussten. Denn durch eine sogenannte Notdienstvereinbarung stellten die streikenden Pflegekräfte sicher, das Patient*innen nicht gefährdet werden. Das funktioniert so, dass die Beschäftigten der einzelnen Stationen im Vorfeld ankündigen, wie viele Betten sie bestreiken werden. Damit geben sie der Klinikleitung die Chance, sich vorzubereiten und keine neuen Patient*innen aufzunehmen. Kommen zu viele Notfälle rein, sichern die Streikenden ab, zurück in den Dienst zu kommen. Die Klinikleitungen ließen sich auf dieses vielfach erprobte Modell nicht ein, so dass die Streikenden einseitig den Notdienst sicherstellten.

Camilla zeigt zum Streikposten und erzählt mir, wie sich dort Kolleg*innen aus dem ganzen Haus kennengelernt hat. Viele, die schon über Jahre hinweg im selben Krankenhaus arbeiteten, unterhielten sich dort das erste Mal. Der Streik umfasste fast alle Berufsgruppen, von der Pflege, über das Labor bis zur Reinigung. Heute grüßt man sich in der Pause, auf dem Weg zur Arbeit oder nach dem Feierabend. Man kennt sich jetzt im Krankenhaus, erzählt Camilla. Wo vorher Einzelkämpfer*innen waren, ist ein Zusammenhalt entstanden, der über das eigene Team oder die eigene Berufsgruppe hinausgeht.

Demokratie beginnt auf Station

„Wenn man erleichtert ist, vergisst man, wie schwer es war“, erzählt mir Louisa, Intensivpflegekraft an der Charité, als wir gemeinsam auf die letzten Monate blicken. Louisa ist 24 Jahre und studiert neben ihrer Arbeit an der Charité klinische Pflege. Schon lange wollte sie politisch aktiv werden, Missstände bekämpfen, doch allein hat sie sich das nie zugetraut. Als sich die verschiedensten Berufsgruppen an der Charité, bei Vivantes und den Vivantes-Töchtern zur Berliner Krankenhausbewegung zusammenschlossen, fand sie den Mut dazu. Es braucht erst ein gewisses Selbstbewusstsein, damit man sich für sich und seine Kolleg*innen einsetzen kann, erzählt sie – und das entsteht Schritt für Schritt. Im Laufe des Arbeitskampfs trat sie der Gewerkschaft ver.di bei. Sie fing an, ihre Kolleg*innen für die Bewegung zu begeistern und wurde schließlich zur Teamdelegierten ihrer Station gewählt. Jede Station, auf der die Mehrheit der Kolleg*innen an der Findung der Tarifforderungen beteiligt war, konnte Delegierte wählen. Sie vertraten ihre Station bei den berlinweiten Treffen, unterstützten und berieten die Tarifkommission bei den Tarifverhandlungen und waren diejenigen, die die wichtigsten Informationen, die sich im Streik meist überschlugen, an ihr Team weitergaben.

Macht aufbauen durch eine Mehrheitspetition

Wie gelingt es, so eine Struktur aufzubauen? Nur durch gute Vorarbeit. Um die Kolleg*innen zu motivieren, ihre Forderungen einzubringen und Delegierte zu wählen, müssen sie erst von dem Arbeitskampf erfahren und müssen überzeugt werden, dass er sinnvoll ist. Eine Petition, die die Mehrheit der Beschäftigten hinter gemeinsamen Zielen versammelt, ist dazu ein gutes Mittel. Beim Unterschriftensammeln kommt man ins Gespräch und übt zugleich, die Mehrheit in jedem einzelnen Team zu überzeugen. Unterstützt von Organizer*innen von ver.di sammelten die Kolleg*innen zwei Monate lang Unterschriften – für einen Entlastungstarifvertrag und (bei Vivantes) für die Rückführung der Tochterunternehmen in den TVöD. Die bereits aktiven Beschäftigten führten Station für Station Gespräche, notierten ihre Erfolge, planten, mit wem sie noch sprechen mussten.

Als am 12. Mai über 8397 Unterschriften an die Berliner Landespolitik und die Klinikleitungen übergeben wurden, war klar, dass sich eine deutliche Mehrheit von über 60 Prozent der betroffenen Beschäftigten hinter die Forderungen stellte. Der erste Stärketest war gewonnen.  Mit der Petitionsübergabe betrat die Krankenhausbewegung das erste Mal die politische Bühne der Hauptstadt.

Den regierenden Parteien wurde mit der Übergabe der Unterschriften ein 100-Tage-Ultimatum gesetzt: Entweder sie gehen auf die Forderungen der Kolleg*innen ein und üben Druck auf die Klinikleitungen der landeseigenen Krankenhäuser aus – oder es kommt zu Streiks in der heißen Wahlkampfzeit, so die Drohung. Trotz zahlloser Verständnisbekundungen ließ die Politik die 100 Tage tatenlos verstreichen, so dass es tatsächlich zum Showdown kommen sollte.

Zusammenkommen, vernetzen, entscheiden

Neben Louisa traten 2288 Beschäftigte während der Auseinandersetzung bei ver.di ein. Unter ihnen auch Diana, Pflegekraft im Krankenhaus in Kaulsdorf, Mutter von zwei Kindern. Während wir im Zoom miteinander sprechen, huscht ihre Katze durchs Bild. Das passierte ihr öfter, erzählt sie mir lachend: »Gezoomt« wurde viel. Aber auch zahlreiche „reale“ Treffen stärkten Schritt für Schritt die Bewegung: in den Teams, stationsübergreifend, mit den Unterstützer*innen aus der Berliner Zivilgesellschaft. Eine der wichtigsten Versammlungen war der Berliner Krankenhausratschlag, wo im Juli alle Delegierten der einzelnen Stationen zusammenkamen, um gemeinsame Forderungen der Krankenhausbewegung zu diskutieren. Spektakulär war nicht nur die deutliche Mehrheit, mit dem die Ergebnisse angenommen wurden, sondern vor allem die Kulisse: In der „Alten Försterei“, dem Stadion des Fußballclubs Union Berlin füllten über Tausend Kolleg*innen und Unterstützer*innen die Haupttribüne – ein Highlight, das den Anwesenden die eigene Stärke deutlich machte. Während die regierenden Politiker*innen auf der Bühne von den Pflegenden im Gespräch herausgefordert wurden, wehte ein Banner der Union Ultras: Nicht nur klatschen – machen! Gebt den Pflegekräften was die verdienen: Mehr Lohn, mehr Zeit, mehr Personal.

Selbstbewusstsein wird gemacht

Diana ist gerne Pflegekraft aber die schwierigen Arbeitsbedingungen treiben sie um. Als besonders schwierig erlebt sie die Vereinzelung und die Individualisierung der Probleme: „Ich habe oft auf Station gedacht, dass das nur mein Gefühl ist, dass es nicht läuft. Für mich war es unglaublich gut zu hören, es geht auch anderen so. Es läuft etwas ganz offensichtlich schief und auch andere bekommen das mit. Allein das tat einfach gut.” Sie schildert, wie ermutigend es war, im nächsten Schritt zu begreifen, dass sie zusammen mit ihren Kolleg*innen tatsächlich etwas verändern kann: „Die Pflege muss für ihre Interessen selber einstehen, denn jemand anders wird es nicht tun. Mehr als Applaus werden wir von alleine nicht bekommen”. Was einfach klingt, ist für den Bereich der Pflege alles andere als selbstverständlich. Viel zu oft wird an Pflegekräfte appelliert, schlechte Arbeitsbedingungen auszugleichen – aus Idealismus und im Dienste der Patient*innen. Die Bewegung hat nicht nur individuelle Frustration in kollektive Sprechfähigkeit umgemünzt, sie hat vor allem mit der Vorstellung gebrochen, dass Politik oder Klinikkonzerne von alleine zur Vernunft kommen. Es wurde klar: Jede einzelne Kolleg*in ist wichtig, um etwas zu ändern.

Jede*r Einzelne wird gefragt

Louisa schildert, dass vor allem die zweite Phase der Kampagne, die Forderungsfindung, viele Kolleg*innen wachgerüttelt hat. In diesen Wochen habe sie gelernt, dass es wirklich eine Chance gibt, etwas zu verändern. Die vielen intensiven Einzelgespräche (»1 zu 1«) seien der Schlüssel zum Erfolg gewesen. In den Gesprächen ging es darum, herauszufinden, was das Hauptanliegen der jeweiligen Kolleg*in war. An diesem Anliegen versuchte man anzusetzen und klar zu machen, dass es eine einmalige Chance auf Veränderungen gibt – wenn man gemeinsam aktiv wird. Louisa hat selbst viele der Forderungsinterviews geführt. „Es war faszinierend zu merken wie jemand reagiert, wenn er die Plattform bekommt, frei über Missstände sprechen zu dürfen. Die stillschweigende Pflege ist etwas Angelerntes. Ich habe das auch so gelernt in meiner Ausbildung: lieber nichts sagen und alles kompensieren. Dadurch merken wir gar nicht mehr, was falsch läuft. Wir können uns kaum mehr einen Alltag vorstellen, in dem man nicht gestresst nachhause geht.” In den vielen Gesprächen wurden den Beschäftigten klar, dass sie die Expert*innen sind, die am besten wissen, wie gute Pflege eigentlich organisiert sein muss.

Heftiger Widerstand, permanenter Druck

Für Diana und Camilla bleibt vor allem der Warnstreiktag eindrücklich in Erinnerung – nicht nur, weil es der erste Streiktag war, sondern weil dort klar wurde, wie hart der Kampf werden würde. Schon von weitem hörten sie das Getümmel rund um den Lautsprecherwagen, wo neben Anja, einer Pflegekraft von Vivantes, die Spitzenpolitiker*innen des Berliner Wahlkampfs auftraten: der Linke Klaus Lederer Franziska Giffey von der SPD und Bettina Jarasch von den Grünen. Plötzlich wurde es unruhig in der Menge und Anja verkündete eine erschreckende Nachricht: Vivantes hatte vor Gericht eine einstweilige Verfügung erwirkt: Der Warnstreik durfte nicht fortgeführt werden. „Ich dachte ich bin im falschen Film. Das die sich so miese Tricks einfallen lassen, um diese große Welle zu brechen”, erzählt Camilla. Doch das Kalkül des Arbeitgebers ging nicht auf. Am zweiten Streiktag gewannen die Beschäftigen vor Gericht. Ihr Streikrecht wurde höher gewichtet als die fadenscheinigen Einwände gegen den Tarifvertrag Entlastung und eine angebliche Unverhältnismäßigkeit der Streikmaßnahmen. Die Strategie des Vivantes-Konzerns, die Bewegung im Keim zu ersticken, war nach hinten losgegangen. Viele sagten sich nach dem Gerichtsurteil: Jetzt erst Recht!

Franziska Giffey und co. wurde an diesem Tag klar: Die Beschäftigten der Charité und Vivantes sind hartnäckig. Der ausdauernde politische Druck, den die Kolleg*innen im Betrieb organisierten und immer wieder in die Politik trugen, war für den Erfolg am Verhandlungstisch zentral. Franziska Giffey konnte nahezu keine Wahlkampfveranstaltung besuchen, ohne von der Berliner Krankenhausbewegung belagert zu werden. Als Raed Saleh, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus eine Biergartentour plante, saßen an den Biertischen keine zahmen SPD-Sympathisant*innen, sondern ein Dutzend Pflegekräfte. „Wir sind der Politik auf die Nerven gegangen”, erzählt Diana, „Diese Präsenz war wichtig”.

Denn die Beschäftigten trugen ihr Anliegen in die Stadt und erhielten breiten Zuspruch: Dem Demo-Aufruf „Wir retten euch – Wer rettet uns?“ folgen knapp 5.000 Berliner*innen , die Volksbühne öffnet ihre Türen für eine Pressekonferenz und das Bündnis Gesundheit statt Profit sammelte mehrere tausend Euro für die Streikkasse der Vivantes-Töchter, die ohne diese Unterstützung nicht so lang hätten durchhalten können. Die Pflege wurde zu einem der zentralen Wahlkampfthemen. In Schulungen lernen die Beschäftigten, ihre Geschichten zu erzählen und den Alltag im Krankenhaus sichtbar zu machen: Auf Demonstrationen, in der Berliner Abendschau, in der Berliner Wahlkampfarena. Die eindrücklichen Geschichten und die immer noch präsente Angst vor überfüllten Intensivstationen in der Pandemie erlaubte es keiner Partei, die Bewegung offen zu kritisieren oder abzuwiegeln. Wer will schon schlechte Presse im Wahlkampfsommer?

Wir verhandeln selbst

Das Rückgrat der Gewerkschaftsbewegung waren die hunderten gewerkschaftlichen Ehrenamtlichen, die sich Station für Station organisierten. Für Camilla ist klar, dass man an diesem Punkt gewerkschaftliche Arbeit neu denken muss: Im Tarifkampf „muss ver.di alle mitnehmen, sonst ist die gewerkschaftliche Bewegung ein Vogel ohne Flügel“. Demokratisierung bedeutet, dass die wichtigen Entscheidungen in einer Tarifauseinandersetzung von den Beschäftigten selbst getroffen werden. Immer wenn die hauptamtliche Verhandlungsführung von Ver.di und die Tarifkommission mit den Arbeitgebern verhandelten, tagten zeitgleich die Teamdelegierten. Auch Camilla war oft dabei. Das konnte bis zu 30 Stunden am Stück dauern, wenn die Kommission so lang verhandelte. Alle Entscheidungen der Tarifkommission wurden an die kollektiven Entscheidungen der Delegierten rückgekoppelt.

In der letzten Nacht vor dem Tarifabschluss an der Charité harrten die Teamdelegierten ganze 21 Stunden in einem Hörsaal aus. Für Louisa war es ein unvergesslicher Moment. Als sich der Abschluss andeutete, war die Erleichterung nach Wochen der Anspannung kaum zu beschreiben. Alle wussten, dass der Abschluss ohne lange Vorbereitung nicht möglich gewesen wäre. Schon im Frühjahr waren die Mitglieder der Tarifkommission und die Teamdelegierten von Charité und Vivantes zusammengekommen. Sie hatten die Tarifergebnisse an anderen Krankenhäusern, etwa in Jena oder Mainz, diskutiert und die Forderungen der einzelnen Teams zusammengetragen. So schufen sie nicht nur Rückhalt für die Forderungen in der gesamten Belegschaft, sondern stärkten auch die Tarifkommission in den Verhandlungen. Mit den Teamdelegierten hatte die Tarifkommission ein Expert*innen-Gremium im Rücken, das auf jeden Einwurf des Arbeitgebers direkt kontern konnte. So gelang es, dem Arbeitgeber Kontra zu geben und ihn sogar bloßzustellen, da er sich in den einzelnen Bereichen weniger gut auskannte als die Beschäftigten selbst. Auch Louisa hat die Situation auf ihrer Station einmal vor der Tarifkommission geschildert.

Für Diana, Camilla und Louisa ist klar: Der Berliner Erfolg ist ein Meilenstein in der Bewegung für bessere Pflege und Gesundheitsversorgung. Und er strahlt aus: Erste Einladungen zur weiteren Vernetzung gibt es schon. Nicht nur Kolleg*innen aus Deutschland, sondern auch aus Großbritannien, der Schweiz und Frankreich sind an Austausch interessiert. Das gibt Selbstvertrauen. Die Berliner Erfahrung hat deutlich gemacht: Gewerkschaftliche Organisierung ist kein Selbstzweck. Sie kostet Arbeit, Kraft und Energie. Und sie kann wirklich etwas substanziell verändern. »Geschichte wird gemacht« und die Berliner Krankenhausbeschäftigten haben ihre Geschichte selbst geschrieben. Ich verabschiede mich von Diana, die mit ihren Kolleg*innen aus den Tochterunternehmen anstoßen will. Sie haben am Abend vor unserem Gespräch auch einen Abschluss erzielt. Es ist ihr gemeinsamer Kampf, den sie nun zusammen feiern.

Fanni Stolz ist Referentin für gewerkschaftliche Erneuerung am Institut für Gesellschaftsanalyse an der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/krankenhausstreik-do-it-yourself

#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Pflege

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Was bedeutet es, wenn ein Arbeitskampf von den Beschäftigten selbst geführt wird, von Anfang bis Ende? Die ver.di-Auseinandersetzung in den Berliner Klinken im Herbst 2021 zeigt: Es ist hart, aber lohnt sich. Fünf Wochen (bzw. acht bei den ausgelagerten Servicebetrieben) – so lange wurde an deutschen Kliniken sehr selten gestreikt. Um zu verstehen, warum der Streik erfolgreich war, muss man den ganzen Arbeitskampf betrachten, der lange vor dem ersten Streiktag begann.

So lang gestreikt wie noch nie - die Berliner Krankenhausbewegung in Aktion. Foto: Fanni Stolz

  • #Krankenhaus
  • #Gewerkschaft
  • #Organisierung
  • #Pflege
#Pflege #Krise
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Pflegende Angehörige kompensieren durch persönlichen Einsatz die politischen Fehlentscheidungen für die Pflege. Sie brauchen Entlastung – körperlich, psychisch, finanziell. Welche politische Hilfe wünschen sich pflegende Angehörige, um diese Unterstützung durchzusetzen?

  • #Pflege
  • #Krise

App «WhoCares»

Wie viel ist meine unbezahlte Care-Arbeit wert?

Februar 2021

Pflege, Feminismus#Pflege #Feminismus

«Das bisschen Haushalt macht sich von allein, sagt mein Mann» – mit dieser Liedzeile ist eigentlich alles darüber gesagt, was unsere Gesellschaft von Sorge- und Pflegearbeit hält. Putzen und Kochen, Kinder erziehen oder Angehörige pflegen – das ist doch keine Arbeit, das passiert so nebenbei, aus Liebe, weil sich Frauen nun mal von Natur aus gerne kümmern.

Männer werden laut einer Oxfam–Studie von Januar 2020 im weltweiten Durchschnitt für 80 Prozent ihrer Arbeit bezahlt, Frauen nur für ca. 41 Prozent. Macht sich also Sorge- und Pflegearbeit mal so nebenbei? Natürlich nicht. Sie erfordert Zeit, die dann für Lohnarbeit und Freizeit fehlt.

Stellen wir uns mal vor, du kannst diese Zeit messen: Wieviel Stunden bist du «mal so nebenbei» mit Care-Arbeit beschäftigt? Ist Pflege- und Sorgearbeit nichts wert? Doch natürlich, sogar sehr viel. Ohne Care-Arbeit würden wir im Dreck leben und nur Stulle mit Brot essen. Stellen wir uns mal vor, es gäbe einen Stundenlohn für's Kochen, Kinder betreuen, Haushalt organisieren oder emotionales Unterstützen – wie viel würdest du verdienen?

Mit der App «WhoCares» kannst du genau das machen: Sorge- und Pflegearbeit zeitlich erfassen und in Gehalt umrechnen. In übersichtlichen Statistiken kannst du dir angucken, für welche Aufgaben du am meisten Zeit aufwendest und wann du besonders viel Hausarbeit leistest. So kannst du deine Ergebnisse auch mit anderen Personen in deinem Haushalt vergleichen.

Außerdem erfährst du in der App ganz viel zum Thema Care-Arbeit, unter anderem zu möglichen potentiellen Lösungsansätzen, wie sich diese Arbeit in Zukunft besser organisieren lässt. Denn unbezahlte Sorgearbeit ist nichts Privates, sondern das Fundament unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems.

Mehr Infos gibt es auf der Projekt-Website whocares-app.de.

Die Entwicklung der App wurde gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Ihr findet sie in den App Stores von Google und Apple.

#Pflege #Feminismus

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Noch immer verwenden Frauen deutlich mehr Zeit für unbezahlte Arbeit auf als Männer. Diese Stunden fehlen ihnen unter anderem für bezahlte Lohnarbeit – was sich später in der geringeren Rente und Altersvorsorge niederschlägt.

Zur unbezahlten Arbeit, die im Gegensatz zur Erwerbsarbeit auch als Care-Arbeit oder reproduktive Arbeit bezeichnet wird, zählen Tätigkeiten wie Putzen, Einkaufen, Rasenmähen, Kinderbetreuung, Ehrenamt oder die Pflege von Familienmitgliedern.

Den unterschiedlichen Zeitaufwand, den Frauen und Männer für unbezahlte Care-Arbeit aufbringen, beschreibt der Gender Care Gap. Im Jahr 2019 lag der durchschnittliche Gender Care Gap in Deutschland bei 52,4 %. Das heißt, im Gesamtdurchschnitt leisteten Frauen 52,4 % mehr Care-Arbeit als Männer, ohne dass der Wert dieser Arbeit gesellschaftlich und ökonomisch anerkannt wird.

Stellen wir uns vor, es gäbe einen Stundenlohn für Care-Arbeit – wie viel würdest du verdienen? Das lässt sich mit der App «WhoCares» ermitteln.

  • #Pflege
  • #Feminismus

Wie geht Sozialstaat feministisch?

August 2020 • Sabine Skubsch

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

Krise, Feminismus, Hausarbeiterinnen, Migration, Alternativen, Pflege#Krise #Feminismus #Hausarbeiterinnen #Migration #Alternativen #Pflege

Feministischen Bewegungen ist es über viele Jahrzehnte hinweg gelungen, die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit gesellschaftlich zum Thema zu machen. Spätestens mit der Coronakrise ist diese Frage auch im medialen Mainstream angelangt. Wie eine solche Umverteilung von Care-Arbeit zu erreichen wäre, dazu werden in linken Debatten unterschiedliche Ansätze diskutiert – vom bedingungslosen Grundeinkommen über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Arbeitszeitverkürzung, sozial- und familienpolitische Maßnahmen oder einen Ausbau sozialer Infrastrukturen. Was ist aus feministischer Sicht zentral? Und was muss verändert werden, damit Sorgearbeit genauso wertgeschätzt wird, wie die Güterproduktion und der Erwerbsarbeit nicht länger nachgeordnet wird?

„Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ kreist um die Erwerbsarbeit

Das Konzept „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ wird nach wie vor von allen Parteien (mit Ausnahme der AfD) propagiert. Es deckt sich mit dem Wunsch der meisten jungen Paare, die - zumindest in der Theorie – weniger Erwerbsarbeit machen und sich die Kindererziehung teilen wollen. Bei sozialstaatlichen Maßnahmen zur „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ steht insbesondere die Sorge der Arbeitgeberverbände um das zukünftige Arbeitskräftepotenzial im Vordergrund. Der auf Wachstum basierende Kapitalismus ist heute mehr denn je auf gut ausgebildete Arbeitskräfte angewiesen. Die Wirtschaft braucht Frauen, die arbeiten, und sie braucht Menschen, die eine gut ausgebildete nächste Generation heranziehen, was historisch den Frauen zugewiesen wurde. Ziel der staatlichen Familienpolitik ist es daher, die Geburtenrate zu steigern, qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen und die „stille Reserve“, also Frauen mit kleinen Kindern, für die Wirtschaft zu mobilisieren. Ganz in diesem Sinne wirkt das von der ehemaligen Familienministerin Ursula von der Leyen eingeführte Elternzeitgesetz[1] als eine bevölkerungspolitische Maßnahme (vgl. Schultz 2012).

Gut ausgebildeten Frauen gibt es einen Anreiz, Kinder zu bekommen und vollzeitnah zu arbeiten. Gleichzeitig haben die sogenannten „Vätermonate“[2] einen enormen kulturellen Wandel in Bezug auf die geschlechtliche Rollenverteilung bewirkt.

Vor 20 Jahren war es in vielen Branchen noch undenkbar, dass Männer in Teilzeit arbeiten oder Elternmonate nehmen. Der Neoliberalismus ersetzte das „Mann-als-Ernährer-der-Familie-Ideal“ durch das „Alle-Erwachsenen-müssen-arbeiten-Modell“[3] .

Frauen wurden zwar von der Abhängigkeit vom Ehemann befreit, aber an die Stelle der abhängigen Hausfrau wurde die rund um die Uhr aktive Familienmanagerin gesetzt. In der Coronakrise hat sich die Widersprüchlichkeit neuer Arbeitsformen, wie Homeoffice, gezeigt. Durch ständige Erreichbarkeit und Multitasking werden vor allem Mütter dauerhaft überfordert. Unter dem Motto „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ werden Maßnahmen auf den Weg gebracht, die die Zumutung der Mehrfachbelastung abschwächen sollen.

Grundsätzlich infrage gestellt wird diese Politik jedoch nicht, schließlich bleibt sie orientiert an den Erfordernissen der Erwerbsarbeit. Bei der Kinderbetreuung beispielsweise geht es stets darum, dass die Mütter zur Arbeit gehen können. Die Kita-Öffnungszeiten erlauben nicht, zu einer politischen Versammlung oder zum Tanzen zu gehen. Völlig unglaubwürdig klingt das Versprechen von „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ für Frauen in schlecht bezahlten Jobs, bei denen es, obwohl sie ständig hin- und herhasten, einfach nicht zum Leben reicht. Wenig verwunderlich ist es dann, wenn diese Frauen Parteien, die ihnen nicht mehr zu bieten haben, den Rücken kehren.

Inwieweit ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) zu einer gerechten Verteilung der Sorgearbeit beitragen kann, ist in feministischen Diskussionen umstritten. So würde es zwar finanziellen Spielraum für Eltern schaffen, die Arbeit untereinander anders verteilen wollen. Einen Anreiz genau das zu tun, bietet es aber nicht. Da das BGE-Konzept vom Aspekt der sozialen Absicherung ausgeht und die Frage der Verteilung der Arbeit ausklammert, könnte es genauso gut dazu genutzt werden, die traditionelle Rollenverteilung zu stabilisieren.

Verkürzung der Arbeitszeit geht in die richtige Richtung

Die Forderung nach einer Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ist in vielen feministischen Debatten (zu Recht) ein realpolitischer Favorit. Verbündete finden sich in den Gewerkschaften und bei Politiker*innen und Parteien, die das Soziale und die Arbeit in den Vordergrund stellen. Einen Ansatz dazu entwirft Bernd Riexinger in seinem Buch „Neue Klassenpolitik“. Riexinger unternimmt dabei den Versuch einer Abkehr von einer Definition der Arbeiterklasse, die den männlichen Vollzeit-Industriearbeiter als das Normale konstruiert. Die heutigen Lohnabhängigen sind weiblicher, migrantischer und häufig im Dienstleistungsbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu finden, so seine Klassenanalyse. Als realpolitisches Ziel formuliert Riexinger ein „neues Normalarbeitsverhältnis“ von 28 bis 35 Stunden.

Diese Forderung geht in die richtige Richtung, aber sie spricht vor allem Beschäftigte mit einem auskömmlich bezahlten, unbefristeten Vollzeit-Arbeitsverhältnis an. Für die Mehrheit der Frauen sind aber prekäre, schlecht bezahlte oder Teilzeitarbeitsverhältnisse seit langem die Realität. Wie Menschen, die anderthalb Jobs brauchen, um mit dem unzureichenden Lohn über die Runden kommen, die sich mit Minijobs und Teilzeit rumschlagen und sich nichts mehr wünschen als einen unbefristeten Vollzeit-Job, für diese Forderung mobilisiert werden sollen, bleibt eine Herausforderung.

Es klafft noch eine weitere politische Lücke zwischen Bernd Riexingers eindringlicher Beschreibung der heterogenen prekären Arbeitswelt und der Forderung nach einer „neuen Normalarbeitszeit“. Weder eine Kassiererin mit Minijob, noch eine befristet beschäftigte Sozialarbeiterin oder eine Beschäftigte in einer Großküche fühlt sich angesprochen, wenn sie am „atypischen Rand“ verortet wird. Auch bleibt letztlich für sie unklar, wie eine Umverteilung von Arbeit so aussehen kann, dass eine „Normalarbeit“ im Sinne des „neuen Normalarbeitsverhältnis“ für sie in erreichbare Zukunft rückt.

Eine feministische Erzählung muss deshalb die gesellschaftlich notwendige „systemrelevante“ Arbeit aufwerten. Diese muss sich an dem ungeheuren Produzentenstolz messen, der früher im Bergbau vorherrschte und den man heute in der Automobilindustrie findet. Der ver.di-Tarif-Slogan „Wir sind es wert“ geht in diese Richtung. Im Pflegebereich empfinden die Beschäftigten beispielsweise ein hohes Maß an Gebrauchswertstolz und sind sich der Lebensnotwendigkeit ihrer Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes voll bewusst – nur so erklären sich die endlosen Überstunden, die unter den gegenwärtigen Bedingungen nötig sind, um ihren Job den eigenen Ansprüchen gemäß auszufüllen. Statt diesen Produzentenstolz neoliberal ausbeuten zu lassen, gilt es ihn in kämpferisches Selbstbewusstsein zu wenden, wie es den Aktiven in den Auseinandersetzungen der Berliner Charité gelungen ist.

Um offensive Kämpfe führen zu können, muss sich linke Politik auch für Rahmenbedingungen einsetzen, die dies ermöglichen. Wie soll sich sonst eine wachsende Anzahl von prekären (insbesondere weiblichen) Arbeitnehmer*innen von einer linken Politik angesprochen fühlen, die an Regularien anknüpft, die für sie noch nie gegolten haben. Die Forderung nach einer Stärkung der Betriebsräte verfängt bei vielen auch deshalb nicht, weil das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) so gestrickt ist, dass Betriebsräte im Wesentlichen die Interessen der Stammbelegschaft vertreten. Klassenbewusste Politik muss dafür eintreten, dass der Betriebsbegriff im BetrVG so geändert wird, dass alle abhängig Beschäftigten in Betriebsräten vertreten sein können. Eine feministische Klassenpolitik muss auch in solchen Fragen in die Offensive kommen.

Nicht nur Lebensrisiken absichern, sondern das ganze Leben in den Mittelpunkt stellen

Anfang 2020 hat die LINKE ein „Konzept für einen demokratischen Sozialstaat der Zukunft“ vorgestellt, in dem die feministische Forderung nach einer Neuverteilung der Sorgearbeit aber leider nicht Gegenstand ist. Das LINKE Sozialstaatkonzept zielt auf einen „aktiven Sozialstaat, der die Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Pflegebedürftigkeit und Behinderung sowie Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit solidarisch absichert“. Schwangerschaft, Geburt, Kindererziehung und Alter sind aber keine „Lebensrisiken“, es sind Phasen unseres Lebens, in denen wir (mehr als sonst) auf die Sorge anderer angewiesen sind. Wenn Krankheit und Alter „Lebensrisiken“ sind, was ist dann der Normalzustand? Der fitte, gesunde, nichtbehinderte, eher männliche Arbeitnehmer zwischen 18 und 60? Aus feministischer Perspektive braucht es einen Paradigmenwechsel: Alle Menschen sind – mal mehr, mal weniger – auf die Sorge anderer angewiesen. Kriterium für gutes Leben ist, in einer Situation der Hilfsbedürftigkeit versorgt zu werden und ebenso für andere Sorge zu leisten, ohne unangemessene Opfer bringen zu müssen (vgl. Winker 2015).

In die Strategiedebatte der LINKEN Anfang 2020 mischte sich ein im Zuge feministischer Vernetzung in der Partei entstandenes „Feministisches Autor*innenkollektiv“ ein. In ihrem Papier wird eine sozialpolitische Richtung angedeutet, die das ganze Leben in den Mittelpunkt rückt. Dabei geht um viel mehr, als nur ein paar feministische Korrekturen. Nämlich um „eine Gesellschaft, deren Ökonomie sich an den gemeinsam ermittelten Bedürfnissen orientiert, nicht an Wachstum und Profit. Eine Gesellschaft, in der Kinder, Alte und Kranke nicht wegorganisiert werden müssen. ... Statt von der Erwerbsarbeit ausgehend zu überlegen, wie diese zum Leben passt, schlagen wir vor, von der Frage auszugehen, wie wir leben wollen, und daraus abzuleiten, wie wir folglich produzieren und arbeiten müssen und welche Arbeiten wir brauchen.“ Nur, wenn wir einen echten Perspektivwechsel vollziehen und ganz anders auf die zu regelnden Dinge blicken, kommen auch neue Lösungen in den Blick. Lösungen, die „das ganze Leben“ (Frigga Haug) zum Gegenstand auch sozialpolitischer Überlegungen haben.

Feministische Positionen in der Sozialstaatsdiskussion

Erwerbs- und Sorgearbeit müssen dann nicht „vereinbart“, sondern beide müssen verändert und umverteilt werden. Schritte in diese Richtung sind: Erhöhung der bisherigen zwei auf zwölf „Vätermonate“ wie es die LINKE fordert[4] und ein vom Einkommen unabhängiges Elterngeld. Das von der SPD geforderte Familiengeld[5] geht schon in diese Richtung.

Gleichzeitig müssen sozialstaatliche Anreize zur Beibehaltung der traditionellen Rollenverteilung beseitigt werden: Kein Ehegattensplitting, das Familien, in denen einer viel und der andere wenig oder gar nichts verdient, steuerlich bevorzugt; dafür ein stärkere Gewichtung der Sorgearbeit bei den Rentenansprüchen; keine beitragsfreie Mitversicherung bei der Krankenversicherung; stattdessen eine Bürgerversicherung für alle und eine Pflegeversicherung, die die gesamten Pflegekosten abdeckt. Familien stehen oft vor dem Dilemma, dass entweder die hohen Zuzahlungen für Pflegeheime alle Ersparnisse aufbrauchen oder meist die Frauen die Pflege zu Hause übernehmen müssen – häufig unterstützt durch Migrantinnen, die in einer tolerierten Informalität einen relevanten Teil der häuslichen Pflege leisten.

Eine weitere wichtige Säule ist die Stärkung der öffentlichen sozialen Infrastruktur. Bildung (Kitas und Schulen), Gesundheit und Pflege gehören zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Ein entscheidender Kampf um die Zukunft des Sozialstaats wird gegen die profitorientierte Privatisierung von Krankenhäusern, Kitas und Pflegeheimen geführt werden müssen. Die Daseinsvorsorge muss in Kommunales oder anderes Gemeinschaftseigentum zurückgeführt werden und allen kostenlos oder gegen geringes Entgelt zur Verfügung gestellt werden.

Sozialstaat, Solidarität und Demokratie am Beispiel von Senior*innenbetreuung und Pflege

Eine feministische Sozialstaatsdiskussion kann sich nicht auf die paternalistische Vorstellung beschränken, dass der Staat alles - möglichst zum Wohle der Bürger*innen - regeln soll. Sozialstaatliche Maßnahmen dürfen die Menschen nicht auf Objekte der Fürsorge reduzieren, sondern müssen zur Beteiligung anregen, mit dem Ziel ein solidarisches Miteinander zu fördern. Beispiele dafür sind die Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen Wohn-, Produktions- und Verteilungsgenossenschaften, die auf Selbsthilfe und Kooperation beruhen. In den 1960er und 1970er Jahren bildeten sich überall selbstverwaltete Kitas, selbstinitiierte Stadtteilhilfen, Arbeitskollektive, die leider oft die neoliberalen Reformen nicht überlebten.

Eine feministische Sozialstaatsdebatte muss mit der Diskussion um solidarische Praxen verbunden werden. Es geht nicht nur um soziale Absicherung, sondern um Mitgestaltung und Partizipation in allen Lebensabschnitten: Selbstbestimmung in der Geburtshilfe, altersgemäße Beteiligung von Schüler*innen an der Strukturierung des Schulalltags, selbstverwaltete genossenschaftliche Wohnprojekte und schließlich auch ein gutes selbstbestimmtes Leben im Alter. Die Kampagne der LINKEN zu Gesundheit und Pflege stößt bei den Beschäftigten auf viel Anerkennung. Aber linke Pflege-Politik kann sich nicht auf die Ansprache der bezahlten Beschäftigten in der Pflege beschränken. Sie muss auch die Alten und Kranken und diejenigen, die zu Hause pflegen (fast ausschließlich Frauen) adressieren. Wie selbstbestimmte Behindertenpolitik schon lange fordert, müssen Menschen, die stark auf die Sorge anderer angewiesen sind, als Subjekte ernst genommen werden. Für viele ältere und behinderte Menschen war es in der Coronazeit unbefriedigend, dass sie zwar durch Isolationsmaßnahmen geschützt, aber nicht nach ihren Wünschen gefragt wurden. Wochenlanger Lockdown in Pflegeeinrichtungen ohne Kontakt zu den Angehörigen haben viele Bewohner*innen als „eingesperrt sein“ empfunden.

Um in solchen Fällen angemessene Lösungen zu finden, muss die soziale Infrastruktur demokratisiert werden. Carenehmer*innen und deren Angehörige genauso wie Caregeber*innen müssen an Entscheidungen sozialer Institutionen beteiligt werden. Gabriele Winker schlägt hierfür den Aufbau von „Care-Räten“ vor, in denen Personen, die bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit leisten und empfangen, vertreten sind. Sie sollen Öffentlichkeit für Missstände in Pflege, Erziehung und Sozialem schaffen und politische Vorschläge für gute Pflege, Betreuung und Erziehung aus Sicht der Betroffenen erarbeiten. Perspektivisch sollen diese Care-Räte in alle kommunalen Entscheidungen, die die Daseinsvorsorge betreffen, eingebunden werden. Statt kommerzieller Pflegeheime müssen Kommunen (finanziert vom Bund) eine wohnortnahe stadtteil- oder dorfbezogene Versorgung für Senior*innen schaffen. Dazu gehören selbstorganisierte Projekte wie Mehrgenerationen-Wohnen, Alters-WGs oder genossenschaftlich organisierte Pflegedienste.

Der Wunsch nach solchen Projekten ist allerorten vorhanden. Oft scheitern sie aber an der Finanzierung und an fehlender Planungskompetenz. Zur Unterstützung muss die öffentliche Hand eine Struktur von Projektmanager*innen, Betriebswirt*innen und Sozialarbeiter*innen zur Verfügung stellen. Ein gutes Beispiel für eine wohnortnahe Infrastruktur hat die Bürgergemeinschaft Eichstetten in einer ländlichen Region am Kaiserstuhl geschaffen. Das Motto lautet: „Wenn die Menschen nicht mehr zum Leben gehen können, muss das Leben eben zu den Menschen kommen.“ Ziel ist, den Bewohner*innen alle Dienste anzubieten, die es ermöglichen bis ins hohe Alter ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben im Ort zu führen.

Herausforderungen einer feministischen Sozialstaatsdiskussionen

Der Feminismus hierzulande ist weitgehend weiß, mittelständisch und akademisch geprägt. Es fehlen Repräsentantinnen der migrantischen und autochthonen Arbeiterinnen, die abends die Büros putzen oder morgens die Brötchen verkaufen. Um dies zu ändern, ist es nötig, allen in Deutschland lebenden Menschen – Geflüchtete und Illegalisierte eingeschlossen – einen Zugang zum sozialstaatlichen Netz zu verschaffen. Dies nicht zu tun, ist nicht nur unsozial, sondern reproduziert dauerhaft ethnische Abwertungen und belässt migrantische Frauen in ihren vielfältigen Abhängigkeiten zwischen Ehemann und prekärer oder nicht-legaler Beschäftigung. Der Kapitalismus, der alles zur Ware macht, kommodifiziert zunehmend die Haus- und Sorgearbeit.

Die Coronakrise hat zumindest dazu geführt, dass die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte wahrgenommen werden. Dass in den Küchen und im Reinigungsdienst der profitorientierten Krankenhäuser und Pflegeheime sowie in Privathaushalten meist weibliche und migrantische Arbeitskräfte oft unter Mindestlohn und ohne die geltende rechtliche Absicherung beschäftigt werden, wird aber verdrängt. Feministinnen fordern mehr Repräsentation von Frauen, was richtig ist. Mehr Frauen sollen verantwortliche Positionen und die Hälfte der Abgeordnetenplätze (Paritégesetz) besetzen. Feministisches Ziel kann aber nicht sein, dass während mehr Frauen in die Parlamente einziehen, andere weiterhin schlecht entlohnt und mit kaum Teilhabemöglichkeiten putzen, kochen und pflegen. Forderungen nach stärkerer Vertretung von Frauen drohen neoliberal abzudriften, wenn nicht gleichzeitig die Frage der ungleichen Verteilung der Sorgearbeit, der sozialen und der rechtlichen Ungleichheit angegangen wird.

Fußnoten

[1] Elterngeld bekommen Mütter und Väter, wenn sie nach der Geburt des Kindes nicht oder nur noch wenig arbeiten wollen. Die staatliche Unterstützung beträgt 300 Euro bis 1.800 Euro im Monat, abhängig vom Netto-Verdienst, das der zu Hause bleibende Elternteil vor der Geburt des Kindes hatte.

[2] Das Elterngeld wird maximal 14 Monate lang gezahlt, wenn sich beide an der Betreuung beteiligen. Jedes Elternteil muss dafür mindestens zwei Monate zu Hause bleiben.

[3] In zweifacher Hinsicht ist der vielfach genutzte Ausdruck „Doppelverdiener-Familie“ irreführend: erstens, weil er auf das Ideal der Familie mit dem Mann als Ernährer Bezug nimmt und zweitens, weil er suggeriert, ein Haushalt hätte nun das Doppelte des zum Leben benötigten Einkommens.

[4] „Zwölf Monate Elterngeldanspruch pro Elternteil (bzw. 24 Monate für Alleinerziehende), der individuell und nicht übertragbar ist.“(Sozialstaatsprogramm DIE LINKEN)

[5] Familienarbeitszeit-Modell: nach dem Elterngeldbezug soll es drei Jahre lang eine Subvention geben, wenn beide Eltern ihre Arbeitszeiten angleichen (bei Alleinerziehenden sind partnerunabhängig 80 Prozent die Richtschnur).  

Literatur

Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution, Bielefeld

Sabine Skubsch lebt in Karlsruhe und ist Diplompädagogin und Lehrerin. Sie ist Betriebsrätin bei einem freien sozialen Träger und aktiv im Landesvorstand der LINKEN in Baden Württemberg. Außerdem ist sie Mitglied in der Frauenredaktion von Das Argument und in der Redaktion der Zeitschrift LuXemburg.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wie-geht-sozialstaat-feministisch

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

#Krise #Feminismus #Hausarbeiterinnen #Migration #Alternativen #Pflege

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Feministischen Bewegungen ist es über viele Jahrzehnte hinweg gelungen, die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit gesellschaftlich zum Thema zu machen. Spätestens mit der Coronakrise ist diese Frage auch im medialen Mainstream angelangt. Wie eine solche Umverteilung von Care-Arbeit zu erreichen wäre, dazu werden in linken Debatten unterschiedliche Ansätze diskutiert – vom bedingungslosen Grundeinkommen über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Arbeitszeitverkürzung, sozial- und familienpolitische Maßnahmen oder einen Ausbau sozialer Infrastrukturen. Was ist aus feministischer Sicht zentral? Und was muss verändert werden, damit Sorgearbeit genauso wertgeschätzt wird, wie die Güterproduktion und der Erwerbsarbeit nicht länger nachgeordnet wird?

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

  • #Krise
  • #Feminismus
  • #Hausarbeiterinnen
  • #Migration
  • #Alternativen
  • #Pflege

Reichtum des Öffentlichen

Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht

August 2020

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

Rekommunalisierung, Krise, Wohnen, Krankenhaus, Mobilität, Migration, Pflege, Feminismus, Alternativen, Selbstverwaltung, Organisierung#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen beinharte Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor. Die Unternehmen versuchen, ihre Verluste zu sozialisieren. Nach den öffentlichen Schulden drohen eine Neuauflage von Austeritätspolitiken ebenso wie neue Angriffe der Arbeitgeberseite.

Die Verteidigung des Sozialstaats geht also in eine neue Runde. Doch sie sollte nicht als Abwehrkampf geführt werden, als ein Versuch, das Bedrohte zu konservieren. Stattdessen ist es Zeit, den Sozialstaat gründlich zu erneuern und seine alten Fehler zu beheben. Doch wie sieht ein Sozialstaat aus, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist? Wie lässt sich verhindern, dass sich die Spaltung der Subalternen weiter vertieft? In Krisen drohen die Kapitalfraktionen ihre Spielräume auf Kosten der Lohnabhängigen zu erweitern. Wie kann eine Alternative dazu aussehen? Und wo wird jetzt schon dafür gekämpft?

Krise an zwei Fronten

Bisher war die Finanzierung des Sozialstaates an wirtschaftliches Wachstum gebunden. In einem hart erkämpften historischen Klassenkompromiss wurden Sozialleistungen auf der Grundlage stetigen Wachstums finanziert und schrittweise ausgebaut. Dies war ein Kompromiss, der lange nicht zulasten der Profite ging. Als die Profitrate zu fallen begann, wurde er mit der neoliberalen Offensive seit Beginn der 1980er Jahre einseitig aufgekündigt. Der Sozialstaat geriet mehr und mehr unter Druck. Angesichts von Globalisierung und Transnationalisierung galt ein starker Sozialstaat als Negativfaktor im internationalen Wettbewerb (auch wenn inzwischen im Sinne des „social investment state“ eine produktivistische Neuorientierung erfolgt ist; vgl. Dowling 2016). Die Begründung: Unter dem Kostendruck der Konkurrenz könnten eben nicht alle Wohltaten finanziert werden. Nach und nach wurden die Systeme sozialer Sicherung ausgehebelt und neoliberal umgebaut. Mit dem sogenannten New Public Management gerieten betriebswirtschaftliche Kriterien zum Maßstab des Handelns auf sämtlichen Feldern des Sozialsystems (vgl. Wohlfahrt 2015).

Seitdem kriselt der Sozialstaat an zwei Fronten: Einerseits haben Jahrzehnte der neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik den Bereich sozialer Infrastrukturen und öffentlicher Dienste finanziell und personell ausgezehrt – vom Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Bereich über die Wohnraumversorgung bis hin zu Kultur und Mobilität. Es fehlt an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, aber auch an Verwaltungspersonal, Steuerprüfer*innen oder Planer*innen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beziffert die Lücke schon jetzt auf über eine Millionen Arbeitskräfte und bei weiter dynamisch wachsendem Bedarf auf bis zu vier Millionen (Ötsch u.a. 2020).

Andererseits führte die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu einem längst überwunden geglaubten Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut.[1] Die Ursachen sind vielfältig und hängen doch zusammen: Deregulierung der Arbeitsmärkte und endemische Ausbreitung von Niedriglöhnen und unfreiwilliger Teilzeit, Privatisierung und Ausdünnung der sozialen Infrastrukturen, steigende Mieten sowie eine ungerechte Besteuerungspolitik, die hohe Einkommen sowie große Vermögen begünstigt. In der Folge sehen sich Millionen Menschen mit unsicheren Zukunftsaussichten konfrontiert: Aufgrund von Arbeitslosigkeit, aufgrund von Soloselbständigkeit oder Mini- und Midi-Jobs erwerben immer weniger Menschen ausreichende Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen – unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen. Aber selbst dann, wenn Ansprüche bestehen, reicht das Leistungsniveau oftmals nicht länger für ein Leben ohne Armut. Mit Niedriglöhnen oder erzwungener Teilzeit lässt sich keine vernünftige Rente erwirtschaften oder gar privat vorsorgen. Für große Teile der Bevölkerung bieten die bestehenden Sicherungssysteme keine Perspektive mehr – das Sicherungsversprechen des Sozialstaates verliert an Glaubwürdigkeit und muss grundlegend erneuert werden.

Kein Zurück zum „alten“ Sozialstaat

Wer den Sozialstaat erhalten will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sich seine Gestalt wandeln muss. Um für die neu zusammengesetzte Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts attraktiv zu sein, muss das Konzept von Sozialstaatlichkeit erweitert und verändert werden. Dazu gilt es, linke Kritiken an seiner bisherigen Verfasstheit aufzunehmen.

Der Sozialstaat war immer gekoppelt an spezifische Produktions- und Lebensweisen, an ein bestimmtes Geschlechterregime und an das damit verbundene Modell von Erwerbsarbeit und Reproduktion. Feminist*innen haben die Norm des männlichen Alleinverdieners im fordistischen Wohlfahrtsstaat kritisiert. Soziale Absicherung ist darin an (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit und an eine weitgehend lückenlose Erwerbsbiografie gebunden. Gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, die historisch an Frauen delegiert und in den Verantwortungsbereich der privaten Haushalte verlagert wurde, erfährt weder Anerkennung noch soziale Absicherung. Damit ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit systematisch in das fordistische Wohlfahrtssystem eingeschrieben. Es verstärkt zudem mit seinem patriarchalen Familienmodell die Abhängigkeit von Frauen und benachteiligt queere Menschen. Obgleich sich die Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse inzwischen deutlich gewandelt haben, bleiben die Verkopplung von sozialer Absicherung und Erwerbstätigkeit sowie die Privilegierung eines heteronormativen Ehe- und Familienmodells bestehen. Deswegen: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Erneuerung des Sozialstaates.

Die meisten Leistungen des Sozialstaates sind außerdem an nationale Zugehörigkeit gebunden. Es profitieren von ihnen nur diejenigen, die über eine bestimmte Staatsbürgerschaft verfügen oder über die offizielle Lohnarbeit sozialversichert sind. Geflüchtete, Personen im Asylverfahren und insbesondere Illegalisierte haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, obwohl Letztere in Sektoren wie Hausarbeit, Pflege, Bau, Landwirtschaft, Sexarbeit, Hotellerie, Gastgewerbe oder Reinigungsgewerbe einen elementaren Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung leisten (vgl. Behr 2010). Über das Aufenthaltsrecht wird migrantische Arbeit abgewertet, viele sind gezwungen, besonders schlechte Löhne und unsichere Bedingungen zu akzeptieren, was sich nicht nur in geminderten Leistungsansprüchen niederschlägt, sondern außerdem eine gesellschaftliche Aufwertung der genannten Arbeiten (Hausarbeit, Pflege etc.) erschwert. Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse werden dadurch verschärft.

Aber auch auf Migrant*innen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wirkt sich der bestehende Sozialstaat diskriminierend aus. Sie leiden besonders häufig unter unterbrochenen Erwerbsbiografien und Phasen informeller, schlechter bezahlter oder generell prekärer Beschäftigung, was geringere Anwartschaften zur Folge hat. Nicht erst angesichts wachsender Migrationsbewegungen muss diese Selektivität des Sozialstaats in Bezug auf die nationale Herkunft überwunden werden. Es bedarf hier einer grundlegenden Erneuerung, um ihn für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Eine große Aufgabe.

Die linke Kritik am fordistischen Sozialstaat hat schließlich deutlich gemacht, dass er – trotz seiner zweifellos positiven Funktion der Absicherung und Umverteilung – auch paternalistische Züge trägt und zur Passivität anhält. Das bürokratische, starre und auf Kontrolle orientierte Hilfesystem ist nicht nur an bestimmte Erwerbsmodelle und Lebensformen gebunden, sondern wirkt an vielen Stellen entmündigend. Der Ausschluss vieler Leistungsempfänger*innen von gesellschaftlicher Teilhabe wird so – trotz sozialer Abfederung – letztlich fortgeschrieben.

Zwar sind etliche, von Luc Boltanksi und Ève Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnete Einwände der neuen Linken später vonseiten neoliberaler Gegner*innen des Sozialstaats aufgenommen und entsprechend enteignet worden. Dennoch steckt hier ein für linke Zukunftsentwürfe unhintergehbarer Impuls: Ein Zurück zu den korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats des 20. Jahrhunderts ist keine Alternative, nicht nur wegen gewandelter Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse, sondern auch wegen seines ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Mit einer Erneuerung sozialer Sicherungssysteme ist darum auch die Aufgabe ihrer grundlegenden Demokratisierung verbunden.

Wo die Herausforderungen liegen

Die sozialen Sicherungssysteme stehen vor mehreren neuen Herausforderungen, die mit alten Konzepten nicht gelöst werden können.Sozial "abgehängte" Räume: Die Folgen der Erosion des Sozialstaates zeigen sich besonders prägnant auf der sozialräumlichen Ebene. Soziale Ungleichheit verschärft sich und dokumentiert sich zunehmend in Postleitzahlen, teils entstehen „abgehängte" Räume mit extrem lückenhafter Infrastruktur in benachteiligten Vierteln der Städte und in peripheren Zonen jenseits der Städte. Das trifft am stärksten marginalisierte Gruppen und erzeugt Konkurrenz um bereits knappe Ressourcen. Rechte Sicherheits- und Ordnungsdiskurse, die die Bedrohung einer vermeintlich homogenen Lebensweise der Einheimischen heraufbeschwören, können hieran anschließen. Da ein Großteil der Sozialleistungen von den Kommunen erbracht wird, wachsen zudem die sozialräumlichen Disparitäten zwischen Städten und Regionen.

Krise der Reproduktion: Das fordistische Geschlechter-, Reproduktions- und Familienmodell hat sich stark verändert – ohne dass jedoch Geschlechteregalität oder soziale Rechte für alle erreicht wurden. Heute dominiert nicht länger das Alleinernährer-, sondern das sogenannten Adult-Worker-Modell. Der Zwang, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, trifft nun alle gleichermaßen und verändert auch das Sorgeregime. Zwar werden immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die früher fast ausschließlich privat und unentgeltlich geleistet wurden, heute auch als Erwerbsarbeit erbracht – dies gilt etwa für Pflege und Erziehungsarbeit. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge werden die öffentlichen Angebote jedoch massiv ausgedünnt, was Überlastung, Stress und Erschöpfung zur Folge hat. Care-Arbeit ist auch als Lohnarbeit immer noch mehrheitlich eine Domäne von Frauen und Migrant*innen und wird somit deutlich schlechter bezahlt als andere Tätigkeiten. Ohne Geschlechtergerechtigkeit und ohne ein Ende der Abwertung von migrantischer Arbeit kann es also keine Erneuerung des Sozialstaates geben.

Die Zunahme bezahlter Sorgearbeit und ihre zunehmend privatwirtschaftliche Organisierung wirft auch die Frage neu auf, wo die Grenzen einer kapitalistischen Inwertsetzung von Fürsorge liegen. Ausgehend hiervon ist auch zu klären, ob nicht wichtige gesellschaftliche Aufgaben dem Markt gänzlich entzogen werden müssen, ob und inwieweit also eine Vergesellschaftung oder auch Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge notwendig ist.

Migration: Mit der Zunahme weltweiter Migration stellt sich die alte Frage nach dem Zugang zu bis dato vor allem nationalstaatlich organisierten Sicherungssystemen neu. Die Gesellschaften des Nordens sind noch stärker als bisher zu Einwanderungsgesellschaften geworden. Eine Abschottung gelingt nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche wie dem Anspruch nach Solidarität und Antirassismus. Ein in erster Linie als Versicherungssystem konzipierter Sozialstaat setzt allerdings jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anwartschaften voraus, die mit einer gestiegenen Bewegungsfreiheit und globaler Migration kaum kompatibel sind. Der Ausschluss vieler migrantischer Arbeitskräfte von sozialen Sicherungsleistungen ermöglicht die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sozialstaatliche Rechte müssen deswegen neu gedacht und von einem restriktiv regulierten Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht sukzessive gelöst werden.

Globale Ungleichheit: Das Einkommensgefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern hat zwar über die letzten Jahrzehnte abgenommen. Dies liegt aber vor allem am Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren wie China oder Südkorea oder von sogenannten Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Indien. Andere Länder sind im Prozess neoliberaler Globalisierung weiter zurückgefallen. Krieg und Zerstörung, Ressourcenausbeutung, unfaire Handelsabkommen, ungerechte weltwirtschaftliche Beziehungen und eine Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung in globalen Produktionsketten zerstören die Lebensperspektiven von Millionen. Die dadurch verursachte Ausbeutungsdynamik zwischen Nord und Süd wirft die Frage nach der Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen in den reichen Ländern mit besonderer Schärfe auf. Gleichzeitig hat die Schere zwischen Arm und Reich auch in den wohlhabenderen Gesellschaften ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung selbst. Die wachsende Ungleich unterminiert damit die Fundamente des sozialen Gewebes.

Klimakrise: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme klassenspezifischer Ungleichheiten und einem drastisch steigenden CO2-Ausstoß. Der Anteil, den die Reichen an den weltweiten Emissionen haben, wächst überproportional stark, während der Anteil der Ärmsten rückläufig ist. Dieses Missverhältnis gilt generell auch für die einzelnen Gesellschaften (Kleinhückelkotten u.a. 2016). Mehr Gleichheit ist also nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen notwendig.Die Folgen kapitalistischen Wachstums haben zu einer planetarischen ökologischen Krise geführt, die weitere soziale Verwerfungen sowie eine Zuspitzung der Reproduktionskrise und zunehmende Migrationsbewegungen nach sich zieht und immer mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Damit sind diese Entwicklungen zu nicht mehr hintergehbaren Herausforderungen auch für unser Verständnis von Sozialstaat geworden. Zugleich wird deutlich: „Der Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet“ (Urban). Wenn solidarische Formen der Krisenbearbeitung nicht durchgesetzt werden können und es nicht zu einer Umverteilung von Ressourcen sowie zu einer Verallgemeinerung sozialer Rechte kommt, sind eine Zunahme von Verteilungskonflikten und eine Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse absehbar.

Damit geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Sie betrifft die kommunale, nationale und transnationale Ebene. Doch um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss der Sozialstaat auch finanziert werden. Angesichts der ökologischen Krise kann dabei nicht umstandslos an die Tradition des sozialstaatlichen Kompromisses auf Basis von noch mehr Wachstum angeknüpft werden. Einerseits müssen Unternehmen und Vermögende deutlich stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Andererseits muss das Verhältnis von Steuern und Beiträgen neu austariert werden, um die Abhängigkeit einer sozialen Absicherung von der Erwerbsarbeit zu überwinden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden.

Soziale Infrastrukturen: kostenfrei und demokratisch

Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können. Das zeigt sich auch in den Diskussionen um die Zukunft sozialer Absicherung und die Perspektiven des Sozialstaats im 21. Jahrhundert. Was also wären positive Entwürfe, die die Anliegen der vielfältigen Bewegungen des Protests bündeln könnten? Von den zunehmenden Arbeitskämpfen insbesondere im Bereich Pflege und Erziehung über die Mietenproteste, die Anti-Privatisierungs-Bündnisse bis hin zu den neuen antirassistischen Protesten und der Klimabewegung: Wie könnten gemeinsame Forderungen aussehen, die die unterschiedlichen Anliegen einer pluralen Linken und verschiedenen Teilen der Subalternen aufnehmen und sinnvoll miteinander verbinden?Seit einigen Jahren dreht sich die Debatte – angestoßen von einem Diskussionszusammenhang rund um Joachim Hirsch (2003) und das Frankfurter links-netz (2012) – verstärkt um die Bedeutung sozialer Infrastrukturen als Teil einer postneoliberalen Sozialpolitik. Der Ansatz stellt die sozialen Dienstleistungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Transformation. Nach vielen Jahren neoliberaler Politiken ist hier zum einen der Mangel besonders offensichtlich, zum anderen ist dies der einzige Sektor, der in den Industrieländern ein beträchtliches (klima- und ressourcenneutrales) Beschäftigungspotenzial verspricht.

Statt also Sozialleistungen wie bisher nur über einen Mix aus Versicherungsmodellen und steuerfinanzierten Ansprüchen jeweils individuell abzusichern, besteht die Idee, „soziale Infrastrukturen“ zum Kern eines neuen Sozialstaats zu machen darin, soziale Dienstleistungen konsequent auszubauen und für alle frei – also auch entgeltfrei – zugänglich zu machen. Das betrifft die Gesundheitsversorgung genauso wie den Bereich der (Weiter-)Bildung, der Erziehung und Betreuung, das Recht auf bezahlbares Wohnen und auf Mobilität genauso wie den Zugang zu Energie, Trinkwasser oder zum Internet. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt also – anders als etwa bei einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht primär auf der monetären Absicherung des individuellen Konsums, sondern auf dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, also auf dem kollektiven Konsum.[2]

Alles entgeltfrei? Ja und nein. Vorstellbar wäre beispielsweise, auf allen genannten Feldern eine entgeltfreie Grundversorgung zu ermöglichen und für die Befriedigung darüber hinaus gehender individueller Bedürfnisse, Vorlieben oder Leidenschaften die Menschen ganz oder teilweise bezahlen zu lassen. Für den Bereich der Energieversorgung, die ein modernes menschliches Grundbedürfnis darstellt, würde das Folgendes bedeuten: Die Grundversorgung ist im Rahmen sozialer Infrastrukturen abgedeckt. Wer mehr Energie verbraucht, zahlt dafür, und Vielverbraucher zahlen deutlich mehr, der Preis steigt also progressiv an. Dieses Prinzip ist auf unterschiedliche Bereiche anwendbar (vgl. Schachtschneider/Candeias 2013): Zur Kasse gebeten wird, wer viel verbraucht. Das hieße ein entgeltfreies Pro-Kopf-Trinkwasserkontingent, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen und Luxusautos; entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, die Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle gebührenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, (dauerhaftem) sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums, Vergesellschaftung großen Immobilienbesitzes und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.

Ein solches Konzept wäre nicht nur ein Beitrag zum Abbau von sozialen Ungleichheiten, sondern auch ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise. Investitionen in soziale Dienstleistungen sind ökologisch sinnvoll, da die Arbeit mit Menschen kaum Umweltzerstörung mit sich bringt und deren Ausweitung neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet auch als Ausgleich für die Jobs, die in den rückzubauenden Bereichen klimaschädlicher Industrien verloren gehen werden. Dieser Ansatz hilft nicht nur bei der Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit, sondern auch bei der der (unbezahlten) Reproduktion. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen wird professionelle Care-Arbeit aufgewertet und erhält zusätzliche Ressourcen. Zugleich lässt der Erwerbsdruck nach, da die Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse garantiert ist. Damit steht mehr Zeit für Sorge und Selbstsorge sowie für die Arbeit am Gemeinwesen und politisches Engagement bereit. Nicht zuletzt bietet sich hier auch eine Chance, die für die emanzipative Gestaltung von Geschlechterverhältnissen genutzt werden kann: Der Blick wird stärker auf die reproduktiven Funktionen und Tätigkeiten gerichtet: Was erhält und sichert unser gemeinsames Leben? Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die stärkere Entkopplung der sozialen Teilhabe vom Erwerbsstatus und von der Lebens- oder Familienform – also individuelle Ansprüche für jede und jeden, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft.

Der Ausbau sozialer Infrastrukturen stärkt auch eine solidarische und demokratische Gesellschaft, denn Angst und Unsicherheit vor den notwendigen gesellschaftlichen Umbrüchen werden gemindert. Zugleich erscheinen die diskriminierenden Sozialstaatskonzepte der Rechten weniger attraktiv, wenn Marginalisierung, Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit bekämpft werden. Das Konzept sozialer Infrastrukturen erlaubt es also nicht nur, linke Sozialpolitik jenseits des fordistischen Wohlfahrtstaates neu zu denken. Die Forderung nach einer entgeltfreien, sozialökologischen Grundversorgung für alle, die hier leben (unabhängig von Pass, Geschlecht, Postleitzahl oder sonstigem Status), kann als verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe und eines gesellschaftlichen linken, sozialökologischen solidarischen Pols in der Gesellschaft dienen.

Soziale Infrastrukturen zielen darauf, weite Teile der Daseinsvorsorge dem Markt (wieder) zu entziehen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das bedeutet konkret, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen. Mit der Rekommunalisierung beispielsweise von privatisierten Krankenhäusern, Altenheimen, Kindertagesstätten, Wohnraum oder privaten Mobilitätsdienstleistungen ist nicht zuletzt die Frage der Eigentumsform gestellt – wie insbesondere die Kampagnen gegen überhöhte Mieten zuletzt deutlich gemacht haben. Hier können Umverteilung und soziale Gerechtigkeit mit Forderungen nach Demokratisierung und Emanzipation verbunden werden. Denn jenseits der Eigentumsfrage gilt es, neue Formen der Beteiligung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Soziale Infrastrukturen in öffentlicher Hand bedeutet auch, diese umfassend zu demokratisieren, sie in die Hände der Produzent*innen und Nutzer*innen zu legen. An vielen Stellen wird bereits über Gesundheits- oder Care-Räte diskutiert. Auch regionale Mobilitäts- und Transformationsräte stehen auf der Tagesordnung. Wir könnten so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen und erste Schritt in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus gehen (vgl. Redaktion prager frühling 2009).

Ein strategischer Vorschlag zur richtigen Zeit

Wie lässt sich so ein Umbau öffentlicher Dienstleistungen durchsetzen? Fest steht, das Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn unterschiedliche Akteure darin ihre Interessen wiederfinden. Die Idee kostenfreier, demokratischer Infrastrukturen kann unserer Ansicht nach Spielräume für linke Politik eröffnen: Soziale Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, Spaltungen zu überwinden und solidarisch zu bearbeiten, weil sie egalitäre Zugänge für unterschiedliche Teile der Subalternen bieten. In funktionierenden sozialen Infrastrukturen kommt die Idee eines anderen kollektiven Wohlstands zum Ausdruck, die imstande ist, gemeinsame Interessen an einem öffentlichen Reichtum überhaupt erst zu artikulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. Candeias 2019, 6). Außerdem bietet sich die Chance, aus fruchtlosen, von Gegensätzen geprägten linken Debatten herauszukommen, und zwar hinsichtlich mehrerer Streitfragen:

Das bedingungslose Grundeinkommen: Von diesem Grundeinkommen erhoffen sich beispielsweise Erwerbslose, Soloselbstständige und prekär Beschäftigte mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten dagegen weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Die Idee „sozialer Infrastrukturen“, verbunden mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, kann hier neue Perspektiven aufzeigen und neue Bündnisse ermöglichen.

Die Wachstumsfrage: Auch an diesem Punkt steckt die linke Debatte fest: zwischen Positionen von Degrowth-Anhänger*innen und denen keynesianisch inspirierter Vertreter*innen qualitativen Wachstums. Dabei streitet niemand ab, dass bestimmte Bereiche schrumpfen müssen, etwa die mit hohem Stoffumsatz verbundene industrielle Produktion, und andere zunächst wachsen müssen, wie die gesamte Care-Ökonomie und eben die sozialen Infrastrukturen, bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Ein solches qualitatives Wachstum ist übergangsweise notwendig, nicht zuletzt aufgrund der Lücken in vielen Bereichen der Reproduktion. Auch alternative industrielle Produktion ist notwendig – dies gilt vor allem für Länder des globalen Südens, aber auch hier für ressourcen- und klimaschonende Innovationen. Ein simpler Gegensatz von Wachstums- versus Postwachstumspositionen ist daher kontraproduktiv. Es muss um ein Einschwenken auf einen mittelfristigen Kurs einer „Reproduktionsökonomie“ (Candeias 2011) gehen, in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr stofflich wachsen. Soziale Infrastrukturen stünden im Zentrum einer solchen Reproduktionsökonomie.

Sie wären damit auch die wichtigste Säule für eine neue öffentliche Ökonomie, ohne die eine sozialökologische Transformation kaum möglich sein wird. Es gibt nur wenig Ansätze, die einer öffentlichen Produktionsweise eine eigene ökonomische Qualität zugestehen. Ausnahmen sind zum Beispiel die Ansätze eines "Public Value" (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder einer "Sozialwirtschaft" (Müller 2005 u. 2010). Dafür notwendig wäre eine andere gesellschaftliche Buchführung, die vorhandene wie benötigte Ressourcen gebrauchs- und bedarfsorientiert ins Verhältnis setzt und die die Frage ins Zentrum stellt, zu welchem Zweck und wie wir diese Ressourcen eigentlich einsetzen wollen. Eine solche gesellschaftliche Buchführung könnte eine von kapitalistischen Werttransfers unabhängige Grundlage für eine öffentliche Produktionsweise bieten. Der Sozialstaat wäre dann nicht nur kompensatorisch für den Ausgleich sozialer Verwerfungen und als Stabilisator in Zeiten von Krise zu denken, sondern wäre selbst Element einer solchen öffentlichen Ökonomie. Er wäre die Grundlage einer anderen Form des Produzierens und Reproduzierens, die mit dem Begriff grüner Infrastruktursozialismus umschrieben werden kann.

Verbindende Klassenpolitik für den grünen Infrastruktursozialismus…

Für anstehende sozialökologische Transformationskonflikte ist eine ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur ein Sicherheitsversprechen, das notwendig gewordenen Veränderungen das Bedrohliche nimmt und eine positive Zukunft denkbar werden lässt. Viele Bewegungen und die LINKE haben sich in den letzten Jahren bereits am Konzept der sozialen Infrastrukturen orientiert und es zu einem verbindenden Projekt werden lassen. Hier treffen sich Fragen der Umverteilung mit denen nach Freiheitsrechten und Demokratie, Fragen der Klassenpolitik mit Fragen der Anerkennung und Ermöglichung von Diversität und verschiedenen Lebensweisen.

Auch von anderer Seite wird der Frage sozialer Infrastrukturen (endlich) neue Bedeutung zugemessen: Eine neue "Fundamentalökonomie", wie Wolfgang Streeck es im Anschluss an eine englische Autorengruppe nennt (Foundational Economy Collective 2019), ist ein Bezugspunkt auch für sozialdemokratische Intellektuelle (vgl. u.a. SPW 2019), für Gewerkschaften wie die IG Metall, ver.di, die Eisenbahn- & Verkehrsgewerkschaft oder die GEW, aber auch für Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch für die Umweltbewegung und -verbände.

Die Bedingungen für große progressive Entwürfe sind gerade nicht gut, es stehen beinharte Auseinandersetzungen um die immensen Kosten der Krise bevor. Zugleich hat die Corona-Krise viele vermeintlich feststehende Wahrheiten infrage gestellt und aufgezeigt, dass politische Reaktionsmuster ins Wanken geraten können. Innerhalb kürzester Zeit war es nicht nur möglich, im Sinne der Pandemieprävention die Wirtschafts- und Konsumkreisläufe ganzer Gesellschaften herunterzufahren und damit – zumindest vorübergehend – das Primat der Politik vor das der Ökonomie zu setzen. Es ist im Zuge der Krisenbekämpfung auch möglich geworden, große staatliche Finanzvolumina zur Stützung von Unternehmen, Erwerbstätigen und öffentlichen Infrastrukturen sowie zur Ankurbelung der Konjunktur zu mobilisieren und dafür die "schwarze Null" von heute auf morgen über Bord zu werfen. Auf der Ebene der europäischen Regierungen wurde zudem das Verbot der gemeinsamen Verschuldung geschliffen. Das alles bedeutet für den weiteren Fortgang der Krise noch gar nichts, wie erwähnt stehen beinharte Verteilungskämpfe bevor. Es zeigt aber doch, dass das bisher scheinbar so fest verankerte marktliberale TINA-Prinzip[3] in einer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung aufgeweicht wurde. Unter der Wucht der Pandemie gewannen nicht nur eine andere Finanz- und Schuldenpolitik, sondern allgemein eine vorausschauendere, staatliche Steuerung und Intervention an Attraktivität. An solchen Tabubrüchen gilt es anzusetzen. Es sind kleine erweiterte Spielräume für eine gesellschaftliche Linke, die es zu nutzen gilt, um neue, um andere Pfade denkbar zu machen und zu erkämpfen (vgl. IfG & Friends 2020).

…und wo sie heute schon stattfindet

Um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen wird von vielen Akteuren bereits konkret gekämpft. Am sichtbarsten ist dies momentan wohl im Gesundheitswesen der Fall. In der ab September anlaufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (ÖD) wird es um eine Aufwertung der Pflege gehen. Bund und Länder haben angekündigt, dass es angesichts der Krise nichts zu verteilen gibt. Trotz des größten Rettungspakets der Geschichte soll es für die „systemrelevanten“ Berufe also bei einer symbolischen Anerkennung bleiben. Für höhere Löhne in der Pflege, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Personalquoten wird schon seit Langem gestreikt und gekämpft. Die Forderung nach einer bedarfsorientierten Finanzierung und nach mehr Personal in diesem wichtigen Bereich des Gesundheitswesens könnte zu einem Kristallisationspunkt von Kämpfen sowohl von Beschäftigten als auch von Nutzer*innen sozialer Infrastrukturen werden. Im Sinne eines Infrastruktursozialismus geht es außerdem darum, diese wichtigen Funktionen in gesellschaftliche Verantwortung zurückzuholen – also um eine Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Ähnlich steht es um Bildung und Erziehung, auch hier wird im Rahmen der Tarifrunde ÖD für eine Aufwertung und für bessere Angebote gestritten. Und auch hier hat die Pandemie schonungslos offengelegt, wie schlecht dieser elementare Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausgestattet ist – und zwar sowohl was das qualifizierte Personal angeht als auch die physische und digitale Hardware. Um in den Bereichen Bildung, Erziehung und soziale Arbeit verlässliche soziale Infrastrukturen für alle durchzusetzen, bedarf es neben einer besseren tariflichen Entlohnung des Personals des Ausbaus von Kitaplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten. Zudem wird vonseiten der Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, der Partei DIE LINKE und anderen schon seit Längerem für die bundesweite Abschaffung von Kitagebühren gestritten. Mit diesen Maßnahmen könnte die in Deutschland besonders dramatisch ausgeprägte Bildungsungleichheit verringert und mehr Teilhabe und Demokratie möglich werden.

Parallel zur Tarifrunde im ÖD werden erstmals bundesweit die Tarife im öffentlichen Nahverkehr verhandelt. Neben einer Entlastung durch mehr Personal geht es um einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Angesichts der zugespitzten Klimakrise ist das Letztere ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Fridays for Future, ver.di, die LINKE und andere wollen diese Auseinandersetzungen als gemeinsames Projekt angehen. Konkrete Schritte, um „Mobilität für alle“ als soziale Infrastruktur zu entwickeln, gibt es in einigen Städten schon: Der Einstieg in einen generellen Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist ein kostenloses Jahresabo für Schüler*innen, Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, kombiniert mit der Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle anderen. Dies soll den notwendigen Umstieg vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel erleichtern. Damit der steigende Bedarf an öffentlichen Nah- und Fernverkehrsmitteln überhaupt gedeckt werden kann, muss das Schienennetz ausgebaut und muss eine alternative Produktion von Straßenbahnen, E-Bussen, Zügen, U-Bahnwaggons etc. angeschoben werden. Zumindest Teile davon könnten in öffentlichen Unternehmen realisiert werden und wären damit ein weiterer Baustein der oben skizzierten öffentlichen Ökonomie.

Im Bereich Wohnen & Miete ist die Auseinandersetzung schon weiter. Hier geht es um die Verteidigung eines gesetzlichen Mietendeckels, wie er bisher in Berlin beschlossen wurde, und darum, ihn auf andere Bundesländer auszuweiten. Auch hier wird konkret über Vergesellschaftung diskutiert. Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co hat dies zum Ziel. Um die Menge an bezahlbarem Wohnraum zu erhöhen, wird der Bau von Sozialwohnungen in großer Zahl über eine „neue Gemeinnützigkeit“ ins Auge gefasst. Auch die Gründung einer öffentlichen Bauhütte, also eines Verbunds von Gewerken in öffentlicher Hand, wäre nützlich, um sich von der Bauindustrie unabhängig zu machen.

Auch in feministischen Debatten und Kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit spielt der Ausbau sozialer Infrastrukturen seit Jahren eine wichtige Rolle. Die internationale Bewegung für einen feministischen Streik und Debatten um eine feministische Klassenpolitik stellen die Aufwertung und Entlastung entlohnter wie unbezahlter Sorgearbeit ins Zentrum. Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit zielt auf eine Ausweitung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen, genauso wie hierzulande das queer-feministische Netzwerk Care Revolution. Dort organisieren sich unentlohnt Sorgende zusammen mit professionellen Care-Arbeiter*innen und denjenigen, die als Patient*innen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Gute Arbeitsbedingungen und Ausstattung in Kitas, Ganztagsschulen, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz reduzieren die Überlastung insbesondere von Frauen und ermöglichen eine Aufwertung wie eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit (vgl. Fried/Schurian 2016).

Kämpfe um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren in der weltweiten Bewegung für solidarische Städte gebündelt (vgl. Christoph/Kron 2019). Städte und Kommunen werden hier als Terrain gesehen, um eine demokratische Teilhabe und den Zugang zu lebenswichtigen Leistungen und Infrastrukturen für Geflüchtete und Illegalisierte lokal zu ermöglichen. New York City hat als erste Stadt eine “City Card” eingeführt, eine Art kommunales Personaldokument, das den Zugang zu städtischen Leistungen wie Gesundheit und Bildung ermöglicht sowie den Besuch von Bibliotheken und Museen, aber auch die Eröffnung eines Bankkontos und Abschluss eines Mietvertrags. Darüber hinaus bietet die "City Card" Schutz vor racial profiling, Polizeigewalt und Abschiebung – sie wird von der lokalen Polizeibehörde anerkannt und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Papiere. Auch in Europa wird an vielen Orten über eine "City Card" diskutiert. Zürich und Bern gehen hier voran,[4] aber auch in Berlin denkt die LINKE über die Einführung eines solchen Ausweisdokumentes nach (vgl. Frank 2019).

In Sachen Finanzierung braucht es Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen. Absehbar ist bereits jetzt, dass die Argumente und Konzepte der Austerität spätestens nach der nächsten Bundestagswahl mit Wucht durchschlagen werden. Spätestens dann wird genauer darüber verhandelt werden, wie und von wem die zur Pandemiebekämpfung aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden sollen. Das alles findet unter anderem vor dem Hintergrund der weiterhin ungelösten Altschuldenproblematik der Kommunen in Höhe von derzeit geschätzt rund 45 Milliarden Euro statt.Die Kommunen aber sind die Orte, an denen die Menschen ganz maßgeblich ihre Alltagserfahrungen sammeln und ihre Leben gestalten. Weitere Einschränkungen in weiten Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge werden der Entdemokratisierung, dem Frust und der Akzeptanz destruktiver Konzepte der Rechten sowie weiteren Klassenspaltungen Vorschub leisten. Umgekehrt kann der Ausbau sozialer Infrastrukturen, wie beschrieben, nicht nur Ungleichheiten bekämpfen, sondern eben auch mehr Demokratie und Teilhabe (auch vormals in der Öffentlichkeit unterrepräsentierter Gruppen) ermöglichen.

Für all das braucht es starke Initiativen von unten, die für eine solche Perspektive weitere kampagnenfähige und öffentlichkeitswirksame Kristallisationspunkte identifizieren, an denen es sich lohnt, auf verschiedenen Ebenen (kommunal, national, europäisch etc.) gleichzeitig produktive Konflikte aufzumachen und voranzutreiben. Dafür müssen auch und vor allem diejenigen gewonnen werden, die unter den derzeitigen Mängeln der sozialen Infrastrukturen am stärksten leiden.

Es wird entscheidend sein, ob es bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr gelingen wird, einen sozialökologischen Block zu formen, der Aufwertung und Ausbau sozialer Infrastrukturen zum Fluchtpunkt eines gemeinsamen Projekts macht (das auch nach der Wahl noch Bestand hat). Denn nur mit massivem gesellschaftlichen Druck und einer Bündelung von Kräften lassen sich konsequente Schritte in diese Richtung durchsetzen – Schritte in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus.

Fußnoten

[1] Die soziale Ungleichheit fällt nach neuesten Zahlen noch drastischer aus, als bislang angenommen: Demnach besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland rund 35 Prozent statt, wie bislang angenommen, 22 Prozent des Nettovermögens, die oberen zehn Prozent 67,3 statt 58,9 Prozent (Bartels u.a. 2020).

[2] Dies bedeutet nicht, die Bedeutung und Errungenschaft des klassischen Sozialversicherungsmodells zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Eine demokratischere, solidarischere Gesellschaft muss auch das Sozialversicherungswesen in den Blick nehmen, ausbauen und universalisieren, um die individuellen Risiken und Brüche im Lebenslauf besser abzusichern. Das heißt unter anderem, dass Elemente einer Mindestsicherung (etwa eine Mindestrente, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, oder eine Kindergrundsicherung etc.) gegenüber leistungsbezogenen Anwartschaften verstärkt werden und die Versicherungspflichten ausgeweitet werden müssen. Denkbar wären hier eine umfassende Erwerbstätigenversicherung (unter Einbeziehung auch von Beamt*innen, Freiberufler*innen, Selbstständigen etc.) im Rentensystem sowie eine Bürgerversicherung aller im Gesundheitswesen und eine solidarische Pflegevollversicherung.

[3] TINA: There Is No Alternative.

[4] Vgl. www.zuericitycard.ch/ und https://wirallesindbern.ch/city-card/.

Literatur

AG links-netz, 2012: Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur, http://wp.links-netz.de/?p=23

Bartels, Charlotte/Göbler, Konstantin/Grabka, Markus/König, Johannes/Schröder, Carsten, 2020: MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, DIW-Wochenbericht 29/2020

Behr, Dieter A., 2010: Crossing Borders, in: Kulturrisse, März 2010

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

Candeias, Mario, 2004: Erziehung der Arbeitskräfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat, in: UTOPIE kreativ, Heft 165/166, 589–601

Ders., 2011: Konversion – Einstieg in eine öko-sozialistische Reproduktionsökonomie, in: ders., 2019: Was tun und wo anfangen? 11-Punkte-Plan für einen neuen Sozialismus, in: LuXemburg 3-2019, www.zeitschrift-luxemburg.de/was-tun-und-wo-anfangen

Christoph, Wenke/Kron, Stefanie (Hg.), 2019: Solidarische Städte in Europa. Urbane Politik zwischen Charity und Citizenship, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

Dowling, Emma, 2016: Soziale Wende des Kapitals?, in: LuXemburg-Online, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-wende-des-kapitals

Facundo, Alvaredo u.a. (Hg.), 2018: Die weltweite Ungleichheit. Der World Inequality Report 2018, München

Foundational Economy Collective, 2019: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M.

Frank, Marie, 2019: Eine Karte für alle Fälle. Die Berliner Linkspartei will mehr Teilhabe für Illegalisierte durch einen Ausweis, in: neues deutschland, 13.4.2019

Fried, Barbara/Hannah Schurian, 2016: Nicht im Gleichschritt, aber Hand in Hand. Verbindende Care-Politiken in Pflege und Gesundheit, in: LuXemburg 1/2016, https://www.zeitschrift-luxemburg.de/nicht-im-gleichschritt-aber-hand-in-hand-verbindende-care-politiken-in-pflege-und-gesundheit

Gehrig, Thomas, 2013: Soziale Infrastruktur statt Grundeinkommen, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-infrastruktur-statt-grundeinkommen

Hirsch, Joachim, 2003: Eine andere Gesellschaft ist nötig: Zum Konzept einer Sozialpolitik als soziale Infrastruktur, in: Linksnetz, http://wp.links-netz.de/?p=21

Institut für Gesellschaftsanalyse & Friend, 2020: Ein Gelegenheitsfenster für linke Politik? Wie weiter in und nach der Corona-Krise, www.zeitschrift-luxemburg.de/ein-gelegenheitsfenster-fuer-linke-politik-wie-weiter-in-und-nach-der-corona-krise

Kaelble, Hartmut, 2017: Mehr Reichtum, mehr Armut: soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M.

Kleinhückelkotten, Silke/Neitzke, Hans-Peter/Moser, Stephanie, 2016: Repräsentative Erhebung von Pro-Kopf-Verbräuchen natürlicher Ressourcen in Deutschland (nach Bevölkerungsgruppen), Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, Berlin, www.umweltbundesamt.de/publikationen/repraesentative-erhebung-von-pro-kopf-verbraeuchen

Mazzucato, Mariana/ Josh Ryan-Collins, 2019: Putting value creation back into ‘public value’: From market fixing to market shaping. UCL Institute for Innovation and Public Purpose, Working Paper Series, IIPP WP 2019-05, https://www.ucl.ac.uk/bartlett/public-purpose/wp2019-05

Müller, Horst, 2005: Sozialwirtschaft als Systemalternative, in: Ders. (Hg.): Das PRAXIS-Konzept im Zentrum gesellschaftskritischer Wissenschaft, Norderstedt, 254-289

Ders., 2010: Zur wert- und reproduktionstheoretischen Grundlegung und Transformation zu einer Ökonomie des Gemeinwesens, in: Ders. (Hg.): Von der Systemkritik zur gesellschaftlichen Transformation, Norderstedt,157-228

Ötsch, Rainald/Heintze, Cornelia/Troost, Axel, 2020: Die Beschäftigungslücke in der sozialen Infrastruktur, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_2-20_Beschaeftigungsluecke.pdf

Redaktion prager frühling, 2009: Ein Beitrag gegen die Krise. Plädoyer der Redaktion für Infrastruktursozialismus, in: prager frühling 4-2009, www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/302.ein-beitrag-gegen-die-krise.html

Schachtschneider, Ulrich/Candeias, Mario, 2013: Kontrovers: Ökologisches Grundeinkommen vs. soziale Infrastruktur und kollektiver Konsum, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/kontrovers-oekologisches-grundeinkommen-2/

SPW – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 2019: Von der Kapitallogik zur gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie, Heft 235, www.spw.de/xd/public/content/index.html?sid=heftarchiv&year=2019&bookletid=176

Streeck, Wolfgang, 2019: Vorwort, in: Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M., 7–32

Wohlfahrt, Norbert, 2015: Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen – Die Ökonomisierung sozialer Dienste, in: LuXemburg 1/2015, www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-geschaeft-mit-grundbeduerfnissen/

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.

Moritz Warnke ist Referent für Soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur dieser Zeitschrift. Er ist im Landesvorstand der Berliner LINKEN und vertritt den Landesverband in der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«.

Eva Völpel arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für Wirtschaftspolitik.

Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist im Netzwerk Care Revolution aktiv und arbeitet zu Fragen von Sorgearbeit und Feminismus.

Hannah Schurian ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg. Sie ist Redakteurin dieser Zeitschrift.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/reichtum-des-oeffentlichen

#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor, so dass weitere Einschränkungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu befürchten sind. Zeit, den Sozialstaat und seine Finanzierung gründlich zu erneuern, schreiben die Autor:innen. Dabei geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Der Artikel zeigt, vor welchen Herausforderungen die sozialen Sicherungssysteme stehen, wie ein Sozialstaat aussehen kann, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist und wo schon jetzt ganz konkret um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen gekämpft wird.

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

  • #Rekommunalisierung
  • #Krise
  • #Wohnen
  • #Krankenhaus
  • #Mobilität
  • #Migration
  • #Pflege
  • #Feminismus
  • #Alternativen
  • #Selbstverwaltung
  • #Organisierung
Datei öffnen ↓
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Warum wurden Pflegestellen reduziert? Wieso bringen Geburtsstationen Minus und Hüft-OPs ein Plus? Woher kommt der wirtschaftliche Druck in den Krankenhäusern, was wären bedarfsgerechte Alternativen? Antworten gibt die Broschüre vom Bündnis «Krankenhaus statt Fabrik». Das Bündnis wendet sich gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und besonders gegen das System der Fallpauschalen (DRG) in Krankenhäusern. Es will aufklären, um eine breite öffentliche Debatte über dieses bewusst installierte marktwirtschaftliche Steuerungsinstrument führen zu können.

  • #Krankenhaus
  • #Krise
  • #Alternativen
  • #Pflege
Datei öffnen ↓
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Der feministische Streik betrifft bezahlte wie unbezahlte Arbeiten von Frauen und Queers und stellt zur Debatte, inwiefern sie sich gegenseitig bedingen. Im feministischen Streik kommen so zwei Bereiche zusammen, die meist nur getrennt voneinander gedacht und getrennt voneinander organisiert werden. Feministisch Streiken birgt daher ein enormes Potenzial, aber auch Spannungen.

Welche Unterschiede bestehen in den Herangehensweisen, Logiken und Kulturen von Bewegungen und Gewerkschaften? Wie kann für die Aktivist*innen erfolgreiche Bündnisarbeit aussehen?

Ein Streik am Universitätskrankenhaus Jena hat es vorgemacht, Interviews mit den beteiligten Akteur*innen zeichnen es nach.

  • #Krankenhaus
  • #Gewerkschaft
  • #Feminismus
  • #Organisierung
  • #Pflege

Personalnot im Krankenhaus

Warum gegen die jahrzehntelange Misere nur eine neue Personalbemessung hilft

März 2020 • Volker Gernhardt

Bild: Jodie Covington / Unsplash

Bild: Jodie Covington / Unsplash

Krankenhaus, Pflege, Krise, Alternativen#Krankenhaus #Pflege #Krise #Alternativen

Der aktuelle extreme Mangel an Pflegekräften, die resultierenden Bettensperrungen und die immer wieder regional aufflammenden Streiks von Pflegekräften mit dem Ziel bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen, sind nichts Neues in der gesundheitspolitischen Landschaft Deutschlands. Bessere Arbeitsbedingungen sind eng verknüpft mit festen, nachvollziehbaren Stellenschlüsseln für die stationäre Pflege. Diese wurden bereits 1993 einmal erfolgreich mit Inkrafttreten der PPR (PflegePersonalRegelung) durchgesetzt, nach kurzer Zeit aus finanziellen Gründen ausgesetzt und werden heute in einer überarbeiteten, aktualisierten Fassung als PPR 2.0 angestrebt.Wie dringend erforderlich eine ordentliche, nachvollziehbare Personalbemessung im pflegerischen Bereich der stationären Gesundheitsversorgung ist, erfahren wir derzeit unter den zugespitzten Bedingungen einer sich rapide ausbreitenden Virenerkrankung mit Sars-CoV/2 (Coronavirus). Das deutsche Gesundheitswesen wird seitens der politisch Verantwortlichen als besonders gut dargestellt, auch in Bezug auf die Bewältigung einer Pandemie. Denn man sei in der Lage, auch relativ kurzfristig zusätzliche Intensivbetten aufzustellen. Aber wo soll das Personal herkommen, um diese Betten zu betreiben? Schon ohne Ankündigung zusätzlicher Intensivbetten können die vorhandenen Betten wegen des Mangels an Personal nicht zur Gänze betrieben werden. Entsprechende Meldungen kamen nahezu täglich in den letzten Monaten in der Presse. Um in der jetzigen Situation allein 50 weitere Intensivbetten zu betreiben, sind grob geschätzt mindestens 150 Krankenpflegekräfte (Vollkräfte) zusätzlich nötig, von denen mindestens ein gutes Drittel die Intensivzusatzausbildung absolviert haben sollte. Nimmt man den Gesundheitsminister Spahn beim Wort, so soll die Zahl der Intensivbetten in Deutschland verdoppelt werden. Derzeit werden rund 28.000 Intensivbetten betrieben. Eine Verdoppelung der Betten hieße auch, dass etwa das Vierfache an qualifiziertem Personal gebraucht würde, um diese Betten betreiben zu können. Wo aber sollen über 100.000 zusätzliche Krankenpflegekräfte herkommen? Hier wird deutlich, dass zusätzliche Intensivbetten im erforderlichen Ausmaß nicht zur Verfügung stehen und es zeigt im Weiteren die verfehlte Personalpolitik der vergangenen Jahre auf. Bedauerlicherweise ist diese Situation in der Bundesrepublik nichts Neues. Der Titel des SPIEGEL vom 21.11.1988 („Im Krankenhaus droht Lebensgefahr“) zeigt auf, dass wir bundesweit bereits mindestens einmal einen extremen Pflegenotstand zu beklagen hatten. Ganze Stationen konnten damals nicht mit Patient*innen belegt werden und OPs wurden geschlossen, da nicht ausreichend Pflegekräfte zur Verfügung standen. Die Proteste der Pflegekräfte wurden unüberhörbar und gipfelten in einer Protestversammlung in der Dortmunder Westfalenhalle am 28.Februar 1989, an der 20.000 Krankenpflegekräfte teilnahmen, begleitet von zahllosen regionalen Protestversammlungen im gesamten Bundesgebiet. Ursache war die Mitte der 80er Jahre verstärkt einsetzende Ökonomisierung des Gesundheitswesens durch Privatisierungen, Schließung ganzer Krankenhausstandorte, Ausgliederung von Dienstleistungen (Reinigung, Wäschereien, Essensversorgung usw.) und einem verstärkten Stellenabbau in der stationären Gesundheitsversorgung. Die damit einhergehende Arbeitsverdichtung insbesondere im Bereich der pflegerischen Versorgung führte im Zusammenspiel mit der traditionell schlechten Bezahlung von Pflegekräften zu einem extrem unattraktiven Berufsbild. Diese damals bereits absehbare Entwicklung wurde von der Politik bis zum sichtbaren Kollaps der Gesundheitsversorgung stoisch ignoriert. Erst der offensichtlich desolate Zustand in den Krankenhäusern und die heftigen Proteste von Krankenpflegekräften führte dann im Sommer 1990 zur Einsetzung einer Expert*innengruppe durch die Bundesregierung, mit dem Auftrag eine PflegePersonalVerordnung zu erarbeiten. Im Ergebnis entstand die sogenannte PPR (PflegePersonalRegelung) und wurde verbindlich am 1.1.1993 wirksam. Die Vorgaben der PPR sollten in mehreren Teilschritten bis 1996 erfüllt werden.

Mit Bedarfsmessung gegen die Personalnot? Der verlorene Kampf von unten

Inhaltlich betrachtet ist die PPR eine analytisch begründete Personalbedarfsbemessung. Der grundlegende Gedankengang war, alle pflegerischen Tätigkeiten, die erforderlich sind, um den gesundheitlichen Zustand von Patient*innen zu erhalten bzw. zu verbessern, zeitlich zu erfassen und mit empirisch ermittelten, durchschnittlichen Minutenwerten zu hinterlegen und damit den Pflegeaufwand in Minuten pro Tag festzulegen. Zählt man also die Bedarfe (in Minuten) an Pflege eines Tages von allen Patient*innen zusammen, so weiß man sehr genau, wieviel Minuten aufgewendet werden müssen, um den Pflegebedarf einer Station abzudecken. Da diese Ermittlung jeden Tag stattfinden sollte, kann man leicht den Bedarf für das gesamte zurückliegende Jahr errechnen und damit den Personalbedarf für das kommende Jahr prognostizieren. Dasselbe gilt für den Bezug auf eine Abteilung oder ein ganzes Krankenhaus. Eine Einschränkung liegt nur darin begründet, dass die PPR nur für somatische Stationen und erwachsene Patient*innen eingesetzt werden kann. Für Kinder und Neugeborene gab es eine weitere, spezielle PPR, für die psychiatrischen Abteilungen galt die PsychPV und die Intensivstationen wurden gesondert behandelt. Ab 1993 wurden dann jährlich neue Pflegestellen auf den Stationen geschaffen und besetzt. Ohne jeden Zweifel war die Einführung der PPR ein Erfolg für die Belange der Beschäftigten in der Pflege. Die Arbeitsbedingungen verbesserten sich durch einen Zuwachs an Pflegepersonal. Die öffentliche Debatte führte zu neuen Impulsen über das Berufsbild von Pflegekräften. Es wurde über ganzheitliche Pflege, Zimmerpflege und begleitende Pflege diskutiert und die sogenannte Funktionspflege wurde als überholt betrachtet. Funktionspflege ist das typische Ergebnis eines Mangels an Pflegekräften. Sie bedeutet, dass die Pflegekräfte einer Schichtbesetzung so eingeteilt werden, dass jeweils eine Pflegekraft eine bestimmte Tätigkeit z.B. das „Bettenmachen“ hintereinander bei allen Patient*innen durchführt. Eine andere Pflegekraft ist dann für eine andere pflegerische Tätigkeit, z.B. „Blutentnahme“ zuständig. Auf diese Weise geht der Kontakt, die Nähe und die Kommunikation zu den Patient*innen verloren, sie werden nicht mehr als Ganzheit erfasst, sondern eher als „Werkstück“ im Rahmen einer Fließbandtätigkeit. Diese Zergliederung pflegerischer Tätigkeiten konnte durch die Vermehrung der Pflegekräfte bei gleichzeitiger Diskussion über die Pflegeinhalte aufgehoben werden. Das Berufsbild Pflege gewann also deutlich an Attraktivität. Allerdings hielt dies nicht lange an. Denn schnell stellte sich heraus, dass die vollständige Erfüllung der Vorgaben durch die PPR erhebliche finanzielle Auswirkungen haben würde. Auf Drängen der Krankenkassen wurde die PPR bereits zum 1.1.1995 ausgesetzt. Damit hatten sich die Krankenkassen durchgesetzt. Hintergrund war eine gesellschaftliche Debatte über die Beitragssatzstabilität. Hier konnte sich die Arbeitgeber*innenseite gegenüber den von unten erkämpften Forderungen nach dauerhaften, nachvollziehbaren Personalzuordnungen durch die PPR durchsetzen. Den finanziellen Mehraufwand wollten weder die Kassen noch die Arbeitgeber*innen tragen. Die von den pflegerischen Basisaktiven mit zahlreichen Protesten und vielen Streiks erkämpften Fortschritte in den Arbeitsbedingungen auf den Stationen wurden nicht einfach nur eingeschränkt. Im Gegenteil, kaum waren die schlimmsten Auswirkungen des zurückliegenden Pflegenotstandes durch Einführung der PPR beseitigt und die Verhältnisse auf den Stationen „normalisiert“, leiteten Krankenkassen und Arbeitgeber*innen eine erneute Sparwelle im deutschen Gesundheitswesen ein. Bis 2008 wurden 50.000 Vollzeitstellen in der Pflege gestrichen. Weitere Privatisierungen und Ausgliederungen wurden von einem erheblichen Bettenabbau begleitet. Da die Zahl der Fälle sich nicht an dem Abbau der Betten orientierte, wurden die Verweildauern der Patient*innen erheblich reduziert. Die Arbeitsverdichtung auf den Stationen erreichte den Stand vor Einführung der PPR und dieses Mal kannten die Krankenhausträger ganz genau das Ausmaß des pflegerischen Notstandes und kalkulierten sogar damit. Da sich die PPR als ein Instrument erwiesen hatte, um den Personalbedarf messbar zu machen, wurde sie intern von nahezu allen Krankenhäusern als Instrument der Personaleinsatzplanung weiter genutzt und dies von vielen Krankenhäusern bis in die Gegenwart. Weil jedoch eine gesetzliche Verpflichtung weggefallen war, ist nie der tatsächlich ermittelte Bedarf an Personal, sondern ein deutlich geringerer eingesetzt worden. Der Personalmangel ist also schon seit den 90er Jahren ein kalkuliertes Vorgehen in den Klinken. Da die Bedarfsplanung intern weiter genutzt, aber nicht vollständig umgesetzt wird, ist den Klinikleitungen durchaus bewusst, dass sie massive Arbeitsverdichtungen in der Pflege vorantreiben. Die PPR macht mess- und sichtbar, wie viel Arbeit anfällt – und mit viel weniger Pflegekräften sie scheinbar umgesetzt wird.

Kostendruck und Investitionsstaus – die Verantwortung von Bund und Ländern

Der durch die Einführung der PPR entstandene finanzielle Mehraufwand war jedoch nicht der entscheidende Grund für die radikalen Sparmaßnahmen. Die gesetzlichen Krankenversicherungen hatten kein Ausgabenproblem, sondern ein Einnahmeproblem. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt waren die Ausgaben sehr stabil, während die beitragspflichtigen Einnahmen gegen Mitte der 90er Jahre zurückgingen. Um dies zu kompensieren, wurde nicht etwa die Einnahmesituation durch geeignete Maßnahmen entsprechend geändert, sondern die Ausgabenseite verantwortlich gemacht. Als ein Instrument, um die Ausgaben im Gesundheitswesen weiter zu reduzieren, wurde die Finanzierung der Krankenhäuser umgestellt. Galt bislang das Selbstkostendeckungsprinzip wurde ab 2004 eine an Fallpauschalen orientierte Finanzierung eingeführt. Nicht die notwendigen, bereits erfolgten Ausgaben wurden den Krankenhäusern von den Kassen rückerstattet, sondern es wurden pauschale Entgelte für bestimmte Fallarten, die sich an vorher festgelegten Durchschnittswerten orientierten, gezahlt. Damit wurde ein Teufelskreis eingeleitet. Gibt man für einen bestimmten Fall mehr Geld aus, als die Fallpauschale zulässt, so muss das Krankenhaus hier einsparen, um nicht unwirtschaftlich zu werden. Damit sinkt festgelegte Durchschnittswert dieser Fallpauschale weiter ab und weitere Einsparungen werden erforderlich. Wegen des hohen Personalkostenanteils in den Kliniken wurde natürlich gerade hier eingespart. Zudem wurde ein radikaler Abbau von Krankenhausbetten betrieben, der bis heute ungebrochen anhält und von einer erheblichen Arbeitsverdichtung in allen Bereichen des Krankenhauses begleitet wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt, welcher die Sparmaßnahmen im pflegerischen Bereich anheizte, war der erhebliche Mangel an Investitionsmittel für die Krankenhäuser. Die duale Finanzierung der stationären Gesundheitsversorgung beinhaltet die gesetzlich vorgeschriebene Finanzierung aller notwendigen investiven Kosten durch die Länder. Die Länder sind ihren Verpflichtungen sehr unterschiedlich und im Durchschnitt nur sehr eingeschränkt nachgekommen. Dies hat zu einem erheblichen Investitionsstau in den Krankenhäusern geführt – Expert*innen beziffern ein Volumen in Milliardenhöhe. Den meisten Krankenhäusern blieb daher nichts anderes übrig, als dringend anstehende Investitionen aus anderen Quellen zu finanzieren. Im Regelfall wurden die Finanzen aus dem Pflegesatzbudget herausgezogen. Damit wurden insbesondere die Personalkosten immer weiter reduziert, da diese den größten Anteil der verhandelten Budgets ausmachen. Auch die wegen mangelnder Investitionen gestiegenen Instandhaltungskosten mussten durch Reduzierung der Personalkosten kompensiert werden.

Neuer Protest in der Pflege – und ein neuer Anlauf der Bedarfsmessung?

Seit dem Jahr 2010 kommt es nun wieder bundesweit zu Protesten der Krankenpflegekräfte – und ein Ende ist bisher nicht in Sicht. Aus dem gewerkschaftlich initiierten Kampf um bessere Entlohnung entwickelte sich jedoch in der Zwischenzeit eine Auseinandersetzung um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal. Diese Forderung nach mehr Personal in den Krankenhäusern wurde von der Gewerkschaft Ver.di aufgegriffen und führte zu erbitterten Arbeitskämpfen, bis hin zum Erzwingungsstreik in großen Kliniken. Der erste große Erfolg wurde von den Kolleg*innen der Charité Anfang 2016 erzielt. Es wurde ein Tarifabschluss zwischen Verdi und der Charité Berlin erkämpft, welcher die einzusetzende Personalmenge (Krankenpflegekräfte) auf den Stationen regeln sollte. Galt bislang, dass die für eine bestimmte Arbeit eingesetzte Menge an Personal allein Angelegenheit der Arbeitgeber*innen ist, so gelang es hier erstmals, Stellenschlüssel tariflich festzuschreiben. Der erfolgreiche Arbeitskampf an der Charité stieß bundesweit weitere Auseinandersetzungen an diversen Kliniken an. Das Ziel war, bessere Arbeitsbedingungen durch Festlegung besserer Personalschlüssel auf den Stationen zu erkämpfen. Auch hier wurde eine Reihe von Erfolgen erstritten: Nach und nach konnten bundesweit an vielen Orten tarifliche Regelungen erkämpft werden. Sie erhalten jedoch sehr unterschiedliche Festlegungen zu Personalschlüsseln und zu den Sanktionen, die die Arbeitgeber bei Nichteinhaltung fürchten müssen.

Personalschlüssel tariflich oder gesetzlich regeln?

Der Mangel dieser und faktisch aller tariflicher Regelungen in Bezug auf Personalschlüssel, die in letzter Zeit erkämpft wurden, liegt in der Weigerung der Krankenkassen, solche Regelungen in den fallbezogenen Budgets zu berücksichtigen. Darum wird bereits länger darüber nachgedacht, eine gesetzliche Regelung zum Personalschlüssel im Pflegebereich durchzusetzen. Da eine gesetzliche Regelung gegen Personalnotstand in der Krankenpflege schon zu Beginn der 90er Jahre einmal erfolgreich durchgesetzt worden war, ist es nur folgerichtig diesen Ansatz aufzunehmen, zu aktualisieren und gesetzlich zu verankern. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Pflegerat und die Gewerkschaft Ver.di haben daher einen erneuten Anlauf genommen und eine aktualisierte Fassung der PPR unter dem Namen PPR 2.0 entwickelt. Diese liegt dem Bundesministerium für Gesundheit nun vor und dieses ist aufgefordert, dieses Personalbemessungsinstrument einzuführen.

Was regelt die neue Bedarfsermittlung in der Pflege?

Da in vielen Krankenhäusern die Daten zur Personalbemessung bis heute täglich erfasst werden, ist die Einführung der PPR 2.0 die wahrscheinlich einfachste Methode, Personalbemessung transparent und nachvollziehbar durchzuführen. Gerade wegen der täglichen Erfassung lässt sich auch unkompliziert die tägliche Menge an Pflegebedarf in Minuten ermitteln. Es ist dann nur ein kleiner Schritt dahin, die Gesamtanzahl des Pflegebedarfs in Minuten durch die Zahl der möglichen Arbeitsminuten pro Schicht zu dividieren. Im Ergebnis erhält man die Anzahl der notwendigen Köpfe des Pflegepersonals für diesen Tag. Dies ist eine sehr gute Grundlage, um die notwendige Schichtbesetzung des Folgetages zu prognostizieren. Hier muss angefügt werden, dass es insbesondere darauf ankommt, die Tagesbesetzung festzulegen. Ob die Früh- oder die Spätschicht gleich oder unterschiedlich zu besetzen sind, kann am besten an Hand der je unterschiedlichen Bedingungen vor Ort entschieden werden. Aus meiner Sicht und Erfahrung kann bereits nach drei Monaten einer derartigen Erhebung eine sehr genaue Prognose für den Bedarf an Vollkräften einer bestimmten Station für das Folgejahr erstellt und bei Pflegesatzverhandlungen vorgelegt werden. Ein weiterer, wichtiger Vorteil ist die Transparenz der Personalzuordnung auf den Stationen. Die Pflegekräfte kennen damit ganz genau die zu leistende Menge an Pflege und das Verhältnis der dazu eingesetzten Pflegekräfte. Damit werden ihre Forderungen nach mehr Personal auf eine nachvollziehbare, nicht widerlegbare Grundlage gestellt und können nicht mehr von den Pflegedienstleitungen in Frage gestellt werden und auf die Überforderung der einzelnen Mitarbeiter*innen geschoben werden. Die Einführung der PPR 2.0 wäre aus meiner Sicht ein großartiger Fortschritt, der tatsächlich den allgegenwärtigen Pflegenotstand nach und nach auflösen und den Beruf der Pflege wieder attraktiv machen könnte: für junge Menschen, die vor der Berufswahl stehen, aber auch für gestandene Pflegekräfte, die nach jahrelanger Überlastung ihre Arbeitszeit reduziert hatten. Denn sie würde den Status Quo deutlich verbessern: In einem von mir selbst ermittelten Beispiel einer unfallchirurgischen Station in einem Berliner Krankenhaus wurde deutlich, dass über ein halbes Jahr im Durchschnitt nur ca. 38% des laut PPR erforderlichen Personals vorhanden war. Dies ist kein Einzelfall, da vier stichprobenartig untersuchte weitere Krankenhäuser ähnliche Werte aufweisen. Auch bundesweit müssen ähnliche Größenordnungen unterstellt werden. Aus meiner Sicht wäre daher bereits eine Aufstockung des Pflegepersonals auf 70 % der PPR 2.0 ein großer Erfolg. Als ersten Teilschritt kann diese Marke durchaus dienen – wenn im Folgejahr auf 80% erhöht wird und dann jährlich steigend bis auf die volle Erfüllung der PPR 2.0. Es ist diese verlässliche, gesetzlich festgelegte Perspektive, die junge Menschen wieder motivieren könnte, einen Beruf im pflegerischen Bereich zu erlernen. Um dem Rechnung zu tragen, müssten auch die Ausbildungskapazitäten bundesweit drastisch erhöht werden. Die Betreuung der Auszubildenden auf den Stationen durch qualifizierte Praxisanleiter*innen mit entsprechender Freistellung ist ein weiterer wichtiger Baustein, um die stationäre Pflege als soziale und humane Aufgabe und damit als attraktiven Beruf wieder zu beleben. Es muss die Aufgabe der Politik, aber es wird auch die Aufgabe der kommenden Auseinandersetzungen sein, diesen Prozess zu begleiten und zum Erfolg zu führen.

Volker Gernhardt war viele Jahre Betriebsrat beim Klinikkonzern Vivantes und ist mittlerweile pensioniert.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/personalmangel-im-krankenhaus

#Krankenhaus #Pflege #Krise #Alternativen

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Der aktuelle extreme Mangel an Pflegekräften, die resultierenden Bettensperrungen und die immer wieder regional aufflammenden Streiks von Pflegekräften mit dem Ziel bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen, sind nichts Neues in der gesundheitspolitischen Landschaft Deutschlands. Bessere Arbeitsbedingungen sind eng verknüpft mit festen, nachvollziehbaren Stellenschlüsseln für die stationäre Pflege. Diese wurden bereits 1993 einmal erfolgreich mit Inkrafttreten der PPR (PflegePersonalRegelung) durchgesetzt, aber nach kurzer Zeit aus finanziellen Gründen ausgesetzt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Pflegerat und die Gewerkschaft Ver.di haben einen erneuten Versuch unternommen und für eine neue Personalbemessung eine aktualisierte Fassung der PPR unter dem Namen PPR 2.0 entwickelt.

Bild: Jodie Covington / Unsplash

  • #Krankenhaus
  • #Pflege
  • #Krise
  • #Alternativen
Datei öffnen ↓
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Der Text widmet sich den dringend notwendigen Reformen in der Altenpflege. Dem Pflegenotstand – also der unzureichenden Versorgung der Menschen mit Pflegebedarf, der mangelhaften Unterstützung pflegender Angehöriger und der schlechten Bezahlung der in der Pflege Beschäftigten trotz Arbeitsüberlastung – ist nur beizukommen, wenn sich sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Löhne in der Branche nachhaltig verbessern.

Die Autorin Pia Zimmermann betont, es brauche eine Pflegerevolution, um ein System zu entwickeln, in dem der Mensch im Mittelpunkt stehen. Dazu müsse die Finanzierung von Gesundheit und Pflege überarbeitet werden. Die skizzierte solidarische Pflegevollversicherung ist Bestandteil dieses Konzepts. Des Weiteren müssen zumindest die Renditen begrenzt werden, die mit Pflege gemacht werden können. Pflege ist keine Ware, sondern ein Grundrecht, das allen zugänglich sein muss.

Foto: Steven Hwg / Unsplash

  • #Pflege
  • #Krise
  • #Alternativen

Gemeinsam Druck machen

Wie werden Krankenhauskämpfe zur gesellschaftlichen Bewegung?

April 2021 • Interview mit Jeannine Sturm und Daniel Schur

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

Krankenhaus, Gewerkschaft, Organisierung, Berlin, Pflege#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Berlin #Pflege

Vivantes und Charité, die beiden größten öffentlichen Krankenhäuser in Berlin, starten 2021 eine neue Tarifbewegung. Warum?

Jeannine: Weil die alten Probleme nicht gelöst sind und in der Krise noch viel deutlicher werden. Wir stecken seit Jahrzehnten in einem Teufelskreis. Wegen des verfehlten Finanzierungssystems im Krankenhaus, den sogenannten DRGs, wird am Personal gespart, wodurch die Arbeitsbedingungen schlechter werden und wir noch weniger Personal finden. Um den Beruf wieder attraktiv zu machen, brauchen wir faire Entlohnung, eine Ausbildungsoffensive – und vor allem gute Arbeitsbedingungen, damit die Leute auch bleiben. Nur mit ausreichend Personal können wir die Patient*innen sicher versorgen. Eine gute Personalbemessung ist der Hebel, um aus der Misere rauszukommen. Aber das erreichen wir nur durch eine große Krankenhausbewegung.

Wie wollt ihr Druck aufbauen?

Jeannine: Wir werden eine klare Sprache sprechen: Ihr als politisch Verantwortliche habt die einmalige Chance, im Superwahljahr, in der Pandemie, auf unsere Forderungen einzugehen. Wenn ihr sie nicht nutzt, werdet ihr nicht nur politisch abgestraft, wir haben theoretisch auch die Möglichkeit, 50 Prozent der Krankenhausbetten in Berlin zu bestreiken. Das ist unsere Machtressource, und wir sind bereit, sie zu nutzen.

Braucht ihr dafür Unterstützung?

Jeannine: Um unser Anliegen der Öffentlichkeit zu vermitteln, definitiv. Allein unser Streikrecht zu verteidigen, ist ein heikles Thema. Wir müssen kommunizieren, dass wir die Patient*innen nicht gefährden, sondern auch in ihrem Interesse streiken. In der letzten Tarifbewegung hat uns das Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus etwa durch Infoveranstaltungen extrem gut unterstützt. Zu Beginn des Streiks hieß es in den Medien noch, wir würden die Patient*innen in Geiselhaft nehmen. Am Ende haben wir viel Zuspruch und öffentliche Solidarität erfahren.

Daniel, warum bringt sich die LINKE in eine Tarifauseinandersetzung ein?

Daniel: Weil es eben nicht nur um einen betrieblichen Konflikt geht, sondern um einen gesellschaftlichen. In den Krankenhäusern zeigt sich, was passiert, wenn man die öffentliche Daseinsvorsorge nach dem Profitprinzip organisiert. Um das zu ändern, braucht es politischen Druck jenseits des Betriebs. Hier könnte die LINKE ein Scharnier bilden zwischen den Beschäftigten, der Gesellschaft und der Bewegung. In Berlin und anderen Bundesländern gab es bereits Volksbegehren für mehr Pflegepersonal. Und mit ihrer Pflegekampagne hat die LINKE in den letzten Jahren schon viel getan. In diesem Konflikt gibt es eine unheimliche Politisierung und die Aussicht, wirklich etwas zu gewinnen, das auf andere Bereiche ausstrahlen könnte. Darum sollten wir als Partei dieses Jahr unsere Kräfte hier bündeln.

An der Charité wurden bereits Personalvorgaben erkämpft, die Politik hat gesetzliche Pflegeuntergrenzen eingeführt. Warum reicht das nicht?

Jeannine: An der Charité wurden 2015 zum ersten Mal Personalvorgaben per Tarifvertrag beschlossen. Da steckten viele gute Ansätze drin, zum Beispiel Personalbemessungssysteme, die sich am Betreuungsaufwand ausrichten. Sie blieben aber auf den guten Willen des Arbeitgebers angewiesen, es fehlten Sanktionsmechanismen. Darum wurden die Vorgaben einfach nicht umgesetzt. Die gesetzlichen Pflegeuntergrenzen helfen da auch nicht weiter, denn die versuchen nicht mal, den wirklichen Bedarf zu ermitteln, sondern schreiben nur für wenige Bereiche den schlechten Istzustand fest. Es wurde also eher an Symptomen herumgedoktert.

Daniel: Die Probleme werden immer auf die nächste Ebene geschoben: Das Krankenhausmanagement sagt, uns sind die Hände gebunden, und verweist auf die Landesebene; die Landesregierungen sagen, der Bund ist zuständig, und der Bund sieht die Länder in der Verantwortung. Deshalb ist so wenig passiert, obwohl es in der Bevölkerung eine breite Zustimmung für die Personalbemessung gibt. Darum müssen wir die Kämpfe auf allen diesen Ebenen führen und verbinden.

Wenn die letzten Tarifbewegungen das Problem nicht lösen konnten – was ist diesmal anders?

Jeannine: Wir wollen diesmal für alle Krankenhausbereiche und alle beteiligten Berufsgruppen konkrete Vorgaben, wie viel Personal in jeder Schicht gebraucht wird. Und wir wollen verbindliche Konsequenzen, wenn dieses Soll unterschritten wird, etwa die Einführung von Entlastungstagen. Außerdem sind wir diesmal nicht allein, sondern wir kämpfen mit Vivantes zusammen. Und noch etwas ist neu: Es sind alle Berufsgruppen mit einbezogen, denn wir müssen auch die Situation der Therapeut*innen, Reinigungs- und Laborkräfte verändern. Wir arbeiten im Krankenhaus eng verzahnt und leiden alle unter der Arbeitsverdichtung. Es geht also nicht nur um einen Tarifvertrag für uns.

Wie viel Unterstützung habt ihr in der Belegschaft?

Jeannine: Sehr viel. Das Thema ist in aller Munde und es gibt in der Krise ohnehin einen besonderen Zusammenhalt. Wir sind im ständigen Austausch mit den einzelnen Teams und bauen eine breite Aktivenstruktur auf, unterstützt von professionellen Organizer*innen, die uns ver.di zur Verfügung stellt. Wir wollen in jedem einzelnen Bereich einen Prozess in Gang bringen, damit wir den Konflikt bis zum Ende durchstehen können und sich alle mit dem Ergebnis identifizieren. Deshalb stellen die Teams eigene Forderungen auf und wählen eigene »Teamdelegierte«. Die Delegierten treffen sich regelmäßig mit der ver.di-Tarifkommission und entscheiden über den Verlauf der Verhandlung mit.

Daniel, wie kann eure Unterstützung der Streiks hier vor Ort konkret aussehen?

Daniel: In Berlin vernetzen wir uns gerade als LINKE-Basisgruppen und mobilisieren unsere Mitglieder für eine große Unterstützer*innenversammlung. Ein wichtiger Ansatz sind Patenschaften von lokalen Gruppen mit Beschäftigten vor Ort. Sie würden uns über ihren Kampf berichten und wir würden sie unterstützen, indem wir an ihren Kundgebungen teilnehmen, in unseren Kiezen plakatieren oder den Konflikt beim Haustürwahlkampf thematisieren. Wir wollen dazu beitragen, ihre Anliegen in die breitere Öffentlichkeit und die Partei zu tragen. Langfristig wollen wir natürlich, dass die LINKE noch stärker zu einer Organisation von betrieblich Aktiven wird. Wenn Beschäftigte sagen, ich bin nicht nur bei ver.di, ich werde auch Mitglied der LINKEN, haben wir einiges erreicht.

Was erwartet ihr denn als Beschäftigte?

Jeannine: Uns ist wichtig, dass Verbündete nicht nur einmalig ihre Solidarität erklären, sondern nachhaltig und aktiv an unserer Seite sind. Das ist besonders wichtig, wenn die Verhandlungen steckenbleiben. Wenn die Zusammenarbeit auf Augenhöhe läuft und unsere Expertise anerkannt wird, ist das wunderbar und hilft uns sehr. Mit der LINKEN haben wir schon beim Stimmensammeln für das Volksbegehren zusammengearbeitet und es hat sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt.

Daniel: Auch für uns ist der Austausch enorm wichtig. Wir bekommen einen direkten Draht zu den betrieblichen Kämpfen. Und unsere Mitglieder können sich auch abseits von Wahlkämpfen politisch betätigen, wie sie es ja auch jetzt schon oft tun. Ich sehe die Krankenhausbewegung als große Chance, ein solches Parteiverständnis nachhaltig zu etablieren. Die LINKE braucht eine starke Verankerung in den Bewegungen, ein Umfeld, das uns antreibt und uns hilft, unser Profil zu schärfen.

Es bleibt der Spagat, in Berlin Teil der Bewegung und zugleich der Regierung zu sein.

Daniel: Wir wissen aus Erfahrung, dass es nicht ausreicht, ein Thema nur im Wahlkampf aufzugreifen und dann in Parlament oder Regierung zu repräsentieren. Ein gutes Programm muss auch umgesetzt werden und dafür braucht es viel Druck. Den erzeugen wir nicht, wenn wir die Auseinandersetzung als Koalitionsangelegenheit hinter verschlossenen Türen verhandeln. Wir müssen sie als Brennpunkt eines gesellschaftlichen Konflikts verstehen. Dann könnten wir viel stärker auftreten, weil wir nicht nur für uns, sondern für viele organisierte Beschäftigte in unserem Rücken sprechen.

Klingt gut, aber wie gelingt das?

Daniel: Die Mietenpolitik hat gezeigt, dass es gehen kann. Hier ist inzwischen allen klar, dass das Wechselspiel zwischen Partei und Bewegung unabdingbar ist. Dass der Mietendeckel in Berlin zeitweise durchgesetzt werden konnte, hatten wir nicht allein der Entschlossenheit einzelner Amtsträger*innen, sondern dem permanenten Protest der Bewegungen zu verdanken. Heute denkt niemand mehr, der Mietenwahnsinn wäre das Problem einzelner Hausgemeinschaften. Es gibt eine breite gesellschaftliche Politisierung – die wünsche ich mir auch im Gesundheitsbereich.

Wagen wir ein Gedankenexperiment: Ihr schaut im Herbst 2021 auf den Kampagnensommer zurück – was habt ihr erreicht?

Jeannine: Wir haben einen extrem starken Tarifvertrag abgeschlossen mit hammermäßigen Personalvorgaben für jeden Bereich. Wir haben es zum ersten Mal geschafft, dass auch alle anderen Berufsgruppen im Krankenhaus mehr Aufmerksamkeit erhalten. Als große Gruppe der Gesundheitsberufe haben wir ein neues Selbstbewusstsein gewonnen und spüren das auch in der Zusammenarbeit im Alltag. Und außerdem steht endlich die Abschaffung der Fallpauschalen auf der politischen Agenda.

Daniel: Genau, mit der Abschaffung der Fallpauschalen hätten wir die Profitorientierung im Gesundheitswesen endlich ein Stück zurückgedrängt. Die Rekommunalisierung aller Krankenhäuser wäre dann der nächste Schritt und würde in jeder Talkshow rauf- und runterdiskutiert. Die LINKE würde es schaffen, die weit verbreitete Kritik am profitorientierten Gesundheitswesen aufzugreifen und zuzuspitzen. Damit würden wir gesellschaftlich endlich in die Offensive kommen.

Das Gespräch führten Fanni Stolz und Hannah Schurian.

Jeannine Sturm ist Pflegekraft am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin-Wedding und aktiv in der ver.di-Betriebsgruppe sowie Mitglied der ver.di-Tarifkommission und des Bündnisses »Gesundheit statt Profite«.

Daniel Schur ist unter anderem in der LINKEN-Basisorganisation LEO in Berlin-Wedding und in der Bündnisarbeit für die Krankenhausbewegung aktiv.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gemeinsam-druck-machen

#Krankenhaus #Gewerkschaft #Organisierung #Berlin #Pflege

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

In den Krankenhäusern zeigt sich, was passiert, wenn man die öffentliche Daseinsvorsorge nach dem Profitprinzip organisiert. Wegen des verfehlten Finanzierungssystems im Krankenhaus wird am Personal gespart, wodurch die Arbeitsbedingungen schlechter und die Personalnot größer werden. Dies gefährdet wiederum die sichere Versorgung von Patient*innen. Vivantes und Charité, die beiden größten öffentlichen Krankenhäuser in Berlin, starteten deshalb 2021 eine neue Tarifbewegung.

Um das System zu verändern, braucht es aber auch jenseits des Betriebs politischen Druck und eine breite gesellschaftliche Politisierung im Gesundheitsbereich. Dies erklären Jeannine Sturm, Pflegekraft am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin-Wedding, und Daniel Schur, aktiv in der LINKEN-Basisorganisation LEO in Berlin-Wedding, im Interview. Sie zeigen auf, wie solidarische Unterstützung und erfolgreiche Bündnisarbeit zwischen Beschäftigten, Partei und Bewegung aussehen kann.

„Profite pflegen keine Menschen“ – Protest für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen, 17. Juni 2020, Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0

  • #Krankenhaus
  • #Gewerkschaft
  • #Organisierung
  • #Berlin
  • #Pflege
Datei öffnen ↓
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Arbeiten an der Belastungsgrenze und wirtschaftliche Zwänge, die im Widerspruch zum medizinischen und gesellschaftlichen Bedarf stehen – das war vielen Beschäftigten im Krankenhaus auch vor Corona nicht fremd. Die grundsätzliche Tendenz, das Gesundheitswesen vorrangig als ein Marktsegment zu betrachten, das sich über Wettbewerb steuern ließe, ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Gleiches gilt für den Widerstand von Beschäftigten und ihren Verbündeten. Die Broschüre gibt Einblicke in Kämpfe um Gesundheit in anderen Ländern und zeigt dabei nicht nur Gemeinsamkeiten und Besonderheiten auf, sondern beleuchtet zugleich verschiedene Problemstellungen und Konfliktgegenstände, die sich oft in verblüffender Ähnlichkeit auch hierzulande wiederfinden. So sollen die Beiträge nicht zuletzt auch die Diskussion um Herangehensweisen und Strategien der Krankenhausbewegung in Deutschland bereichern.

  • #Krankenhaus
  • #Organisierung
  • #Pflege
  • #Alternativen
  • #Krise

Wenn der Gürtel nicht mehr enger geht

Austeritätspolitik in Europa und ihr Einfluss auf das Leben von Frauen

Juni 2018

Feminismus, Krise, Krankenhaus, Pflege#Feminismus #Krise #Krankenhaus #Pflege

«Ohne uns steht die Welt still.» Das war der Slogan, unter dem mehrere Millionen Frauen am 8. März 2018 in Spanien in den Generalstreik traten. Der Streik gab Ihnen die Möglichkeit, verschiedene Themen zu diskutieren und sich zu organisieren: Arbeit, Pflege, Konsum.

Keine andere soziale Bewegung von links hat in den letzten Jahren weltweit so erfolgreich protestiert und sich gegen patriarchale Strukturen gestemmt wie die feministische Bewegung.

Die Gründe sind vielfältig und von Land zu Land verschieden. Dennoch gibt es eine europäische Gemeinsamkeit: Mit Beginn der Finanzkrise im Jahr 2007, die sich später zur Eurokrise ausweitete, verschrieben sich viele Länder einer absoluten Austeritätspolitik.

In Südeuropa und Irland waren es hauptsächlich die Europäische Union und der internationale Währungsfonds, die das Sparen diktierten. In Osteuropa war es der Erfolgsdruck der neuen Mitgliedsländer gegenüber der EU und eine gewünschte schnelle Integration in den europäischen Wirtschaftsmarkt, die die Regierungen Sparhaushalte aushandeln ließ.

EU-Beitrittskandidaten wie Serbien und EU-Nachbarländer wie die Ukraine unterwarfen sich in vorauseilendem Gehorsam der EU und ihren Forderungen, um den Beitrittsfortschritt und die Annäherung nicht zu gefährden.

Wie auch immer — das Mantra des Sparens zu Gunsten eines ausgeglichenen Haushaltes, besserer Wettbewerbsfähigkeit und der Schuldenvermeidung hat verheerende Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen sowie auch generell auf die Geschlechterbeziehungen.

In den von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gegebenen Länderstudien zu den Auswirkungen der Austeritätspolitik auf Frauen wird genau dies auch untersucht.

Unter dem Titel «Austerity, Gender Inequality and Feminism after the Crisis» haben die Autorinnen nicht nur Daten zur Beschäftigung und zum Einkommen von Frauen  ausgewertet, sondern auch insbesondere Sparmaßnahmen, die direkt die Gleichstellung betrafen, unter die Lupe genommen, sowie Gesetzesänderungen und Neuregelungen  dahingehend untersucht.  

Wie wirkt sich Sparpolitik auf Geschlechterrollen in der Familie aus? Wer übernimmt Erziehung und Pflege von jung und alt, wenn der Staat keine Unterstützung mehr bietet? Was heißt es, wenn Gleichstellungsbeauftragte gleichzeitig mit dazugehörigen  Förderprogrammen weggespart werden? Wo bleiben Frauen, wenn es keine Zufluchtsstätten für Opfer häuslicher Gewalt gibt? Wer bringt die ungewollten Kinder durchs Leben, wenn Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr erlaubt sind?

Die Studien zeigen eine Topografie dessen, welche Auswirkungen das Spardiktat in Europa auf Geschlechterverhältnisse hat und formulieren Forderungen einer linken feministischen Politik, die auf sozialer Gerechtigkeit und einer Gleichstellung der Geschlechter basiert. 

Lesen Sie dazu den Hintergrundartikel von Elsa Koester in «der Freitag», Ausgabe 26/2018: «Küche, Kinder, Krise»

In der selben Ausgabe findet sich ein Interview mit der Autorin der Studie zu Deutschland, Alex Wischnewski: «Die Sehnsucht nach dem Kümmern»

Neben einer deutschen Studie liegen weitere Studien in englischer Sprache aus Griechenland, Spanien, Irland, der Ukraine vor. Studien zu Kroatien, Russland, Polen und Litauen folgen in Kürze.

  • Griechenland: The gendered aspects of the austerity regime in Greece: 2010 – 2017 Aliki Kosyfologou
  • Spanien: Economic Boom, Recession and Recovery in Spain: The Permanent Care Crisis and its Effects on Gender Equality. The Search for Feminist Alternatives. Inés Campillo Poza
  • Ukraine: Crisis, War and Austerity: Devaluation of Female Labor and Retreating of the State. Oksana Dutchak
  • Deutschland: Wer ist hier «Krisengewinner»? Auswirkungen von neoliberalem Staatsumbau und politischem Rechtsruck auf das Leben von Frauen in Deutschland. Alex Wischnewski
  • Irland: Irish Feminist Approaches against Austerity Regimes Mary P. Murphy and Pauline Cullen
  • Russland: «Should women have more rights?» Traditional Values and Austerity in Russia Marianna Muravyeva
  • Kroatien: «Death by a Thousand Cuts» - Impact of Austerity Measures on Women in Croatia Marija Ćaćić and Dora Levačić
  • Litauen: Austerity Policies in Lithuania - Austerity, Gender Inequality and Feminism after the Crisis in Lithuania Severija Bielskytė and Jolanta Bielskienė
  • Polen: Unsatisfactory Success and Hidden Austerity Policies. Feminist Approaches to the Austerity Paradigm. Agata Czarnacka

#Feminismus #Krise #Krankenhaus #Pflege

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Wie wirkt sich Sparpolitik auf Geschlechterrollen in der Familie aus? Wer übernimmt Erziehung und Pflege von jung und alt, wenn der Staat keine Unterstützung mehr bietet? Was heißt es, wenn Gleichstellungsbeauftragte gleichzeitig mit dazugehörigen Förderprogrammen weggespart werden? Wo bleiben Frauen, wenn es keine Zufluchtsstätten für Opfer häuslicher Gewalt gibt? Wer bringt die ungewollten Kinder durchs Leben, wenn Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr erlaubt sind?

Eine Reihe an Studien zeigen eine Topografie dessen, welche Auswirkungen das Spardiktat in Europa auf Geschlechterverhältnisse hat und formulieren Forderungen einer linken feministischen Politik, die auf sozialer Gerechtigkeit und einer Gleichstellung der Geschlechter basiert.

  • #Feminismus
  • #Krise
  • #Krankenhaus
  • #Pflege

Demokratisierung im Gesundheitswesen

Schafft ein, zwei, viele Gesundheitszentren

Mai 2017 • Kirsten Schubert

Die alte Kreis-Poliklinik in Pasewalk. Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

Die alte Kreis-Poliklinik in Pasewalk. Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

Krankenhaus, Pflege, Alternativen#Krankenhaus #Pflege #Alternativen

In kaum einem gesellschaftlichen Sektor ist die Frage der Mitbestimmung so heikel wie im Gesundheitswesen – geht es doch um unser aller Leib und Leben. Angesichts dessen scheint nachvollziehbar, den anerkannten Expert*innen des Fachs weitreichende Entscheidungskompetenzen einzuräumen: den Ärzt*innen. Ausgeprägte Hierarchien, wenig Interprofessionalität und kaum Mitbestimmungsmöglichkeiten der Patient*innen gelten als notwendiges Übel. Historisch hat sich in Deutschland ein stark segmentiertes Gesundheitssystem entwickelt, das – auch im internationalen Vergleich – besonders ärztezentriert ist. Da Ärzt*innen vieles über Krankheiten wissen, jedoch oft wenig über Gesundheit, kann eine wirkliche Veränderung des Gesundheitssystems nur gelingen, wenn man auch die Deutungshoheit über dieses sensible Thema demokratisiert und vergesellschaftet.

Die ›Produktion von Gesundheit‹ findet nicht nur in den Krankenhäusern, Arztpraxen und Reha-Einrichtungen statt, also dort, wo wir traditionell das Gesundheitswesen verorten. Vielmehr sind es die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, die den größten Einfluss auf Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit haben – also die Wohnverhältnisse, Fragen von Bildung, Erholung, Verkehr und Infrastruktur, Ernährung und natürlich der Arbeitsverhältnisse. Anders ausgedrückt: Für die Frage, ob jemand an Diabetes erkrankt oder an einem Herzinfarkt stirbt, ist sein sozioökonomischer Status entscheidender als die Qualität des Gesundheitssystems, das er nutzt. Ärmere Menschen sterben früher. Die Lebensspanne von Männern der niedrigsten Einkommensgruppe ist um elf Jahre kürzer als bei jenen der höchsten Einkommensgruppe (Der Paritätische Gesamtverband 2017).

Ärztedominierte Pseudo-Demokratie

Gesundheit ist also nicht nur ein hochpolitisches Thema, sondern auch anschlussfähig an Debatten um Wirtschaftsdemokratie, wie sie beispielsweise von Gewerkschaften geführt werden: Ein hohes Niveau an Partizipation und Mitbestimmung im Betrieb kann sich auf mehrfache Weise positiv auf die Gesundheit auswirken: durch direkte Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Einkommen, aber auch durch Stärkung von Gesundheitsressourcen wie beispielsweise die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.Doch wie sieht es mit der Demokratie im Gesundheitssektor selbst aus? Wer entscheidet, welche Medikamente wir bekommen, ob eine neue Behandlungsmethode (etwa in der Physiotherapie) von der Krankenkasse übernommen wird, oder ob die Gesundheitsversorgung in meinem Stadtteil ausreichend ist? Jenseits der gesetzlichen Rahmenbedingungen, die größtenteils im fünften Sozialgesetzbuch geregelt sind, werden solche Entscheidungen nicht im Bundesgesundheitsministerium gefällt, sondern von der sogenannten Gemeinsamen Selbstverwaltung – bestehend aus Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Der Staat gibt also lediglich den Rahmen vor und führt Aufsicht. Dieser Selbstverwaltungsapparat ist eine deutsche Besonderheit. Sie geht zurück auf die Sozialgesetze, die Reichskanzler Bismarck 1883 initiierte, und die dadurch begründete gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Diese sollten als Zuckerbrot die zuvor in Form der »Sozialistengesetze« geschwungene Peitsche ergänzen, revolutionäre Neigungen dämpfen und die Arbeiterschaft mit dem Kaiserreich versöhnen.

Unter der Ärzteschaft löste die Einführung der Krankenkassen aber großen Unmut aus. Sie sahen ihre Unabhängigkeit in Gefahr – insbesondere die Möglichkeit, direkt Honorare von den Patient*innen zu nehmen. Auch die von den Kassen gegründeten Ambulatorien (später Polikliniken) wurden von der Ärzteschaft als Bedrohung ihrer Selbstständigkeit und als Gefahr für die ärztliche Berufsidee wahrgenommen. Mit den Gesetzen von 1931 und 1932 wurden deshalb die KVen geschaffen, um der organisierten Ärzteschaft ein offizielles Organ zu geben. Während des Nationalsozialismus wurden diese von einer Interessenvertretung zu einem parastaatlichen Exekutivorgan. Ihnen obliegt unter anderem, eine bedarfsgerechte vertragsärztliche Versorgung in allen Regionen Deutschlands sicherzustellen. Ein gravierendes Demokratie- und Gerechtigkeitsdefizit des deutschen Systems wird hier insofern deutlich, als beispielsweise bis heute in wohlhabenden Stadtteilen mit vielen Privatpatient*innen eine größere Ärztedichte und teils eine Überversorgung herrscht, während in sozial benachteiligten Gegenden oder auf dem Land die Versorgung oft nicht sichergestellt werden kann. Viele dieser Aspekte sind in zahlreichen europäischen Ländern anders geregelt: Oft gibt es ein staatliches Gesundheitswesen, das durch Steuern finanziert ist und mit einem verbeamteten Gesundheitspersonal arbeitet.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung, setzt sich zusammen aus den KVen, den Krankenkassen und den Krankenhausgesellschaften beziehungsweise deren jeweiligen bundesweiten Spitzenorganisationen. Als gesetzliches Gremium entscheidet der G-BA rechtsverbindlich über den Leistungsanspruch der etwa 70 Millionen gesetzlich Versicherten und wird daher auch »kleiner Gesetzgeber« genannt. Stimmberechtigt sind darin fünf Vertreter*innen der Kostenträger, also der gesetzlichen Krankenkassen, fünf Vertreter*innen der Leistungserbringer, also der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und KVen, sowie drei unparteiische Mitglieder. Aus dem gesamten ambulanten Versorgungssektor sind in diesem Gremium nur Ärzt*innen stimmberechtigt, Patientenvertreter*innen haben zwar Antrags-, jedoch kein Stimmrecht. Die Entscheidungen des G-BA müssen dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) zur Prüfung vorgelegt werden. Dieses überprüft jedoch nicht die fachlichen Inhalte, sondern nur das rechtlich korrekte Zustandekommen der Entscheidungen. Obwohl der G-BA auch Heil-, Hilfs- und Arzneimittelrichtlinien verabschiedet, haben weder die davon betroffenen Berufsgruppen noch die Patient*innen ein Mitbestimmungsrecht. Auch sind die Ausschusssitzungen nicht öffentlich. Es handelt sich also im günstigsten Fall um eine ärztedominierte Pseudodemokratie.

Solidarische Praxen

Dass niemand ins Krankenhaus möchte sofern es sich vermeiden lässt, liegt hierzulande nicht nur daran, dass krank sein nicht schön ist. Personalmangel, intransparente und oft nach ökonomischen Kriterien gefällte Therapieentscheidungen sowie Ärztedominanz statt Interprofessionalität machen einen stationären Aufenthalt für viele Patient*innen und Angehörige zum Graus. Umso wichtiger, dass es Versuche gibt, hier nach Auswegen zu suchen: Das Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« wendet sich gegen die aktuelle Krankenhausfinanzierung durch Fallpauschalen und eine zunehmende Kommerzialisierung. Die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen für mehr Personal und Mitbestimmung sind ein Beispiel vorbildlicher Organisierung in diesem Bereich (vgl. Wolf 2016). Ein weiteres Beispiel liefert ein kleines Krankenhaus im brandenburgischen Spremberg. Nach einer drohenden Insolvenz übernahmen die Beschäftigten des Hauses den Betrieb. 51 Prozent der Gesellschafteranteile gehören nun einem Förderverein, in dem 70 Mitarbeiter*innen des Hauses Mitglied sind. Alle anderen sind Bürger*innen der Stadt. Das heißt, in allen zentralen Fragen, die das Krankenhaus betreffen, entscheiden sowohl die Angestellten als auch die potenziellen Patient*innen mit.

Auch in der ambulanten Versorgung gibt es einige Lichtblicke. Dennoch ist die Situation hier kompliziert. Historisch bedingt ist der Sektor extrem zersplittert. Üblicherweise wird die ambulante Versorgung mit der Arbeit der niedergelassenen Ärzt*innen gleichgesetzt. Apotheken, Heilmittelerbringer wie Physio- oder Ergotherapeut*innen und Hilfsmittel¬erbringer wie Sanitätshäuser werden meist nicht genannt. Ausgeblendet werden auch Pflegetätigkeiten, wie sie von ambulanten Pflegediensten, in der persönlichen Assistenz oder von pflegenden Angehörigen erbracht werden. Alle Akteure agieren getrennt voneinander, die einzige Schnittstelle sind die niedergelassenen Ärzt*innen. Mitbestimmung oder auch nur wechselseitige Abstimmung ist auf dieser Ebene nicht vorgesehen. Vielmehr sind alle als freiberufliche Unternehmer*innen organisiert, die sich in den letzten Jahren zunehmend auch im Wettbewerb auf dem Gesundheitsmarkt bewähren müssen.

Den sogenannten Sicherstellungsauftrag für den ambulanten Bereich haben seit 1955 die KVen: Sie haben damit quasi ein Versorgungsmonopol für die gesetzlich Versicherten im ambulanten Sektor. Dies führt oft dazu, dass sich ärztliche Interessen durchsetzen, statt dass es darum geht, die Versicherten optimal zu versorgen. In der Doppelfunktion als Ärzt*in und Kleinunternehmer*in ist angelegt, dass ökonomische Interessen die Versorgung beeinflussen – nicht nur im Kontakt zu Patient*innen, sondern auch durch die Gatekeeper-Funktion der Ärtz*innen gegenüber anderen Berufsgruppen im ambulanten Bereich. Mit den seit 2014 bestehenden Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) wurden zwar neue, kooperative Arbeitsformen geschaffen, diese zielen jedoch meist vor allem auf betriebswirtschaftlichen Erfolg und nicht auf eine verbesserte Patientenversorgung oder Mitbestimmung. Innovative Eigentumsformen oder Kooperationen existieren im ambulanten Bereich in Deutschland kaum.

In anderen Ländern hingegen gibt es einige interessante Ansätze. Am bekanntesten sind die solidarischen Kliniken in Griechenland. Entstanden, um auch nicht versicherten Menschen den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, mussten sie im Rahmen der Finanzkrise auch Menschen versorgen, die mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes die Krankenversicherung eingebüßt hatten. Es entstanden über 40 Praxen in ganz Griechenland, eingebunden in solidarische Stadtteilaktionen, vernetzt mit anderen Projekten auch außerhalb Griechenlands und entschlossen, mit der Gesundheitsversorgung auch politische Organisierung und kollektive Entscheidungsfindung neu und anders zu erproben.

In Belgien entstanden bereits in den 1970er Jahren Gesundheitszentren, die bis heute ein faszinierendes Modell politischer Arbeit in der öffentlichen Daseinsvorsorge bilden. Eng verbunden mit der Belgischen Arbeiterpartei PTB organisiert Médecine pour le Peuple (MPLP) elf Gesundheitszentren, in denen versucht wird, eine andere Medizin zu praktizieren und in denen der direkte Zusammenhang zwischen Gesundheit und Lebens- und Arbeitsbedingungen ein zentrales Thema ist. Patient*innen werden für politische Aktionen mobilisiert und in den Kampf gegen die krankmachenden gesellschaftlichen Bedingungen eingebunden: Umweltverschmutzung durch Metallfabriken, schlechte Arbeitsbedingungen, hohe Medikamentenpreise oder Feinstaubbelastung durch den großen Antwerpener Autobahnring.

Auch die Community Health Centres in Kanada zeigen, dass es anders gehen kann: Hier sind die Patient*innen als gewählte Mitglieder eines Lenkungsgremiums mit in die Entscheidungsstrukturen eingebunden.

Gesundheitskollektiv Berlin

Sowohl die skizzierten Missstände als auch die ermutigenden Erfahrungen aus anderen Ländern haben eine Gruppe von Leuten in Hamburg und Berlin motiviert, über konkrete Alternativen in der ambulanten Gesundheitsversorgung nachzudenken. Der erste Impuls kam vor mehr als fünf Jahren aus dem Umfeld des Hamburger Medibüros, etwas später entstand die Idee, auch in Berlin ein Gesundheits- und Sozialzentrum zu gründen. Eine zentrale Rolle bei diesen Überlegungen spielte die Frage, wie auch die sozialen Determinanten von Gesundheit im Sinne der Gesunderhaltung angegangen werden könnten. Warum nur die Krankenversorgung verbessern, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen krank machen? Das käme einer Sisyphosarbeit gleich. Gesundheitsprojekte müssen auch politische Projekte sein und, eng eingebunden in den Stadtteil, versuchen, die gesellschaftlichen Bedingungen im Sinne eines transformativen Community Organizing zu verändern.

Mittlerweile hat die Hamburger Gruppe die Poliklinik Veddel eröffnet: Hausärztliche Versorgung, Sozial- und Rechtsberatung sowie Stadtteilarbeit werden gemeinsam im Kollektiv besprochen und entschieden. Und auch in Berlin geht es mit großen Schritten voran. Unser Gesundheits- und Sozialzentrum wird voraussichtlich Ende 2018 eröffnet. Dann werden wir einen Neubau auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei im »roten Rollberg« in Neukölln beziehen. Im Sommer 2017 sollen die Bauarbeiten beginnen. Vor drei Jahren wurde die Organisationsgruppe in einem Wohnzimmer gegründet, inzwischen finden wöchentliche Plena in einem Kreuzberger Ladengeschäft statt. Fördergelder konnten eingeworben werden, und wir werden zunehmend auch von Politik und gemeinsamer Selbstverwaltung angesprochen. Die Ansprüche an das Projekt sind groß: Es soll durch Gemeinwesenarbeit, Community Organizing und partizipative Forschung im Kiez verankert sein und dort primärmedizinische Versorgung durch Pflege, Physio- und Ergotherapeut*innen, Hausärzt*innen und Kinderärzt*innen bieten, ebenso wie Sozial-, Rechtsberatung und Selbsthilfe vor Ort. Aktuell sind wir eine multiprofessionelle Gruppe bestehend aus Psychotherapeut*innen, Ärzt*innen, Leuten aus der Pflege, den Gesundheitswissenschaften, der Pädagogik und einigen weiteren Disziplinen. Unsere Aktivitäten bestehen bisher zu einem großen Teil aus Kiezarbeit: Treffen mit Akteuren aus dem Jugend- und Sozialbereich, Stände und Aktionen auf Kiezfesten und eine partizipative Sozialraumanalyse. Daneben sind wir vor allem mit der Konzeptentwicklung beschäftigt. Denn es gibt bisher keine Rechtsform, die ein interprofessionelles, stadtteilorientiertes Zentrum dieser Art ermöglicht. Die aktuellen rechtlichen Möglichkeiten fixieren die zentrale Rolle der Ärzt*innen und stellen wettbewerbsrechtliche Regelungen über Kooperation.

Es wird zunehmend offensichtlich, dass es eines komplett neuen Modells und den dafür notwendigen rechtlichen Änderungen bedarf, wenn wir unser Projekt in der geplanten Form umsetzen wollen. Beheimatet in der ›idyllischen Politarbeit‹, werden wir zunehmend mit standes- und parteipolitischen Interessen konfrontiert, sitzen in Medizinrechtskanzleien am Kurfürstendamm und planen Anträge bei staatlichen Fördertöpfen für innovative Gesundheitsprojekte. Um dabei nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, arbeiten wir an einem politischen Selbstverständnis, wir wollen ein Kollektivstatut erstellen und rote Linien festlegen. Ein politischer Beirat soll geschaffen werden, um unsere Arbeit kritisch zu begleiten.

Gelingt es uns tatsächlich, unser Modell wie geplant umzusetzen, hoffen wir damit ein transformatorisches Projekt schaffen zu können, das öffentliche Daseinsfürsorge demokratisiert: von der Entscheidungsfindung beim Gespräch zwischen Ärzt*in und Patient*in, über die Beteiligung von Patient*innen und Anwohner*innen im Lenkungsgremium bis hin zu einem Community Board, das Akteure im Stadtteil einbezieht.

Um nicht nur eine kleine »Insel der Vernunft« zu bleiben, gehört die Vernetzung in Deutschland und international zu unseren zentralen Anliegen. Mit unserem Hamburger Schwesterprojekt sind wir dabei, ein Poliklinik-Syndikat zu gründen, das nach dem Vorbild des Miethäusersyndikats möglichst viele selbstverwaltete Gesundheits- und Sozialzentren entstehen lassen soll.

Wir wollen einen Ort des Lernens schaffen, an dem gemeinsame Wissensproduktion und partizipative Entscheidungsfindung erprobt werden kann. Solche Gesundheits- und Sozialzentren können Orte politischen Handelns und gesellschaftlicher Veränderung sein. Es geht also um transformatorische Konzepte im Gesundheitswesen, um Einstiegsprojekte. Hierfür muss die Mammutaufgabe vollbracht werden, die Hegemonie der Ärztelobby zu brechen und Gesundheit zu einer gesellschaftlichen Aufgabe zu machen. 

Literatur

Der Paritätische Gesamtverband (Hg.), 2017: Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland, Berlin, www.der-paritaetische.de/armutsbericht/download-armutsbericht

Schubert, Kirsten/Vagkopoulou, Renia, 2016: Futuring Health Care, in: Fried/Schurian: Um-Care. Gesundheit und Pflege neu organisieren, Berlin, 41–52.

Wolf, Luigi, 2016: »Mehr von uns ist besser für alle!«, in: Fried/Schurian (Hg.): Um-Care. Gesundheit und Pflege neu organisieren, Berlin, 23–31.

Kirsten Schubert ist Ärztin, Gesundheitsaktivistin und Mitglied im Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ). Sie war Referentin bei medico international und arbeitet nun in einer Hausarztpraxis in Berlin. Ihr politisches Hauptprojekt ist derzeit der Aufbau eines Gesundheits- und Sozialzentrums in Berlin-Neukölln. Das GeKo ist das Schwesterprojekt einer Poliklinik-Initiative in Hamburg.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/demokratisierung-im-gesundheitswesen

Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

#Krankenhaus #Pflege #Alternativen

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Historisch hat sich in Deutschland ein stark segmentiertes Gesundheitssystem entwickelt, das – auch im internationalen Vergleich – besonders ärztezentriert ist. Da Ärzt*innen vieles über Krankheiten wissen, jedoch oft wenig über Gesundheit, kann eine wirkliche Veränderung des Gesundheitssystems nur gelingen, wenn man auch die Deutungshoheit über dieses sensible Thema demokratisiert und vergesellschaftet. Warum nur die Krankenversorgung verbessern, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen krank machen? Der Beitrag skizziert Missstände aber auch ermutigende Erfahrungen und Initiativen für alternative Formen der Gesundheitsversorgung. Eine zentrale Rolle spielt dabei, wie auch die sozialen Determinanten von Gesundheit im Sinne der Gesunderhaltung angegangen werden könnten.

Die alte Kreis-Poliklinik in Pasewalk. Foto: Mr. Pommeroy / Wikimedia / CC BY-SA 4.0

  • #Krankenhaus
  • #Pflege
  • #Alternativen
Datei öffnen ↓
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Fast alle sind irgendwann darauf angewiesen, gepflegt zu werden: sei es durch Krankheiten, körperliche Einschränkungen oder aufgrund des Alters. Dann brauchen wir Menschen, die uns im Alltag helfen, aber auch Aufmerksamkeit und Zeit schenken. In dieser Situation möchten wir würdevoll behandelt werden und selbst entscheiden, wer uns wie und wo pflegt – unabhängig von Herkunft, Wohnort oder Geldbeutel.

Die Realität sieht leider anders aus. Der «Pflegenotstand» ist zum medialen Schlagwort geworden. Viele machen sich Sorgen, dass sie oder ihre Angehörigen in Armut leben müssen, wenn sie Pflege benötigen. Und viele haben Angst, allein zu bleiben, wenn sie auf Unterstützung angewiesen sind. Diese Ängste sind auch Ausdruck eines löchrigen und sozial ungerechten Pflegesystems.

Diese Broschüre zeigt die Probleme und deren Ursachen im heutigen Pflegesystem in Deutschland auf, nennt Forderungen und Alternativen und sucht schließlich nach Ansätzen, wie sich diese durchsetzen lassen könnten.

  • #Pflege
  • #Krankenhaus
  • #Krise
  • #Hausarbeiterinnen
  • #Alternativen

«Futuring Health Care» - Gesundheitszentren als Orte gesellschaftlicher Transformation

August 2017 • Renia Vagkopoulou und Kirsten Schubert

UmCare – Strategiekonferenz Pflege und Gesundheit. Foto: Rosa-Luxemburg Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

UmCare – Strategiekonferenz Pflege und Gesundheit. Foto: Rosa-Luxemburg Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Krankenhaus, Pflege, Organisierung, Alternativen#Krankenhaus #Pflege #Organisierung #Alternativen

Gesundheitszentren als Orte politischen Handelns und gesellschaftlicher Veränderung zu verstehen, liegt für die meisten Menschen nicht unbedingt nahe. Gesundheitsversorgung wird eher als Serviceleistung wahrgenommen und Arztpraxen als Orte, die man nur krank aufsucht. Zwar ist im Prinzip bekannt, dass sich Arbeitsbedingungen, soziales Umfeld und finanzielle Möglichkeiten auf die Gesundheit auswirken. Selten werden jedoch die «sozialen Determinanten von Gesundheit» (Weltgesundheitsorganisation) explizit zum Gegenstand von Gesundheitsarbeit gemacht.[1] Im Folgenden stellen wir alternative Gesundheitszentren vor, die eine solche soziale Gesundheitsarbeit zum Gegenstand haben.  Ausgehend von diesen Beispielen diskutieren wir, wie zukünftige Gesundheitssysteme aussehen können und inwiefern bestehende Gesundheitszentren Wege dorthin öffnen: Was ist ihr Potenzial für eine gesamtgesellschaftliche Transformation?

Gesundheit und Transformation

Gesundheit[2] stand in Europa lange Zeit nicht im Fokus sozialer Bewegungen. Mit der zunehmenden Ökonomisierung und Privatisierung der Krankenversorgung und den dramatischen Folgen der Sparpolitik für die Gesundheit der Menschen vor allem in den krisengeschüttelten Ländern in Südeuropa hat sich dies geändert. Die Notwendigkeit für Veränderung – im Gesundheitssystem und darüber hinaus – ist vielen Menschen deutlich geworden.

Es gibt unterschiedliche Theorien, wie sich eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung erreichen lässt. Um das Veränderungspotenzial der von uns untersuchten Gesundheitszentren einzuschätzen, beziehen wir uns auf das Konzept der Transformation, wie es im und rund um das Institut für Gesellschaftsanalyse (IfG) der Rosa-Luxemburg-Stiftung entwickelt wurde. Es verweist auf die Idee «revolutionärer Realpolitik» von Rosa Luxemburg, die damit den falschen und unproduktiven Gegensatz zwischen Revolution und Reform überwindet. Reform und Revolution, so Luxemburg, sind nicht «verschiedene Methoden», sondern «verschiedene Momente in der Entwicklung».[3] Demnach muss auch eine tiefgreifende Umwälzung der Verhältnisse unter den gegebenen Bedingungen beginnen und mit konkreten Verbesserungen der Lebenssituation der Menschen einhergehen. Im günstigen Fall lassen sich so Handlungsspielräume erweitern und neue Praxen entwickeln, die es ermöglichen, Schritt für Schritt und nachhaltig eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu bewirken. Das bedeutet auch, realpolitische Schritte und Reformen auf ihr in diesem Sinne revolutionäres Potenzial hin zu befragen. Zwar gilt es, an den konkreten und alltäglichen Sorgen und Nöten der Einzelnen anzusetzen, sie aber zu einem übergreifenden Projekt zu verallgemeinern. Nur dann kann es gelingen, Brüche mit den bestehenden Kräfteverhältnissen herbeizuführen.

Um einen solchen Übergang zu gestalten, bedarf es politischer Praxen, die die bisherigen Akteure und Handlungsstrategien infrage stellen – sogenannter Einstiegsprojekte.[4] Es geht darum, Hierarchien in Zweifel zu ziehen und Orte zu schaffen, in denen eine kollektive Wissensproduktion stattfinden und partizipative Entscheidungsfindung erprobt werden kann. Solche Praxen fordern die herrschende «Ökonomie der Zeit» (Marx) unmittelbar heraus – sie sind unvereinbar mit Profitdruck, Konkurrenz und Existenzangst im Kapitalismus. Um diese Erkenntnis in der Mehrheitsgesellschaft zu etablieren, müssen konkrete Alternativen erlebbar werden.

Wie also können Wege beschritten werden hin zu einer Gesellschaft, in der Wirtschaft, Politik und Kultur solidarisch und durch partizipative Demokratie organisiert sind? Wie könnten konkrete Alternativen im Gesundheitsbereich aussehen? Lassen sich solche Einstiegsprojekte auch auf alternative Strukturen der Daseinsvorsorge wie zum Beispiel Gesundheitszentren übertragen?

Transformatorische Konzepte im Gesundheitsbereich

Gesundheit spielt in den Debatten um Transformation selten eine Rolle. Vermittelt über Diskussionen um Care – also um Pflege und Sorgearbeit – werden gesundheitspolitische Fragen jedoch thematisiert. Hier wird das Projekt einer «bedürfnisorientierten solidarischen Care Economy» vorgeschlagen. Es geht um «eine Reorientierung auf öffentliche Gesundheit, Erziehung und Bildung, Forschung, soziale Dienste, Ernährung(ssouveränität), Pflege und Schutz unserer natürlichen Umwelten».[5] Der Care-Bereich biete unter anderem deshalb strategische Eingriffspunkte, weil sich hier Menschen erreichen lassen, «die bisher nicht in linken Strukturen zu Hause sind, die sich insgesamt von ‹Politik› nicht viel versprechen».[6] Gabriele Winker schlägt eine feministische Transformationsstrategie hin zu einer Care Revolution vor, die «die grundlegende Bedeutung der Sorgearbeit ins Zentrum stellt und darauf abzielt, das gesellschaftliche Zusammenleben ausgehend von menschlichen Bedürfnissen zu gestalten».[7] Auf dem Weg zur «Demokratisierung und Selbstverwaltung des Care-Bereichs» verweist sie unter anderem auf die Rolle von stadtteilbezogenen Gesundheitszentren, die über die ärztliche Versorgung hinausgehen und beispielsweise auch Gemeinschaftsküchen oder Wohngenossenschaften umfassen.[8] Hier zeigen sich Bezüge zur Theorie der sozialen Infrastruktur,[9] die die Reorganisation öffentlicher Güter und der Daseinsvorsorge ins Zentrum eines gesellschaftlichen Umbaus stellt. Krampe et al. schlagen vor, lokale Gesundheitszentren aufzubauen, in denen vor allem Pflegekräfte eine tragende Rolle spielen. Zugleich würden damit Gesundheitsgefährdungen im Stadtteil besser aufgefangen. Die Gesundheitszentren könnten in regionalen und überregionalen Gesundheitsplattformen zusammengeführt werden.[10]

Allen Ansätzen ist gemein, dass sie das Öffentliche, die Gemeingüter ins Zentrum stellen und im Umgang mit ihnen ein «Commoning»[11] zu etablieren suchen, ein kollektives Kümmern um das Gemeinsame. Wie kann also «Gesundheit als Commons» gedacht und praktiziert werden? Einige Erklärungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bieten hierfür interessante Referenzpunkte.

Gesundheit für alle – aber wie?

Eine Basisgesundheitsversorgung (Primary Health Care/PHC), die «Gesundheit für alle» garantieren sollte, wurde in der Erklärung der WHO von 1978 mit fünf Prinzipien skizziert. Diese sind Gleichheit und Gerechtigkeit, Partizipation, ein interdisziplinärer Ansatz, regional, technisch und kulturell angepasste Methoden sowie ein umfassender Gesundheitsbegriff, der Gesundheitsförderung, Krankheitsverhütung, Behandlung und Rehabilitation einschließt. Dabei sollen sogenannte GemeindepflegerInnen, Gesundheitszentren und multisektorale Stadtteilarbeit die Basis der Versorgung bilden. Zentral ist dem hier geprägten und im Folgedokument ausformulierten Konzept der «Gesundheit für alle» die Umorientierung von der Verhütung von Krankheit zur Förderung von Gesundheit (Ottawa Charta 1986). In der Praxis wurde der Ansatz jedoch zunehmend verwässert und neoliberal umgedeutet: Vertikal implementierte Gesundheitsprogramme traten an die Stelle horizontaler, partizipativ entwickelter Ansätze. Individuelle Verhaltensprävention trat an die Stelle von gesellschaftlicher Verhältnisprävention.

Hält man am Leitbild der Basisgesundheitsversorgung fest und stellt es in den Kontext der dargestellten Ansätze der Transformationsforschung, so lassen sich Gesundheitszentren als wichtige Orte der Daseinsvorsorge bestimmen. Es entsteht das Modell eines Gesundheitszentrums, das partizipativ auf allen Ebenen sowie stadtteil- und bedarfsorientiert arbeitet, in dem ein multiprofessionelles Team einem umfassenden Gesundheitsverständnis Rechnung trägt und Fragen von Umwelt und Care-Arbeit in den Mittelpunkt rückt. Die Zentren erscheinen als Laboratorien für gesellschaftliche Veränderung.

Alternative Gesundheitszentren – drei Beispiele aus Europa

In unserer Studie haben wir drei alternative Gesundheitsinitiativen in Griechenland, Belgien und Österreich untersucht und auf ihr transformatorisches Potenzial hin befragt. Ausgangspunkt und prominentestes Beispiel war die Solidarische Klinik in Thessaloniki (Solidarity Social Medical Center/SSMC), deren Arbeit in der (linken) deutschen Öffentlichkeit vielfach vorgestellt wurde. Entstanden als Initiative zur medizinischen Versorgung von MigrantInnen und Geflüchteten ohne Versicherung, wurde das Zentrum im Zuge der Krise zum Anlaufpunkt für immer mehr Bevölkerungsgruppen. Alle EinwohnerInnen ohne Krankenversicherung können dort eine medizinische Grundversorgung erhalten. Die Klinik versteht sich als Teil der Bewegung gegen die Austeritätspolitik und ist eingebunden in antirassistische und antifaschistische Bewegungen sowie in Netzwerke solidarischer Ökonomie. Das basisdemokratisch organisierte Kollektiv legt wert auf Unabhängigkeit vom Staat, von der EU und der Kirche, von politischen Parteien und vom Markt – es basiert allein auf Solidarstrukturen, Freiwilligenarbeit und Spenden.[12]

Auch wenn das griechische Beispiel aus Platzgründen hier nicht weiter ausgeführt werden kann, bietet es doch eine interessante Vergleichsfolie zu den anderen Fallbeispielen. Sie zeigen unterschiedliche Wege einer alternativen ambulanten Versorgung auf – jenseits der verschärften Bedingungen der Krise, aber ebenfalls konfrontiert mit Kostendruck und getragen vom Versuch der solidarischen Organisierung.

Der Stadtteil im Fokus – das Sozialmedizinische Zentrum in Graz, Österreich

Das Sozialmedizinische Zentrum (SMZ) im Grazer Stadtteil Liebenau vereint primärmedizinische Versorgung, soziale Arbeit, Gesundheitsförderung, Gemeinwesenarbeit, Musiktherapie sowie psychosoziale und rechtliche Beratung unter einem Dach. Gegründet 1984, ist es das erste und bis heute einzige Zentrum dieser Art in Österreich. Die Gründer waren geprägt von der kritischen Medizinerbewegung und den Erfahrungen marxistisch-leninistischer K-Gruppen. Einen Bezugsrahmen für ihre Arbeit fanden sie in den genannten Erklärungen der WHO zur Basisgesundheitsversorgung. Dieser Ansatz bietet Raum für breitere Allianzen und ermöglicht zugleich eine systemkritische Arbeit unter dem Motto «Gesundheit für alle». Das SMZ zielt zwar darauf ab, solidarische Netzwerke und Selbstermächtigung zu fördern. Eine linke solidarische Bewegung, die dessen Arbeit konkret unterstützt hätte, gab es jedoch bei Gründung – und gibt es bis heute – nicht.

Im SMZ arbeitet ein multiprofessionelles Team stadtteilorientiert und mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung. Dazu gehören eine ärztliche Gemeinschaftspraxis mit zwei Fachärzten, einem Weiterbildungsassistenten und zwei medizinischen Fachangestellten, des Weiteren zwei MitarbeiterInnen für Gemeinwesenarbeit und Gesundheitsförderung, eine Musiktherapeutin und eine Sozialarbeiterin. Eine gelernte Juristin ist zuständig für Verwaltung und Finanzen. Hinzu kommt die Familienberatungsstelle Graz Süd mit einer Rechtsberatung, ärztlicher, psychotherapeutischer und Sexualberatung sowie sozialarbeiterischer Beratung. Über mehrere Jahrzehnte waren auch SoziologInnen, PhysiotherapeutInnen und ein ambulanter Pflegedienst Teil des SMZ. Rechtlicher Träger aller Bereiche ist der Verein für praktische Sozialmedizin, dessen Vorstand alle fünf Jahre gewählt wird.

Die beiden Ärzte und Gründer des Zentrums haben Weiterbildungen in den Bereichen Psychotherapie, Arbeits-, Sucht- und Umweltmedizin absolviert. Sie betreiben eine pharmakritische, psychosomatische Medizin, in der sie sich bewusst Zeit für die PatientInnen nehmen und dafür finanzielle Einbußen in Kauf nehmen. Die Sozialarbeiterin kooperiert eng mit den Ärzten und ist für die sozialrechtliche Beratung zuständig; sie hilft bei Behördengängen oder Wohnungsproblemen. Zusammen mit der Musiktherapeutin und zwei MitarbeiterInnen für Gemeinwesen und Gesundheitsförderung ist sie viel im Stadtteil unterwegs. Das Team geht dorthin, wo die Menschen leben, lernen oder arbeiten – entsprechend hat das SMZ Außenstellen in verschiedenen Bezirken aufgebaut. Es betreibt außerdem Öffentlichkeitsarbeit mit einer regelmäßig erscheinenden Zeitschrift und einer Veranstaltungsreihe.

Während sich die Gemeinschaftspraxis durch reguläre Gelder der Sozialversicherung trägt, werden soziale Arbeit und Betrieb der Familienberatungsstelle aus öffentlichen Geldern der Sozialministerien finanziert. Alle anderen Bereiche werden mit ein- bis dreijährigen Verträgen mittels (zeitaufwendiger) Projektanträge finanziert.Knotenpunkt für die Arbeit des Teams ist die wöchentliche, verpflichtende Teamsitzung, wo die MitarbeiterInnen bei gleichem Mitspracherecht Ideen und Probleme einbringen können. Hinzu kommen monatlich stattfindende interdisziplinäre Fallkonferenzen. Bei Bedarf wird eine Helferkonferenz einberufen, in der PatientInnen, Angehörige und Betreuende gemeinsam eine individuelle Situation besprechen und die für die PatientIn beste Lösung suchen.Entscheidungen, die das Zentrum betreffen, werden meist im Konsens gefällt. Es gibt jedoch bewusst akzeptierte Hierarchien. So fungiert einer der Ärzte von Beginn an als Vorstandsvorsitzender. Wichtige oder dringende Entscheidungen werden von den Ärzten gefällt. Zum einen spiegelt das die finanzielle und rechtliche Verantwortung der Ärzte wider, zum anderen möchten viele MitarbeiterInnen diese Verantwortung nicht mittragen. PatientInnen sind hier – im Unterschied zu den beiden anderen Projekten – nicht in die interne Arbeit des Zentrums eingebunden.

Die Arbeit im Stadtteil ist jedoch beteiligungsorientiert. Sie findet auf vier Ebenen statt: zunächst in der Einzelfallarbeit insofern, als durch den interdisziplinären und ganzheitlichen Ansatz immer die Lebens- und Arbeitsbedingungen mitreflektiert werden; außerdem in den wöchentlichen Gruppenangeboten wie geselligen Brunchs, Gartenarbeit, Kochen, Musizieren oder Walken, die mit den AnwohnerInnen gemeinsam entwickelt werden. Hier sollen soziale Netze gestärkt und Gesundheit gefördert werden. Die AnwohnerInnen schätzen den niedrigschwelligen Kontakt zu den SMZ-MitarbeiterInnen.

Darüber hinaus hat das SMZ lokale Gesundheitsplattformen initiiert, um Gesundheit im Stadtteil tatsächlich sektorenübergreifend und partizipativ zu verhandeln. Bei der größten, der Gesundheitsplattform Liebenau, treffen sich sechsmal im Jahr VertreterInnen von Bürgerinitiativen, der Kirche, Schulen, Seniorenvereinen, Parteien oder dem Bezirk. Die Plattform ist offen für alle AnwohnerInnen und konnte schon diverse konkrete Erfolge im Stadtteil erzielen, beispielsweise die Umwidmung von Grünflächen in Industriegebiete verhindern und die Feinstaubbelastung reduzieren. Sie war ein Katalysator für soziale Bewegungen im Stadtteil und hat diverse Bürgerbündnisse hervorgebracht. Schließlich macht das SMZ eigene politische Arbeit und ist in vielen kommunalen Netzwerken aktiv. Es hat sich erfolgreich gegen ein Energiekraftwerk und die Umleitung des anliegenden Flusses Mur sowie den Abriss einer Wohnsiedlung eingesetzt und den Arbeitskampf gegen die Schließung der ansässigen Zweiradproduktion unterstützt. Im Zuge dieser Aktivitäten war es auch in die kritische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Stadtteils involviert – dabei wurde unter anderem die Geschichte eines lokalen Zwangsarbeiterlagers aufgedeckt. Zusätzlich ist das Zentrum mit den Grazer Universitäten vernetzt und hat viele Forschungsprojekte der partizipativen Sozialforschung initiiert oder unterstützt.

Das SMZ ist mit seinem stadtteilorientierten Ansatz ein Pionier- und Leuchtturmprojekt in Österreich. Im Gegensatz zum folgenden Beispiel – dem belgischen Médecine pour le peuple – konnte es jedoch kein landesweites solidarisches Netzwerk aufbauen.

Gesundheitsversorgung zwischen Partei und Bewegung – Médecine pour le peuple in Belgien

Médecine pour le peuple (MPLP) betreiben in Belgien insgesamt elf Gesundheitszentren, die an die 30.000 PatientInnen versorgen – immerhin fünf Prozent der belgischen Bevölkerung. Die Organisation hat ihren Ursprung in der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre und der damals gegründeten marxistischen Arbeiterpartei Belgiens (Parti du Travail de Belgique/PTB). Das erste Gesundheitszentrum entstand 1971 aus der Solidaritätsarbeit für streikende Hafenarbeiter. Obwohl MPLP aus der Partei hervorgegangen sind und ihre politischen Positionen teilen, sind sie wirtschaftlich und organisatorisch unabhängig. Die Gesundheitszentren arbeiten nach drei Prinzipien: Sie sollen den kostenfreien Zugang aller zu einer hochwertigen medizinischen Versorgung sicherstellen, die gesellschaftlichen und ökonomischen Einflussfaktoren auf Gesundheit thematisieren, dabei die Forderungen und Bedürfnisse von PatientInnen und BürgerInnen einbeziehen und diese umfassend beteiligen. Die Mitarbeit in den Zentren setzt keine Parteimitgliedschaft voraus, es wird allerdings eine gewisse politische Loyalität und Nähe zur Partei erwartet.

Seit dem Jahr 2000 wird die Arbeit durch ein solidarisches Umlageverfahren, das sogenannte Forfait-System finanziert. Auf Grundlage einer Vereinbarung mit den staatlichen Sozialversicherungsträgern erhält jedes Gesundheitszentrum – gemessen an der Zahl der dort registrierten PatientInnen – monatlich einen festen Betrag aus deren Kassen. Diese werden unabhängig davon, ob die Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden, an die Gesundheitszentren ausgezahlt. Die PatientInnen selbst müssen – im Gegensatz zu vielen anderen Einrichtungen des belgischen Gesundheitswesens – keine Zusatzzahlungen leisten. Alle MitarbeiterInnen sind fest angestellt und beziehen einen kollektiv vereinbarten Lohn. Das Gehalt der ÄrztInnen liegt dabei deutlich unter dem Durchschnitt ihrer KollegInnen in Belgien, jedoch über dem der anderen MitarbeiterInnen im Zentrum. Das an dieser Stelle eingesparte Geld wird für nachbar- und bürgerschaftliches Engagement verwendet, etwa für gesundheitsfördernde Bildungsangebote, oder in politische Kampagnen investiert, die die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen ins Visier nehmen.

In den Zentren wird eine medizinische Grundversorgung angeboten. Das Team setzt sich aus ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen, VerwaltungsmitarbeiterInnen und mindestens einer weiteren Fachkraft, etwa einer ErnährungswissenschaftlerIn, PsychotherapeutIn oder PsychologIn, zusammen. Um einem ganzheitlichen Ansatz gerecht zu werden, sind pro Behandlung durchschnittlich 20 Minuten vorgesehen. Die angebotenen Dienste sind vor allem für diejenigen gedacht, die besonders bedürftig sind. Deshalb befinden sich die Zentren in Vierteln, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und viele Menschen ohne Papiere leben. Dadurch, dass ehrenamtliche HelferInnen an sämtlichen Aktivitäten von MPLP beteiligt sind, haben sich ihre Zentren auf der kommunalen Ebene zu wichtigen Gemeinschaftsprojekten entwickelt.

MPLP setzen auf das Konzept der partizipativen Demokratie. Angelegenheiten, die alle elf Zentren betreffen, wie etwa Finanzierungsfragen oder bundesweite Kampagnen, werden in einem nationalen, alle zwei Wochen tagenden Koordinierungskreis entschieden. Über ihre alltägliche Arbeit bestimmen die lokalen Zentren selbstständig auf Basis der jeweiligen Bedingungen und Bedürfnisse. Die Verbindungen zwischen den Zentren und der PTB sind eher indirekt. Die Partei macht keine direkten Vorgaben, viele MitarbeiterInnen sind jedoch Parteimitglieder, häufig sogar in den Gemeinde- und Stadträten aktiv. Die enge Verbindung zwischen Organisation und Partei bietet die Möglichkeit, öffentliche Debatten über strukturelle Probleme des Gesundheitswesens anzustoßen und dafür zu sorgen, dass sich die entsprechenden politischen Stellen damit befassen.

Die medizinische Arbeit ist bei MPLP in verschiedener Hinsicht eng mit politischer Arbeit verknüpft. Gesundheitsprobleme, die in einem Zentrum auftreten, werden zu den strukturellen Faktoren in der örtlichen Community ins Verhältnis gesetzt. Ein Schwerpunkt besteht darin, sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, wobei die Bandbreite der Aktivitäten von Beratungstätigkeiten über die Organisierung von Aufklärungskampagnen bis hin zur Mobilisierung der Betroffenen reicht. Auch betreiben die Zentren Forschung zu Umweltfaktoren und den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung. Die Ergebnisse dienen häufig als Grundlage für Kampagnen und werden genutzt, um politischen Druck aufzubauen. Ein Beispiel ist eine Kampagne für Preissenkungen bei Medikamenten. Die MPLP versorgen auch MigrantInnen ohne Papiere, die in Belgien offiziell keinen Zugang zum Gesundheitswesen haben. Das oben erwähnte Finanzierungsverfahren ermöglicht es, einen Teil der staatlichen Zuwendungen zu deren Gunsten «umzuverteilen».

Médecine pour le Tiers Monde (M3M), eine Partnerorganisation von MPLP, betreibt Projekte in Palästina, im Libanon und auf den Philippinen und ist somit Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung. Zuletzt initiierten die Organisationen eine Solidaritätskampagne für Griechenland und gegen die neoliberalen Austeritätsmaßnahmen. Um Leute zu mobilisieren, werden zu solchen Anlässen lokale Informationsveranstaltungen organisiert und die Menschen vor Ort aufgesucht: Mitglieder gehen von Tür zu Tür, in die Fabriken und Unternehmen und üben Solidarität mit Streikenden.

Emanzipatorische Gesundheitszentren als Einstiegsprojekte in eine gesamtgesellschaftliche Transformation?

Alle drei Initiativen – das SSMC in Thessaloniki, das SMZ in Graz und MPLP in Belgien – bieten unabhängig von den unterschiedlichen Entstehungs- und Kontextbedingungen erfahrbare Alternativen zu dominanten Formen der Gesundheitsversorgung. In Deutschland gibt es unseres Wissens keine vergleichbaren Projekte. Ansätze, die diesen Initiativen am nächsten kamen, sind nahezu alle gescheitert.[13] So wurden etwa die Polikliniken der DDR durch die marktkonformen Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) ersetzt.

Um – anknüpfend an die zu Beginn skizzierte Debatte zu gesellschaftlicher Transformation – einzuschätzen zu können, ob die dargestellten Gesundheitsprojekte als «Einstiegsprojekte» und Vorbild für andere Ländern dienen können, bedarf es einer weiteren Beschäftigung mit ihren Organisationsstrukturen und Funktionsweisen. Allerdings lassen sich an dieser Stelle bereits einige Prinzipien und Kriterien benennen, die uns in diesem Zusammenhang besonders relevant erscheinen: solidarisches Handeln, eine Orientierung an Bedürfnissen, ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit, die Fähigkeit zur Verbreiterung und Verallgemeinerung sowie die Bereitschaft, den Bruch mit dem Alten zu wagen.

Solidarisches Handeln

Das Gesundheitswesen ist traditionell von starken Hierarchien und einem großen Machtgefälle zwischen den beteiligten Akteuren geprägt. Die hier vorgestellten Initiativen verfolgen in diesem Feld einen emanzipatorischen Anspruch. PatientInnen und AnwohnerInnen kommt gemeinsam mit den MitarbeiterInnen eine aktive Rolle zu, und Gesundheitsversorgung wird als ein «Gemeingut» begriffen. Aus passiven HilfeempfängerInnen werden aktiv Handelnde, die man zur Selbstbestimmung ermutigt. Die ÄrztInnen, die hier recht eng mit anderen Fachkräften kooperieren, lernen, die Dogmen ihrer eigenen Disziplin infrage zu stellen, ebenso ihre Rolle im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft. Der Aufbau von solch egalitären Beziehungen erfordert eine andere «Ökonomie der Zeit» (Marx). Es geht nicht länger um Gewinnmaximierung, sondern darum, Vertrauensverhältnisse zu schaffen und solidarische Beziehungen aufzubauen.Die vorgestellten Initiativen hinterfragen immer wieder die Legitimation des dominanten Gesundheitssystems und greifen die ihm zugrunde liegenden Machtstrukturen an. Diese Schritte hin zu mehr Gleichheit und gegenseitiger Solidarität können als Voraussetzung für weitere, radikale gesellschaftliche Transformationen betrachtet werden. Nur durch veränderte, stärker auf Gleichberechtigung setzende Beziehungen zwischen den Akteuren im Gesundheitswesen und den Menschen und Communitys, die sie versorgen, wird ein gemeinsamer politischer Kampf mit einer emanzipatorischen Ausrichtung überhaupt vorstellbar.

Bedürfnisorientierung statt Ökonomisierung

Alle dargestellten Initiativen begreifen Gesundheit und Gesundheitsversorgung als öffentliches Gut und bekämpfen dessen zunehmende Kommodifizierung. Sie gehen von den Bedürfnissen der PatientInnen und Communitys aus und betrachten diese als Handelnde im Feld gesundheitlicher Versorgung. Auch den Anliegen des Personals versuchen sie – auf je unterschiedliche Weise – gerecht zu werden.

Das Finanzierungsmodell der Solidarischen Klinik in Thessaloniki orientiert sich am stärksten an einem Commons-Modell. Jede direkte Zusammenarbeit mit Staat und Markt wird abgelehnt – die benötigten Mittel stammen von AnwohnerInnen und anderen privaten Spendern. Auf diese Weise findet ein auf Solidarität und Gegenseitigkeit basierender Austausch von Ressourcen und Leistungen statt, bei dem besonders auf gleichberechtigte Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten geachtet wird.Auch die MPLP richten ihre Arbeit am «Bedarf von unten» aus. Nicht nur, dass die Gesundheitszentren in ehemaligen Industriebezirken mit hoher Arbeitslosigkeit angesiedelt sind, auch das Finanzierungsmodell ermöglicht eine gewisse Umverteilung von Ressourcen hin zu den Bedürftigen und zu Community-Projekten. Außerdem wird Wert auf eine gerechte Entlohnung gelegt.

Das SMZ in Graz schließlich entwickelt seine Stadtteilarbeit ebenfalls zusammen mit den Menschen vor Ort und thematisiert im Rahmen der sektorenübergreifenden Gesundheitsplattformen die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung. Auch wenn die PatientInnen (anders als bei den solidarischen Kliniken) nicht aktiv in die internen Abläufe und Entscheidungen des Zentrums eingebunden sind, so sind sie in diesem Arrangement doch Akteure, die über ihre eigene gesundheitliche Versorgung mitbestimmen.

Ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit

In der wissenschaftsorientierten Medizin dominiert das Leitbild der Fragmentierung und Enteignung: Der menschliche Körper wird in zusammenhanglose Untersysteme zerteilt und der Behandlungsprozess ist ein auf das einzelne Symptom reduzierter medizinischer Akt. Die PatientInnen werden nicht eingebettet in ihren jeweiligen sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Kontext betrachtet – sondern es dominiert die bürgerliche Vorstellung vom «autonomen Individuum».Der Ansatz der Gesundheitszentren unterscheidet sich grundsätzlich davon. Hier ist die Community, die gesellschaftliche Eingebundenheit der Einzelnen, der zentrale Referenzrahmen. Individuum und Gesellschaft werden als wechselseitig vermittelt verstanden. In dieser Sichtweise erscheint Gesundheit als ein sozioökonomisch-biophysikalischer Komplex, dessen Förderung nur mit einem ganzheitlichen und interdisziplinären Ansatz gelingen kann. Dieser erfordert eine Umstellung der beteiligten Akteure und sektorenübergreifende Aktivitäten auf allen Ebenen – auf der lokalen, regionalen und internationalen.

Das SSCM in Thessaloniki gehört zu einem breiten Solidaritätsnetzwerk, das fast alle Aspekte des Lebens umfasst: von der Ernährung über das Wohnen bis hin zu Umweltfragen. Im Zuge ihres Kampfes gegen die Demontage des griechischen Gesundheitssystems haben sie national und weltweit Kontakte geknüpft. Eine Organisation wie die MPLP zeigt, dass solch ein Netzwerk über die Zeit wachsen und sich weiterentwickeln kann, ohne seinen progressiven Ansatz und Anspruch zu verlieren. Zusammen mit ihrer Partnerorganisation Médecine pour le Tiers Monde (M3M) sind MPLP im internationalen Peopleʼs Health Movement und verschiedenen anderen progressiven Netzwerken aktiv.

Die sektorenübergreifenden Plattformen, die das SMZ in seiner Nachbarschaft in Graz eingerichtet hat, stehen ebenfalls für einen ganzheitlichen Ansatz in der Gesundheitspolitik. Sie können als exemplarisch gelten für das, was Winker in ihrem Konzept der Care Revolution als Care-Räte bezeichnet, oder für das, was im Konzept sozialer Infrastrukturen[14] als regionale Gesundheitsplattform beschrieben wird. Die lokalen Strukturen wirken der zunehmenden Anonymisierung und Zentralisierung von Entscheidungen entgegen und stärken den Bezug auf das Gemeinsame. Damit geht von diesen Initiativen für ein anderes Gesundheitswesen eine transformatorische Kraft aus, die alle Lebensbereiche berühren kann.

Verbreitern und Verallgemeinern

Die Frage, inwieweit die vorgestellten Gesundheitsinitiativen Ansätze bieten, die verallgemeinerbar wären und damit Einstiege in Transformation darstellen könnten, ist letztlich nicht konzeptionell zu beantworten, sondern in erster Linie eine Frage verbindender Praxen. Eine Reihe von Herausforderungen und Bedingungen lassen sich formulieren. Alle drei Initiativen sind zunächst stark von ihrem jeweiligen Entstehungszusammenhang geprägt und haben eine unterschiedlich große geografische Reichweite. Nicht alle sind in politische Netzwerke eingebunden.

Bei den MPLP in Belgien scheint besonders die Rolle der PTB in diesem Prozess von Bedeutung. Die Anbindung an die Partei sowie die damit verbundenen Kontinuität der Arbeit hat die Ausweitung der Gesundheitszentren über ganz Belgien befördert und sichert die politische Eingebundenheit der MitarbeiterInnen, sowie eine gemeinsame Zielstellung. Das SSCM wiederum ist Teil eines Netzwerkes von ähnlichen Projekten in ganz Griechenland, von denen die meisten aus der Krise heraus entstanden. Ihr großer Vorteil ist: Auch wenn sich diese in ihren Ansätzen zum Teil unterscheiden, so haben sie doch begonnen, gemeinsame politische Ziele zu entwickeln, und verstehen sich als Teil einer breiten solidarischen Bewegung.

Diese Art von Bewegung fehlt in Österreich. Das SMZ hat im Stadtteil Liebenau zwar viel bewegt und ist dort gut verankert. Es gibt jedoch keine mit Griechenland vergleichbaren überregionalen solidarischen Netzwerke. Das Zentrum ist nicht Teil einer kritischen Bewegung und hat kein gemeinsames politisches Fundament. Damit bleibt es stark an das Engagement von Einzelpersonen gebunden. Mit der anstehenden Pensionierung der Gründer wird sich zeigen, ob das SMZ es schaffen kann, die Fortsetzung seiner kritischen Arbeit zu gewährleisten.

Den Bruch wagen

Neben der politischen Reichweite und der Verallgemeinerbarkeit ist des Weiteren zu fragen, inwieweit in den vorgestellten Projekten bereits ein Bruch mit dem Bestehenden angelegt ist. Von allen drei Initiativen, die wir in unsere Untersuchung einbezogen haben, lässt sich sagen: Sie haben unter den gegebenen Bedingungen versucht, etwas ganz Neues zu schaffen, anstatt sich am Alten festzuhalten. Ob sie damit schon eine Öffnung für weiterreichende Entwicklungen erkennen lassen, die zu einer Abkehr von der allgemeinen Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und anderer Gesellschaftsbereiche beitragen, darüber lässt sich streiten.

So vertreten Brie und Klein die Ansicht, dass ein Bruch mit dem Kapitalismus in solchen lokalen Initiativen zunächst unmöglich sei angesichts der geringen Ressourcen.[15]  Gleichwohl können sie dazu beitragen, eine Transformation vorzubereiten, indem sie Alternativen überhaupt erfahrbar machen. Dazu gehört dann auch, langfristig einen Teil der privilegierten Bevölkerungsgruppen auf die eigene Seite zu ziehen, darüber Mehrheiten zu verschieben und zugleich Ressourcen auszuweiten, die Zeit und Raum für die Verbreiterung von transformativen «Einstiegsprojekten» schaffen. Die hier vorgestellten Initiativen konnten einen solchen Verallgemeinerungsprozess nur partiell durchlaufen. Vielmehr haben sie ihre Aktivitäten und Anstrengungen darauf konzentriert, alternative Räume (gewissermaßen Parallelwelten) zu schaffen, in denen progressive Konzepte umgesetzt werden können. Dabei setzen sie auf unterschiedliche Partner und Strategien.

Die belgische Organisation MPLP ist ganz offensichtlich ganz eng verwoben mit staatlichen Strukturen und nutzt eine linke Partei, um politische gesellschaftlichen Wandel zu bewirken. Dagegen steht der Ansatz der solidarischen Kliniken in Griechenland. Ihre bewusst praktizierte Unabhängigkeit von Staat, politischen Parteien, Markt und Kirche nimmt vorweg, wie sich die Beteiligten eine zukünftige Gesellschaft vorstellen: als eine basisdemokratische Verwaltung der Gemeingüter in den Händen der Community. Das SMZ wiederum hat die lokale Begrenzung nicht überschritten, stellt aber in dem unterprivilegierten Wohnviertel eine wichtige Anlaufstelle für die AnwohnerInnen dar. Es ist ein Ort des Austauschs und der Selbstermächtigung, in dem der Anspruch formulierbar wird, selbst Akteur der eigenen Gesundheit und der dafür maßgeblichen lokalen und gesellschaftlichen Bedingungen zu sein.  

Ausblick: TAMARA statt TINA

Um transformative Prozesse anzustoßen, ist es zentral, das Neue und Andere erleb- und erfahrbar zu machen, denn der Mangel an Perspektiven sichert nach wie vor einen passiven Konsens zum Bestehenden.[16] Der Erfolg der hier vorgestellten Gesundheitsinitiativen und -zentren besteht unserer Ansicht nach vor allen Dingen darin: Sie haben es geschafft, für alle Beteiligten – MitarbeiterInnen wie NutzerInnen –, Alternativen zum herrschenden System der medizinischen Gesundheitsversorgung umzusetzen und damit Alltagspraxen zu entwickeln, die für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung von Bedeutung sind. Die unterschiedlichen Projekte zeigen, dass es innovative Ansätze und realpolitische Lösungen für bestehende Probleme geben kann. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag dazu, das TINA-Syndrom («There Is No Alternative»/«Es gibt keine Alternative») zurückzudrängen und ein TAMARA-Gefühl («There Are Many And Realistic Alternatives»/«Es gibt eine Vielzahl von machbaren Alternativen») zu erzeugen. Sie machen praktisch erlebbar, wie zukünftige, nachhaltige Systeme der Gesundheitsversorgung aussehen könnten, und bereiten den Weg für transformative Prozesse im Gesundheitsbereich.

Wenn wir die dargestellten Gesundheitszentren unter der Fragestellung betrachten, ob sie Momente einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung sein können, so sind neben den bereits genannten Kriterien und Herausforderungen noch weitere zu berücksichtigen. Zunächst einmal muss das Überleben der bereits existierenden Initiativen gesichert werden. Zudem wäre dafür zu sorgen, dass die daran Beteiligten trotz ihrer hohen Arbeitsbelastung den Blick nicht verlieren für weiterreichende Veränderungen und dazu beizutragen, dass ähnliche Projekte an anderen Orten entstehen können. Zudem wohnt allen vorgestellten und ähnlichen Initiativen grundsätzlich die Gefahr inne, von institutionellen Logiken vereinnahmt zu werden und das herrschende System langfristig zu stabilisieren. Daher kommt es darauf an, zu verhindern, dass die Projekte emanzipatorischer Gesundheitsversorgung mit ihrem innovativen Potenzial nicht mit der Zeit vom neoliberalen Kapitalismus integriert werden. Welche Maßnahmen und Schritte dafür geeignet sind, kann jedoch nur in der Praxis und konkreten Auseinandersetzungen herausgefunden werden.Konzeptionell bietet neben der Commons-Diskussion der Ansatz, Gesundheit als Sorgebeziehung zu verstehen und sie in einer Care-Ökonomie zu verorten, wahrscheinlich den vielversprechendsten Ansatz, um breite gesellschaftliche Diskussionen zu initiieren und Bündnisse zu schließen, die notwendig sein werden, um grundlegende sozialpolitische Änderungen durchzusetzen. Verankert zu sein in einer Struktur mit einem transformatorischen Anspruch – sei es Bewegung oder Partei – scheint uns darüber hinaus zentral zu sein, um eine nachhaltige politische Wirkung zu erzielen. Die richtige Balance im Sinne einer «revolutionären Realpolitik» zu finden, bleibt dabei eine gewaltige Herausforderung. Auch wenn die drei von uns untersuchten Gesundheitsinitiativen in Belgien, Griechenland und Österreich nicht alle Anforderungen an «transformatorische Einstiegsprojekte» erfüllen mögen, stehen sie doch beispielhaft dafür, wie das «»Andere aussehen könnte. Mit unserem Beitrag wollen wir sie bekannter machen und dazu ermutigen, ähnliche Projekte aufzubauen.

Fußnoten

[1] Dieser Artikel basiert auf einer umfassenderen vergleichenden Studie zu Gesundheitszentren in Griechenland, Österreich und Belgien, die demnächst veröffentlicht wird.

[2] Gesundheit soll hier nicht als normatives Konzept verstanden werden. Auch geht es nicht um ein individualisiertes Verständnis, das Schönheits- und Verhaltensideale diktiert, gemäß der neoliberalen Logik, alle Sphären des Lebens marktkonform zu gestalten. Wir beziehen uns vielmehr auf das kollektiv entwickelte Verständnis des People’s Health Movement: «Gesundheit ist eine soziale, ökonomische und politische Aufgabe und ist vor allem ein Menschenrecht. […] Gesundheit für Alle bedeutet, mächtige Interessen herauszufordern, […] und politische wie ökonomische Prioritäten drastisch zu verschieben.» Vgl.: www.phmovement.org/sites/www.phmovement.org/files/phm-pch-german.pdf.

[3] Zitiert nach Brand, Ulrich u. a. (Hrsg.): ABC der Alternativen 2.0. Von Alltagskultur bis Zivilgesellschaft, Hamburg 2012, S. 253.

[4] Vgl. Brangsch, Lutz: «Der Unterschied liegt nicht im Was, wohl aber in dem Wie». Einstiegsprojekte als Problem von Zielen und Mitteln im Handeln linker Bewegungen, in: Brie, Michael (Hrsg.): Radikale Realpolitik. Plädoyer für eine andere Politik, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Texte, Berlin 2009, S. 39‒51.

[5] Candeias, Mario: Passive Revolution vs. sozialistische Transformation, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Papers, Berlin 2010, S. 21.

[6] Fried, Barbara/Dück, Julia: Caring for Strategy, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1/2015, S. 85.

[7] Winker, Gabriele: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld 2015.

[8] Winker: Care Revolution, S. 165 ff.

[9] Krampe, Eva-Maria u. a.: Soziale Infrastruktur im Gesundheitsbereich, Frankfurt am Main 2010, unter: www.links-netz.de/K_texte/K_links-netz_gesundheit.html.

[10] Krampe u. a.: Soziale Infrastruktur, S. 100 f.

[11] Vgl. Bollier, David: Think Like a Commoner. A Short Introduction to the Life of the Commons, Gabriola Island 2014.

[12] Vgl. Benos, Alexis: Austerity kills. Warum die Solidarischen Kliniken auch Orte einer Reorganisierung der Linken sind, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1/2014, S. 58 f. und Candeias, Mario/Völpel, Eva: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland, Hamburg 2014, S. 155 f.

[13] Vgl. Hoffmann, Ute u. a.: Gruppenpraxis und Gesundheitszentrum – Neue Modelle medizinischer und psychosozialer Versorgung, Frankfurt am Main/New York 1982.

[14] Vgl. Krampe u. a.: Soziale Infrastruktur im Gesundheitsbereich.

[15] Vgl. Brie (Hrsg.): Radikale Realpolitik; Klein, Dieter/Brangsch, Lutz: Einstiegsprojekte in einen alternativen Entwicklungspfad, Berlin 2004, unter: www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/3Klein.pdf.

[16] Vgl. Candeias: Passive Revolution vs. sozialistische Transformation.

Kirsten Schubert ist Ärztin, Mitglied des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdäa) und aktiv in einem Netzwerk, das kollektive, stadtteilorientierte Gesundheits- und Sozialzentren in Berlin und Hamburg aufbaut.

Renia Vagkopoulou ist Ärztin und spezialisiert auf globale Gesundheit mit einem Fokus auf soziale Bewegungen. Sie ist ebenfalls Mitglied des vdää und in demselben Netzwerk wie Kirsten Schubert zum Aufbau von stadtteilorientierten Gesundheits- und Sozialzentren in Berlin und Hamburg aktiv.

⋯⋯⋯

Der Text erschien zuerst in «UmCare – Gesundheit und Pflege neu organisieren», herausgegeben von Barbara Fried und Hannah Schurian, August 2017 (RLS MATERIALIEN Nr. 13; 2., überarbeitete Auflage). Der vollständige Band kann hier heruntergeladen werden: https://www.rosalux.de/publikation/id/8432/um-care

#Krankenhaus #Pflege #Organisierung #Alternativen

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Renia Vagkopoulou und Kirsten Schubert beleuchten auf Basis einer Studie zu alternativen Gesundheitszentren in Europa, inwiefern diese Projekte Ansatzpunkte für eine gesamtgesellschaftliche Transformation bieten. Sie zeigen, wie radikale soziale Gesundheitsarbeit aussehen kann, die PatientInnen als politische Subjekte begreift und die sozialen Determinanten von Gesundheit mit einbezieht.

Der Text erschien zuerst in «UmCare – Gesundheit und Pflege neu organisieren», herausgegeben von Barbara Fried und Hannah Schurian (RLS MATERIALIEN Nr. 13; 2., überarbeitete Auflage). Der Band «UmCare» sucht nach strategischen Interventionspunkten und Potenzialen für eine andere Gesundheits- und Pflegepolitik. Die Texte arbeiten neue Ansätze der Organisierung heraus – im Sinne einer Interessenvertretung derjenigen, die Pflege- und Gesundheitsarbeit leisten oder auf sie angewiesen sind, und im Sinne einer Neuorganisation der Daseinsvorsorge, des Auf- und Ausbaus einer bedürfnisgerechten Infrastruktur.

UmCare – Strategiekonferenz Pflege und Gesundheit. Foto: Rosa-Luxemburg Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

  • #Krankenhaus
  • #Pflege
  • #Organisierung
  • #Alternativen

Die Reproduktionskrise feministisch politisieren

Zwischen neoliberaler Humankapitalproduktion und rechter Refamilialisierung

August 2017 • Katharina Hajek

xx

xx

Pflege, Hausarbeiterinnen, Krise, Feminismus#Pflege #Hausarbeiterinnen #Krise #Feminismus

Das Insistieren darauf, dass wir es gegenwärtig mit einer Krise der sozialen Reproduktion zu tun haben, stellt eine der wichtigsten Interventionen der progressiven, queer-feministischen Linken in herrschende Krisendeutungen dar. egen eine Individualisierung sollen die strukturellen Ursachen von Erfahrungen aufgezeigt werden, die viele im Füreinanderdasein in seiner unterschiedlichsten Form erleben: Erschöpfung, Überforderung, Frust oder das Gefühl der Unzulänglichkeit. Staatliche Austeritätspolitik, Privatisierungen und der markteffiziente Umbau des Wohlfahrtsstaates werden so als Ursachen einer Prekarisierung von Arbeit im öffentlichen Dienst wie auch der flächendeckenden Aushöhlung der öffentlichen Daseinsvorsorge benannt. Die Familie – meist der Verantwortungsbereich von Frauen – kann dies nicht zur Gänze kompensieren, da die gestiegene Frauenerwerbstätigkeit sowie der Druck in vielen Arbeitsverhältnissen schlicht nicht die Zeit und Energie dafür lassen, Pflegeverantwortungen im vollen Ausmaß nachzukommen. Das reibt einerseits den Alltag zwischen Lohnarbeit und Sorgeverantwortungen auf und führt andererseits – dort wo das Familieneinkommen hoch genug ist – zur Auslagerung dieser reproduktiven Arbeiten an meist migrantische, schlecht bezahlte Hausarbeiterinnen in halblegalen Arbeitsarrangements. Zur queer-feministischen Politisierung der Krise der Reproduktion gehört jedoch auch das Aufzeigen der Kämpfe, die dadurch angestoßen wurden. Die Initiative der Care Revolution, die Arbeitskämpfe an der Berliner Charité oder jüngste Initiativen gegen Gentrifizierung und Vertreibung zeigen, dass diese Krise auch mobilisierendes Potenzial hat. Neue Bündnispolitiken, die sich auf das gegenseitige Angewiesensein von Sorgenden und Umsorgten beziehen, werden ebenso diskutiert wie das transformatorische Potenzial von Kämpfen, die an den alltäglichen, reproduktiven Beziehungen ansetzen, in die wir alle eingebunden sind: für den Kampf um neue Verhältnisse und für eine andere Art, sich ins Verhältnis zu setzen (vgl. Dück/Fried 2015).

Doch nicht nur die progressive Linke redet von der Krise der sozialen Reproduktion. Im Gegenteil wird diese Krisendimension gegenwärtig – eher noch als die Wirtschafts- oder ökologische Krise – sowohl von den herrschenden Kapitalfraktionen als auch von der aufstrebenden Neuen Rechten als solche erkannt, benannt und versucht zu bearbeiten. Wie auch bei den progressiven Kräften geht es dabei stets in der einen oder anderen Form um die Krise der Reproduktion der Arbeitskraft wie auch der Bevölkerung. Die Krise der sozialen Reproduktion ist somit ein umkämpftes Terrain und ein Interventionspunkt für unterschiedlichste Interessen.

Neoliberale Humankapitalproduktion

So forcieren die Arbeitgeberverbände in Deutschland seit nunmehr einigen Jahrzehnten einen Krisendiskurs um die Frage der Reproduktion der Arbeitskraft und der Bevölkerung. Der „demografische Wandel“ ist dabei die zentrale Chiffre. Bereits in der Rentendiskussion wurde ab den 1990er Jahren vor einer „Überalterung der Gesellschaft“ gewarnt, wonach immer weniger Beitragszahler*innen eine immer Größere Gruppe an Leistungsbezieher*innen finanzieren müssen. Der sogenannte PISA-Schock im Jahr 2000, das im internationalen Vergleich schlechte Abschneiden deutscher Schüler*innen, fügte der Diskussion um die Reproduktion des Humankapitals eine qualitative Dimension hinzu und ließ keine rosigen Aussichten für das zukünftige Arbeitskräftepotenzial der ‚Wissensökonomie Deutschland’ zu. Gerahmt wurden diese Diskurse vor allem in den 1990er und 2000er Jahren von medial vermittelten Bildern von „menschenleeren Landstrichen“, „schrumpfenden Städten“ und „leeren Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen, die nach und nach in Alten- und Pflegeheime umgewandelt werden“ (vgl. Auth/Holland-Cunz 2007). 

Ab 2002 setzt das Kabinett Schröder II diesen Entwicklungen eine „nachhaltige“ und „bevölkerungsorientierte Familienpolitik“ entgegen, die später auch von der CDU übernommen wurde und die Familienpolitik in Grundzügen bis heute prägt. Damit erfolgte die Hinwendung zu einer aktiven Bevölkerungspolitik, die neben einer forcierten Erwerbsintegration von Müttern vor allem auf eine Geburtensteigerung setzt. Wirft man einen Blick auf die ihr zugrundeliegenden Expertisen, die vom Familienministerium gemeinsam mit familienpolitisch früher eher wenig engagierten Akteuren wie der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) oder dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) erstellt wurden, so wird die Reproduktionskrise so explizit wie nie zuvor reflektiert. Das diagnostizierte Geburtendefizit stellt sich vor allem als Problem des fehlenden "Humanvermögens" für den deutschen Wirtschaftsstandort dar. Die schrumpfende Bevölkerung führe nicht nur zu einer Reduzierung, sondern auch zu einer „Überalterung“ des Arbeitskräftepotenzials. Der fehlende „Bildungshunger“ und die nachlassende „Innovationsfähigkeit“ einer ‚alten’ Bevölkerung zeigten auch betriebswirtschaftliche Folgen, da ältere Arbeitnehmer*innen vermeintlich weniger flexibel, weiterbildungsfreundlich und damit weniger produktiv sind. Gesellschaft wird hier zur Belegschaft, die Reproduktion des Humankapitals zur Frage nach der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. 

Diese Politik ist dabei „selektiv pronatalistisch“ (Schultz 2012): Nicht nur einfach mehr Geburten sollen es sein, sondern vor allem gut ausgebildete Frauen sollen Kinder kriegen. Sie sind es, die ihr Humankapital an ihre Kinder weitergeben sollen. Die einkommensabhängige Gestaltung des Elterngeldes ab 2007 sollte die Elternzeit insbesondere für Gutverdienende attraktiver machen, während dieselbe Leistung Hartz-IV-Empfänger*innen seit 2010 de facto gestrichen wurde. Auch beim Ausbau der Kinderbetreuung greift diese Rationalität, die über die Hartz-IV-Reformen gegenfinanziert werden sollte. Während das erweiterte Angebot an Kleinkindbetreuung der erfolgreichen Karrierefrau eine baldige Rückkehr ins Erwerbsleben ermöglichen sollte, wird in Bezug auf „bildungsferne Eltern“ gerade umgekehrt argumentiert: Die Tagesbetreuung bietet die Möglichkeit, die Kinder aus diesen Familien ‚herauszuholen’ und das Humankapital früh in einem professionalisierten Umfeld zu fördern.

Rechte Bevölkerungspolitik und die heteronormative Familie

Auch die aufstrebende Neue Rechte geht von einer Krise der Reproduktion aus, verknüpft dies jedoch mit einer anderen Problematik. Weniger die quantitative und qualitative Reproduktion der Arbeitskraft als die Sorge um die Reproduktion der ‚deutschen’ Bevölkerung und Gesellschaft stehen hier im Zentrum (vgl. Hentschel in dieser Online -Sonderausgabe). Die AfD greift den herrschenden Diskurs um den demografischen Wandel dabei dankbar auf, übersetzt ihn jedoch in eine vermeintliche „Selbstabschaffung“ Deutschlands (AfD 2017, 37). Nicht der internationale Standortwettbewerb, sondern der ‚demografische Druck’ und die Migrationsbewegungen aus dem globalen Süden machen die negative Geburtenbilanz hier zu einer „Bedrohung Europas“ (ebd., 30). 

Die Krise der Reproduktion ist hier eng mit der Krisenerzählung der heterosexuellen Familie verbunden, die rassistische Dimension in den Biopolitiken der Rechten ist also nicht zu trennen von ihrer heteronormativen. Die rechtskonservative Rede von der Familie als „Keimzelle“ ist hier im doppelten Sinne zu verstehen, da – wie es die Vorsitzende der Initiative Christen in der AfD, formuliert – „in diesen sich ergänzenden Geschlechtern [die] biologische und soziale Zukunftsfähigkeit jeder Gesellschaft“ liegt (Schultner 2014). Die geschlechterhierarchische Familie sorgt in diesem Gesellschaftsbild nicht nur für die physische Reproduktion, indem sie Kinder ‚produziert’. Sie ist auch Dreh- und Angelpunkt für die kulturelle und soziale Reproduktion von Gesellschaft: „Stabile Familien sind die Mitte und Grundlage jeder sich selbst erhaltenden Gesellschaft, in der Wohlstand und sozialer Frieden herrschen und Werte weitergegeben werden.“ (AfD 2017, 37). Will heißen: Nur die heteronormative, privatisierte Konstellation von Vater und Mutter garantiert hier die Ausbildung von ‚normalen’ Identitäten und die Weitergabe der damit verbundenen Werte und normativen Orientierungen. Ehe und Familie gelten folglich auch als „staatstragende Institut [...], weil nur dieses das Staatsvolk als Träger der Souveränität hervorbringen kann“ (ebd., 40). Kommen Zweigeschlechtlichkeit und Familie ins Wanken – wie von der Neuen Rechten befürchtet – gerät also nicht nur die quantitative Reproduktion der (‚deutschen’) Bevölkerung in Gefahr, sondern die Gesellschaft als solche. 

Die rechten Bearbeitungsformen, um dieser Reproduktionskrise beizukommen, haben ebenso eine quantitative wie qualitative Seite. Die AfD fordert einerseits die Schließung der Grenzen, die Verhinderung der Zuwanderung sowie eine Beendigung der Abwanderung. Die Rede von der Wiederherstellung der „nationalen Souveränität“ (ebd., 30) steht hier für eine starke Exekutive, die diese Biopolitik in Form von Grenzsicherung und Abschiebungen auch umsetzt. Andererseits wird auch hier – sozusagen als Steigerungsstufe zur neoliberalen Familienpolitik – eine „aktivierende Familienpolitik“ und „nationale Bevölkerungspolitik“ (ebd., 37) gefordert. Ehe und Familie sollen hier ebenso gefördert werden (ebd.) wie die „familiennahe“, sprich häusliche Betreuung von Kindern (ebd., 39) und der „Schutz des ungeborenen Lebens“ (ebd.).

Neoliberale und rechte Biopolitiken als Hegemoniepolitiken

Beide Krisenerzählungen, die des „progressiven Neoliberalismus“ (Fraser 2017) wie auch die der Rechten, ‚greifen’, weil sie jeweils mit spezifischen Geschlechterpolitiken verbunden werden. Sie knüpfen jeweils an alltägliche Erfahrungen an, artikulieren spezifische Vorstellungen über die Gestaltung des Gemeinwesens und bieten Identifikationsangebote. Kurz: Sie können als Hegemoniepolitiken verstanden werden (vgl. Nowak 2010). 

So ist die „nachhaltige Familienpolitik“ auch als Wahltaktik der CDU zu verstehen, um für urbane und gut ausgebildeten Wähler*innen attraktiv zu sein. Diese neoliberale Biopolitik greift dabei durchaus alte feministische Forderungen nach dem Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung, der Erwerbsintegration von Frauen und der Förderung ihrer (finanziellen) Unabhängigkeit auf, reartikuliert sie jedoch in einer Weise, die im letzten Wahlkampf mit Bezug auf Hillary Clinton als business feminism bezeichnet wurden. Anstatt Emanzipation als gesamtgesellschaftliches Projekt zu begreifen, wird diese über den individualisierten Aufstieg einzelner Frauen redefiniert, Fortschritt auf das Durchbrechen ‚gläserner Decken’ reduziert (vgl. Fraser 2017). Im Kontext der Diskussion um Quoten, Work-Life-balance und Diversity-Management kommt es so zu einer Aufwertung einer spezifischen ‚Karriere-Weiblichkeit’. Diese ist zwar eine attraktive Anrufung für eine spezifische Gruppe von Frauen, kann aber nicht als umfassende Subjektivierungsweise fungieren. Gerade die eingangs aufgeworfenen Fragen der materiellen, physischen wie psychischen Reproduktion im Alltag vieler Menschen werden hier ausgespart. Die damit verbundenen Hierarchien und Arbeitsteilungen gerade unter Frauen lässt dieser Ansatz unangetastet. 

Während dieser corporate feminism die Defamilialisierung und Erwerbsarbeit von Frauen fördert, werden der Stress und Leistungsdruck, die schlechten Arbeitsverhältnisse und die Tatsache, dass immer mehr Menschen immer weniger Zeit für sich selbst und ihre Liebsten haben, nicht thematisiert. Genau dies wird von rechtskonservativen Akteuren wie der AfD aufgegriffen. Anstatt diese Kritik jedoch in die Forderung nach einer Umstrukturierung von Arbeitszeitmodellen, der Abschaffung des weiblichen Niedriglohnsektors und der Ausfinanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge zu übersetzen, wird eine erneute Familialisierung von Frauen und eine Reaktivierung des traditionellen Familien-Ernährer-Modells propagiert. Diese Geschlechterpolitiken nutzen dabei oft den Begriff der Wahlfreiheit, der in Deutschland konservativ bis rechts besetzt ist. Damit wird eine Politik angeboten, die es Frauen ermöglichen soll, sich den Zumutungen prekärer ‚Mac Jobs’ ebenso zu entziehen wie den damit verbundenen 60-stündigen Arbeitswochen. Sie können ‚zu Hause’ bleiben, ganz in ‚ihren’ reproduktiven Verantwortungen aufgehen und somit nicht zuletzt auch klaffende Reproduktionslücken schließen. Diese Geschlechterpolitik stellt eine Ankerkennung von Reproduktionsarbeit dar, wenn auch nur in der privatisierten, heteronormativen Form. 

Das fehlt dem neoliberalen Feminismus. Dabei darf man rechtskonservative Geschlechterpolitiken auch nicht dahingehend missverstehen, dass es hier einfach um eine weibliche Unterordnung und Zurückdrängung von Frauen aus der Öffentlichkeit geht. Mit Ausnahme vielleicht spezifischer Strömungen ist es eben nicht einfach ein bloßes „Frauen zurück an den Herd!“. Als Lebensform wäre das heute auch nur für eine verschwindend kleine Minderheit der Frauen interessant. Wenn man sich jedoch beispielsweise auf den von einer AfD-Vorfeldorganisation organisierten "Demos für Alle" umsieht, wo gegen die "Frühsexualisierung von Kindern" und "für die Familie" marschiert wird, bemerkt man, dass Mütterlichkeit als starkes Identifikationsangebot für Frauen fungiert. Hier wird ein neuer Maternalismus artikuliert, der Frauen gerade aufgrund ihrer vermeintlichen Fähigkeit zur Sorge, Pflege und familialen Rolle Präsenz und Mitsprache in der öffentlichen Diskussion zuspricht. Im Kontext einer nationalkonservativen Ideologie wird so eine ‚fürsorgende’, wiewohl ‚starke Weiblichkeit’ propagiert. Das ist eventuell bedeutend anschlussfähiger an viele Lebenserfahrungen, als man sich das auf den ersten Blick denken mag. 

Die Auseinandersetzung um die soziale Reproduktion findet also in einem umfassenden Sinne statt. Die feministische Linke begibt sich damit auf ein ‚beackertes Feld’. Was bedeutet dies nun für die Frage, wie die Reproduktionskrise feministisch zu repolitisieren ist? Im Anschluss an die oben dargelegte Konstellation können drei Punkte in diese Diskussion eingebracht werden.

Die Reproduktionskrise feministisch politisieren 

Erstens müsste es darum gehen, eine alternative Erzählung anzubieten, ohne Biopolitik zu betreiben. Genau diese Art von Politik ist mit den unterschiedlichen rechten wie neoliberalen Versuchen, die Krise der sozialen Reproduktion zu bearbeiten, immer auch verbunden: Sie umfassen bestimmte Vorstellungen, wie soziale Reproduktion von wem und unter welchen Umständen geleistet werden soll, wie Gesellschaft und Gemeinwesen gestaltet werden sollen. Damit werden notwendigerweise immer auch bestimmte vergeschlechtlichte Identifikationsangebote gemacht. Diese sind deshalb relativ erfolgreich, da damit auch jeweils an bestimmte Alltagserfahrungen angeknüpft wird und Zumutungen politisiert werden. Was wäre dem gegenüber eine emanzipatorische, queer-feministische Erzählung, die diesen neoliberalen und rechten Identifikationsangeboten und Gesellschaftsentwürfen entgegengehalten werden könnte? 

Dabei kann es nicht darum gehen, neue ‚Leitbilder’ oder Ähnliches zu formulieren, sehr wohl jedoch darum, ein Projekt und eine konkrete Vision davon anzubieten, wie Gesellschaft und die Organisation reproduktiver Zuständigkeiten aussehen können. Diese Erzählung müsste sowohl die Zumutungen immer prekärer werdender Arbeitsverhältnisse und die fehlende Zeit für sich und andere thematisieren als auch die Refamiliarisierung und Privatisierung von reproduktiven Verantwortungen sowie den damit verbundenen Sexismus kritisieren. Die Entwicklung dieser Erzählung kann nur im Zuge konkreter Aushandlungen und Kämpfe geschehen. Sie muss jedoch auch darüber hinaus weisen. 

Eine solche Erzählung erfordert zweitens, intersektional zu reflektieren, um sich so klar gegenüber neoliberalen oder rechten Biopolitiken abzugrenzen. Gegenüber dem nationalkonservativen Projekt erscheint dies noch relativ einfach. Gegenüber einer Familienpolitik, die Kindergärten ausbaut und reproduktive Leistungen etwa mit dem Elterngeld – im europäischen Vergleich – relativ hoch vergütet, sowie einem Feminismus, der Diversity und Empowerment von Frauen propagiert, ist das schon schwieriger. Eine queer-feministische Position muss hier die rassistischen und klassistischen Ausschlüsse, die mit dieser Politik verbunden sind, explizit benennen – und aktiv politisieren (vgl. Fried in dieser Ausgabe). Wer profitiert von diesem Feminismus? Und wer – und das sind schlicht viele mehr – profitiert davon nicht? 

Drittens würde es bedeuten, aktiv Familienpolitik zu betreiben. Es muss darum gehen, den Begriff der Familie von linksprogressiver Seite wieder zu besetzen. Die feministische Linke tut sich aufgrund der Rolle von Familie in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften wenig überraschend schwer mit einem positiven Bezug auf diesen Begriff. Trotzdem hat der Begriff das Potenzial, eine Reihe von queer-feministischen Forderungen und Positionen zu artikulieren, wie es schon mit Konzepten wie der Lebensformenpolitik oder Sorgegemeinschaften versucht wird. Zugleich umgeht der Begriff Familie aber die Gefahr, mit diesen Ideen in subkulturellen Diskussionen verhaftet zu verbleiben – er genießt nicht zuletzt eine ähnliche Popularität wie der Begriff der Demokratie. 

Will eine progressiv-feministische Position Reproduktionsverhältnisse repolitisieren, so muss sie in diesem Kontext dabei Familie als caring communities (und vice versa) fassen und sich dabei darauf beziehen, was Kath Weston bereits Anfang der 1990er Jahre im weitesten Sinne als „families we choose“ gefasst hat. Es müsse darum gehen, der Vielfalt bereits jetzt gelebter Familienformen Ausdruck zu verleihen und zugleich für die materiellen Bedingungen zu kämpfen, damit diese auch gelebt werden können. Um dabei der neoliberalen Privatisierung von reproduktiven Verantwortungen nicht noch mehr in die Hände zu spielen, ginge es darum, sich für den Ausbau, den freien Zugang und die Demokratisierung von reproduktiven Infrastrukturen wie etwa Kinderbetreuungs- oder Pflegeeinrichtungen stark zu machen. In diesem Kontext fordert eine queer-feministische Familienpolitik eine Reform des Eherechts, mehr Unterstützung für Alleinerziehende und die Anerkennung aller Formen des Füreinanderdaseins. Es würde mithin heißen, die Care Revolution auch von ihrer familiären, vielleicht – noch – privaten Seite in Angriff zu nehmen.

Literatur

Alternative für Deutschland, 2017: Programm für Deutschland. Wahlprogramm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum Deutschen Bundestag am 24. September 2017.

Butler, Judith, 2009: Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell?, in: dies., Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main, 167–213 .

Fraser, Nancy, 2017: Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2017, 71–76.

Fried, Barbara/Dück, Julia, 2015: Caring for Strategy. Transformation aus Kämpfen um soziale Reproduktion entwickeln, in: LuXemburg 1/2015, 84–93.

Hentschel, Susanne, 2017: Reproduktion der Klasse, Luxemburg-Online-Sonderausgabe 2017.

Holland-Cunz, Barbara, 2007: Alarmismus. Die Struktur der öffentlichen Debatte über den demographischen Wandel in Deutschland, in: Auth, Diana/Holland-Cunz, Barbara (Hg.), Grenzen der Bevölkerungspolitik. Strategien und Diskurse demographischer Steuerung, Opladen, 63–80.

Lang, Juliane, 2015: Familie und Vaterland in der Krise. Der extrem rechte Diskurs um Gender, in: Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (Hg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld, 167–182.

Nowak, Jörg, 2010: Familienpolitik als Kampfplatz um Hegemonie. Bemerkungen zur Leerstelle eines linken Feminismus, in: Auth, Diana/Buchholz, Eva/Janczyk, Stefanie (Hg.), Selektive Emanzipation. Analyse zur Gleichstellungs- und Familienpolitik, Opladen, 129–150.

Schultner, Anette, 22.11.2014, https://demofueralle/wordpress.com/service/demo-22-nov-14/videos/

Schultz, Susanne, 2012: Demografischer Sachzwang und politisiertes Gebären, in: LuXemburg 4/2012, 58–63.

Katharina Hajek promoviert zu den Themen Familien- und Biopolitik an der Universität Wien und ist Redaktionsmitglied der PROKLA.

..............................

Ursprünglich veröffentlicht auf: Die Reproduktionskrise feministisch politisieren | Zeitschrift Luxemburg (zeitschrift-luxemburg.de)

#Pflege #Hausarbeiterinnen #Krise #Feminismus

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Wir befinden uns in einer Krise der sozialen Reproduktion: Die Privatisierung sozialer Infrastrukturen, sowie der Rückbau des Sozialstaates haben zu einer weitreichenden Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen im Care-Sektor geführt. Daneben lastet die Sorgearbeit auf den Privathaushalten und somit auf dem Rücken von Frauen und Queers. Aus diesen Gründen muss eine queer-feministische Linke die Deutung der aktuellen Krise in die Hand nehmen und eine Bündnispolitik anstreben, die die Notwendigkeit des füreinander Sorgens in den Mittelpunkt stellt.

xx

  • #Pflege
  • #Hausarbeiterinnen
  • #Krise
  • #Feminismus

»We care« – Aber wer sind ›wir‹?

April 2016 • Michael Zander

Foto: RLS / flickr /  CC BY 2.0 / Fotografin: Nate Pischner

Foto: RLS / flickr / CC BY 2.0 / Fotografin: Nate Pischner

Feminismus, Pflege, Organisierung#Feminismus #Pflege #Organisierung

Wenn in der Linken heute wieder verstärkt über Reproduktionsarbeit diskutiert wird, dann geschieht dies in der Regel unter Rückgriff auf Debatten aus den 1970er Jahren. Damals stellten marxistische FeministInnen Haus-, Familienarbeit und gesellschaftliche Reproduktionsarbeit in den Mittelpunkt ihrer Analysen (vgl. Haug 1999).

Unter anderem ging es darum, bisher nicht berücksichtigte, selbstverständlich vorausgesetzte, also ›unsichtbare‹ Arbeit kenntlich zu machen, ihre Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion herauszuarbeiten und ihr auf diese Weise moralische und vor allem auch finanzielle Anerkennung zu verschaffen. Seit zwei Jahren versucht das Netzwerk Care Revolution aus diesen Analysen Schlussfolgerungen für eine aktuelle politische Praxis zu ziehen. Es ist hier insbesondere das Verdienst von Gabriele Winker, in der Bundesrepublik das Netzwerk Care Revolution tatkräftig mit angeschoben und ihm eine theoretische Grundlage geliefert zu haben (vgl. Winkler 2015). Mit dem angestrebten Theorie-PraxisTransfer ergeben sich allerdings neue Probleme. Soweit das Netzwerk darauf gerichtet ist, ein politisches Bündnis zu schaffen, stellt sich die Frage, wie breit dieses Bündnis sein kann und welche Rolle insbesondere diejenigen spielen, die im Lichte der ›Care-Theorien‹ als diejenigen gelten, die ›Sorgearbeit‹ empfangen, also zum Beispiel behinderte, chronisch kranke oder alte Menschen. Dazu sollen hier einige kritische Thesen formuliert werden.

1 | Der ursprüngliche Zweck des ›Care-Ansatzes‹ bestand darin, ›Sorgearbeit‹ als solche kenntlich zu machen und zu problematisieren, dass diese Arbeit vielfach unentgeltlich oder schlecht bezahlt und meist von Frauen verrichtet wird. Abstrahiert man von diesem Zweck, indem man versucht, auf Basis dieses Ansatzes ein breites politisches Bündnis zu entwickeln, dann erweist sich die auf ›Sorgearbeit‹ gerichtete Perspektive allerdings als unzulänglich und zu eng. Im Zentrum stehen die Arbeitenden, diejenigen, mit denen sie zusammenarbeiten, bleiben im Hintergrund und können höchstens ›mitgedacht‹ werden. Spontan identifizieren sich viele Linke leicht mit abhängig Beschäftigten und ihren Forderungen. Das ist verständlich und begrüßenswert, macht aber erforderlich, immer wieder an diejenigen zu erinnern, mit denen gearbeitet wird.

2 | Das ›Care-Modell‹ impliziert eine problematische Rollenaufteilung, um nicht zu sagen: ein hierarchisches Verhältnis. Die einen leisten ›Sorgearbeit‹, die anderen empfangen sie. In Wirklichkeit hat man es stets mit Beziehungen der Zusammenarbeit zu tun. Ob es sich um Erziehung, Pflege oder Therapie handelt, diese Arbeiten kommen nur als Koproduktion zustande. Dies festzuhalten ist wichtig, weil in den Theorien der ›helfenden Berufe‹ − Pädagogik, Pflegewissenschaft und Psychologie – traditionell der helfenden Seite der aktive Part und der Expertenstatus zugeschrieben wird. Generell vermisst man in den aktuellen ›Care-Debatten‹, dass darin die eigentlich bekannte Ambivalenz des Helfens, nämlich die Ambivalenz von Unterstützung und Kontrolle, thematisiert würde.

3 | Viele emanzipatorische Ansätze haben sich historisch als Kritik an konventioneller ›Sorgearbeit‹ herausgebildet. Gegenstand der Kritik waren Familienbeziehungen, Kindergärten, Schulen, Psychiatrien oder Pflegeeinrichtungen. Die Behindertenbewegung hat das Modell der persönlichen Assistenz als Alternative zu herkömmlicher Pflege entwickelt. Das Ziel bestand gerade darin, das hierarchische ›Sorgeverhältnis‹ aufzuheben. Behinderte Menschen sollen, so der Kerngedanke des Modells, selbst entscheiden, wer ihnen wie, wann, wobei und auf welche Weise hilft. Sie leiten die Tätigkeiten ihrer Assistenzkräfte an. Gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen sowie ein respektvoller Umgang miteinander sind notwendige Rahmenbedingungen, damit dieses Modell funktionieren kann (s.u. und vgl. Zander 2007).

4 | Das Netzwerk hat sich eine »Kultur der Fürsorglichkeit« auf die Fahnen geschrieben. An sich ist gegen Fürsorglichkeit als emotionale Praxis in nahen Beziehungen selbstverständlich nichts einzuwenden. Aber Fürsorge ist für ›Care-Arbeit‹ nicht notwendigerweise konstitutiv. Die Formulierung macht auch deutlich, dass ›Sorgearbeit‹ leicht moralisiert und idealisiert wird. Weder ist jede ›Sorgearbeit‹ gut, noch sind es alle Menschen, die solche Tätigkeiten verrichten. Die Realität sieht etwa in der Pflege nicht selten anders aus, es kann zu Vernachlässigung, Geringschätzung oder gar Gewalt kommen. Mangelnde Ressourcen sind oft, aber nicht immer der Grund dafür. Die Idealisierung von ›Care‹ ist möglicherweise ein ideologisches Moment, das die traditionelle (geschlechtstypische) Arbeitsteilung absichert, indem es die Belastungen dieser Tätigkeiten gleichsam moralisch entlohnt. Die karitative Konnotation dürfte auch der Grund dafür sein, warum man zögern würde, Flüchtlingshilfe als ›Sorgearbeit‹ zu bezeichnen, droht dieser Begriff doch, den politischen Kontext zu verdecken.

5 | Insgesamt stellt sich die Frage, welche Tätigkeiten als ›Care-Work‹ zu bezeichnen sind. Das Netzwerk hat sich für einen sehr breiten Ansatz entschieden, der unter anderem Sexarbeit mit einbezieht. Wenn generell Dienstleistungen gemeint sind, dann ist nicht einsehbar, warum nicht auch zum Beispiel Physiotherapie oder das Friseurhandwerk dazugehören. Nun weisen gerade in der Sexarbeit die Arbeitsbedingungen eine große Bandbreite auf. Zudem ist ein Freier nicht in gleicher Weise auf eine Sexarbeiterin angewiesen wie Kranke auf medizinisches Personal oder Behinderte auf Assistenzkräfte. Dies alles muss nicht dagegen sprechen, dass Sexarbeit ein wichtiges Thema für das Netzwerk ist und Sexarbeiterinnen dort aktiv sind. Nur muss man sich klarmachen, dass man es bei einem sehr breiten ›Care-Begriff‹ mit sehr heterogenen Erfahrungen und Problemlagen zu tun hat.

6 | Wer Bündnisse schaffen will und Gemeinsamkeiten sucht, sollte über Konflikte und Interessen sprechen. Im Flyer zur »UmCareKonferenz« vom Oktober 2015 heißt es: »Auf der Konferenz wollen wir mit Angehörigen und Menschen mit Pflegebedarf, mit Beschäftigten, Gewerkschaften und Sozialverbänden diskutieren und Strategien entwickeln.«[1] Zwischen all diesen Akteuren kann es Gegensätze geben. Sozialverbände mögen im Einzelfall durchaus vernünftige politische Positionen vertreten, aber einige von ihnen betreiben Einrichtungen wie Behindertenwerkstätten, die von Organisationen der Behindertenbewegung scharf kritisiert werden, weil sie exkludieren und ihren Beschäftigten nicht einmal den Mindestlohn zahlen. Ein Beispiel für einen solchen Dissens war der sogenannte Scheißstreik in Berlin 2010. Die im Bereich Persönliche Assistenz Beschäftigten unterstrichen damals ihre Forderung nach besserer Entlohnung damit, dass sie angebliche Exkremente (vermutlich meist Schokocreme) an politische Akteure verschickten, offensichtlich um zu verdeutlichen, welche ›Scheiße‹ sie täglich wegmachen müssen. Strittig war die Frage, ob es sich um eine berechtigte Aktionsform handelt oder um eine Herabwürdigung von Behinderten, deren Ausscheidungen zum öffentlichen Thema gemacht wurden (vgl. Nowak 2010 u. Zander 2010). Trotz dieser Problematik haben damals Beschäftigte und Behinderte gemeinsam und erfolgreich für höhere Assistenzvergütungen in Berlin gestritten. Doch das Beispiel zeigt auch, dass eine Gemeinsamkeit zwischen den diversen Adressaten des Netzwerks nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann, sondern oft erst das Ergebnis von Zusammenarbeit sein kann.

7 | Zusammenarbeit trotz Differenzen gelingt bekanntlich dann, wenn es einen Anlass gibt, der Einigkeit schafft. Dieser kann etwa ein Gesetzentwurf sein, zum Beispiel der voraussichtlich miserable Entwurf des Bundesteilhabegesetzes.[2] Eine solche Zuspitzung fehlt dem Netzwerk bislang. Es steht möglicherweise vor einem ähnlichen Dilemma wie die Sozialforumsbewegung der 2000er Jahre. Diese hatte sich dafür entschieden, Foren zum Austausch und zur Meinungsbildung in einem breiten linken Spektrum zu schaffen. Dafür büßte sie aber an Handlungsfähigkeit ein, entwickelte keinen gemeinsamen Fokus. Verbindende Ziele und Aktionen zu entwerfen blieb weniger komplexen Organisationen überlassen.

8 | Wie könnte ein Fazit lauten? Der ›Care-Begriff‹ gehört noch einmal auf den Prüfstand. ›Care‹ ist nicht das, was ›Care-Worker‹ tun, es ist vielmehr eine Koproduktion aller, die an einer ›Care-Beziehung‹ beteiligt sind. Diese ist in den heutigen Institutionen – aller Inklusionsrhetorik zum Trotz – oft hierarchisch und bevormundend. Deshalb geht es nicht nur um eine besser ausgestattete Unterstützung, sondern um eine ganz andere, emanzipatorische Art, bestimmte Tätigkeiten zu organisieren. Möglicherweise muss man den ›Care-Begriff‹ aufgeben und stattdessen über konkrete gesellschaftliche Bereiche verhandeln – etwa Assistenz, Pflege oder Erziehung –, um einen karitativen Zungenschlag zu vermeiden und zugleich die verschiedenen Akteure an einen Tisch zu bringen.

Anmerkungen

[1] Vgl. www.rosalux.de/documentation/53751 

[2] Vgl. www.bmas.de/DE/Gebaerdensprache/ Bundesteilhabegesetz/bundesteilhabegesetz.html

Literatur

Haug, Frigga, 1999: Familienarbeit/Hausarbeit, in: Haug, Wolfgang Fritz (Hg.), HKWM, Bd. 4, 118−129.

Nowak, Iris, 2010: Organisierung in Pflege- und Sorge- und Hausarbeit, in: LuXemburg 4/2010, 146–150.

Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution, Bielefeld.

Zander, Michael, 2007: Selbstbestimmung, Behinderung und Persönliche Assistenz – politische und psychologische Fragen, in: Forum Kritische Psychologie 51, 38–52.

Ders., 2010: Konflikte um Persönliche Assistenz, in: LuXemburg 4/2010, 151–153.

Michael Zander ist seit vielen Jahren behindertenpolitisch aktiv und Mitglied der bundesweiten AG Disability Studies. Als Kritischer Psychologe lehrt er derzeit im Fach Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/we-care-aber-wer-sind-wir

Foto: RLS / flickr / CC BY 2.0 / Fotografin: Nate Pischner

#Feminismus #Pflege #Organisierung

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Wenn in der Linken heute wieder verstärkt über Reproduktionsarbeit diskutiert wird, dann geschieht dies in der Regel unter Rückgriff auf Debatten aus den 1970er Jahren. Unter anderem ging es darum, bisher nicht berücksichtigte, selbstverständlich vorausgesetzte, also ›unsichtbare‹ Arbeit kenntlich zu machen, ihre Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion herauszuarbeiten und ihr auf diese Weise moralische und vor allem auch finanzielle Anerkennung zu verschaffen. Das Netzwerk Care Revolution versucht aus diesen Analysen Schlussfolgerungen für eine aktuelle politische Praxis zu ziehen. Soweit das Netzwerk darauf gerichtet ist, ein politisches Bündnis zu schaffen, stellt sich die Frage, wie breit dieses sein kann und welche Rolle insbesondere diejenigen spielen, die im Lichte der ›Care-Theorien‹ als diejenigen gelten, die ›Sorgearbeit‹ empfangen, also zum Beispiel behinderte, chronisch kranke oder alte Menschen. Dazu werden hier einige kritische Thesen formuliert werden.

Foto: RLS / flickr / CC BY 2.0 / Fotografin: Nate Pischner

  • #Feminismus
  • #Pflege
  • #Organisierung

Care-Arbeit: Vom bürgerlichen Liebesdienst zur »Freiwilligenarbeit« für alle

April 2016 • Gisela Notz

Foto: RLS

Foto: RLS

Pflege, Krise, Feminismus#Pflege #Krise #Feminismus

Die Diskussion um Care-Arbeit ist nicht neu. Von der soziologischen Frauenforschung wurde schon lange kritisiert, dass den sogenannten »Reproduktionsarbeiten« zu wenig Bedeutung beigemessen wird. Mit dem Slogan „das Private ist politisch“ verlangten schon die Frauenbewegungen der 1970er Jahre eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Position der Frauen darin (vgl. Notz 2006). Dazu gehörte auch die Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung.Es gab viele Versuche, die „abgespaltenen Tätigkeiten“ (Scholz 2000, 18) theoretisch zu erklären und Strategien zu entwickeln, wie die mit der Trennung zwischen „privat“ und „öffentlich“ verbundenen geschlechts- und schichtspezifischen Arbeitsteilung sowie damit einhergehenden Diskriminierungen überwunden werden können: Von der Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“ (Dalla Costa/James 1973) bis zur Vergesellschaftung dieser Arbeitsform (Notz 2006, 46).

In diesem Text soll zunächst der Begriff der „Care-Ökonomie“ erläutert und seine gesellschaftliche Bewertung aufgezeigt werden, um anschließend an Hand der bis jetzt in der Care-Diskussion wenig beachteten „ehrenamtlichen“ Arbeit die Funktion von Care-Arbeit für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft zu verdeutlichen. Staat, Wohlfahrtsverbände und Kirchen weigern sich, notwendige Care-Arbeiten nach tarifvertraglichen Regeln zu bezahlen. Das führt zu einer weiteren Prekarisierung vor allem von Frauenarbeiten.

Zum Begriff der „Care-Ökonomie“

Seit einiger Zeit erlebt die Debatte unter dem Begriff „Care-Ökonomie“ eine Renaissance. Die Verwendung des Begriffs ist dabei vieldeutig. Care-Arbeit wird als Lohnarbeit, als selbständige Sorgearbeit, als „ehrenamtliche“ Gratisarbeit oder im eigenen Haushalt verrichtet. Die „ehrenamtliche“ Gratisarbeit (Notz 2012) wird in theoretischen Analysen der Care-Arbeit oft vernachlässigt. Die Frage, ob Prostitution (Sexarbeit) zur Care-Arbeit gehört, ist innerhalb der Genderforschung heiß umstritten. Auch Care-Arbeit als Assistenz für Menschen mit Behinderung ist noch zu wenig beleuchtet. Meiner Meinung nach gehört auch Widerstand gegen krankmachende Arbeits- und Lebensbedingungen, gegen Krieg und Umweltzerstörung zu Care-Arbeit. Die Unklarheiten machen den Umgang mit dem Begriff schwierig.

Fest steht, dass ohne Care-Arbeit das gesamte System der gesellschaftlichen Arbeit zusammenbrechen würde. Denn Care-Arbeit ist in einer kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft ebenso notwendig wie Produktionsarbeit. Sie ist die Kehrseite und die Voraussetzung der in Produktion, Landwirtschaft und Verwaltung geleisteten Arbeit. Care-Arbeit findet nicht, wie oft behauptet, ‚außerhalb‘ der kapitalistischen Produktionsverhältnisse statt, sondern ist Teil derselben. Sie ist auch keine andere ‚befreite Ökonomie‘, die nach Gesetzen und Handlungsrationalitäten jenseits des Wachstumszwangs und der Profitorientierung funktioniert (Chorus 2013).

In den bestehenden Geschlechterverhältnissen macht die in der Familie sowie sozialen Organisationen geleistete unbezahlte Care-Arbeit (meist Frauenarbeit) Marktaktivitäten (vorwiegend Männerarbeit) überhaupt erst möglich. Andererseits sind die bezahlt geleisteten Marktaktivitäten Voraussetzung für die angebliche Unbezahlbarkeit der Haus-, Sorge- und Fürsorgearbeiten. Um zu verstehen, warum Berufe, die Care-Tätigkeiten erfordert, nach wie vor niedriger bewertet werden als andere, „männlich“ konnotierte Erwerbsarbeiten, hilft ein Blick zurück in die Geschichte.

Bürgerlicher Liebesdienst

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war bürgerlichen Frauen der Zugang zu vielen Berufen und zu den Universitäten weitgehend versperrt, während Frauen und Kinder der arbeitenden Klasse bereits zu großer Zahl in den Fabriken arbeiten mussten, zu Hungerlöhnen und unter gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen. Für andere sorgen und andere pflegen war zunächst kein bezahlter Beruf, sondern wurde von bürgerlichen Frauen als soziale und karitative Dienste ehrenamtlich übernommen (vgl. Notz 1989). Dazu gehörte das Kochen der Armensuppe, das Versorgen von Verwundeten in den Lazaretten, die Versorgung von Kindern, deren Mütter in den Fabriken arbeiteten, Alten und anderen, die sich nicht selbst helfen konnten.

Die Frauen taten dies aus ‚christlicher Nächstenliebe‘. Eine Bezahlung wurde ihnen dafür nicht zuteil; meist verlangten sie diese auch nicht. Aufgrund ihrer Herkunft konnten sie es sich leisten, ohne Geld für ‚Gottes Lohn‘ zu arbeiten. Der Platz im Himmel schien ihnen dafür sicher; besagt doch schon das Matthäus-Evangelium: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Auch andere Bibelstellen verweisen darauf, dass die Versorgung der Hilfsbedürftigen als ein gottwohlgefälliges Werk zu betrachten sei, als ein Weg zur Sündenvergebung (Notz 1989, 44). So wurden die Menschen der Arbeiterklasse als Bedürftige zum Objekt der subjektiven Seelenrettung. Geholfen wurde aus Furcht vor der Hölle, um für begangene eigene Sünden zu büßen oder zumindest, um die eigenen sozialen Privilegien zu rechtfertigen.

Kritik der sozialistischen Frauenbewegung

Vertreterinnen der sozialistischen Frauenbewegung wandten sich gegen den weit verbreiteten Glauben der bürgerlichen Schwestern, „dass Wohltätigkeit, Armenpflege und allseitiger guter Wille die Mittel sind, das soziale Elend aus der Welt zu schaffen“ (Braun 1976, 64). Mit diesem Glauben verlören sowohl Wohltäter als auch Schützlinge die Empfindung für Gerechtigkeit und das Verständnis dafür, dass „jeder arbeitende Mensch ein Recht auf eine gesicherte Existenz hat“ (ebd.). Es sei nicht nur eine schreiende Ungerechtigkeit, sondern auch eine Kränkung, Menschen mit Almosen abzuspeisen. Die Proletarierinnen wollten das kapitalistische System radikal verändern und es nicht durch karitative Maßnahmen erträglicher gestalten. Vom Staat forderten sie die Schaffung von Lebensbedingungen, die Wohlfahrtspflege und Fürsorge überflüssig machen. Das Image der karitativen Arbeit bleibt bestehen...

Die Hoffnung der „ersten“ bürgerlichen Frauenbewegung, dass mit der Professionalisierung und der qualifizierten Ausbildung auch eine höhere Bewertung von Care-Arbeit einhergehen würde (Salomon 1902, 37), hat sich bis heute nicht erfüllt. Auch als die „wohltätigen“ Frauen durch die ersten Sozialen Frauenschulen formal qualifiziert waren, wurde weitestgehend davon ausgegangen, dass sie durch ihre Eltern, ihren späteren Ehemann oder eigenes Vermögen ‚versorgt‘ waren und weiter ohne Bezahlung arbeiten konnten.

Die „ehrenamtlichen“ Frauen begannen jedoch, Einfluss auf die Verwaltung und Gesetzgebung zu reklamieren und Bezahlung für ihre Arbeit zu verlangen. Dieses politische Engagement ging den (meist männlichen) Persönlichkeiten, die in der kommunalen Armenpflege arbeiteten, zu weit; sie standen den neuen Ausbildungsmöglichkeiten eher feindlich gegenüber: die öffentliche Armenpflege sei nicht geeignet sei, um aus der Hilfe und Sorge einen Lebensinhalt oder gar einen Beruf zu machen (vgl. Notz 2012, 32f). Die Professionalisierung schritt mit zunehmender Not der IndustriearbeiterInnen dennoch voran, vor allem während der Kriegsjahre wurde deutlich, dass ehrenamtliche Arbeit alleine nicht reicht.

Auch wenn es in den folgenden Jahrzehnten zu einem Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge, zu einer Verberuflichung und Professionalisierung vieler Care-Berufe und zu einer Veränderung von Geschlechterverhältnissen kam, wird in Kindergärten, in der Altenarbeit, in der Schule, in Jugendeinrichtungen und auch in der Gesundheitsversorgung noch immer viel un- und unterbezahlte Care-Arbeit geleistet. Das Image der karitativen Arbeit haftet den Berufen bis heute an. Es wird von den Kirchen und ihren Wohlfahrtseinrichtungen fleißig gepflegt. Auch wenn durchaus nicht mehr nur Frauen aus den bürgerlichen Schichten in den Einrichtungen arbeiten, scheinen die Care-Tätigkeiten Berufe für „opferfreudige Idealisten“ zu sein.

Ein Nebeneinander unterschiedlicher Arbeitsformen

Obwohl dieses Image eigentlich alle Care-ArbeiterInnen trifft, unterscheiden sich die Bedingungen zwischen einzelnen Bereichen extrem. Der Arbeitsmarkt im Care-Bereich besteht aus einem Nebeneinander unterschiedlichster Arbeitsformen. Die berufliche Vielfalt reicht von der gut bezahlten GeschäftsführerIn, über Beamte, Angestellte in unterschiedlichen Funktionen, Aushilfs- und Honorartätigkeiten, freie Mitarbeit, (oft) prekären Selbständigen, im Nebenberuf tätigen, in Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen Beschäftigte, geringfügig Beschäftigte, Mini-JobberInnen, Ein-Euro-JobberInnen und undokumentierte Beschäftigte bis hin zu GratisarbeiterInnen. Viele Vereine und vor allem Selbsthilfeorganisationen arbeiten schon lange „rein ehrenamtlich“ (Notz 1989, 108 f.).

Die Vielzahl der unterschiedlichen Arbeitsverhältnisse macht die Arbeitenden gegeneinander ausspielbar. Es entstehen Unterschichtungen zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen und „Ehrenamtlichen“. Aus Berichten geht hervor, dass durch die „neue Unübersichtlichkeit im Freiwilligensektor die Solidarität in vielen Einrichtungen zum Fremdwort geworden“ ist (TNS Infratest 2005, 11). Die Unterscheidung zwischen bezahlt und unbezahlt Arbeitenden wird so immer schwerer.

Das gilt auch für andere Care-Berufe: So arbeiten etwa 60 (Ost 75) Prozent der Erzieherinnen – oft ungewollt - in einer Teilzeitstelle, die meist nicht existenzsichernd ist. Jede fünfte Beschäftigte in Ost und West hat einen befristeten Vertrag. Zugleich hat der Erzieherberuf nach wie vor einen Männeranteil von um die vier Prozent (Groll 2015). Die Zahl der Mütter und Bezugspersonen, die „ehrenamtliche“ Care-Arbeit bei der Kinderbetreuung leisten, wächst. Das hängt mit einer neuen In-Dienst-Nahme von unter- bzw. schlechtbezahlter Care-Arbeit im Neoliberalismus zusammen. Denn für das unbezahlte Arbeitsvolumen wird mit dem Ruf nach Familien- und Gemeinsinn geworben, das Bezahlte fällt mehr und mehr dem Sozialabbau zum Opfer oder wird zur prekären Beschäftigung, von deren Ertrag vor allem Frauen ihre Existenz nicht eigenständig sichern können.

Die unbezahlten Care-Arbeiten nehmen in dem Maße zu, wie sie im bezahlten Bereich abgebaut werden (Notz 2012, 57ff.) Aus diesem Grunde verweisen PolitikerInnen immer wieder darauf, dass soziale Kontakte und Teilhabe, die die Gratisarbeit bietet, wichtiger seien als Geld. ‚Freiwilliges‘ Engagement soll glücklich, gesund und zufrieden machen, ja sogar für ein langes Leben sorgen, weil man aktiv das eigene Lebensumfeld mitgestalten kann (vgl. Wehner/Güntert 2015). Die Rhetorik kann nicht darüber hinwegtauschen, dass es um die Einsparung von Kosten geht.

Care-Arbeit als monetarisierte „Freiwilligenarbeit“

Im Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitswesen und besonders in der Altenhilfe und -pflege besteht eklatanter Personalmangel. „Wer pflegt uns, wenn wir alt sind?“, ist eine der großen Zukunftsfragen. Sie ist nach wie vor überwiegend Frauensache, egal ob in der professionellen Altenpflege, in der Familie oder in der ehrenamtlichen Gratisarbeit. Überall liegt der Frauenanteil zwischen 80 und 90 Prozent. Auf männlichen Nachwuchs kann nicht gehofft werden, denn nur 5 Prozent der AltenpflegeschülerInnen sind männlich (Pflegeagenten 2015).

Staat und Wohlfahrtsverbände suchen nach Lösungen, um den zunehmenden Bedarf an AltenpflegerInnen kostensparend zu decken. Arbeitsdienste im Sinne von sozialen Pflichtjahren werden immer wieder diskutiert - solche „Zwangsdienste“ wären aber ohne Verfassungsänderung schwer durchzusetzen. Wie also mit den „neuen“ Problemen fertig werden?

Freiwilligendienste für alle

Schon vor der Aussetzung des Zivildienstes wurde in der Bundesrepublik darüber diskutiert, wie die „Freiwilligendienste“ in verbindlichere und verlässlichere Strukturen gebracht und engagierte BürgerInnen auf personell unterversorgte Arbeitsbereiche konzentriert werden können, ohne dass sie dann dem Vorwurf eines Pflichtdienstes ausgesetzt sind. Mit dem „Gesetz zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes“ (BFD) hat die Bundesfamilienministerin ab April 2011 – zeitgleich mit dem Aussetzen des Zivildienstes – für Menschen aller Generationen ein völlig neues Arbeitsverhältnis geschaffen.

Die ‚freiwillige‘ Verpflichtung, für die alle Männer und Frauen aller Altersklassen nach Ableistung ihrer Schulpflicht angeworben werden – unabhängig von der deutschen Staatsangehörigkeit. Er dauert mindestens sechs und höchstens 18 Monate, umfasst 40 Stunden in der Woche für unter 27-Jährige und mindestens 20 Stunden für Ältere. Die „neue Freiwilligenarbeit“ wird in soziale und ökologische Bereiche, Sport, Integration und Kultur vermittelt. Schwerpunkte sind jedoch Care-Arbeiten wie Kinder- und Jugendbetreuung sowie Altenbetreuung und -pflege.

Die ArbeiterInnen sind während des Dienstes sozialversichert. Sie erhalten ein Taschengeld, das monatlich maximal 336 Euro bei einer Vollzeitbeschäftigung betragen darf. Alle großen Wohlfahrtsverbände sind an diesem Modell beteiligt und bekommen ca. 200 € Zuschuss, wenn sie eine Stelle einrichten. Fast 160.000 Männer und Frauen haben sich seit der Einführung 2011 beteiligt und sich in einem sozialen Projekt engagiert. Das spart nicht nur tariflich bezahlte Arbeitsplätze, sondern wertet die ohnehin schon geringschätzig behandelten Care-Berufe weiter ab.

Mit einer Erwerbsarbeit ist der „Freiwilligendienst“ nicht vereinbar. Auch bei reduzierter Stundenzahl müssen Nebentätigkeiten von der Einsatzstelle genehmigt werden Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-BezieherInnen dürfen 200 Euro von ihrem Taschengeld behalten und müssen in dieser Zeit keine andere Arbeit annehmen. Das macht den Dienst auch für Langzeiterwerbslose und für arme RentnerInnen interessant.

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD), hat zum 1. Dezember 2015 10.000 neue ‚Stellen‘ für den BFD geschaffen. Der Bundesfreiwilligendienst mit Flüchtlingsbezug soll sowohl einheimischen Freiwilligen als auch Asylberechtigten und AsylbewerberInnen mit guter Bleibeperspektive offenstehen. Flüchtlinge haben zudem die Möglichkeit, einen BFD auch in den regulären Bereichen abzuleisten – zum Beispiel in einem Seniorenheim. „Ich halte es für sehr wichtig, dass sich auch Flüchtlinge als Freiwillige engagieren – das stärkt den sozialen Zusammenhalt, hilft auch bei der Integration und auch beim Erlernen unserer Sprache“, so Manuela Schwesig (BMFSFJ 2016). Ein Schelm, der Böses dabei denkt? Der bereits verabschiedete und gesetzlich geregelte Mindestlohn kann so locker umgangen werden.

WohlfahrtsexpertInnen verwiesen schon lange darauf, dass es um die Zukunft der Pflege älterer Menschen in Deutschland nicht gut bestellt ist. Im Sozial- und Gesundheitsbereich und vor allem in der Altenpflege müssten mehr qualifizierte sozialversicherungspflichtige „reguläre Arbeitsplätze“ geschaffen werden. „Auf gute Pflege haben alle ein Recht, sie darf nicht arm machen“, sagt das Bündnis für Pflege, indem sich verschiedene Verbände, darunter auch die großen Wohlfahrtsverbände und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sowie der Deutsche Frauenrat zusammengeschlossen haben. Sie fordern maßgeschneiderte Leistungen für Pflegebedürftige, Unterstützung und Anerkennung für Angehörige, bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen und gerechte Finanzierung.

Mit der Förderung des BFD fährt der Zug in die entgegengesetzte Richtung. Zwar gebietet das Gesetz eine arbeitsmarktneutrale Ausgestaltung – das heißt, die Freiwilligen sollen lediglich „unterstützende, zusätzliche Tätigkeiten verrichten“ und keinesfalls hauptamtliche Kräfte ersetzen. Eine Abgrenzung ist aber kaum möglich. Arbeitsplatzbeschreibungen gibt es nicht. Sieht man sich die Stellenausschreibungen im Internet an, werden die Zweifel bestätigt. Auch der erste Evaluationsbericht, der ansonsten vor Lob strotzt, kann es nicht bestreiten: er stellt fest, dass „Tätigkeitsprofile, die stark an Erwerbsarbeit erinnern“, zu finden sind (Anheier u.a. 2012, 21). Der DGB Vorsitzende Michael Sommer kritisierte während seiner Amtszeit, dass durch den BFD „bestehende Arbeitsplätze verdrängt und neue Arbeitsplätze verhindert werden“ (Sommer 2012). Selbst die Beschränkung auf „unterstützende Tätigkeiten“ ist nicht unproblematisch. Denn wenn damit zwischenmenschliche emotionale Zuwendung für Kranke, Kinder, Alte oder andere der Hilfe Bedürftige gemeint ist, so sind das Tätigkeiten, die früher integraler Bestandteil der Berufe von Altenpflegerinnen, Krankenschwestern, Erzieherinnen oder Sozialarbeiterinnen waren.

Es besteht die Gefahr, dass die hauptberufliche soziale Grundversorgung wesentlich durch eine zu Niedrigstlöhnen beschäftigte Randbelegschaft aus Freiwilligen unterstützt wird, deren sozialer und emotionaler Einsatz nicht mehr „unbezahlbar“, sondern ganz wenig Wert ist.

Perspektiven

Der Bedarf an freiwilligen Care-Arbeiten wird in der Zukunft noch weiter zunehmen. Grund dafür ist nicht nur der demografische Wandel und die „zunehmende Erwerbsbeteiligung“ der Frauen, auf die nicht unbegrenzt als Hausfrauen zurückgegriffen werden kann. Auch die Zahl derjenigen, die auf Hilfe angewiesen sind, wird angesichts der globalen Krisen zunehmen.

Freiwillige Arbeit sollte neben einer existenzsichernden Erwerbsarbeit geleistet werden können und nicht als Ersatz für diese. Das heißt, dass die Freiwilligen über ein ausreichendes Einkommen oder Rente abgesichert sein müssen. Und: Freiwillige Arbeit kann erst dann effektiv eingesetzt werden, wenn die professionelle Versorgung von Hilfe-, Versorgungs- und Betreuungsbedürftigen sichergestellt ist.

Für eine politisch verstandene Freiwilligenarbeit gilt, dass sie nicht nur gesellschaftlich organisierte Hilfe für Menschen leistet, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht selbst helfen können. Sie sollte sich auch nicht nur mit der Linderung oder Bearbeitung sozialer, kulturpolitischer oder umweltbezogener Probleme beschäftigen, sondern auch mit der Verhinderung und mit der langfristigen Lösung.

Freiwilligenarbeit hat in der vielzitierten Zivilgesellschaft somit auch einen politischen Auftrag, nämlich Ungleichheit und Ausgrenzung anzuprangern und dabei einzufordern, dass Handlungsstrategien entwickelt werden, die der Exklusion entgegenwirken. Eine allein mildtätige, karitativer Motivation – deren Notwendigkeit angesichts der aktuellen Problemlagen nicht bezweifelt werden soll – kann lediglich die Symptome der Übel bearbeiten. Es gilt stattdessen, politisch auf Veränderung zu dringen und die Missstände auf die Agenda zu setzen.

Literatur

Anheier, Helmut K. u.a., 2012: Ein Jahr Bundesfreiwilligendienst, Erste Erkenntnisse einer Begleitenden Untersuchung, Heidelberg.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – BMFSFJ (Hg.), 2006: Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Siebter Familienbericht, Berlin.

BMFSFJ (Hg.), 2011: Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht, Berlin.

BMFSFJ, 2016: Manuela Schwesig begrüßt die ersten „bufdis“ in der Flüchtlingshilfe, 7.1.2016, www.bmfsfj.de 

Chorus, Silke, 2013: Care-Ökonomie im Postfordismus, Münster.

Dalla Costa, Maria und Selma James, 1973: Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft, Berlin.

DAK Gesundheit (Hg.), 2015: Pflegereport 2015. So pflegt Deutschland, Hamburg.

Groll, Tina, 2015: Schlecht bezahlt in der Kita, in: Zeitmagazin, 6.1.2015.

Lenz, Ilse (Hg.), 2008: Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden.

Notz, Gisela, 1989: Frauen im sozialen Ehrenamt. Ausgewählte Handlungsfelder: Rahmenbedingungen und Optionen, Freiburg.

Dies., 2006: Warum flog die Tomate? Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre, Neu Ulm.

Dies., 2011: Theorien alternativen Wirtschaftens. Fenster in eine andere Welt, Stuttgart Dies., 2012: „Freiwilligendienste“ für alle. Von der ehrenamtlichen Tätigkeit zur Prekarisierung der „freiwilligen“ Arbeit, Neu-Ulm.

Dies., 2013: Gesellschaftliches Potenzial der Haus- und Betreuungsarbeit. Umverteilung statt Abwälzung auf Freiwillige und Dienstbotinnen, in: Widerspruch, 105-119.

Pflegeagenten: Pflege ist weiblich? Umdenken bitte!, www.pflegeagenten.de/Pflege-ist-weiblich-Umdenken-bitte--13287.aspx

Scholz, Roswitha, 2000: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorie und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef.

TNS Infratest Sozialforschung/Dr. Thomas Gensicke, 2005: Freiwilliges Engagement in Niedersachsen (1999 – 2004 im Trend), München.

Weeks, Kathi, 2011: Affektive Arbeit, feministische Kritik und postfordistische Politik, in: Grundrisse 38, 13-27.

Wehner, Theo und Stefan T. Güntert (Hg.), 2015: Psychologie der Freiwilligenarbeit. Motivation, Gestaltung und Organisation, Berlin/Heidelberg.

Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin und hat an verschiedenen Forschungsprojekten zu Geschlechterverhältnissen, Prekarisierung des Arbeitslebens sowie zur historischen Frauenforschung gearbeitet.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/vom-buergerlichen-liebesdienst-zur-freiwilligenarbeit-fuer-alle

#Pflege #Krise #Feminismus

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Die Diskussion um Care-Arbeit ist nicht neu. Mit dem Slogan „das Private ist politisch“ verlangten beispielsweise die Frauenbewegungen der 1970er Jahre eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dazu gehörte auch die Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und die Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“. Auch wenn es zu einem Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge, zu einer Professionalisierung vieler Care-Berufe und zu einer Veränderung von Geschlechterverhältnissen kam, wird in Kindergärten, in der Altenarbeit, in der Schule, in Jugendeinrichtungen und auch in der Gesundheitsversorgung noch immer viel un- und unterbezahlte Care-Arbeit geleistet.

Der Text erklärt, welche Bedeutung Care-Arbeit für die Wirtschaft hat und warum diese trotzdem niedriger bewertet / entlohnt wird als andere, „männlich“ konnotierte Tätigkeiten. Anhand der „ehrenamtlichen“ Arbeit wird die Funktion von Care-Arbeit für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft und die Folgen verdeutlicht.

Foto: RLS

  • #Pflege
  • #Krise
  • #Feminismus

Altenpflege organisieren und (lokal)politisch Druck machen

April 2016 • Mia Lindemann und Michael Zimmer

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Pflege, Gewerkschaft, Organisierung#Pflege #Gewerkschaft #Organisierung

Dass die Organisierung von Beschäftigten in der Altenpflege schwierig ist, wird regelmäßig wiederholt. Doch wir sind der Meinung, dass sich durchaus realistische Streik- und Arbeitskampfformen für die Altenpflege entwickeln lassen. Man muss es nur tun. Entscheidend ist nicht zuletzt, den Kontext oder auch größeren Rahmen der jeweiligen Arbeitsbedingungen mit einzubeziehen. Denn den konkreten Problemen liegen politisch gewollte Strukturen zugrunde: Die ständige Unterbesetzung beim Personal durch die Entscheidung für ein familienbasiertes Pflegesystem oder die neoliberal begründete systematische Unterfinanzierung der öffentlichen Pflege. Deshalb ist es nötig, auf mehreren Ebenen zu agieren: im Betrieb, in der Kommune, auf Landes- und auf Bundesebene. In unserer gewerkschaftlichen Betreuung von Betrieben der Altenhilfe im Bezirk Mannheim haben wir damit gute Erfahrungen gemacht: wir haben die Belegschaften organisiert und zugleich von Anfang an auf eine (lokale) Politisierung der Konflikte gesetzt. Ein kurzer Bericht unserer kleinen großen Erfolge.

Organisierung im Konflikt

Unsere ersten Organisierungserfahrungen machten wir in einem betrieblichen Konflikt. Der neue Träger eines privaten Altenpflegeheims war bereits für arbeitsrechtlich dubiose Praktiken bekannt. Er verlangte von den über hundert Beschäftigten, für eine Übernahmen schlechtere Arbeitsverträge zu unterschreiben und weniger Lohn zu akzeptieren. In dieser Situation bewährte sich der aktive ver.di-Betriebsrat, der gemeinsam mit der Gewerkschaftssekretärin die Beschäftigten ermutigte, sich zu wehren und statt der Verträge eine Beitrittserklärung bei ver.di zu unterschreiben. Darüber hinaus führte er erfolgreiche gerichtliche Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber, der sich immer wieder über die Mitbestimmungsrechte hinwegsetzte. Die skandalöse Vorgehensweise interessierte die lokale Presse und so kam es – durch entsprechende Zuarbeit von ver.di – zu einer kontinuierlichen Berichterstattung, bis ins Lokalfernsehen. Ver.di veröffentlichte täglich online die neuesten Nachrichten zum Arbeitskampf. Dadurch entstand im Netz eine bundesweite Solidarisierung der Beschäftigten dieses Konzerns. Als der Arbeitgeber den Konflikt durch verspätete Lohnzahlungen zuspitzte, initiierte ver.di einen offenen Brief, den der halbe Gemeinderat und viele Prominente und nicht prominente Bürger der Stadt unterschrieben. Als der Arbeitgeber schließlich gar die Bewohner aufforderte, binnen weniger Monate auszuziehen, hatte er auch die kommunalen Behörden gegen sich und musste den Betrieb verkaufen. Die alten Arbeitsverträge blieben, die Löhne mussten nachgezahlt werden. Was verhalf dieser Auseinandersetzung zum Erfolg? Wie wurde die Belegschaft zu einem widerstandsfähigen Kollektiv? Die erste Voraussetzung bestand darin, die Alltagskonflikte ernst zu nehmen. Die zweite lag darin, das Lösen von Konflikten zu einer kollektiven Aufgabe zu machen. Dazu braucht es einen Betriebsrat, der sich dieser Herausforderung bewusst ist. Die dritte Aufgabe ist es, die Konflikte in den gesellschaftlichen Raum zu tragen, Bündnisse zu schließen und die zuständigen politischen Träger in die Pflicht zu nehmen. Alle drei Aufgaben sind von Beschäftigten, Betriebsrat und Gewerkschaft gemeinsam zu lösen.

Altenpflegeprojekt

Ver.di organisierte daraufhin ein Projekt, im Rahmen dessen ein Vertrauensmann die Altenpflegeheime der Region besuchte und den Auftrag hatte, den Beschäftigten sein Ohr zu leihen, ihre Beratungsbedürfnisse an die GewerkschaftssekretärInnen weiterzuvermitteln, gewerkschaftliche Infos in die Betriebe zu bringen und Nachrichten von dort, zum Beispiel über Konflikte, in die Gewerkschaft. So konnten wir aus betrieblichen Konflikten überbetriebliche machen – und manchen Erfolg verbuchen.

Kampagne »Freie Heimwahl«

Wie in vielen anderen Regionen auch beschloss der Mannheimer Gemeinderat, alle Pflegebedürftigen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, in die ›billigeren‹ Heime zu schicken. ›Billige‹ Heime sind aber insbesondere diejenigen, die keine Tarifverträge hatten, während beispielsweise alle kommunalen Heime (mit TVÖD und Betriebsräten) zu den teuren Heimen zählten. ›Billig‹ waren also in erster Linie die Altenpflegeheime, die absolut gewerkschafts- und betriebsratsfeindlich waren. Da die Altenpflegeheime schnell in die roten Zahlen geraten, wenn die Betten nicht belegt sind, stellte dieses Verfahren eine Gefährdung der Arbeitsplätze gerade in den Heimen dar, die nach Tarif zahlten und Betriebsräte hatten. In den AWO-Haustarifverhandlungen vor Ort spielte das eine Rolle. Wir machten daher mit den Betriebsräten und Belegschaften der Heime eine Kampagne für »freie Heimwahl«. Es gelang, viele Unterschriften zu sammeln und letztlich den Gemeinderat Mannheims dazu zu bringen, seinen ein Jahr vorher gefassten Beschluss zurückzunehmen.

Demokratie im Betrieb durchsetzen

In dem großen – für uns erfolgreichen – Konflikt um einen Tarifvertrag für die Beschäftigten der Stadtmission Heidelberg mit zirka 1500 Beschäftigten wurde die Differenz zwischen der schon kämpferischen Belegschaft des Krankenhauses Salem und den ganz überwiegend zurückhaltenden Kolleginnen und Kollegen der Altenpflege besonders deutlich. Letztere waren stark eingeschüchtert und der autoritäre Druck der Heimleitungen lähmte mit seinen Hinweisen auf die strukturellen Probleme der Pflegeheime die verantwortungsbewussten Beschäftigten. Aber auf Dauer wollten sie sich den bunten und lustigen Infoständen der ver.di-KollegInnen auch nicht entziehen. Und während die Heimleitungen versuchten, ver.di zu vertreiben und ihnen den Zugang zu den Heimen zu verwehren, brachten die KollegInnen sie immer wieder durch große, selbst gefertigte Wandplakate, die sie an Stelle von ›unüblichen‹ Schwarzen Brettern der Gewerkschaft aufhängten, in Aufregung. Schließlich setzten wir die Schwarzen Bretter der Gewerkschaft auch gerichtlich durch. Die Kolleginnen und Kollegen lernten, dass sie demokratische Rechte haben, die ein autoritärer Heimleiter, und wenn er noch so laut schreit, ihnen nicht nehmen kann.

Probleme der Pflege politisch angehen

Den Kern des Problems in der Altenpflege, die Personalnot, berührten wir mit dem ›Personalcheck‹ in den Pflegeheimen, der den Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit politischer Wirksamkeit vor Augen führte. Die Resultate des Personalchecks wurden auf dem Stuttgarter Schlossplatz einer Kommission des Landtags übergeben. Immer waren unsere Kampagnen gesteuert durch Betriebsgruppen, Arbeitskreis Altenpflege, Fachbereichsvorstand – Gremien, in denen sich die Aktiven selbst organisierten. Wir haben viele dazu gewonnen. Sie haben sich verändert, ihr Leben in die Hand genommen. Das hoffen wir, als ermutigende Erfahrung weitergeben zu können.

Mia Lindemann ist Gewerkschaftssekretärin bei ver.di Rhein-Neckar.

Michael Zimmer ist Gewerkschaftssekretär bei ver.di Rhein-Neckar.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/altenpflege-organisieren-und-lokalpolitisch-druck-machen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

#Pflege #Gewerkschaft #Organisierung

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

In der Pflege stehen Gewerkschaften vor besonderen Herausforderungen. Besonders in kleinen und/oder ambulanten Betrieben lässt sich nur schwer ökonomischer und politischer Druck aufbauen und Repressionen von Seiten der Arbeitgeber sind schwer abzuwehren. Doch auch in großen Krankenhäusern fällt es vielen Pflegekräften schwer, im Streik die Arbeit niederzulegen – oft aus Angst, PatientInnen und KollegInnen allein zu lassen. Aber der Leidensdruck ist hoch: Weil immer mehr Arbeit auf immer weniger Schultern lastet, nehmen Stress und Überlastung zu. Wenn es unter diesen Umständen dennoch gelingt, Widerstand zu organisieren, gleicht das einer »kleinen Revolution«; einer, die viele kleine Schritte braucht und oft jenseits klassischer Arbeitskämpfe stattfindet. Dazu bedarf es neuer Wege der Organisierung – und neuer Wege, um effektiv Druck aufzubauen. Wie dies auch jenseits der großen Streiks gelingen kann, zeigt das Beispiel aus Mannheim.

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

  • #Pflege
  • #Gewerkschaft
  • #Organisierung

«In den nächsten Jahren werden wir Proteste sehen!»

Organisierung in der Altenpflege

April 2016 • Melanie Stitz im Gespräch mit Katharina Schwabedissen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

Pflege, Gewerkschaft, Organisierung#Pflege #Gewerkschaft #Organisierung

Wie stellt sich die Situation in der Altenpflege derzeit dar?

Die Arbeitsbedingungen und Gehälter stehen in keinem Verhältnis zu der gesellschaftlichen Wichtigkeit dieser Aufgabe: 76 Prozent der KollegInnen geben an, unter hohem Zeit- und Termindruck zu arbeiten. Dabei versuchen sie alles, um sich dies bei der Arbeit nicht anmerken zu lassen oder den Druck weiterzugeben: Es soll den Menschen, mit denen sie arbeiten, gut gehen – natürlich klappt das nicht immer. 80 Prozent der Beschäftigten sind Frauen, und die Bezahlung ist schlecht. Eine Fachkraft verdient im Durschnitt 2 190 Euro brutto. Zum Vergleich: Ein Elektrotechniker erhält zirka 3 600 Euro. AltenpflegehelferInnen finden durchschnittlich 1 890 Euro brutto in ihrer Lohntüte. Wir reden hier von Vollzeitstellen, die in der Altenpflege die Ausnahme sind. Minijobs und Teilzeit bestimmen das Feld und die Gehälter. Das liegt nicht nur daran, dass Teilzeitkräfte flexibler eingesetzt werden können, sondern auch daran, dass die Kraft für eine 38-Stundenwoche oft nicht ausreicht. 83 Prozent der Altenpflegenden verrichten schwere körperliche Arbeit. Dazu kommen die psychische Belastung, die ›Zweite Schicht‹ zu Hause sowie mangelnde Wertschätzung. 73 Prozent der Beschäftigten gehen nicht davon aus, dass sie ihren Job bis zur Rente durchhalten. Und wenn sie die Rente erreichen, reicht das Geld zum Leben nicht. Altenpflege bedeutet in diesem Land fast zwangsläufig Altersarmut nach dem Job.

Was wollt ihr bei ver.di mit Eurem Projekt erreichen?

Es geht darum, dass sich die KollegInnen gemeinsam für ihre Interessen einsetzen und sich bei ver.di organisieren – derzeit tun das nur 17 Prozent. Alleine setzen sich aber nur die Starken durch. In der Altenpflege herrscht bereits heute Fachkräftemangel, und der Bedarf wird steigen. Die Nachfrage allein bestimmt aber eben nicht den Marktwert, sonst lägen die Gehälter deutlich höher und die Arbeitsbedingungen wären besser. In der momentanen Situation bedeutet der permanente Personalmangel vor allem, keine Ruhe mit den Menschen zu haben, die versorgt werden. Jede Ausnahme wird zur Katastrophe, weil die Regelarbeit gerade so hinhaut. So steht eben nicht die Selbstständigkeit der BewohnerInnen im Vordergrund, sondern das Tempo: Ein älterer Mensch ist schneller gewaschen, wenn er es nicht selber macht. Das gilt auch für das Essen, den Weg in den großen Saal und für’s Anziehen. ›Aktivierende‹, unterstützende Pflege, die auf den Erhalt von Selbständigkeit setzt, braucht Zeit und Geduld. Wenn KollegInnen krank werden, müssen Doppelschichten gemacht werden, das freie Wochenende ist weg, Überstunden wachsen an. Am Ende all dieser ›Ausnahmen‹ steht die Erschöpfung. Und dann reicht nicht einmal das Gehalt für einen wirklichen Erholungsurlaub im Jahr. Junge Menschen überlegen gut, welchen Beruf sie ergreifen. Wenn sich die Zustände nicht ändern, werden sie sich nicht für Pflege entscheiden. Mit der Veränderung des Familien- und Frauenbildes in der Gesellschaft verändert sich auf die Berufswahl von Frauen. Und sie sind es bisher, die die Pflege tragen – in den Heimen und zu Hause.

Was macht die (Selbst-)Organisierung der KollegInnen so schwer?

Pflegende haben häufig ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Arbeit, die in dieser Gesellschaft nicht viel zählt, unter anderem, weil sie wenig Profit abwirft. Der Versuch, aus der Pflege dennoch Profit zu ziehen, führt zu unmenschlichen Verhältnissen: erst bei den Beschäftigten, dann bei den Betroffenen selbst. Außerdem gelten so typisch weibliche Aufgaben wie Waschen, Essen reichen, Gespräche führen, Anziehen, Spazieren gehen oft gar nicht als Arbeit – das kann doch schließlich jeder – mindestens aber eine jede. Pflege wird daher oft als ›Liebesdienst‹ verstanden – auch von den Pflegenden selbst. Diese Vorstellung zieht sich durch die Entwicklung der Pflege. Sie hat sich dadurch professionalisiert, dass sie von Ordensschwestern übernommen wurde. Aus all diesen Gründen fehlt den Beschäftigten mitunter der ›ProduzentInnenstolz‹ für ihre Arbeit. Auch deshalb fällt es Pflegenden mitunter schwer, sich für ihre Interessen selbstbewusst einzusetzen. Sie sind gewöhnt, dass es meist um andere geht, nicht um sie selbst. Hinzu kommt oft Angst, den Job zu verlieren, Sorge um die Situation der BewohnerInnen und auch um die gesellschaftliche Reaktion auf solche Arbeitskämpfe. Hier müssen auch wir uns an die eigene Nase fassen: Wir wollen, dass unsere Lieben gut versorgt werden, aber wenn die Beschäftigten dafür kämpfen, dass sie diese Arbeit dauerhaft, gesund und gut leisten können, dann ist unsere Geduld nach 14 Tagen Streik schnell am Ende.

Wie arbeitet Ihr mit dieser Situation?

Wir wollen erreichen, dass die KollegInnen mindestens so verantwortlich und solidarisch mit sich selbst umgehen, wie mit ihren KollegInnen und den BewohnerInnen. Hier fängt an, sich etwas zu verändern. Wertschätzung steht ganz oben auf der Agenda, auch Sichtbarkeit. Ich bin sicher, dass es in den nächsten Jahren gerade in diesem Bereichen wahrnehmbare Proteste gegen diese unmenschlichen Entwicklungen geben wird – seitens der Beschäftigten, aber auch von Seiten der BewohnerInnen und ihren Angehörigen. Wir arbeiten im Moment in 15 Altenpflegeeinrichtungen und mit einem überbetrieblichen Projekt. Die GewerkschaftssekretärInnen vor Ort koordinieren die Organisierung in den als ›Projektbetriebe‹ ausgewählten Heimen. Die Hauptpersonen sind aber die Aktiven im Betrieb. Konkret sieht das so aus, dass wir in einer Einrichtung gewerkschaftlich Aktive suchen und mit ihnen gemeinsam zunächst erfragen, was die Themen der Beschäftigten sind. Wir gehen als Gewerkschaft oft davon aus, dass unsere Themen auch den KollegInnen vor Ort auf den Nägeln brennen. Das trifft aber nicht immer zu. Oft sind es Kleinigkeiten, die sie belasten: Kein Raum für die Pause; zu lange Wege innerhalb des Wohnbereichs; Hilfsgeräte, die nicht funktionieren; eine Leitung, die Druck ausübt. Es geht also zunächst darum, Kontakte zu knüpfen, mehr zu werden, Netzwerke aufzubauen und Wertschätzung erfahrbar zu machen. Wir lernen gerade viel voneinander: ver.di lernt die Besonderheiten der Altenpflege (besser) kennen und die KollegInnen vor Ort erleben, dass sie die Fachleute sind, auf die es ankommt. Das ist spannend – und manchmal auch neu für alle Beteiligten.

So verändern sich also auch die gewerkschaftlichen Kämpfe selbst?

Normalerweise organisiert eine Gewerkschaft die KollegInnen, schafft Strukturen im Betrieb und geht dann in Konfrontation mit dem Arbeitgeber. Meist geht es um mehr Gehalt und kürzere Arbeitszeit. Das Ergebnis sind Tarifverträge. Die Ziele in der Altenpflege sind im Prinzip die gleichen. Wir brauchen aber ergänzend ›neue Wege‹, um sie zu erreichen. Wenn die Beschäftigten streiken, dann bestreiken sie zwar in erster Linie ihren Arbeitgeber, aber sie ›bestreiken‹ auch die Menschen, die auf sie angewiesen sind. Das ist einerseits ein Dilemma, führt aber – zu Ende gedacht – auch aus ihm heraus: Der Kreis von Menschen, die ein Interesse an gemeinsamer Organisierung und einer Verbesserung der Arbeit in der Altenpflege haben, reicht weit über die Beschäftigten hinaus, er schließt auch BewohnerInnen und Angehörige ein. Und jede und jeder von uns ist potenziell Betroffene, kann morgen pflegebedürftig werden oder Angehörige von Pflegebedürftigen. Die Debatte um die Pflege gehört also in die Mitte der Gesellschaft. Die Pflegenden stellen die Frage nach einem würdigen Leben im Alter. Darauf gibt es zwei Antworten: Es wird von allen für alle finanziert oder alle finanzieren das Leben einiger weniger Reicher. Es gilt also, die BewohnerInnen, ihre Angehörigen und das gesamte Umfeld der Altenpflegeeinrichtungen in die Arbeitskämpfe einzubeziehen – im Zweifel auch im Bündnis mit den direkten Arbeitgebern, wenn es um die Refinanzierung sozialer Dienste durch die Verantwortlichen in den Parlamenten geht. Die vermeintliche Schwäche der Pflege ist ihre größte Stärke: Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Altenpflege ist kein Kampffeld, sondern ein Lebensraum. Und so müssen auch die Organisierung und die Arbeitskämpfe aussehen. Diese versuchen wir zu entwickeln.

Das Gespräch führte Melanie Stitz. Das Interview erschien zuerst in der Zeitschrift wir frauen 1/2016.

Katharina Schwabedissen ist examinierte Krankenschwester und hat Philosophie und Geschichte studiert. Sie ist in der LINKEN aktiv, besonders gerne bei der bundesweiten Frauenarbeitsgemeinschaft LISA in Nordrhein-Westfalen und bei den Dialektikfrauen um Frigga Haug. Seit Juni 2014 koordiniert sie das Erschließungsprojekt Altenpflege von ver.di in Nordrhein-Westfalen.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/in-den-naechsten-jahren-werden-wir-proteste-sehen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

#Pflege #Gewerkschaft #Organisierung

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Normalerweise organisiert eine Gewerkschaft die KollegInnen, schafft Strukturen im Betrieb und geht dann in Konfrontation mit dem Arbeitgeber. Meist geht es um mehr Gehalt und kürzere Arbeitszeit. Das Ergebnis sind Tarifverträge. Die Ziele in der Altenpflege sind im Prinzip die gleichen. Doch es braucht ergänzend ›neue Wege‹, um sie zu erreichen, denn nur ein geringer Anteil der Pflegekräfte sind gewerkschaftlich organisiert. Im Interview erklärt Katharina Schwabedissen von den Arbeitsbedingungen in der Altenpflege, was die Organisierung so schwierig macht und wie sie das mit dem Erschließungsprojekt Altenpflege von ver.di in Nordrhein-Westfalen ändern will. Die vermeintliche Schwäche der Pflege ist ihre größte Stärke: Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Altenpflege ist kein Kampffeld, sondern ein Lebensraum. Und so müssen auch die Organisierung und die Arbeitskämpfe aussehen.

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0. Fotografin: Nate Pischner

  • #Pflege
  • #Gewerkschaft
  • #Organisierung
Datei öffnen ↓
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

In vielen europäischen Ländern nehmen wie in Deutschland die Proteste gegen die Privatisierungs- und Kürzungspolitik im Gesundheitswesen zu. Für diese Auseinandersetzungen kann viel aus den Erfahrungen, die in den Niederlanden gemacht wurden, gelernt werden. Dort startete die Sozialistische Partei (SP) eine Kampagne für eine Entprivatisierung der Krankenkassen, mit der sie die Stimmung im Land bereits erheblich zugunsten eines öffentlichen Gesundheitswesens beeinflussen konnte. Die Studie von May Naomi Blank zeigt den neoliberalen Umbau des niederländischen Gesundheitssystems ab 2006 und welche Folgen dies für die Arbeitsstandards und Patient*innen hatte. Außerdem beleuchtet sie die Geschichte der SP, ihre Verankerung unter den Beschäftigten, ihre Gewerkschafts- und Kampagnenarbeit. Als weiterer Akteur wird der Gewerkschaftsbund Federatie Nederlandse Vakbeweging (FNV) vorgestellt, der sich demokratisch erneuert hat, zunehmend Organizing-Strategien einsetzt.

Foto: NCI/Unsplash

  • #Krankenhaus
  • #Alternativen
  • #Organisierung
  • #Gewerkschaft
  • #Pflege

»Wir sind doch keine Sklavinnen!«

(Selbst-)Organisierung von polnischen Care-Arbeiterinnen in der Schweiz

Oktober 2015 • Sarah Schillinger

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung via flickr / Fotografin: Nate Pischner / CC BY 2.0

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung via flickr / Fotografin: Nate Pischner / CC BY 2.0

Hausarbeiterinnen, Migration, Pflege, Organisierung, Gewerkschaft#Hausarbeiterinnen #Migration #Pflege #Organisierung #Gewerkschaft

Unsichtbare machen sich sichtbar

Plötzlich waren sie da, hatten ein Gesicht und eine Stimme: Care-Arbeiterinnen aus Polen, die in der Schweiz rund um die Uhr alte Menschen pflegen und betreuen. Auf der 1.-Mai-Demonstration 2014 in Basel stahlen sie den etablierten Gewerkschaften die «Show»: Geschmückt mit selbst genähten Foulards in den Farben der polnischen Flagge reihten sie sich hinter einem Transparent ein, das den Slogan trug: «Schluss mit der Ausbeutung – Wir fordern Rechte und Respekt!» Auf ihren Bannern war zu lesen: «24 Stunden Arbeit, 6 Stunden Lohn?! Nicht mit uns!» Als der Demonstrationszug vor dem Parlamentsgebäude ankam, betrat Bozena Domanska die Bühne. Sie begrüßte die versammelten DemonstrantInnen auf Polnisch und Deutsch und begann, von ihrer Arbeit zu erzählen:

«Ich habe wie Tausende Frauen aus Osteuropa erlebt, was es heißt, 24 Stunden am Tag ältere Menschen zu betreuen. Es ist nicht die Arbeit selber, die schlimm ist, sondern dass wir Frauen isoliert in einem Privathaushalt sind – ohne soziale Kontakte, ohne Privatleben, Tag und Nacht verantwortlich für einen kranken Menschen. Ein Leben im Rhythmus von anderen: vom Essen über das Fernsehprogramm bis hin zu den Nächten ohne Schlaf. Und dies zu Löhnen zwischen 1.200 und 3.000 Franken brutto. Das ist pure Ausbeutung!»

Mit deutlichen Worten prangerte sie die Praktiken ihrer Arbeitgeber an: privatwirtschaftliche Care-Unternehmen, die mit ihrem Geschäftsmodell des Personalverleihs viel Geld auf dem Rücken der Frauen verdienen, die für sie arbeiten.[1]

«Es ist ein Skandal, dass wir Frauen für eine Arbeit rund um die Uhr nur einen Lohn erhalten, mit dem wir nicht leben können. Viele Leute in der Schweiz denken, das ist genug für uns, weil wir aus Polen oder Ungarn kommen. Aber auch wir haben das Recht, dass die Gesetze der Schweiz für uns gelten. Die Arbeitgeber meinen immer noch, es liege in unserer Natur als Frauen, dass wir ein Teil der Betreuungsarbeit gratis machen. Damit ist jetzt Schluss! Wir haben das Netzwerk Respekt gegründet, um den Care-Arbeiterinnen eine Stimme zu geben im Kampf gegen die Ausbeutung und das Lohndumping. Wir Frauen fordern europaweit die Anerkennung der Care-Arbeit[2] als eine gesellschaftlich höchst wichtige Arbeit und kämpfen für faire Löhne durch eine bessere öffentliche Finanzierung!»

Polnische Community als Ausgangspunkt der Organisierung

Care-Arbeiterinnen in privaten Haushalten gewerkschaftlich zu organisieren ist eine Herausforderung: Oft befinden sie sich in keinem klaren Arbeitsverhältnis, sind geografisch über verschiedene Orte verstreut und arbeiten in der Privatheit von Haushalten, in denen die Beziehung zu ihren Arbeitgebern stark personalisiert ist. In der 24-h-Betreuung sind viele Migrantinnen tätig, die ihren Wohnsitz nur temporär in der Schweiz haben und im ein- bis dreimonatigen Rhythmus zwischen ihrer Familie in Osteuropa und dem Arbeitsplatz in einem Schweizer Haushalt hin- und herpendeln. Als sogenannte live-ins[3] sind ihre Arbeitszeiten entgrenzt, einen echten Feierabend haben sie nicht und nur wenige verfügen über einen kompletten freien Tag in der Woche, um sich außer Haus bewegen zu können. Außerdem ist die Abhängigkeit vom Arbeitgeber groß. Nicht nur muss häufig eine ganze (erweiterte) Familie im Herkunftsland ernährt werden, auch der Kündigungsschutz ist schlecht, und beim Verlust der Stelle verlieren sie nicht bloß ihr Einkommen, sondern sprichwörtlich das Dach über dem Kopf.

Diese Situation ruft nach unkonventionellen Formen der kollektiven Organisierung. Häufig organisieren sich Hausarbeiterinnen jenseits von bestehenden Strukturen und Institutionen wie traditionellen Gewerkschaften in eigenen politischen und sozialen Netzwerken, meist innerhalb ethnischer Communitys. Viele Beispiele aus unterschiedlichen Regionen der Welt zeigen, dass Hausarbeiterinnen bereits über eigene Strukturen verfügen, bevor sie mit einer Gewerkschaft in Kontakt kommen.[4] Dies hat oft damit zu tun, dass Care-Arbeiterinnen als Migrantinnen und Frauen, die Reproduktionsarbeit im Privaten verrichten, häufig nicht die primäre Zielgruppe männlich dominierter Gewerkschaften sind. Für die Schweiz trifft dies nicht unbedingt zu: Hier sind sowohl die Gewerkschaft der Lohnabhängigen in der Privatwirtschaft (UNIA) als auch der VPOD offen und interessiert, die Anliegen von Care-Arbeiterinnen zu unterstützen.[5] Allerdings identifizieren sich Care-Arbeiterinnen kaum mit ihrem beruflichen Status. Die Beschäftigung in Privathaushalten geht meist mit einer erheblichen Dequalifizierung einher. Sie sehen ihre berufliche Stellung deshalb als Übergangssituation, der frau möglichst rasch entfliehen möchte. Oft fällt es ihnen deshalb schwer, sich auf eine gewerkschaftliche Identität als Pflegerin einzulassen. Einfacher ist es, sich mit ihrem migrationspolitischen Status und der eigenen Community von Landsleuten zu identifizieren.

Auch für die polnischen Care-Arbeiterinnen in Basel war ihre Community Ausgangspunkt der kollektiven Aktion. Die polnische Kirchengemeinde spielt dabei eine wichtige Rolle. Sie ist eine Begegnungsstätte, in der die Frauen ein soziales Netz aufbauen konnten. Damit ist die Kirche ein Ort, der für sehr viel mehr steht als für Glauben und Religiosität. Hierhin können sie sich zurückziehen und temporär der Kontrolle und Inanspruchnahme im Haushalt entkommen, die tägliche Routine durchbrechen. Die Kirche ist für sie ein Stück Heimat, was den Ort zu einem transnationalen Zwischenraum macht. Auch können die Care-Arbeiterinnen für den sonntäglichen Gang zur Messe am ehesten freie Zeit aushandeln. Nach dem Gottesdienst treffen sie sich im Kirchgemeindehaus zu Kaffee und Kuchen. In der vertrauten Runde werden nicht nur Alltagssorgen geteilt, sondern auch individuelle Erfahrungen mit Agenturen und Familien ausgetauscht.

Mutiger Gang vors Arbeitsgericht

In diesem Kreis fasste Bozena Domanska vor rund drei Jahren den Mut, mit ihrer Kritik an der prekären Arbeitssituation von 24-h-Betreuerinnen an die Öffentlichkeit zu gehen. Zuvor hatte sie im Alleingang ihren ehemaligen Arbeitgeber verklagt. Bis dahin habe sie sich meist «gebückt» und «nicht so die Rebellin gespielt», sagt sie.[6]Einmal habe sie den Mund aufgemacht und sich bei ihrem Chef – dem Firmenleiter einer privaten Spitex-Firma[7] – über den niedrigen Lohn beklagt. «Der Chef meinte, er stelle sonst eine Ukrainerin an, die den Job für vier Franken die Stunde mache.»

Als Bozena Domanska kurze Zeit später entlassen wurde, weil sie sich wegen falscher Versprechungen zur Wehr setzte, beschloss sie, als erste 24-h-Betreuerin in der Schweiz die Schlichtungsstelle anzurufen und die vielen unbezahlten Überstunden einzuklagen. «Ich kann doch nicht wieder den Kopf runtermachen! Es ging mir um Gerechtigkeit. Er behandelt ja alle Polen wie Dreck. Mit unserer Arbeit verdient er ein Vermögen. Ich brauchte letztlich 20 Jahre, um zu realisieren, dass wir Frauen, die aus Osteuropa hierherkommen, uns nicht immer nach unten orientieren, uns nicht erniedrigen und ausnutzen lassen sollten. Wir sind doch keine Sklavinnen, sondern Menschen mit Gefühlen.» Mit ihrer Klage habe sie anderen Frauen Mut machen wollen: «Wir sind die Aschenputtel aus dem Osten. Und wir getrauen uns nicht, uns zu wehren, weil wir Angst haben.»

Bozena Domanska bekam ohne anwaltliche Unterstützung vor der Schlichtungsstelle Recht und konnte eine Lohnnachzahlung von 7.000 Franken erwirken. Kurz darauf beschloss sie, zusammen mit ihrer Kollegin Agata Jaworska Hilfe bei einem Basler Anwalt zu suchen, um eine Lohnklage von Agata gegen dieselbe Firma vorzubereiten. In dieser Zeit lernte ich die beiden Frauen im Rahmen meiner Forschung[8] kennen.

Wir diskutierten, wie dieser Kampf unterstützt werden könnte, um breitere Aufmerksamkeit zu erreichen. Schließlich kam der Kontakt mit dem VPOD zustande, der sich bereit erklärte, Agata Jaworskas Klage zu unterstützen. Marianne Meyer, die als Gewerkschaftssekretärin beim VPOD in Basel für den Gesundheitsbereich zuständig ist, begleitete fortan unermüdlich den juristischen Prozess. Der gewerkschaftsnahe Anwalt bemühte sich, die komplexe Gesetzeslage aufzuarbeiten und zusammen mit den beiden polnischen Care-Arbeiterinnen alle Details zu ihrem Arbeitsverhältnis zusammenzutragen, um die Beweislage für die vielen unbezahlten Überstunden zu garantieren. Erleichtert wurde dies dadurch, dass sich der von Agata Jaworska betreute pflegebedürftige Mann hinter seine Betreuerin stellte: Er war selbst verärgert über die Geschäftspraktiken des angeklagten Unternehmens und den Umstand, dass er für seine Rundumbetreuung monatlich über 10.000 Franken bezahlte, jedoch nur ein Bruchteil als Lohn an seine Betreuerin weitergegeben wurde.

Es geht um Respekt

Parallel dazu begann Bozena Domanska in der polnischen Kirche mit verschiedenen Frauen über die Lohnklage zu diskutieren. Nicht alle Frauen ließen sich sofort überzeugen, dass es wichtig sei, die ausstehende Bezahlung einzufordern. Einige betonten, dass sie mit ihrem Lohn (zwischen 1.200 und 2.000 Franken pro Monat) zufrieden seien und ihre Anstellung nicht riskieren wollten. Bozena Domanska wies nachdrücklich darauf hin, dass sie Anrecht auf den Schweizer Mindestlohn von rund 18 Franken pro Stunde hätten. «Es geht um Respekt», sagte sie immer wieder und betonte, dass sie als Polinnen die gleichen Rechte hätten wie Schweizerinnen. «Wir leisten unsere Arbeit gern, aber wir sind nicht mehr bereit, uns ausnutzen zu lassen, wir wollen faire Löhne und Arbeitsbedingungen nach den hier geltenden Gesetzen.»

Mit dieser Botschaft gingen die beiden Frauen im Frühling 2013 schließlich an eine breitere Öffentlichkeit. Im Schweizer Fernsehen lief sogar ein Dokumentarfilm, in dem Bozena Domanska porträtiert wurde.[9]Das Echo war groß und positiv. Polnische Care-Arbeiterinnen bekamen dadurch nicht nur ein Gesicht, sondern gewannen viel Sympathie in der Bevölkerung. Bozena Domanska wurde zu einer Art Identifikationsfigur und einer landesweit gehörten Stimme. So konnten weitere Care-Arbeiterinnen angesprochen und das Netzwerk verbreitert werden. Einige fanden per Facebook den Kontakt zu Bozena Domanska und ihren polnischen Kolleginnen in Basel und tauschten sich mittels sozialer Medien über ihre Arbeit aus.

Gleichzeitig traten einige Frauen aus der polnischen Community auf der 1.-Mai-Demonstration in Basel zum ersten Mal öffentlich als Gruppe auf. Ein paar Wochen später gründeten 18 Care-Arbeiterinnen das Netzwerk Respekt@vpod. Sie zeigten sich entschlossen, gemeinsam den Gerichtsprozess von Agata Jaworska zu begleiten und eine politische Bewegung für bessere Arbeitsbedingungen in der 24-h-Betreuung anzustoßen. Den Namen Respekt hatte die Gruppe nicht deshalb gewählt, weil es schon ein gleichnamiges internationales Netzwerk von Hausarbeiterinnen gibt – dies war ihnen gar nicht bekannt –, sondern weil es ihnen genau darum ging: um Respekt – für sich, für ihre Arbeit und im alltäglichen Umgang.

Kein Liebesdienst, sondern Arbeit

Das Respekt-Netzwerk fordert nicht nur die Einhaltung des Mindestlohns. Es geht den Frauen auch darum, die vielen unbezahlten Stunden, in denen die Care-Arbeiterinnen im Haushalt präsent sein müssen, sichtbar zu machen und zu entlohnen. Sie fordern die Zahlung von Zuschlägen für Überstunden, für die Rufbereitschaft in der Nacht und für Sonntagsarbeit. Viele Care-Unternehmen betrachten lediglich fünf bis sieben Stunden pro Tag als lohnrelevante Arbeitszeit.[10]

Gerade die emotionalen Anteile der Care-Arbeit werden häufig von den Angehörigen wie auch von den Agenturen nicht als Teil der Arbeit wahrgenommen. Das stundenlange Sitzen am Bettrand, die empathischen Berührungen, das gemeinsame Singen, der Versuch, eine gute Atmosphäre zu schaffen, aber auch die Bereitschaft, während der ganzen Nacht im Zimmer nebenan abrufbar zu sein – all dies wird nicht als Leistung erkannt und als selbstverständlich vorausgesetzt. «All die Liebe, die du gibst, dafür wirst du nicht bezahlt, das wird nicht gesehen», sagt Bozena Domanska. Damit wehren sich die Aktivistinnen von Respekt auch gegen ein Bild, nach dem die häusliche Sphäre als natürliches Betätigungsfeld von Frauen gilt, die hier Arbeit aus Liebe leisten.[11]

Diese Vorstellung spiegelt sich in den Darstellungen der Agenturen, die 24-h-Betreuerinnen als «aufopfernde Helferinnen», «gute Wesen» oder «Pflegefeen» bezeichnen und damit den Arbeitscharakter dieser Tätigkeit ausblenden.[12]

In Bezug auf die entgrenzten Arbeitszeiten fordern die Aktivistinnen vom Respekt-Netzwerk jedoch nicht nur eine angemessene materielle Entschädigung. Es geht auch darum, Freizeit und Zeit für Erholung zu erstreiten: Dazu gehört ein ganzer freier Tag pro Woche – inklusive einer Nacht, in der die Care-Arbeiterinnen ohne permanente Einsatzbereitschaft durchschlafen können.[13]

Hier geht es ihnen nicht nur um physische und psychische Regeneration, sondern darum, aus der räumlichen und der damit verbundenen sozialen Isolation im Haushalt ausbrechen zu können. Nur wenn die Care-Arbeiterinnen Freizeit haben, können sie mit anderen Menschen außerhalb des Haushalts in Kontakt treten – sei es mit FreundInnen aus der polnischen Community oder mit der lokalen Bevölkerung. Hinzu kommt, dass Care-Arbeiterinnen erst durch den Austritt aus dem Haushalt – also beim Verlassen des Arbeitsplatzes – eine wirkliche Privatsphäre in Anspruch nehmen können. Ist der Eintritt in ein Arbeitsverhältnis normalerweise mit dem Betreten der öffentlichen Sphäre verknüpft, ist hier das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit umgekehrt: Das Verlassen der Wohnung und der Besuch öffentlicher Orte bedeuten für Care-Arbeiterinnen häufig mehr Privatheit, als ihnen in den Wohnungen der Arbeitgeber gewährt wird. Schließlich ist freie Zeit auch eine wichtige Voraussetzung, um sich überhaupt gewerkschaftlich organisieren zu können.

Eine unkonventionelle gewerkschaftliche Organisierungspraxis

Die Praxis der Organisierung des Respekt-Netzwerkes ist unkonventionell, jedoch für migrantische Gewerkschaften im Niedriglohnsektor nicht untypisch.[14] Genauso wichtig wie die unmittelbare politische Selbstorganisierung gegen Ausbeutung und für soziale Rechte sind für die Mitglieder von Respekt@vpod die praktische Solidarität, die soziale Teilhabe und die Selbstermächtigung innerhalb des Kollektivs. Die Organisierung ist dabei nicht allein auf die Situation am Arbeitsplatz fokussiert, häufig geht es bei den Versammlungen um Fragen des Alltags und der sozialen Reproduktion – zum Beispiel um Gesundheit, um Krankenkassenprämien, um Wohnverhältnisse, um die Aufenthaltsbewilligung oder um die transnationale Lebenspraxis, also die Beziehung zur Familie im Herkunftsland und die Organisation des Lebens zwischen hier und dort. Es werden Informationen über ganz alltägliche Dinge wie Handy-Abos oder billige Reisemöglichkeiten ausgetauscht, aber auch Diskussionen geführt über die Art und Weise, wie die Sorgearbeit in der eigenen Familie organisiert und umverteilt wird, beispielsweise zwischen Ehepartnern. Die politischen Subjektivitäten der Care-Arbeiterinnen sind kaum durch die Interessen des eigenen Berufsstandes geprägt, denn viele haben in Polen ganz andere, oft hoch qualifizierte, teils akademische Berufe erlernt. Vielmehr verbindet sie die gemeinsame Situation des Lebens als Pendelmigrantinnen, die prekäre Abhängigkeit von den Agenturen und den privaten Arbeitgebern sowie die Erfahrung, kollektiv aus der Vereinzelung im Haushalt ein stückweit heraustreten zu können.

Die Aktivistinnen von Respekt sind reguläre Mitglieder der Gewerkschaft VPOD, sie wählen Delegierte in nationale Kommissionen und nehmen an den gesamtgewerkschaftlichen Aktivitäten teil. Auch stehen ihnen alle gewerkschaftlichen Dienstleistungen sowie die Rechts- und Sozialberatung offen, obwohl ihre Beiträge niedrig sind. Gleichzeitig verfügt das Respekt-Netzwerk über eine gewisse Autonomie und ist stark basisgewerkschaftlich organisiert. Bei der Gründung hatten die Aktiven des Netzwerkes beispielsweise beschlossen, eine solidarische Form der finanziellen Unterstützung weiterer Lohnklagen zu schaffen: Die Care-Arbeiterinnen zahlen jeweils 30 Prozent der Summe, die sie bei erfolgreichen Klagen erzielen, in einen Solidaritätsfonds, mit dem die Anwaltskosten für weitere Klagen im Netzwerk finanziert werden können.

Seit Juni 2013 ist – zusätzlich zur regionalen Gewerkschaftssekretärin – Bozena Domanska mit 20 Prozent ihrer Arbeitszeit beim VPOD beschäftigt und speziell für die Arbeit innerhalb des Respekt-Netzwerkes zuständig. Hauptsächlich arbeitet sie weiterhin als Betreuerin in der ambulanten Pflege. Sie verfügt damit nicht nur über ein hohes professionelles Verständnis und geteilte Alltagserfahrungen mit den Respekt-Aktivistinnen, sondern spricht auch deren Muttersprache, was für die Kontaktaufnahme und die Vertrauensbildung von großer Bedeutung ist. Ihr breites soziales Netzwerk kann sie außerdem produktiv für die Mobilisierung und die Verbreiterung der Reichweite von Respekt@vpod nutzen.

Vielfältige Strategien der Selbstermächtigung

Zwei Jahre nach der Gründung sind mittlerweile über 50 Care-Arbeiterinnen Mitglied von Respekt@vpod. Zentrales Moment des Netzwerkes sind die monatlichen Treffen, die jeweils an einem Sonntag im Anschluss an die polnische Messe im Basler Gewerkschaftshaus stattfinden. Bei den Treffen geht es insbesondere um einen Austausch über die spezifischen Arbeitsbedingungen und um die Aufklärung über die ihnen zustehenden Rechte. Dies geschieht in Form von «Know-your-Rights-Workshops», in denen sozial- und arbeitsrechtliches Wissen von kundigen Care-Arbeiterinnen – unterstützt durch die lokalen Gewerkschaftssekretärinnen – weitergegeben wird. Häufig ergeben sich dabei Diskussionen über spezifische Probleme einzelner Frauen, die in Einzelberatungen weiter geklärt werden. Ein wichtiger Bestandteil der Versammlungen ist auch die gemeinsame Planung und Diskussion von politischen Aktionen in der Öffentlichkeit. Bedeutend war in der Anfangsphase des Netzwerkes die kollektive Begleitung des Gerichtsprozesses von Agata Jaworska. Aber auch die gemeinsame Teilnahme an verschiedenen Demonstrationen gegen Sozialabbau im Gesundheitssektor, gegen die Einschränkung der Personenfreizügigkeit im Zuge der Annahme der «Volksinitiative gegen Masseneinwanderung» der Schweizerischen Volkspartei (SVP) oder Mobilisierungen anlässlich des Internationalen Frauentages spielten eine Rolle. Zudem wurden Aktionen vor den Geschäftssitzen lokaler Care-Unternehmen organisiert, die schlechte Arbeitsbedingungen bieten und ihren Mitarbeitenden Rechte vorenthalten.

Die politische Praxis des Respekt-Netzwerkes besteht jedoch nicht nur in juristischen und politisch sichtbaren Kämpfen um Arbeitsrechte. Wichtig sind auch Strategien des Empowerments, durch die sich die Care-Arbeiterinnen erst in die Lage versetzen, unmittelbar im Haushalt ihre Rechte einfordern und ihre Situation verbessern zu können – zum Beispiel, indem klare Vereinbarungen über die Arbeits- und Freizeit und über angemessene Entlohnung ausgehandelt werden. Meistens fühlen sich die Betroffenen aufgrund des personalisierten Arbeitsverhältnisses gegenüber ihren direkten Arbeitgebern moralisch verpflichtet und spüren eine hohe Verantwortung – sie sind, mit der feministischen Ökonomin Nancy Folbre gesprochen: prisoners of love.[15]

Wehren sie sich gegen hohe Arbeitsbelastungen oder fehlende Ruhezeiten und formulieren eigene Ansprüche, riskieren sie, die «guten Beziehungen» zur Familie zu verspielen und als «schlechte Betreuerin» disqualifiziert oder gar ausgewechselt zu werden. Dieses Dilemma kommt in den Diskussionen immer wieder zur Sprache. Die Care-Arbeiterinnen versuchen dabei, mittels Erfahrungsaustausch und Rollenspielen Strategien zu entwickeln, wie sie in ihrem Alltag selbstbewusst auf ihre eigenen Bedürfnisse aufmerksam machen und das Recht auf Selbst-Sorge und Respekt für ihre emotionalen und körperlichen Grenzen einfordern können.

Ein essenzielles Hilfsmittel dazu ist nicht zuletzt die Verbesserung der Deutschkenntnisse, die unter den Care-Arbeiterinnen sehr unterschiedlich sind. Im Respekt-Netzwerk wurden Deutschkurse initiiert, bei denen Frauen mit sehr guten Sprachkenntnissen ihre Kolleginnen unterrichten und ihnen damit wichtige Kommunikationsfähigkeiten vermitteln. Praktische Solidarität wird auch insofern geübt, als Wissen über offene Stellen weitergegeben wird. Für den Fall, dass Care-Arbeiterinnen ihre Stelle verlieren, bemüht sich das Netzwerk darum, eine temporäre Wohngelegenheit bei solidarischen Gewerkschaftsmitgliedern des VPOD vermitteln zu können.

Diese vielfältigen Praktiken der solidarischen Unterstützung stärken die Handlungsmacht der Mitglieder und führen dazu, dass sich die Care-Arbeiterinnen inzwischen als selbstbewusste Akteurinnen sehen, die ihre Stimme erheben und stolz sind auf die wichtige Arbeit, die sie zwar meistens im Verborgenen verrichten, die aber für die Gesellschaft von großer Bedeutung ist.

Politisch bewegt sich (langsam) etwas

Zurück zur juristischen Klage von Agata Jaworska, die als Musterklage darüber entscheiden sollte, wie die 24-Stunden-Betreuungsarbeit in privaten Haushalten entlohnt werden muss. Die RichterInnen vom Basler Zivilgericht kamen in ihrem Urteil vom März 2015 zu der Überzeugung, dass die Arbeit im Privathaushalt bei einer Anstellung durch private Firmen dem Arbeitsgesetz unterliegt. Folglich müssen sämtliche Stunden – auch die der Rufbereitschaft – angemessen entlohnt werden. Im Fall von Agata Jaworska mit dem halben regulären Stundenlohn. Die Klägerin erhielt deshalb für einen dreimonatigen Arbeitseinsatz eine Nachzahlung von rund 17.000 Franken. Das Respekt-Netzwerk fasst dies als einen «bahnbrechenden Erfolg für Agata und für alle anderen Care-Arbeiterinnen». Während der diesjährigen 8.-März-Demonstration feierten die Netzwerk-Frauen ihren gewonnenen Kampf, der sich über zwei Jahre erstreckt hatte. Sie skandierten «Wszyscy jesteśmy Agatą!» – «Wir sind alle Agata!» – und kündigten eine Klagewelle an, bei der sich weitere Respekt-Mitglieder auf diesen Präzedenzfall beziehen werden.

Wie sich dieser Erfolg auf die rechtliche Regulierung des Arbeitssektors Privathaushalt und spezifisch auf den Bereich der 24-h-Betreuung auswirken wird, bleibt abzuwarten. Ende April 2015 publizierte der Bundesrat den lange angekündigten Bericht «Rechtliche Rahmenbedingungen für Pendelmigration zur Alterspflege». Darin wird festgehalten, dass in der privaten Seniorenbetreuung zu Hause oft unhaltbare Arbeitsbedingungen herrschen und «dass es gesetzlichen Handlungsbedarf gibt, um den betroffenen Arbeitnehmerinnen einen angemessenen Schutz zu gewährleisten».[16]

Der Bericht skizziert verschiedene Lösungen: Denkbar wäre der Erlass eines nationalen Normalarbeitsvertrages oder die Stärkung der kantonalen Normalarbeitsverträge, in denen die Bestimmungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen als bindend erklärt würden. Eine weitere Möglichkeit ist die Schaffung einer neuen Verordnung für diese Arbeitsverhältnisse, wofür jedoch erst die Grundlage im Arbeitsgesetz geschaffen werden müsste.

Statt rasch Maßnahmen zu ergreifen, will der Bundesrat zunächst weitere Klärungen vornehmen: Bis Mitte 2016 sollen die Folgekosten dieser Regulierungsvorschläge für das Sozial- und Gesundheitswesen abgeschätzt und erst dann dem Bundesrat konkrete Lösungsvorschläge unterbreitet werden. Problematisch ist, dass diese dringend nötigen Regulierungen von möglichen Folgekosten abhängig gemacht werden sollen: Das Recht auf die Anerkennung von in der Schweiz üblichen Arbeitsbedingungen darf keine Kostenfrage sein.

Ausblick

Durch die kreativen und vielfältigen gewerkschaftlichen Strategien haben die Care-Arbeiterinnen des Respekt-Netzwerkes eine Öffentlichkeit für ihre Anliegen geschaffen und anderen Betreuerinnen Mut gemacht, sich ebenfalls gegen prekäre Bedingungen zu wehren. Anders als beispielsweise in Österreich, wo im politischen und medialen Diskurs bisher praktisch nur die Bedürfnisse der nachfragenden Familien präsent sind, haben sich die Care-Arbeiterinnen in der Schweiz eine Stimme verschafft. Sie haben damit nicht nur ihre eigenen Bedürfnisse auf die politische Agenda gesetzt, sondern eine gesellschaftliche Diskussion über eine andere Organisation von Pflege und Betreuung angestoßen. Sie haben klar gemacht, dass gute Pflege für die steigende Zahl an pflegebedürftigen Menschen nur unter fairen Arbeitsbedingungen möglich ist.

Gleichzeitig wurde deutlich, dass 24-h-Betreuerinnen längst nicht mehr nur aus Polen in die Schweiz pendeln. Es muss also dringend darüber nachgedacht werden, wie ArbeitnehmerInnen aus anderen Ländern (Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Slowakei, aber auch Sans-Papiers, z. B. aus Lateinamerika) erreicht und über Sprachgrenzen hinweg organisiert werden können. Auch zeigt sich, dass die verschiedenen Rechtsformen und Geschäftspraktiken, mittels derer die Care-Unternehmen agieren und damit häufig unerkannt am geltenden Recht vorbei ihre Geschäfte betreiben, ein ernstes Problem darstellen. Die ungleiche Situation zwischen Care-Arbeiterinnen, die formal in der Schweiz angemeldet und sozialversichert sind, und jenen, die mittels irregulärer Firmen ohne Absicherungen arbeiten müssen, erschwert die Organisierung – und führt nicht zuletzt zu einer verschärften Konkurrenz unter den Care-Arbeiterinnen.

Die immensen Widersprüchlichkeiten und Ungerechtigkeiten in live-in-Arbeitsverhältnissen bleiben bestehen, insbesondere hinsichtlich der grundsätzlichen Frage nach der gesellschaftlichen Organisation, der globalen und geschlechtsspezifischen Verteilung und dem Wert von Care-Arbeit. Eine weitere Politisierung dieser sonst häufig im Verborgenen geleisteten Arbeit in Privathaushalten, die noch immer überwiegend unbezahlt von Familienangehörigen (meistens Frauen) verrichtet wird, steht weiterhin auf der Agenda. Die rechtlichen Bedingungen müssen verbessert werden – dafür sind inzwischen mögliche Wege skizziert. Entscheidend ist letztlich aber der Ausbau einer öffentlichen Care-Infrastruktur, mittels derer die ganze Bevölkerung Zugang zu qualitativ guten Diensten in der ambulanten Pflege, Betreuung und Haushaltshilfe bekommt.[17]

In Bezug auf diese breit zu führende gesellschaftliche Debatte um Care weisen Organisierungsinitiativen wie die von Respekt darauf hin, wie wichtig es ist, von den aktuellen alltäglichen Kämpfen prekär Beschäftigter auszugehen und Kooperationen über Grenzen hinweg zu suchen. Sie fordern auch die Gewerkschaften heraus, sich zu öffnen, an migrantische Netzwerke anzuknüpfen und neue Ressourcen aufzubauen, um einen transnationalen Bezugsrahmen herzustellen.

Literatur

[1] Die Unternehmensformen im Bereich der 24-h-Betreuung sind unterschiedlich. Es gibt a) auf 24h-Betreuung spezialisierte Schweizer Personalverleih-Unternehmen; b) private Spitex-Organisationen, die neben ambulanter Betreuung auch 24h-Betreuung als zweites Standbein betreiben; c) hauptsächlich über das Internet arbeitende Vermittlungsagenturen, die mit Entsendung aus osteuropäischen Ländern operieren, was in der Schweiz für den Haushaltssektor nicht erlaubt ist. Der Markt für 24h-Betreuung ist in den letzten fünf Jahren in der Schweiz expandiert und hat sich stark ausdifferenziert. Vgl. dazu Schilliger, Sarah: Pflegen ohne Grenzen? Polnische Pendelmigrantinnen in der 24h-Betreuung. Eine Ethnographie des Privathaushalts als globalisiertem Arbeitsplatz, Dissertation, Basel 2014, S. 137–200.

[2] Interessant ist, wie sich der Begriff der Care-Arbeit im Selbstverständnis der Aktivistinnen des Respekt-Netzwerkes durch die politische Organisierung immer mehr etabliert. Dies insbesondere, nachdem einige Respekt-Aktivistinnen im März 2014 an der Care-Revolution Konferenz in Berlin teilgenommen hatten und dort mit den politischen Debatten um Care vertraut wurden.

[3] Live-ins werden Hausarbeiterinnen genannt, die im Haushalt der arbeitgebenden Familie leben – im Gegensatz zu live-outs, die eine eigene Wohngelegenheit außerhalb des Haushalts haben.

[4] Vgl. Schwenken, Helen: Transnationale und lokale Organisierungsprozesse für eine ILO-Konvention «Decent Work for Domestic Workers», in: Apitzsch, Ursula/Schmidbaur, Marianne (Hrsg.): Care und Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen, Opladen/Farmington Hills 2010, S. 200.

[5] Der VPOD sieht die 24-h-Betreuung insofern als wichtiges gewerkschaftliches Interventionsfeld, als dort private Akteure auf dem Pflegemarkt neue, prekäre Standards etablieren. Durch Organisierung in diesem Bereich wollen sie der Ausweitung eines prekären Arbeitsmarktes innerhalb der Pflege und Betreuung entgegenwirken. Auch die UNIA hat in den letzten Jahren verschiedene Organizing-Kampagnen im Pflegesektor initiiert, der zunehmend nach privatwirtschaftlichen Prinzipien strukturiert ist. Sie hat mit lokalen Organisierungsinitiativen im Tessin und jüngst im Kanton Zürich dafür gesorgt, dass neben Basel auch in anderen Regionen 24h-Betreuerinnen gewerkschaftlich unterstützt werden. Die UNIA hat zudem mit den Arbeitgebern einen Normalarbeitsvertrag ausgehandelt, der seit 2011 schweizweit gesetzliche Mindestlöhne im Privathaushalt festschreibt. Auch wenn die beiden Gewerkschaften um Mitglieder und öffentliche Aufmerksamkeit konkurrieren, arbeiten sie oft zusammen. Schon seit 2007 gibt es im Rahmen der Denknetz-Fachgruppe Prekarität in Privathaushalten einen regelmäßigen Austausch zwischen den UNIA-, VPOD-, NGO-VertreterInnen und kritischen WissenschaftlerInnen. Durch verschiedene Tagungen, die diese Gruppe in den letzten Jahren organisiert hat, konnte eine kritische Öffentlichkeit geschaffen werden. Auch die Verabschiedung der ILO-Konvention 189 für die Rechte von Hausarbeiterinnen hat politischen Druck zur Verbesserung von deren Arbeits- und Lebenssituation aufgebaut.

[6] Die Zitate stammen aus Interviews im Rahmen meiner Forschung. Bozena Domanska tritt öffentlich mit ihrem Namen auf, weshalb diese Zitate nicht anonymisiert sind. An dieser Stelle danke ich ihr herzlich dafür, mir unzählige Einblicke in ihre Arbeit als Betreuerin gewährt zu haben.

[7] Spitex ist in der Schweiz die Bezeichnung für ambulante Pflege und Betreuung (SPITal-EXtern).

[8] Im Rahmen meiner Dissertation (Schilliger: Pflegen ohne Grenzen?) unternahm ich eine ethnografische Forschung zur Pendelmigration polnischer Care-Arbeiterinnen. Die Untersuchung war zu Beginn nicht als aktivistische Forschung angelegt, entwickelte sich jedoch durch den intensiven Austausch mit den Care-Arbeiterinnen und durch meine eigene Involvierung bei der Gründung des Respekt-Netzwerkes zu einer partizipativen Aktionsforschung.

[9] «Hilfe aus dem Osten. Pflegemigrantinnen in der Schweiz», Film von Béla Batthyany, unter www.srf.ch/sendungen/dok/hilfe-aus-dem-osten-pflegemigrantinnen-in-der-schweiz-2.

[10] Vgl. Schilliger: Pflegen ohne Grenzen?, S. 152 f.

[11] Dies knüpft an die in der zweiten Frauenbewegung geübte Kritik der Gratisarbeit von Hausfrauen an, die häufig als Liebesdienst gesehen wird. Vgl. Bock, Gisela/Duden, Barbara: Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hrsg.): Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Berlin 1977, S. 118–199.

[12] Vgl. Schilliger, Sarah: Globalisierte Care-Arrangements in Schweizer Privathaushalten, in: Nadai, Eva/Nollert, Michael (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse im Post-Wohlfahrtsstaat, Weinheim/Basel 2015, S. 161 f.

[13] Da das Arbeitsgesetz auf private Haushaltungen keine Anwendung findet und von den kantonalen Normalarbeitsverträgen durch schriftliche Vereinbarung abgewichen werden kann, gibt es für Arbeitsverhältnisse in der 24-h-Betreuung hinsichtlich der Arbeits- und Ruhezeiten bisher keine rechtlich verbindlichen Vorgaben.

[14] Vgl. Beispiele aus den USA in: Benz, Martina: Zwischen Migration und Arbeit. Worker Centers und die Organisierung prekär und informell Beschäftigter in den USA, Münster 2014.

[15] Folbre, Nancy: The Invisible Heart: Economics and Family Values, New York 2001.

[16] Schweizer Eidgenossenschaft/Department für Wirtschaft, Bildung und Forschung: Rechtliche Rahmenbedingungen für Pendelmigration zur Alterspflege, 16.3.2012, unter: www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/39176.pdf.

[17] Vgl. Aust u. a.in diesem Heft

Sarah Schilliger ist Soziologin und Oberassistentin am Lehrstuhl für Soziale Ungleichheit, Konflikt- und Kooperationsforschung an der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migrations- und Grenzregime-Forschung, Arbeitssoziologie und Care-Ökonomie. Sie ist u.a. aktiv bei Kritnet - Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-sind-doch-keine-sklavinnen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung via flickr / Fotografin: Nate Pischner / CC BY 2.0

#Hausarbeiterinnen #Migration #Pflege #Organisierung #Gewerkschaft

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Im Sommer 2013 gründeten polnische Care-Arbeiterinnen mit Unterstützung der Dienstleistungsgewerkschaft Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) in Basel das Netzwerk Respekt@vpod. Sie hatten sich zusammengefunden, um auf ihre prekären Arbeitsverhältnisse aufmerksam zu machen und für Arbeitsrechte, Respekt und ein Leben in Würde einzustehen. Diese Form lokaler Selbstorganisierung von Hausarbeiterinnen hat für den deutschsprachigen Raum Vorbildcharakter: Die Aktivistinnen von Respekt@vpod betreten neue Wege der Organisierung in einem Arbeitsfeld, das meist unsichtbar bleibt und als unorganisierbar gilt, gleichzeitig aber für die gesellschaftliche Organisation von Sorge- und Pflegearbeit zentrale Bedeutung hat. Die Frauen in Basel haben es geschafft, aus ihrem Status als «Objekte», über die politisch verhandelt wird, herauszutreten und eigene Artikulationsformen zu entwickeln. Damit haben sie auch den Gewerkschaften gezeigt, wie neue Formen und Strategien der Organisierung von prekär Beschäftigten aussehen könnten.

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung via flickr / Fotografin: Nate Pischner / CC BY 2.0

  • #Hausarbeiterinnen
  • #Migration
  • #Pflege
  • #Organisierung
  • #Gewerkschaft

Ziemlich beste Freunde? Bündnisse zwischen Pflegenden und Gepflegten in den USA

Juni 2013

Bild: Raychan / Unsplash

Bild: Raychan / Unsplash

Pflege, Hausarbeiterinnen, Organisierung, Gewerkschaft, Migration#Pflege #Hausarbeiterinnen #Organisierung #Gewerkschaft #Migration

Auf einer Versammlung im Februar in New York wurden zunächst persönliche Geschichten erzählt. Jede dieser Geschichten rief Erinnerungen wach: an die Pflege des Großvaters, der einen Schlaganfall erlitten hatte, oder an das Kindermädchen, das es der Mutter ermöglichte zu studieren. Wir alle haben solche Geschichten. Was wir aber in der Regel nicht haben, sind genaue Vorstellungen davon, was wir eigentlich tun würden, sollte eine geliebte Person pflegebedürftig werden oder gar uns selbst etwas zustoßen. Wir haben keinen Plan – aber unsere Regierung hat auch keinen. Und das, wo wir ganz offensichtlich auf eine Krise zusteuern. Die Generation der Baby-Boomer altert, 2010 wurde in den USA alle acht Sekunden jemand 65. Diese so genannte Alterswelle entpuppt sich eher als Tsunami.

In dem Maße, wie die ökononomische Situation für viele Familien schwierig wird, steigt die Zahl derjenigen, die auf langfristige Pflege angewiesen sind, geradezu sprunghaft an: Waren es im Jahr 2000 noch 13 Millionen, so sollen es im Jahr 2050 bereits 27 Millionen sein. Die meisten von uns wollen zuhause gepflegt werden, was auch günstiger ist. Laut dem Nationalverband für Ambulante Pflege und Palliativmedizin, der National Association for Home Care & Hospice, ist ein Tag in einem Pflegeheim viermal so teuer wie zwölf Stunden Pflege im häuslichen Umfeld. Doch die derzeit im Bereich häuslicher Pflege tätigen Arbeitskräfte – etwa zwei Millionen Menschen – können diesen Bedarf bei Weitem nicht decken.

PflegerInnen, die langfristig und gut arbeiten, sind rar. Die Gründe liegen auf der Hand: Häusliche Pflege ist ein von Frauen dominierter Sektor ohne arbeitsrechtlichen Schutz, ohne Regelungen zu Mindestlöhnen und Überstunden. Vor allem MigrantInnen und BerufseinsteigerInnen sind hier tätig. Als 1938 der Fair Labor Standards Act (FLSA) verabschiedet wurde, galt Pflege als familiäre Aufgabe oder bestenfalls als Möglichkeit, Erwerbslose zu beschäftigen und die Kosten der Arbeitslosenunterstützung zu senken. Im Jahr 2010 betrug der durchschnittliche Stundenlohn für ambulante Pflege 9,40 US-Dollar. Das durchschnittliche Jahreseinkommen dieser Beschäftigtengruppe belief sich laut einer Umfrage des Paraprofessional Healthcare Institute (PHI) im Jahr 2009 auf 15 611 US-Dollar. Mehr als die Hälfte dieser Pflegekräfte lebt in einem Haushalt, der auf staatliche Transferleistung angewiesen ist. Häusliche Pflege ist zwar zu einem profitorientierten Wirtschaftszweig geworden, in dem jährlich 84 Milliarden US-Dollar umgesetzt werden – die Pflegekräfte sind jedoch weitgehend schutzlos.

»Organisiert Euch!«, könnte man sagen. Und genau das hat Caring Across Generations vor. Ai-jen Poo, Kodirektorin der Kampagne und Leiterin der National Domestic Workers Alliance, begann sich angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise mit Pflegefragen zu beschäftigen: »Wir haben uns Folgendes gedacht: Es gibt eine Beschäftigungskrise und es gibt eine Pflegekrise. Lasst uns also Millionen hochwertiger Arbeitsplätze im Bereich häuslicher Pflege schaffen. Davon profitieren nicht nur die PflegerInnen, sondern auch die Pflegebedürftigen. Und: Das Thema betrifft uns alle.« Es gibt da nur ein Problem. In manchen Bundesstaaten wurden zwar einige Lohn- und Arbeitszeitregelungen auf häusliche Pflegekräfte ausgeweitet, doch auf Bundesebene gibt es kein Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder Tarifverhandlungen zu führen. Es gibt nicht einmal ein richtiges Kollektiv, das solche Verhandlungen führen könnte: Die Pflegekräfte sind im Haushalt isoliert, an einem Arbeitsplatz, an dem ­Frauen – wie Friedrich Engels es einmal ausgedrückt hat – im Namen der ›Sorge‹ entweder offen oder verdeckt ›versklavt‹ werden. Poo und ihre GenossInnen lassen sich davon nicht entmutigen. Sie gehen zunächst gegen die Isolation vor, die die Organisierung einer so fragmentierten Arbeiterschaft schwer macht. Sie versuchen Netzwerke aufzubauen und so einen Erfolg überhaupt erst möglich zu machen.

Im vergangenen Juli organisierte Poo gemeinsam mit Sarita Gupta, der Geschäftsführerin von Jobs With Justice, im Washingtoner Hilton eine landesweit beworbene Veranstaltung, um die Caring-Across-Generations-Kampagne zu lancieren. Auf der Bühne saßen dicht gedrängt Pflegekräfte, RentnerInnen und Menschen mit Behinderung – überwiegend Frauen. Fast alle von der Pflegekrise betroffenen Bevölkerungsgruppen waren dort, entschlossen, das Problem in Angriff zu nehmen. Das Bündnis umfasste das gesamte Spektrum von Stadtteilinitiativen und Arbeiterorganisationen, von den Dienstleistungsgewerkschaften AFSCME und SEIU über 9 to 5, den Bund Pensionierter Amerikaner (Alliance of Retired Americans) und das National Day Laborer Organizing Network bis hin zum Christlichen Verein Junger Frauen (YWCA).

Arbeitsministerin Hilda Solis, Tochter einer Hausangestellten, sprach zu den 700 Anwesenden: »Amerika muss ein Land sein, in dem Pflegende und Pflegebedürftige gleichermaßen ein Recht auf Würde und Respekt haben.« Außer Solis sprachen die Schatzmeisterin des Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO, die Rabbinerin Felicia Sol von der jüdischen Organisation Bend The Arc und Jessica Lehman vom Verband Hand in Hand, in dem sich HausarbeiterInnen gemeinsam mit ihren Arbeitgebern für verbesserte Arbeitsbedingungen einsetzen.

Wie bereits in der Kampagne der National Domestic Workers Alliance versucht Caring Across Generations, Bündnisse zu schließen zwischen ArbeiterInnen und denen, für die diese Arbeit geleistet wird. Es geht darum, dass sich die ArbeiterInnen selbst organisieren, entsprechend wird streng darauf geachtet, dass Wort- und Textbeiträge in mehrere Sprachen übersetzt werden, also alle mitreden können, und dass es bei allen Veranstaltungen eine Kinderbetreuung gibt. Die Kampagne basiert außerdem auf enger Zusammenarbeit der mehr als zweihundert beteiligten Organisationen – keine Gruppe kann sich nur um den für sie besonders wichtigen Teil des Gesamtvorhabens kümmern.

Es geht um ein bundesweites politisches Programm, zwei Millionen neue Arbeitsplätze im Bereich der häuslichen Pflege zu schaffen und arbeitsrechtliche Mindeststandards für die Beschäftigten durchzusetzen: geregelte Arbeitszeiten, Mindestlöhne und ein Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Diese Arbeitsplätze sollen mit Ausbildungs- und Zertifizierungsmöglichkeiten einhergehen, um die Qualität der Pflege anzuheben und um denen, die an den Ausbildungsprogrammen teilnehmen, den Zugang zur Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Poo zufolge sind die Kosten insofern zu bewältigen, als Pflege im häuslichen Bereich ja günstiger ist als im stationären. Poo schlägt außerdem vor, Militärausgaben zu kürzen, Finanztransaktionssteuern einzuführen und die Besteuerung von Unternehmen auszuweiten. »Es kann nicht sein, dass wir unseren Haushalt auf Kosten der Pflegenden und Gepflegten ausgleichen.«

Caring Across Generations setzt sich für die Ausweitung von Medicaid und Medicare[1] ein sowie gegen Kürzungen im Sozial- und Gesundheitswesen. Immer wieder kommt Poo auf Grundsätzliches zu sprechen: auf die Arbeiterbewegung, die Bürgerrechtsbewegung und die Bewegungen für Frauenrechte sowie für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen: »Es geht um Respekt und Würde, nicht bloß für eine Gruppe, sondern für uns alle, als Menschen.« Setzt man die verschiedenen Themenbereiche wieder zueinander ins Verhältnis, stellen sich auch wieder Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Bewegungen her, glaubt Poo. Darin liege ein Potenzial, Machtverhältnisse spürbar zu verändern.

Einen kleinen Erfolg kann Caring Across Generations bereits verbuchen: Teile des Bündnisses hatten einen wichtigen Anteil daran, dass Präsident Obama im Dezember 2011 eine Ausweitung der Überstunden- und Mindestlohnregelungen auf einige zehntausend Hausangestellte ankündigte. Seit dem Sommer 2011 gründen sich im ganzen Land örtliche Care Councils (Pflegeräte). Dort treffen Menschen aus allen Bereichen der Pflege zusammen, um gegen Kürzungen und Angriffe auf Gewerkschaftsrechte zu kämpfen, aber auch für eine bessere Finanzierung der häuslichen Pflege. Die Care Councils bereiten öffentliche Pflegekongresse in wichtigen Städten wie Los Angeles, San Francisco, Dayton, Seattle, San Antonio und New York vor. »Sie gehen auf sehr unterschiedliche Gruppen zu, die oft gegeneinander ausgespielt werden, und sagen: Wir gehen von dem Grundsatz aus, dass wir uns gemeinsam wehren müssen«, sagt Ellen Bravo von Family Values @ Work, einem in mehreren Bundesstaaten tätigen Bündnis, das sich für eine finanzierte Elternzeitregelung sowie für das Recht auf Krankentage einsetzt.

Auf die Frage, warum die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, die landesweit mehr als 500 000 ambulante GesundheitspflegerInnen vertritt, mit Caring Across Generations zusammenarbeitet und sogar zu dem für Februar geplanten Pflegekongress in Seattle aufruft, sagt die Leiterin des Rats für ambulante Pflege (Home Care Council) der SEIU, Abigail Solomon: »Wir haben uns in der Vergangenheit an Initiativen zu Fragen der Migration, der Gesundheitspflege und der ambulanten Pflege beteiligt, aber dabei immer nur zu einem der Punkte gearbeitet. Dieses Bündnis versucht, all diese Aspekte zusammenzudenken und den Gesamtzusammenhang in den Blick zu nehmen. Außerdem erreicht es auch Bundesstaaten wie Texas, in denen ambulante Pflegekräfte dringend mehr Mitbestimmung benötigen. So werden auch lokale und landesweite Bemühungen um gewerkschaftliches Organizing gestärkt.«

Die traditionellen Arbeiterorganisationen scheinen verstanden zu haben, worum es hier geht: Wenn sie in unserer postindustriellen Ökonomie aus ihrer weitgehenden Bedeutungslosigkeit wieder heraus wollen, müssen sie diese ArbeiterInnen organisieren. Ambulante Pflegekräfte sind, nach den EinzelhändlerInnen und den stationären KrankenpflegerInnen, die am drittschnellsten wachsende Beschäftigtengruppe in den USA. Aber die Organizing-Bemühungen kommen nur langsam in Gang und sind oft wenig solidarisch unternommen worden, sodass die Isolation der Gewerkschaften eher noch verstärkt wurde. Ambulante PflegerInnen sind in ein Gespinst aus sozialstaatlichen, gesundheitspolitischen und sozialarbeiterischen Bürokratien verstrickt. Sie werden oft als Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes aufgefasst (vom Staat beschäftigt und über Medicaid bezahlt), zuweilen aber auch als selbständige Honorarkräfte (die für private Agenturen arbeiten), oder aber sie werden vom Kunden direkt angeheuert. Es gibt keine klaren Abgrenzungen, kein Regelwerk, kein Namensverzeichnis, keine als allgemein üblich geltenden Arbeitszeiten, keine Möglichkeit, sich auszutauschen und zu organisieren.

Diese Situation befördert auch Konflikte zwischen den Gewerkschaften. Als 74 000 ambulante Pflegekräfte aus Los Angeles, die meisten von ihnen Latinas, 1999 für den Beitritt zur SEIU stimmten, war dies für die Gewerkschaftsbewegung zunächst ein Grund zum Feiern. Dann aber folgten heftige Grabenkämpfe zwischen der SEIU und der Gewerkschaft der im Öffentlichen Dienst Beschäftigten, der AFSCME; es ging um die Frage, wer die noch unorganisierten PflegerInnen Kaliforniens anwerben und vertreten sollte. Die Frauen von Caring Across Generations haben zuvor genau jene Netzwerke aufgebaut, die traditionelle Gewerkschaften benötigen, wollen sie in diesem Bereich tätig werden. Bevor Sarita Gupta bei Caring Across Generations anfing, koordinierte sie jahrelang die landesweiten Aktivitäten von Jobs With Justice. Es gelang ihr, Bündnisse zu schmieden zwischen selbstorganisierten ArbeiterInnen und traditionellen Gewerkschaften und somit Tarifrechte, die Rechte migrantischer ArbeiterInnen und den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu verteidigen.

Poo wurde zum Organizing-Star, als es der Gruppe Domestic Workers United 2010 gelang, so viele HaushaltsarbeiterInnen, Tagesmütter und UnterstützerInnen zu mobilisieren, dass in New York eine Charta der Rechte von Haushaltsangestellten verabschiedet wurde, die Domestic Workers Bill of Rights (vgl. Poo in LuXemburg 4/2011, 72ff).

Wie Gupta hat Poo immer im Bereich intersektionaler Politik gearbeitet, also dort, wo sich die ›nicht-traditionellen‹ ArbeiterInnen befinden und alle anderen sich hinbewegen. Im Gegensatz zu den großen Gewerkschaften geht es ihnen darum, den langfristigen Aufbau von Verhandlungsmacht ins Zentrum zu stellen. Die National Domestic Workers Alliance ging 2007 aus dem ersten US-amerikanischen Sozialforum in Atlanta hervor. 2010 organisierte das Forum in Detroit ein bahnbrechendes, dreitägiges Treffen von 400 ›marginalisierten‹ ArbeiterInnen – also denen, die nicht unter die Lohn- und Arbeitszeitregelungen des Fair Labor Standards Act fallen: Dazu gehörten TagelöhnerInnen, Haushaltskräfte, TaxifahrerInnen, ehemals inhaftierte ArbeiterInnen und ArbeiterInnen aus jenen Bundesstaaten, von denen die OrganisatorInnen sagen, dass es dort ein »Recht auf schlecht bezahlte Arbeit« gebe. Die damals geführten Diskussionen waren historisch: Es schien, als hätten ArbeiterInnen, die in der old economy randständig waren, begriffen, dass sie mittlerweile zu denen gehören, auf die es in der new economy ankommt. Von ihren KollegInnen ­abgeschnitten, ohne feste Arbeitsstätte, mit willkürlichen Arbeitszeiten und ohne Möglichkeit, kollektive Verhandlungsmacht zu entwickeln, gelang es ihnen nichtsdestotrotz, kreative Bündnisse zu schmieden, die Pioniercharakter aufweisen und spürbare Wirkung entfalten.

Caring Across Generations kann als Prüfstein für das auf den Sozialforen entwickelte Modell angesehen werden, demzufolge die Personen im Mittelpunkt stehen sollten, die von einer bestimmten Situation am stärksten betroffen sind. Sie wissen, wie man sich in diesen Situationen am besten verhält. Auf die Frage, wie auch nur einige der von ihrer Gruppe formulierten Ziele erreicht werden sollen, antwortet Poo in ihrer entwaffnend selbstbewussten und ruhigen Art, dass sie an die unerschütterliche Macht der Liebe glaube. PflegerInnen sind, im Guten wie im Schlechten, Familienangehörige, und damit ist Liebe hier immer auch ein Thema. Dies unterscheidet die Pflege-Problematik vom herkömmlichen Konflikt zwischen ArbeiterIn und ChefIn.

Das Nachdenken über Pflege macht unsere Verletzbarkeit deutlich. Marxistische FeministInnen haben sich heiser geredet darüber, dass hinter jedem rüstigen Helden eine unbezahlte Ehefrau oder eine versklavte Person steht. Doch individuelle Rechte, wie das freie Wahlrecht, waren in den USA stets einfacher durchzusetzen als kollektive, wie das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die Globalisierung, die Automatisierung und ein drei Jahrzehnte währender Angriff der Konzerne auf die Gewerkschaften haben dieses Problem nur verschärft. Mehr AmerikanerInnen als je zuvor sind an ihrem Arbeitsplatz allein und auf sich gestellt – ­ohne Zugang zu einer Gewerkschaft.

Heidi Hartmann vom Caring-Across-Generations-Führungskomitee und dem Institute for Women’s Policy Research stellt fest: »Frauen waren immer Pioniere, diejenigen, die Dinge auf sich nahmen, die niemand auf sich nehmen wollte. Das sind die Jobs, die Frauen bekommen können.« Es gebe keinen Grund, warum Dienstleistungsarbeit wie Pflege nicht auch gute Arbeit werden könne. Die ersten Fließbandjobs waren Frauenjobs, weil Männer sie nicht wollten. Überschüssige landwirtschaftliche Arbeitskräfte zogen in die Textilfabriken, und dank gewerkschaftlicher Organisierung wurden diese Arbeitsplätze eine Zeitlang zu guten Arbeitsplätzen. Unterm Strich werden dafür zwei Dinge nötig sein: eine kulturelle Wende und eine Menge Druck.

Während eines Besuchs in Connecticut lernte ich Erika kennen. Sie ist 56 und leidet an Muskelatrophie. Erika ist eine große Frau, die in einer kleinen Wohnung lebt, und mit ihr lebt Mel, ihre Pflegerin aus Liberia. Eingepfercht und frustriert, ist Erika alles andere als der still vor sich hin leidende Typ. Mel ist also 24 Stunden am Tag an sieben Tagen in der Woche im Einsatz – obwohl sie nur 21 Wochenstunden bezahlt bekommt. Erika lebt von Sozialhilfe. Sie »liebe« ihren »Engel« Mel, könne sich aber keine Vollzeit-Pflegerin leisten. Theoretisch hätte Mel die Möglichkeit, auch noch für andere KundInnen zu arbeiten, doch bei einem Stundenlohn von 12,30 US-Dollar für 21 Wochenstunden kann sie es sich schlicht nicht leisten, Hausbesuche bei anderen Pflegebedürftigen zu machen – es gibt keine Erstattung von Fahrtkosten. Außerdem hat sie nicht die geringste Ahnung, wie sie in der Nähe weitere KundInnen finden könnte. Mel und Erika zogen gemeinsam zum Staatskapitol von Connecticut, um für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung einzutreten. Als ich sie nach ihrer Perspektive frage, fängt die erschöpfte Mel an zu weinen. »Ich unterstütze die Gewerkschaft«, sagt sie. »Aber ich sehe nicht, wie sie mir helfen kann. Ich sitze in der Falle.«

Was kann die Gewerkschaft Mel bieten? In mehreren Bundesstaaten haben Gewerkschaften beispielsweise ein Verzeichnis potenzieller KundInnen angelegt – Menschen wie Mel (und Erika) brauchen aber noch mehr. Sie brauchen alles, von kostenloser, qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung über bezahlbaren, gesundheitsverträglichen Wohnraum bis hin zu verlässlichem öffentlichen Nahverkehr. Und wie wäre es mit günstigen, robusten Smartphones, damit ArbeiterInnen den Kontakt zu ihren Anwälten und zueinander halten können? Mel hat eine Stimme, und sie hat eine Geschichte zu erzählen, aber sie braucht Macht, um die Bedingungen, unter denen sie lebt, zu ändern. Wird Caring Across Generations ausreichend Macht entwickeln, um einen weitreichenden Wandel voranzutreiben? »Gewerkschaften und Bewegungen haben so etwas wie einen Lebenszyklus«, sagt Poo. »Und diese Bewegung steckt noch in den Kinderschuhen. Ich glaube, dass wir unbegrenzte Möglichkeiten haben, weil wir tatsächlich die 99 Prozent vertreten – vielleicht sogar die 100 Prozent.«

Der Text erschien zuerst in The Nation, 30.4.2012. Aus dem Amerikanischen von Max Henninger.

Anmerkungen

[1] Medicaid ist ein 1965 eingeführtes Gesundheitsfürsorgeprogramm in den USA. Anspruchsberechtigt sind Menschen mit geringem Einkommen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Medicare ist die öffentliche Krankenversicherung in den USA. Sie gilt einzig für Bürger ab dem 65. Lebensjahr und Behinderte. Anm. d. Red.

Laura Flanders hat in ihrem Leben viele Radio und TV-Shows moderiert. Ihre Artikel – häufig zu feministischen Themen – erscheinen in The Nation und anderswo. In ihrem Buch »Bei der Tea-Party« wird klar, warum die Rechte in den USA zwar ernstzunehmen ist, die eigentliche Bedrohung aber von der Schwäche der Linken ausgeht. Anlässlich der One-Billion-Rising-Kampagne gegen geschlechtsspezifische Gewalt rief sie auf, nun auch das Schweigen über die alltägliche Gewalt neoliberaler Arbeitsverhältnisse zu brechen.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/ziemlich-beste-freunde-buendnisse-zwischen-pflegenden-und-gepflegten-in-den-usa

#Pflege #Hausarbeiterinnen #Organisierung #Gewerkschaft #Migration

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Die Kampagne Caring Across Generations zielt auf eine völlige Umkehr der Art und Weise, wie – US-AmerikanerInnen über sich selbst und andere, über Arbeit und Ökonomie denken. Es geht darum, zwei Millionen hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen und uns allen einen glücklichen und gesunden Lebensabend zu bescheren. Wie das gehen soll, lässt sich nur verstehen, wenn wir zunächst über Pflege sprechen – und zwar laut und deutlich.

Bild: Raychan / Unsplash

  • #Pflege
  • #Hausarbeiterinnen
  • #Organisierung
  • #Gewerkschaft
  • #Migration
  • #Pflege
  • #Hausarbeiterinnen
  • #Organisierung
  • #Gewerkschaft
  • #Migration
  • #Alternativen
  • #Krankenhaus
  • #Selbstverwaltung
  • #Berlin
  • #Krise
  • #Feminismus
  • #Anti-Rassismus
  • #Mobilität
  • #Rekommunalisierung
  • #Wohnen
  • #Bremen
  • #SorgendeStadt