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Die linke Stadtregierung von Barcelona en Comú hat 2017 ein Programm für eine „Sorgende Stadt“ aufgelegt. In dieser Studie werden Hintergründe und praktische Erfahrungen dargestellt. Die Autorinnen zeigen, dass es möglich ist, Erkenntnisse einer feministischen Ökonomiekritik auf kommunaler Ebene in konkrete Politiken zu übersetzen. Sie werten die in Barcelona gemachten Erfahrungen aus und stellen Werkzeuge und Überlegungen vor, die die Entwicklung ähnlicher Strategien in anderen Kontexten erleichtern können.

  • #Rekommunalisierung
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«Jedes Stadtviertel muss eine Einheit der Fürsorge bilden»

Die Kraft der vielen Frauen ermöglicht, bahnbrechende Projekte anzuschieben

März 2022 • Laura Pérez Castaño

8M in Barcelona / Foto:  Fotomovimiento via flickr

8M in Barcelona / Foto: Fotomovimiento via flickr

Feminismus, Rekommunalisierung, SorgendeStadt#Feminismus #Rekommunalisierung #SorgendeStadt

Laura Pérez Castaño ist stellvertretende Bürgermeisterin von Barcelona und Stadträtin für soziale Rechte, globale Gerechtigkeit, Feminismus und LGBTI. Sie hat viele verschiedene Initiativen gestartet, um neue Wege politischen Handelns zu gehen und transformative feministische Ansätze in allen politischen Bereichen zu implementieren. María del Vigo sprach mit ihr über Erfolge, Gelerntes und Herausforderungen auf diesem Weg.

Bei den jüngsten Wahlumfragen in Barcelona im Dezember 2021 lag Barcelona en Comú zum ersten Mal vor der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC). Was hat zu dieser Unterstützung geführt und wie lässt sich dieser Erfolg aufrechterhalten?

Die Umfragen müssen mit einer gewissen Distanz betrachtet werden, aber eine positive Tendenz ist weiterhin erkennbar. Die politischen Ziele von Barcelona en Comú scheinen bis zu einem gewissen Grad mit den Bedürfnissen der Menschen vor Ort übereinzustimmen.

Ich glaube, dass es uns im Stadtrat gelungen ist, Forderungen der Bevölkerung Barcelonas aufzugreifen, etwa beim Thema Mobilität. Wir haben uns klar fürs Fahrrad, für Fußgänger*innen sowie für verkehrsberuhigte Bereiche im Umfeld von Schulen ausgesprochen. Das sind zum Teil kontroverse Themensetzungen, die zu Ablehnung hätten führen können. Die Wahlumfragen bestätigen jedoch, dass die Mehrheit und wir den gleichen Weg verfolgen.

In ökonomischer Hinsicht geht es Barcelona etwas besser als anderen großen Städten. Und ich glaube, dass das soziale Engagement des Stadtrats von den Bürger*innen sehr geschätzt wird.

Sie haben Initiativen gestartet, die städtische Politik betreffen, aber auch solche, mit denen die Präsenz von Frauen in den internen Strukturen von Barcelona en Comú gestärkt werden soll. Was von beidem hat Ihnen mehr Kopfzerbrechen bereitet?

Ohne Zweifel die städtische Politik. Ich möchte nicht behaupten, dass die interne Stärkung der Position von Frauen nicht schwierig ist. Aber Barcelona en Comú ist eine Organisation, in der es sehr viele aktive und engagierte Bündnisse gibt, die dafür sorgen, dass Feminismus in den Grundfesten der Politik verankert ist.

Die Ausgangslage bei der Verwaltung städtischer Belange ist eine ganz andere. Du magst über Bündnisse innerhalb und außerhalb des Stadtrates verfügen, aber der Apparat an sich ist schwerfällig, patriarchal und unglaublich hierarchisch aufgestellt. Gegen diese Dynamiken anzukämpfen, ist sehr viel komplexer.

Ich muss auch gestehen, dass es bei unserem Amtsantritt 2015 für andere nicht einfach war, sich gegen eine feministische Politik zu stellen. Wenn du auf den Rathausplatz hinausgegangen bist, hast du den enormen gesellschaftlichen Druck und die Kraft der vielen Frauen gespürt. Die haben klar gemacht, dass dies deine Priorität sein muss. Wir haben bahnbrechende Projekte angeschoben, und es gab schon Leute, die nicht mitgemacht haben oder wenig Interesse daran hatten. Aber wir mussten keine verschlossenen Türen aufbrechen.

Ciudad Cuidadora (Fürsorgliche Stadt) ist eine sehr ambitionierte Initiative, angeleitet von Ihrem Stadtratsamt. Was ist das für ein Projekt?

Eine der großen Herausforderungen für den Feminismus liegt heute im Bereich der Wirtschaft, denn das herrschende Wirtschaftsmodell basiert maßgeblich auf strukturellen Geschlechterunterschieden, die wir beseitigen müssen. Im Zentrum des Projekts «Barcelona Cuidadora» steht die CareArbeit, einer der Bereiche mit dem größten Anteil an Frauen und mit sehr prekären Arbeitsbedingungen.

Das Projekt verfolgt zwei Ansätze: Zum einen geht es darum, Frauen zu entlasten, die unbezahlte Pflegearbeit leisten. Zum anderen werden Frauen unterstützt, die einer bezahlten Pflegearbeit nachgehen. Das sind meist Migrantinnen, die es anderen Frauen ermöglichen, beruflich voranzukommen – auf Kosten ihrer eigenen Arbeitsbedingungen.

Das Projekt startete 2017. Wie hat sich die Pandemie auf Ciudad Cuidadora ausgewirkt? Gibt es größeren Bedarf an Care-Arbeit oder haben wir bloß verstanden, was es heißt, sie zu leisten, weil wir zu Hause geblieben sind und damit konfrontiert waren?

Die Lehren, die wir daraus ziehen, sind nachhaltig. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Sobald strikte Ausgangssperren aufgehoben werden, geben die, die es können, Care-Arbeit wieder an andere ab. Das ist so, weil Pflegearbeit kaum gesellschaftlichen oder ökonomischen Wert hat. Wir müssen Lehren aus der Pandemie ziehen und darüber nachdenken, wie wir der Pflegearbeit auf politischem Wege zu mehr Wertschätzung verhelfen.

Neben der Ausweitung der Online-Betreuung und der Anpassung unserer Angebote an die Bedürfnisse der Bevölkerung – berücksichtigend, dass nicht alle auf gleiche Weise von der Pandemie betroffen sind – haben wir dieses Jahr ein weiteres Projekt gestartet: die «Supermanzanas» (Quartiersfürsorgesysteme). Ziel des Projektes ist es, dass jegliche Pflegedienstleistungen innerhalb von zehn Minuten erreichbar sind. Deine häusliche Pflegekraft sollte beispielsweise nicht morgens am einen Ende der Stadt und abends am anderen arbeiten, sondern immer in deinem Viertel, also auch immer dieselbe sein. Dank der Lehren, die wir aus der Pandemie gezogen haben, als benachbarte Stadtviertel nicht besucht werden konnten, organisieren wir die Pflegearbeit heute ganz neu. Die unmittelbare räumliche Nähe von Pflegekräften ist sehr wichtig und jedes Viertel muss eine Einheit der Fürsorge bilden.

Ein weiterer großer Kampf der europäischen Linken ist der Zugang zu Wohnraum. Dieses Recht zu gewährleisten, ist nach wie vor eines der Ziele des Stadtrates. Wo überschneiden sich Wohnungs- und Geschlechterpolitik?

Es gibt keine feministische Politik, wenn wir nicht über die Wohnungspolitik sprechen. Das Recht auf Stadt geht Hand in Hand mit dem Recht auf Wohnen. Leider ist das heute in Barcelona nicht der Fall. Wenn wir den Etat im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gesichtspunkte analysieren, zeigt sich allerdings, dass Wohnraumpolitik mit am besten abschneidet.

Zurzeit baut Barcelona 2.300 Wohnungen. Zudem haben wir Wohnraum erworben, saniert und auf den Markt gebracht. Außerdem haben wir im Rahmen eines Programms für zeitlich begrenztes Wohnen in unmittelbarer Nähe eine ganze Reihe von APROPs errichtet. Das sind modulare Gebäude, die in acht Monaten aus Schiffscontainern hergestellt werden können. Von den nächsten beispielsweise wird die Hälfte an alleinerziehende Mütter gehen, weil die Mieten für sie zu teuer sind. Momentan betragen die Ausgaben für Wohnraum in Barcelona im Schnitt 23 Prozent des Einkommens, bei alleinerziehenden Müttern sind es 64 Prozent. Wohnungspolitik muss insbesondere die Situation von Frauen berücksichtigen und entsprechende Unterstützung bereitstellen.

Feministische Bewegungen und recht viele Institutionen reden von der Notwendigkeit, eine feministische Perspektive in allen Bereichen der Politik mitzudenken. Das ist ja eines Ihrer Hauptanliegen. Wie weit sind Sie gekommen?

Wenn wir über Jugend, Gesundheit oder Sport sprechen, sollten geschlechtsspezifische Fragen nicht losgelöst davon behandelt werden. Abgesehen davon gibt es viele interne Instrumente, die sich bewährt haben, um feministische Werte in den Institutionen zu verankern. Sie sind nicht besonders sichtbar, wie die Steuerberichte, die wir anfertigen lassen, aber sie helfen uns sehr. Die Berichte über Einkommensunterschiede im Stadtrat von Barcelona haben uns zum Beispiel geholfen, viele Verbesserungen zu erreichen, die sonst nicht möglich gewesen wären. Es ist richtig, dass ich mich mit diesem Bericht selbst stark unter Druck gesetzt habe, weil ich der Opposition damit ein Werkzeug an die Hand gegeben habe, aber ich habe auch erreicht, dass sich die Arbeitsbedingungen von Frauen verbessert haben.

Was die Struktur betrifft, so arbeiten 12 Personen im Gender-Mainstreaming-Team. Wir haben außerdem Gender-Referate in allen Abteilungen des Stadtrats. Und es wird sie in allen Bezirken geben. Solche Maßnahmen sind kaum sichtbar, aber sie sind unbedingt erforderlich, um Gender-Mainstreaming wirksam zu machen.

Foto:  Fotomovimiento via flickr

#Feminismus #Rekommunalisierung #SorgendeStadt

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Laura Pérez Castaño ist stellvertretende Bürgermeisterin von Barcelona und Stadträtin für soziale Rechte, globale Gerechtigkeit, Feminismus und LGBTI. Sie hat viele verschiedene Initiativen gestartet, um neue Wege politischen Handelns zu gehen und transformative feministische Ansätze in allen politischen Bereichen zu implementieren. María del Vigo sprach mit ihr über Erfolge, Gelerntes und Herausforderungen auf diesem Weg.

8M in Barcelona / Foto: Fotomovimiento via flickr

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Die Mehrheit der Berliner*innen ist dafür, private Immobilienkonzerne zu vergesellschaften – so das Ergebnis des Volksentscheids von «Deutsche Wohnen & Co. enteignen». Damit hatte niemand gerechnet. Doch es war ein Akt der Notwehr: In den Städten ist es fast unmöglich geworden, bezahlbaren Wohnraum zu finden, die Angst vor Verdrängung ist riesig. Die Kampagne hat uns vor Augen geführt, wie falsch und lebensfeindlich es ist, so elementare Dinge unseres Lebens wie Wohnraum dem Markt zu überlassen. Wie kann es sein, dass aus meiner Mietsteigerung die Rendite von Aktionär*innen bezahlt wird? Und warum sollten Krankenhäuser und Pflegeheime zur Profitmacherei betrieben werden, statt sich an unseren Bedürfnissen zu orientieren?

Höchste Zeit, nicht nur die Daseinsvorsorge, sondern auch wichtige Teile der Produktion unter öffentliche Kontrolle zu bringen: nämlich all das, was für ein gutes Leben für alle und einen nachhaltigen Umgang mit unserem Planeten notwendig ist. Deshalb heißt es jetzt: BESITZ ERGREIFEN.

LuXemburg 1/2022 fragt, wie die Arbeiter*innenbewegung Anfang des letzten Jahrhunderts über Sozialisierung nachgedacht hat und warum Vergesellschaftung viel mehr bedeutet als einen Wechsel der Eigentumsform. Warum reicht es nicht, die Gesundheitsversorgung in die öffentliche Hand zu bekommen, und wie vergesellschaftet man eigentlich die Plattformökonomie? Wie sähe eine kommunale Sorge-Ökonomie aus, die auch die Geschlechterverhältnisse ins Wanken brächte? Und könnte eine breite Initiative für Vergesellschaftung, die die vielen kleinen und großen Kämpfe bündelt, der Kompass für eine Erneuerung der Linken sein?

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Sorgende Städte

Ein Plädoyer für eine kommunale Sorgepolitik.

Februar 2022 • Barbara Fried • Alex Wischnewski

Phil Hearing / unsplash

Phil Hearing / unsplash

Rekommunalisierung, Feminismus, SorgendeStadt#Rekommunalisierung #Feminismus #SorgendeStadt

Die erfolgreiche Kampagne von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« strahlt über Berlin hinaus. An vielen Orten formieren sich Bündnisse, um wichtige Teile der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand zurückzuholen. Denn nach Jahren zerstörerischer Privatisierungspolitik ist offensichtlich, dass diese nicht länger dem Markt überlassen werden können. Nicht zufällig finden viele dieser Kämpfe im Bereich sozialer Reproduktion statt. Geht es bei Wohnraum, Krankenhäusern, Energieversorgung oder Nahverkehr doch um Infrastrukturen, die zum einen unverzichtbar sind und zum anderen nur lokal genutzt werden können. Das sich dort verwertende Kapital kann den Standort nicht einfach verlagern – entsprechend sind die Bedingungen für Kämpfe um Rekommunalisierung oder Vergesellschaftung tendenziell günstiger (vgl. Hoffrogge 2021).

Gleichzeitig hat die Pandemie einmal mehr ins Bewusstsein gerufen, welche gesellschaftlichen Arbeiten im engen Sinne »systemrelevant« sind und folglich als »sozialisierungsreif« gelten müssen. Neben den genannten sind das vor allem Pflege, Erziehung, Ernährung, Reinigung und Betreuung, all jene Tätigkeiten also, die typischerweise von Frauen und zu großen Teilen im privaten Haushalt erledigt werden.

Das gesamte Feld der Sorgearbeiten zu vergesellschaften, steht jedoch bisher nicht auf der Agenda von Anti-Privatisierungs-Bündnissen. Warum ist das so? Warum wäre es nötig? Und wie könnten Projekte oder Kampagnen für eine »Sorgende Stadt« entstehen, die eine Vergesellschaftung aller Care-Arbeiten vorantreiben?

 

Sorgen mit der Sorge

Care-Arbeit gilt unter kapitalistischen Verhältnissen als privat und als »Frauensache«. Historische Kämpfe für eine Professionalisierung waren zwar durchaus erfolgreich, dennoch liegt der riesige Bereich unentlohnter, häuslicher Sorge-Arbeiten weiterhin in der Verantwortung der Einzelnen.[1] Hinzu kommt, dass mit den neoliberalen Politiken die Löhne, Arbeits- und Reproduktionsbedingungen der Haushalte unter Druck geraten sind. Professionelle Angebote können den Bedarf, der dadurch entsteht, dass Frauen inzwischen mehrheitlich erwerbstätig sein müssen, kaum mehr decken. Denn auch hier haben Marktsteuerung und Ökonomisierung die Bedingungen verschlechtert: Es fehlt eigentlich in allen Bereichen sozialer Dienstleistungen an qualifiziertem Personal und an bedarfsdeckenden Angeboten. In der Konsequenz wird Sorge erneut und zwar doppelt ins Private verschoben. Manche Lücken können dadurch gestopft werden, dass Babysitting, Nachhilfe, Reinigungsdienste oder 24-Stunden-Pflege formell oder informell und häufig zu schlechten Bedingungen eingekauft werden. Wer sich das nicht leisten kann, muss sich auf Familienangehörige oder soziale Netzwerke verlassen. Die finanziellen und die emotionalen Kosten werden in beiden Fällen individualisiert. Während der Corona-Krise war dies täglich zu beobachten: Alleinerziehende verloren ihre Jobs, alte Menschen vereinsamten und vor allem Frauen erledigten Bildung, Erziehung und Erwerbsarbeit vom heimischen Küchentisch aus. Die Krise im Bereich sozialer Reproduktion spitzt sich zu und sie betrifft wachsende Bevölkerungsteile (Winker 2015). Bisherige Notlösungen kommen an ihre Grenzen.

 

Das Private ist (noch nicht) politisch

Die Tatsache, dass Care-Arbeit in privater Verantwortung liegt und in der scheinbar natürlichen Zuständigkeit von Frauen, macht Veränderungen in diesem Bereich seit jeher kompliziert. Räumliche Vereinzelung, mangelnde Organisierungserfahrung und fehlende Produktionsmacht machen es denen, die unbezahlt oder prekär Sorgearbeit leisten, oft schwer, sich zu wehren und bessere Bedingungen einzufordern – sei es mehr Geld oder eine Umverteilung der Arbeit.

Hinzu kommt, dass der Gegner in diesem Kampf weniger leicht auszumachen ist als etwa in der Mietenpolitik, wo finanzialisierte Wohnungsunternehmen eine klarere politische Angriffsfläche bieten. Vielmehr verläuft eine Spaltungslinie durch die Klasse hindurch. Die herrschenden Geschlechterverhältnisse sowie Unterschiede im Aufenthaltsstatus und beim Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren die Bildung eines handlungsfähigen Kollektivsubjekts. Denn Teile der Klasse profitieren durchaus von den aktuellen Arrangements oder haben zumindest ein weniger dringliches Veränderungsinteresse: Die schlecht bezahlte oder unbezahlte Care-Arbeit von anderen macht es ihnen im bestehenden System leichter, ihre eigene Reproduktion zu organisieren.

Dabei läge eine echte Chance darin, Anti-Privatisierungskämpfe auf das gesamte Feld der Sorge auszuweiten und dies als strategischen Ansatzpunkt verbindender Klassenpolitiken zu entwickeln. Auseinandersetzungen in der professionellen Sorge-Arbeit – vor allem in der Pflege – konnten in den letzten Jahren beachtliche Erfolge erzielen. Warum nicht hier gemeinsam nächste Schritte gehen? Feministische und antirassistische Anliegen sowie Kämpfe um gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit können sich dabei gegenseitig verstärken – und zwar mit einer klaren Transformationsperspektive: Ein Infrastruktursozialismus (vgl. Candeias u. a. 2020), der nicht nur professionelle, sondern auch private Sorge in gesellschaftliche Verantwortung nimmt, entzieht dem profitgetriebenen und heteronormativ-patriarchalen System die Grundlage. Er stellt ihm die Orientierung auf ein gutes Leben für alle entgegen.

Eigentumsordnung stürzen – Geschlechterverhältnisse aufheben

Eine Sozialisierung des Care-Bereichs wirkt in einem doppelten Sinne: Vergesellschaftung zielt darauf, wichtige gesellschaftliche Sektoren gemeinwirtschaftlich zu organisieren und die Eigentumsordnung als ein zentrales Moment von Klassenverhältnissen umzuwälzen. Im Fall der Sorgearbeit bedeutet es, nicht nur das Privateigentum an Krankenhäusern etc. und die marktförmige Organisation von Altenpflege, Kinderbetreuung oder haushaltsnahen Dienstleistungen aufzuheben, sondern auch und insbesondere Care-Arbeit aus der privaten Regulierung innerhalb der Haushalte sowie aus der damit historisch eng verschränkten geschlechtlichen Zuweisung zu befreien.

Die Vergesellschaftung von Sorge zielt also auch darauf, eine geschlechtliche Arbeitsteilung hinter sich zu lassen, die eine binäre Anordnung von Geschlecht erst nach sich zieht und damit eine wesentliche Grundlage hierarchischer und heteronormativer Geschlechterverhältnisse bildet. Der Sorgebereich muss also auch in diesem Sinne sozialisiert werden: Care-Tätigkeiten können nicht länger Frauen (unentloht und im Privaten) überantwortet werden, da ihnen dadurch häufig (ökonomische) Unabhängigkeit und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten genommen werden. Was ansteht, ist in Anlehnung an Janine Brodie also eine »doppelte Ent-Privatisierung«.

 

Care in gesellschaftlicher Verantwortung

Aber was genau würde es heißen, Sorge in gesellschaftliche Verantwortung zu nehmen und sie damit demokratisch zu reorganisieren? Zunächst muss es darum gehen, neue öffentliche Infrastrukturen auf- und auszubauen. Wir brauchen mehr Kitas, Stadttteil-, Familien- und Gesundheitszentren, Pflegestützpunkte, Großküchen, Jugend- und Obdachlosentreffs. Diese sind so einzurichten, dass sie ganz unterschiedliche und sich über den Lebenslauf verändernde Bedürfnislagen berücksichtigen. Eine One-Fits-All-Sozialpolitik war gestern. Wir brauchen Arrangements, die auch auf besondere Bedürfnisse und lokale Bedingungen eingehen und die einen Zugang für bislang häufig vergessene Bevölkerungsgruppen ermöglichen. Das betrifft etwa queere oder Mehr-Eltern-Familien oder Care-Communities sowie eine umfassende Krankenversorgung für Menschen ohne Papiere oder für Transpersonen. Entsprechend ist es zentral, auch Selbstorganisierung und kollektive Lösungen mit öffentlichen Geldern praktisch zu unterstützen, ohne sie – wie aktuell durch die Förderung von »Ehrenamt« – als Lückenfüller für mangelhafte öffentliche Angebote zu instrumentalisieren (Haubner 2017).

Die Vergesellschaftung von Sorge bedeutet also längst nicht nur einen Eigentumswechsel von privat zu öffentlich, nicht »Verstaatlichung« allein (vgl. Candeias u. a. in diesem Heft). Vielmehr geht es um die gesellschaftliche Verfügung der Vielen über die Bedingungen sozialer Reproduktion. Das setzt voraus, dass der tatsächliche gesellschaftliche Bedarf ermittelt wird – zum Beispiel in Form einer demokratischen Planung unter Beteiligung aller, die davon betroffen sind. Geeignete Beratungs- und Entscheidungsstrukturen etwa in Form lokaler Care-Räte, in denen diejenigen sitzen, die mitentscheiden sollen, müssten erst entwickelt werden (vgl. Buckmiller in diesem Heft). All das kann schließlich nur gelingen, wenn es auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung insgesamt gibt. Nur durch eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeit kann Sorgearbeit geleistet werden, ohne Erschöpfung zu produzieren.

 

»Sorgende Stadt« – Warum nicht?

Gute Sorgestrukturen müssen vor Ort verfügbar sein. Auch wenn sie kollektiv oder gemeinwirtschaftlich organisiert werden, sollen sie im sozialen Nahraum bleiben. Für all jene, die sich gegen Privatisierungen auf lokaler Ebene einsetzen, kann die »Sorgende Stadt« eine Vision, ein produktives Leitbild sein, das verschiedene Ansätze, Ansprüche und Akteur*innen zusammenbringt. Es ist zu klären: Wie können kommunale und freigemeinnützige Träger, Beschäftigte, Nachbar*innen und lokale Politik zusammenarbeiten und wohnortnahe Sorgestrukturen entwickeln? Wie können die vorhandenen Infrastrukturen demokratisch umgebaut und unter kollektive Kontrolle gebracht werden? Wie muss eine Stadt konkret aussehen, die sich an den Bedürfnissen aller ihrer Bewohner*innen ausrichtet? Wie können wir vor Ort ansetzen, um die Logik der Privatisierung zu brechen und Einstiege in ein feministisches und sozialistisches Transformationsprojekt zu finden?

 

Vorkämpfer*innen aus der ganzen Welt

Die gute Nachricht ist: Es gibt bereits Ansätze und Erfahrungen, von denen sich lernen lässt und die für hiesige Projekte fruchtbar gemacht werden können. Die interessantesten Beispiele stammen aus den munizipalistischen Bewegungen im spanischen Staat.

 

Barcelona

Die linke Stadtregierung von Barcelona en Comú legte 2017 als eine wesentliche Säule ihres »rebellischen Regierens« ein »Maßnahmenpaket für eine Demokratisierung der Sorge in der Stadt Barcelona« vor.[2] Es stützt sich auf Erkenntnisse eines marxistischen Feminismus, der auch die ökonomische Bedeutung von Care-Arbeit für Volkswirtschaften betont. Entsprechend zielt das Maßnahmenpaket darauf, Sorgearbeit ins Zentrum einer kommunalen Wirtschaftspolitik zu stellen, statt sie entweder als Privatangelegenheit oder lediglich als Aspekt einer paternalistischen und tendenziell passivierenden Sozialpolitik zu behandeln. Wirtschaftspolische Maßnahmen sollten entsprechend über Fragen der Unternehmens- und Arbeitsmarktpolitik hinausgehen, auf den gesamten (auch unentlohnten) Care-Sektor ausgeweitet werden und Ansätze einer solidarischen Ökonomie, der Selbstorganisierung und von Genossenschaften privilegieren. So lasse sich auch einer zunehmenden Feminisierung von Armut entgegentreten.

Um einen echten Paradigmenwechsel auch mit Blick auf das Verwaltungshandeln zu ermöglichen, siedelte Bürgermeisterin Ada Colau die Ausarbeitung des Maßnahmenpakets strategisch nicht im Bereich Feminismus an, sondern übertrug sie dem Dezernat für »Gemein-, Sozial- und Solidarwirtschaft«, das eng mit dem Bereich »Arbeit- und Wirschaftspolitik« kooperierte. Unter Beteilung aller anderen betroffenen Ressorts sollte ein »Präzedenzfall für eine öffentliche Sorgepolitik« (Ezquerra/Keller 2022, 4) geschaffen werden, die alle Care-Bereiche einschließt und vorsieht, sie auf die verschiedenen Akteure – also Staat, Markt, Privathaushalte und gemeinwirtschaftliche Strukturen – neu zu verteilen. Im Kern ging es darum, konkrete Verbesserungen im Alltag mit dem Fernziel einer geschlechtergerechten Sorgeökonomie zu verbinden.

Die meisten Projekte des 68 Einzelmaßnahmen umfassenden Plans betreffen eine »Sozialisierung der Sorgearbeit« (ebd., 16) und sind darauf gerichtet, neue öffentliche Infrastrukturen wie Familienzentren und Krippen zu schaffen, bestehende auszubauen und den Zugang für vulnerable Gruppen zu erweitern. Eine neu eingeführte »Care-Karte« (tarjeta cuidadora) entlastet beispielsweise Menschen mit besonderer häuslicher Sorgeverantwortung durch einen privilegierten Zugang zu städtischen Sorge-Infrastrukturen und sozialen Diensten. Ein weiteres Maßnahmenbündel zielt darauf ab, gemeinwirtschaftliche Projekte sowie Initiativen der Selbstorganisierung logistisch und finanziell zu unterstützen, etwa Mehrgenerationenhäuser. Schließlich soll über veränderte Vergaberichtlinien auch auf private Träger insbesondere in der Altenpflege eingewirkt werden, um die dortige Qualität der Pflege und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Um diesen Umbau konkret anzuleiten und entsprechend durch Öffentlichkeitsarbeit zu begleiten, wurde in jedem Stadtbezirk eine Stelle für eine*n Fachreferent*in für Care-Ökonomie geschaffen.

Als Manko wird betrachtet, dass keine der Maßnahmen explizit eine Rekommunalisierung der derzeit profitwirtschaftlich organisierten Unternehmen, insbesondere in der Altenpflege, vorsah.

 

Madrid

Ähnliche Ansätze verfolgten andere munizipalistische Stadtregierungen im spanischen Staat. So verabschiedete in Madrid die von dem Parteienbündnis Ahora Madrid angeführte Linksregierung in ihrer Amtszeit (2015 bis 2019) einen ähnlichen Aktionsplan mit dem Titel »Stadt der Sorge« (»Ciudad del Cuidado« 2015).[3] Mit dem Ziel, Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, setzte er ebenfalls darauf, die gesellschaftliche und kommunale Verantwortung für Sorgearbeit zu stärken. Neben einer Umverteilung von Sorgearbeit und einer Verbesserung der Angebote fokussierte der Plan insbesondere auf Fragen demokratischer Teilhabe und in diesem Sinne auch auf die Unterstützung lokaler Selbstorganisierung. Bereits bestehende soziale Praxen und Initiativen geteilter Sorgearbeit erhielten praktische Hilfe, um ihre Arbeit weiterzuentwickeln. Beispielhaft steht dafür ein Modellprojekt gegen »nicht selbst gewählte Einsamkeit«. Um die soziale Isolation von Menschen zu überwinden, wurden gezielt nachbarschaftliche Beziehungen und soziale Netzwerke im Stadtteil gefördert. Damit soll das gesamte soziale Gefüge gestärkt werden, ausgehend von der Annahme, dass (basis-)demokratische Entscheidungsprozesse und eine partizipative Bedarfsplanung als Momente einer »Sorgenden Stadt« ohne ein solches nicht funktionieren können.

Der Madrider Aktionsplan umfasste außerdem verschiedene Projekte und Initiativen einer feministischen Stadtplanung. Eine geschlechter- und sorgesensible Gestaltung der Stadt transformiert auch die Nutzung des öffentlichen Raums, was wiederum Veränderungen im Alltag der Menschen und in ihren sozialen Beziehungen ermöglicht: Eltern lernen sich etwa auf dem Spielplatz kennen. Wenn dieser nicht in einem abgegrenzten Eck versteckt ist, sondern integraler Teil eines Stadtplatzes oder Parks, in dem es auch Angebote für andere Generationen und Gruppen gibt, kommen die Eltern auch mit Nachbar*innen und älteren Menschen in Kontakt. Breite und ausgeleuchtete Wege mit einsehbarer Begrünung geben insbesondere Frauen und queeren Menschen ein besseres Sicherheitsgefühl. So können sie sich freier bewegen und den öffentlichen Raum für sich nutzen. Eine feministische Stadt- und Verkehrsplanung (vgl. Alljets 2020) kann nicht nur die Lebensqualität von marginalisierten oder vulnerablen Gruppen verbessern, sondern auch andere soziale Beziehungen möglich machen. Sie kann eine Basis sowohl für geteilte Sorgearbeit jenseits öffentlicher Infrastruktur als auch für direktdemokratische Mitbestimmung und Planung bilden.

 

Lateinamerika

Auch in Lateinamerika finden im Anschluss an die feministischen Mobilisierungen der letzten Jahre verstärkt Debatten um Sorgeverhältnisse und die Bedingungen sozialer Reproduktion statt – zuletzt auch unter dem Begriff »Sorgende Städte«. Sie schlagen sich teils in kommunalen, teils in bundesstaatlichen Politiken nieder. So haben sich Initiativen mit unterschiedlichen Schwerpunkten gegründet, die auf eine Wiederaneignung der zum Leben notwendigen sozialen Infrastrukturen zielen: In Valparaíso wie auch in anderen Städten Chiles konnten durch die Selbstorganisierung von Nachbar*innen in Zusammenarbeit mit der linken Stadtverwaltung Apotheken eingerichtet werden, in denen wichtige Medikamente weit unterhalb des Marktwerts angeboten werden.[4] In einem ähnlichen Zusammenspiel von Initiativen von unten und linker Politik wird im argentinischen Rosario derzeit eine ehemals informelle und von Räumung bedrohte Siedlung zu einem voll angebundenen Stadtteil mit Wasseranschluss, Kanalisation und Internet sowie sozialer Infrastruktur (wie Schulen, Parks und Sportplätzen) ausgebaut. Finanziert wird dies aus Mitteln des Bundes, die aus einer einmaligen Abgabe auf große Vermögen stammen, die die neue Mitte-links-Regierung erhoben hat. Entworfen, geplant und begleitet wird das Projekt von den Bewohner*innen in Kooperation mit der dezidiert feministischen Bewegungspartei Ciudad Futura (Stadt der Zukunft), die im Stadt- und Landesparlament vertreten ist.

An vielen Orten entsteht ein Zusammenwirken von Selbstermächtigung, Organisierung, Mitbestimmung, Infrastrukturen und staatlichen Programmen, die die Inititaiven unterstützen und finanzieren. Es geht darum, Ressourcen umzuverteilen statt Selbstverwaltung, wie so oft, lediglich mit dem Ziel zu initiieren, staatliches Versagen oder Lücken über kostengünstige Alternativen zu kompensieren. So können auch andere Ebenen staatlicher Politik einbezogen werden, sei es bei Initiativen zur Verkürzung von Erwerbsarbeitszeit oder bei Transfer- oder Rentenleistungen, die auf unterschiedliche Art die Möglichkeiten für Sorgetätigkeiten beeinflussen.

In Ländern wie Uruguay oder Argentinien wurde und wird daher von den Mitte-links-Regierungen auch auf Bundesebene an »integrierten Sorgestrukturen« (Sistemas integrales de Cuidados) gearbeitet. Bestehende Angebote werden ausgebaut und besser verzahnt. Indem unbezahlte Sorgearbeit mitberücksichtigt wird, können einerseits die Angebote passgenauer gestaltet und andererseits Defizite ausgeglichen werden. In Uruguay wurden in diesem Zusammenhang etwa eine Zeitverwendungsstudie in Auftrag gegeben, die häusliche Care-Arbeit einschließt, eine Kampagne zur geschlechtlichen Arbeitsteilung initiiert und die unbezahlte Sorgearbeit in ein erweitertes Bruttoinlandsprodukt eingerechnet, um zunächst öffentliche Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, wie wichtig Sorgearbeit für die Gesellschaft und wie sehr diese als »Frauenarbeit« abgewertet ist. In beiden Ländern sind staatliche Pläne in enger Kooperation mit lokalen Akteur*innen entstanden und mit entsprechenden Bedarfsermittlungen verbunden.

 

Ist das Gras woanders grüner?

Erste Erfahrungen mit kollektiver Mitbestimmung im Bereich der Daseinsvorsorge gibt es auch in Deutschland. Ansätze für Care-Räte stecken zwar noch in den Kinderschuhen, entwickeln aber – wie beispielsweise in Freiburg[5] – ausbaufähige Ideen, wie sich Organisierungsansätze und demokratische Bedarfsplanung verbinden lassen. Im Unterschied dazu haben zivilgesellschaftliche Ernährungs- und Klimaräte in einigen Städten und Gemeinden bereits eine institutionalisierte Kooperation mit Politik und Verwaltung in Form eines Beirats erreicht. Eine Orientierung für die Demokratisierung von Sorgestrukturen bietet das IniForum in Berlin[6] – ein unabhängiger Zusammenschluss von mietenpolitischen Initiativen, der von der Senatsverwaltung finanziell gefördert wurde.[7] Ziel war es, unabhängige Strukturen aufzubauen, die dennoch institutionalisierten Einfluss auf parlamentarische Politik nehmen können, etwa im Rahmen von regelmäßigen Hearings.

Alle diese Strukturen verfügen jedoch nicht über verbriefte Entscheidungskompetenzen. Wie der erfolgreiche, aber immer noch folgenlose Berliner Volksentscheid »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« erst jüngst in Erinnerung gerufen hat, muss die Verbindlichkeit direktdemokratischer Elemente gestärkt werden. 

 

Aktionsplan

Politisch trifft das Projekt einer »Sorgenden Stadt« in Deutschland also nicht auf unbeackertes Terrain. Seit einigen Jahren mehren sich Proteste und Selbstorganisierungen rund um das Care-Thema: von gewerkschaftlichen Streiks in der Pflege oder Sozial- und Erziehungsdiensten über Aktionsbündnisse für bessere Bedingungen in der Altenpflege bis zu Medi-Büros, die Illegalisierten Zugang zu medizinischer Versorgung verschaffen, von Stadtteil-Gesundheitszentren (Polikliniken), die auch die sozialen Faktoren von Gesundheit berüchsichtigen, bis hin zum feministischen Streik, der auch Privathaushalte einschließt. Viele von ihnen hatten sich bereits 2014 zur Aktionskonferenz »Care Revolution« zusammengefunden und ein Netzwerk gegründet, in dem lokale Aktionen verbunden und überregionale Kampagnen angestoßen werden.[8]

Auch hierzulande können konkrete Ansätze und Ideen zu einer Vergesellschaftung der Daseinsvorsorge jeweils lokal in einem Aktionsplan »Sorgende Stadt« gebündelt werden: ein Maßnahmenpaket, das kurz- wie langfristig umzusetzende Projekte umfasst, und solche, die gesellschaftsverändernden Charakter haben. Dazu gehören als »Einstiegsprojekte« etwa die Forderung nach einer Rekommunalisierung privater Dienstleister in der Altenpflege oder der Ausbau von Gesundheits- und Nachbarschaftszentren. Diese könnten Unterstützungsangebote etwa für ältere Menschen und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche bieten, ebenso wie Räume für geteilte Sorgearbeit in Elterngruppen oder Gemeinschaftsküchen. Dazu gehören Maßnahmen, die eine Stadt für alle zugänglich machen, wie etwa ein kostenfreier öffentlicher Personennahverkehr oder ein Krankenschein, der auch Menschen ohne Papiere einen Zugang zur Krankenversicherung ermöglicht. Es geht aber auch um eine Stadt, in der sich alle wohlfühlen, mit Grünflächen und breiten Wegen, mit Beleuchtungen in der Nacht und weiteren Maßnahmen gegen sexualisierte Belästigung im öffentlichen Raum und dem Verbot anlassloser Polizeikontrollen. Und dazu gehört der Anspruch, die öffentliche Verwaltung so umzubauen, dass Geschlechtergerechtigkeit und die Gewährleistung guter Sorgeverhältnisse zu zentralen Kriterien ihres Handelns werden und kontinuierlich überprüft wird, ob öffentliche Angebote tatsächlich auch für alle zugänglich sind.

Welche Ideen für die jeweilige »Sorgende Stadt« im Vordergrund stehen, muss vor Ort diskutiert und entschieden werden. Mag dies zu Beginn gänzlich selbstorganisiert passieren, zeigt die Erfahrung, dass mittelfristig eine institutionelle und finanzielle Absicherung notwendig ist. Sie ermöglicht, einen gemeinsamen Wirkungsraum für unterschiedliche Interessens- und Anspruchsgruppen der Sorgearbeit zu schaffen – für Care-Beschäftigte, privat Sorgende und Care-Empfänger*innen. Hier liegt eine Aufgabe, aber auch Chance für die LINKE in Stadt- und Landesparlamenten, insbesondere dort, wo sie Teil der Regierung ist. Sie könnte nicht nur Infrastrukturen und materielle Ressourcen bereitstellen, sondern für die Durchsetzung der Forderungen streiten und Projekte mit transformatorischer Strahlkraft entwickeln, die überregional sichtbare Akzente in Regierungsbeteiligungen setzen, wie etwa der Mietendeckel in Berlin.

Perspektivisch müsste es um die Gründung eines Care-Rates gehen, der die gemeinsame Ermittlung von Bedarfen und das Aushandeln von Interessen dauerhaft absichert. Er müsste organisierten Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, also auch eine demokratische Vermittlung zwischen Bewegungen und Parlamenten herstellen.

 

Der Sozialismus ist feministisch, oder ... 

Für eine »Sorgende Stadt« könnten also nicht nur Initiativen aus dem Care-Bereich zusammen mit stadtpolitischen und antirassistischen Akteur*innen streiten. Mit der »Sorgenden Stadt« würde außerdem eine intersektionale Perspektive in die aktuellen Vergesellschaftungsdebatten und Anti-Privatisierungskämpfe einziehen. Feministischen Bewegungen wiederum fehlte in den letzten Jahren ein »Projekt«, anhand dessen sich konkrete Verbesserungen mit dem Anspruch auf grundlegende Gesellschaftsveränderung verbinden ließen. Kommunale Sorgepolitiken könnten ein solcher Einstieg in die schrittweise Vergesellschaftung von Sorgeverhältnissen sein. So würde ein klassenpolitischer Feminismus praktische Gestalt annehmen, für den sich – unterstützt von der LINKEN in Parlamenten und Regierungen – breite Mehrheiten organisieren ließen.

 

Literatur

Alljets, Janna, 2020: Raum nehmen! Warum wir eine feministische Verkehrsplanung brauchen, in: LuXemburg 1/2020

Candeias, Mario/Fried, Barbara/Schurian, Hannah/Völpel, Eva/Warnke, Moritz, 2020: Reichtum des Öffentlichen. Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht, in: LuXemburg-Online, August 2020

Ezquerra, Sandra/Keller, Christel, 2022: Die Regierungsstrategie zur Demokratisierung der Sorgearbeit der Stadtverwaltung von Barcelona: Erfahrungen mit einer feministisch inspirierten lokalen Care-Politik.

Haubner, Tine, 2017: Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft, Frankfurt a. M./New York

Hoffrogge, Ralf, 2021: Stahlwerk jetzt!, in: analyse & kritik, 674, 21.9.2021

Jiménez, Sofía/Moreno, Esther, 2022: Das Projekt »Saragossa als Sorgende Stadt«. Eine umfassende feministische Vision (im Erscheinen)

Salobral, Nieves, 2022: Madrid als Sorgende Stadt. Eine feministische Bilanz, (im Erscheinen)

Statistisches Bundesamt, 2015: Wie die Zeit vergeht. Analysen zur Zeitverwendung in Deutschland 2012/2013, Wiesbaden

Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld

Fußnoten:

[1] Gemäß der letzten Zeitverwendungsstudie der Bundesregierung von 2012/13 sind das bei Frauen in Deutschland rund 30 Stunden und bei Männern 20 Stunden pro Woche.[2] Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat eine evaluierende Studie zu diesem Projekt in Auftrag gegeben, die im März 2022 erscheinen wird (Ezquerra/Keller 2022). [3] Auch zu diesem Projekt, wie zu vergleichbaren Initiativen in Saragossa, wurden evaluierende Studien erstellt: Salobral 2022 sowie Jiménez/Moreno 2022 (beide im Erscheinen).[4] Vgl. https://www.latercera.com/nacional/noticia/valparaiso-se-convierte-la-primera-comuna-chile-constituir-una-red-farmacias-populares/744238/ https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3821885[5] Vgl. https://careratfr.wordpress.com/[6] Vgl. https://iniforum-berlin.de/struktur/konzept/[7] Leider ist derzeit unklar, ob das IniForum unter der neuen Berliner Landesregierung weitergeführt werden kann.[8] Vgl. https://care-revolution.org/kampagne-platz-fuer-sorge/

Foto: Phil Hearing / unsplash

#Rekommunalisierung #Feminismus #SorgendeStadt

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Die erfolgreiche Kampagne von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« strahlt über Berlin hinaus. An vielen Orten formieren sich Bündnisse, um wichtige Teile der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand zurückzuholen. Während die zerstörerische Privatisierungspolitik der letzten Jahre die Krise der sozialen Reproduktion immer weiter zugespitzt hat, hat die Pandemie einmal mehr ins Bewusstsein gerufen, welche gesellschaftlichen Arbeiten im engen Sinne »systemrelevant« sind und folglich als »sozialisierungsreif« gelten müssen.

Das gesamte Feld der Sorgearbeiten zu vergesellschaften, steht jedoch bisher nicht auf der Agenda von Anti-Privatisierungs-Bündnissen. Warum ist das so? Warum wäre es nötig? Und wie könnten Projekte oder Kampagnen für eine »Sorgende Stadt« entstehen, die eine Vergesellschaftung aller Care-Arbeiten vorantreiben?

Phil Hearing / unsplash

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#Krankenhaus #Pflege #Rekommunalisierung
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Privatisierungen von Krankenhäusern haben massive Folgen für Beschäftigte und für die Versorgungssituation von Patient*innen. Stellenabbau, Outsourcing oder Lohnsenkungen sind hier Alltag. Für gewinnorientierte Klinikkonzerne steht nicht die Gesundheitsversorgung oder gute Arbeitsbedingungen an erster Stelle, sondern Profite und Gewinnausschüttungen an ihre Aktionär*innen. Das haben etwa die Beschäftigten und Patient*innen in Gießen-Marburg sowie in Seesen erfahren müssen: Vor gut 15 Jahren wurde mit der Uniklinik Gießen-Marburg die erste Universitätsklinik in Deutschland privatisiert. Seit dem steigen nicht nur die Arbeitsbelastungen. Auch die Versorgungssituation leidet. In Seesen wurde die renommierte Reha-Klinik von Asklepios Ende des Jahres 2020 geschlossen - als Reaktion auf Tarifkonflikte um angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen, die seit über einem Jahr im Betrieb heiß liefen.

Nun aber gibt es Hoffnung: Das Land Hessen könnte Asklepios enteignen und das Uniklinikum Gießen/Marburg wieder in öffentliches Eigentum zurückholen – das sagt ein neues Rechtsgutachten. Enteignen nach Artikel 15 des Grundgesetzes ist also nicht nur für Wohnfragen relevant. Auch die Gesundheitsversorgung kann aus der Hand profitorientierter Anleger*innen zurückgeholt werden.

Wir diskutieren, wie das möglich ist, für welche private Kliniken das geht und warum es dringend notwendig ist, die Gesundheitsversorgung zurück in öffentliche Hand zu holen.

Leonhard Lenz, CC0, via Wikimedia Commons

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LUX.local: Rekommunalisierung

Podcast

Dezember 2021

Rekommunalisierung, Krankenhaus, Wohnen, Krise, Selbstverwaltung, Gewerkschaft#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

Auf der RLS-Webseite hören: rosalux.de/mediathek/media/element/1698

Auf Soundcloud hören: soundcloud.com/rosaluxstiftung/luxlocal-2-rekommunalisierung

Der Podcast beginnt zuerst mit einem Blick auf die politischen Entwicklungen in Österreich: Ende September 2021 wurde die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) die stärkste Partei bei den Gemeinderatswahlen in Graz und stellt nun mit Elke Kahr auch die Bürgermeisterin. Hanno Wisiak aus Graz berichtet über den Weg zu diesem Erfolg, die Themen der KPÖ vor Ort und über ihre Rolle in der Kommunalpolitik Österreichs. Im Anschluss dreht sich alles um Rekommunalisierung

Dr. Vera Weghmann verrät, ob sie insgesamt einen Trend zur Rekommunalisierung sieht und was die wichtigsten Erkenntnisse aus ihrer Arbeit an der neuen Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung» sind.

Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand von zwei ganz konkreten Beispielen: In den Kliniken in Nürnberg und Ingolstadt wurden Teile des Personals in privatrechtlich organisierte Servicegesellschaften (aber in öffentlicher Hand) ausgelagert und seitdem noch unterhalb der üblichen Pflegetarife in Krankenhäusern bezahlt. Die beiden Kommunalpolitiker*innen erzählen vom gemeinsamen Kampf von Personal und Gewerkschaften und davon, wie es gelingen kann, dass auch das Servicepersonal wieder tariflich bezahlt wird.

Die Gäste:

Hanno Wisiak arbeitet in der Öffentlichkeitsarbeit der KPÖ im Grazer Rathaus. Er ist Büroleiter des kommunistischen Gesundheitsstadtrats Robert Krotzer und ist derzeit stellv. Bezirksvorsteher des dritten Grazer Bezirks Geidorf. Er ist außerdem Mitglied des Landesvorstands und der Programmkommission der KPÖ Steiermark in Österreich.

Vera Weghmann ist die Autorin der neuen Broschüre „Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung“ der RLS. Sie arbeitet für Public Services International Research Unit (PSIRU) an der University of Greenwich in London. Die Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind öffentliche Dienstleistungen, Privatisierung und Rekommunalisierung sowie Arbeitspolitik und Gewerkschaften. Vera ist Co-Gründerin der unabhängigen Gewerkschaft United Voices of the World.

Kathrin Flach-Gomez ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Nürnberg und außerdem Landessprecherin der Partei DIE LINKE in Bayern.

Eva Bulling Schröter ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Ingolstadt und war zuvor Bundestagsabgeordnete für die PDS und DIE LINKE sowie bis 2020 Landessprecherin der Partei in Bayern.

Links und Hinweise zur Sendung:

Rekommunalisierung

Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung. Broschüre von Dr. Vera Weghmann

Rekommunalisierungen in Thüringen — Chancen und Risiken. Von Frank Kuschel für DIE THÜRINGENGESTALTER - Kommunalpolitisches Forum Thüringen e.V.

Klinikum zurück in die öffentliche Hand? Rechtsgutachten zu den rechtlichen Möglichkeiten einer Rücküberführung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg in öffentliches Eigentum. Von Joachim Wieland

Für starke Kommunen mit leistungsfähigen Betrieben in öffentlicher Hand. - Ein Leitfaden zur Rekommunalisierung  

Darüber hinaus

 Linke Akteure in den Städten und Gemeinden Zum Zustand der Demokratie und zur Rolle der Partei auf kommunaler Ebene. Von Katrin Nicke

Sammlung einführender Literatur und Websites zu Rekommunalisierung

Krise der Privatisierung – Rückkehr des Öffentlichen, Mario Candeias, Rainer Rilling, Katharina Weise (Hrsg.)

Von R wie Rettungspakete zu R wie Rekommunalisierung. Von Julia Dück

Es gibt viel zu tun – packen wir´s an - Der Erfolg von «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» ist erst der Anfang. Von Stefan Thimmel und Armin Kuhn

#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

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«Lux.local» ist der Kommunalpodcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Katharina Weise. In dieser Folge von «Lux.local» dreht sich alles um das Thema Rekommunalisierung. Dazu wird zuerst erklärt, was Rekommunalisierung, Daseinsvorsorge und Privatisierung bedeutet. Im Anschluss sind folgende Interviewgäste zu hören: Dr. Vera Weghmann, Autorin der Broschüre «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung», sowie Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter. Die beiden Stadträtinnen erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand konkreter Beispiele.

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Seit mehr als 15 Jahren befindet sich das fusionierten Universitätskliniken Gießen und Marburg (UKGM) inzwischen als bundesweit einziges Universitätsklinikum in privater Trägerschaft. Seit 2020 der Asklepios-Konzern die Aktienmehrheit an der Rhön-Klinikum AG übernommen hat, befürchten die Beschäftigten eine weitere Verschlechterung ihrer Arbeitssituation. Nach Auffassung der Mehrheit im Hessischen Landtag bestand zum Zeitpunkt der Übernahme keine rechtliche Möglichkeit mehr, die Kliniken in öffentliche Trägerschaft zurückzuführen. Dass das Land Hessen auch weiterhin die rechtlichen Möglichkeiten zur Rücküberführung des UKGM in öffentliche Trägerschaft hätte, zeigt dieses Gutachten auf. Prof. Dr. Wieland liefert mit seinem Rechtsgutachten einen detaillierten Handlungsleitfaden für mögliche künftige politische Mehrheiten im Hessischen Landtag.

Aktive Mittagspause an der Asklepiosklinik in Lich/Mittelhessen, 30.9.2020. Foto: www.facebook.com/verdi.hessen.fachbereich.03

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Von R wie Rettungspakete zu R wie Rekommunalisierung

Mai 2021 • Julia Dück

Foto: camilo jimenez / Unsplash

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Krankenhaus, Krise, Pflege, Rekommunalisierung#Krankenhaus #Krise #Pflege #Rekommunalisierung

Ein Jahr Corona-Pandemie, mitten in der dritten Welle, drei Rettungspakete: Die letzten Monate standen im Zeichen der Krisenfinanzierung. Nicht nur Gastronomie, Kultureinrichtungen oder die Reisebranche, auch Krankenhäuser bangen um ihr Überleben. Und dies mitten in der Pandemie, in der, so sollte man eigentlich meinen, alle Kapazitäten gebraucht würden. Für die Kliniken wurden daher Rettungspakete geschnürt – seit Beginn der Pandemie bisher drei. Alle drei Hilfspakete sollten die finanziellen Mehrbelastungen der Krankenhäuser durch die aktuelle Krise kompensieren. Ob dies tatsächlich gelungen ist, darum tobt derzeit ein Streit.

So moniert etwa die AOK, dass Milliardenbeträge in die Krankenhäuser flossen, obwohl die Fallzahlen im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr gesunken sind. Gleichzeitig schrieben die Wissenschaftsminister aller 16 Bundesländer einen Brandbrief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), in dem sie sich für finanzielle Nachbesserungen des letzten Corona-Hilfspakets aussprechen und auf die besondere Rolle der Uniklinika und anderer Maximalversorger in der aktuellen Pandemie aufmerksam machen. Zudem sind nicht nur große, sondern besonders kleine Kliniken in Gefahr, die finanziellen Mehrbelastungen wirtschaftlich nicht zu überstehen. Wie etwa die ARD berichtete, mussten vergangenes Jahr rund 20 Kliniken schließen – auch solche, die Covid 19-Patient*innen behandelt haben. Auf der anderen Seite konnten viele Krankenhäuser „dank der üppigen Corona-Hilfen ihre Erlöse kräftig steigern“, wie etwa der Focus kritisierte.  Allein von Januar bis Mai 2020 sind in privaten Kliniken die Nettoerlöse im Durchschnitt um 14,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen. Wie passt das zusammen?

Tatsächlich geschieht im Zuge der Hilfspakete beides gleichzeitig: Es kommt sowohl zu einer Verschwendung staatlicher Mittel als auch zu wirtschaftlichen Einbußen und Schließungen von Krankenhäusern. Die Rettungspakete helfen also weder den Krankenhäusern noch sichern sie eine gute Versorgung von Patient*innen. Sie produzieren vielmehr Krisengewinner und -verlierer unter den Kliniken und verschärfen so die schon vorher bestandene Polarisierung im Krankenhaussektor. Private Häuser profitieren, während öffentliche Kliniken rote Zahlen schreiben. Dies zeigt einmal mehr: Wir müssen weg von einer Finanzierung nach DRGs und einem ökonomisierten Gesundheitssystem hin zu einer bedarfsorientierten und öffentlichen Versorgung sowie kostendeckender Finanzierung.

Bilanz der Corona-Hilfspakete – Eine Geschichte des Scheiterns

Mit dem Beginn der Pandemie in Deutschland und der Sorge um ihre Bewältigung wurde im März 2020 das erste Hilfspaket für die Krankenhäuser beschlossen. Zuvor waren die Krankenhäuser politisch aufgefordert worden, alle planbaren Behandlungen (sogenannte elektive Eingriffe) soweit wie möglich zu reduzieren, um Bettenkapazitäten für die erwartete hohe Anzahl an Covid-19 Patient*innen frei zu halten. Da in einer erlösorientierten Finanzierung nach Pauschalen (den sogenannten DRGs) wirtschaftliche Verluste durch diese Reduzierungen drohten, wurde das erste Rettungspaket (Gesetz „Zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“) beschlossen. Dieses sollte die wirtschaftlichen Einbußen kompensieren. Es sah unter anderem eine Freihaltepauschale vor: Für jedes Bett, das pandemiebedingt im Zeitraum ab Mitte März 2020 nicht belegt wurde, bekamen Krankenhäuser eine Pauschale in Höhe von 560 Euro pro Tag. Durch diese Regelung wurde jedoch zugleich ein finanzieller Anreiz geschaffen, mit der Pauschale zu kalkulieren. So manche Klinikleitung fing an, zu berechnen, in welcher Fachrichtung und für welche Behandlungen es lohnt, Betten nicht zu belegen und stattdessen die Pauschale zu kassieren und wo stattdessen die Aufrechterhaltung geplanter Eingriffe lukrativer ist (vgl. Krankenhaus statt Fabrik). In der Folge führte die Pauschalregelung je nach Krankenhaus zu unterschiedlichen Effekten, wie ein vom Bundesgesundheitsministerium eingesetzter Expertenbeirat analysiert hat: Einerseits haben Kliniken profitiert, die teilstationäre Leistungen erbringen, oder Einrichtungen, die mit der Pandemie kaum etwas zu tun hatten (wie etwa psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen). Hier führte die einheitliche Pauschale zu einer Überkompensation der Erlösausfälle. Andererseits mussten größere Krankenhäuser, die Kapazitäten für Covid-19-Patient*innen freihalten sollten, in vielen Fällen herbe Einbußen erleiden. Dies betraf vor allem die großen Universitätskliniken und Krankenhäuser der Maximalversorgung. Denn diese müssen etwa auch Kapazitäten in der Notfallversorgung, auf Geburtshilfe- oder Kinderstationen vorhalten, die im Fallpauschalensystem nicht ausreichend vergütet werden und daher wenig gewinnträchtig sind. In seiner Begleitstudie kommt der Expertenbeirat zu dem Schluss: „Freigemeinnützige und private Krankenhäuser haben überdurchschnittliche Erlössteigerungen realisiert, während Universitätskliniken Erlösrückgänge von bis zu -6,0% aufweisen“(BMG 2020).

Mit dem zweiten Hilfspaket sollte auf diese Fehlentwicklungen reagiert werden, indem die Freihaltepauschale nunmehr differenziert wurde. So sollten die Kliniken fortan zwischen 360€ bis 760€ pro leergehaltenem Bett erhalten. Allerdings hat auch dieses Hilfspaket die Probleme nicht gelöst. Denn vereinfacht gesprochen wurden die durchschnittlichen Kosten für Behandlungen in einer Klinik zugrunde gelegt, um zu entscheiden, ob das jeweilige Krankenhaus eine höhere oder niedrigere Fallpauschale für das Freihalten von Betten bekommt. Wo also normalerweise teure Hüftgelenksoperationen stattfanden und somit hohe Fallpauschalen abgerechnet werden konnten, flossen die höchsten Ausgleichssummen für freigehaltene Kapazitäten. Sogenannte Maximalversorger, also Kliniken, die umfassende und auch weniger lukrative Leistungen anbieten, erhielten dagegen im Schnitt 200 Euro weniger Pauschale. Dies entspricht aber nicht unbedingt den tatsächlich entstandenen Erlösausfällen, welche die Krankenhäuser verzeichnen. Denn nicht berücksichtigt wurde etwa, welche Kosten durch das Freihalten von Betten und die Verschiebung von Behandlungen entstanden sind, und welche Ausgaben dadurch eingespart werden konnten. Kurzum: Auch mit diesem Paket konnten weder Mitnahmeeffekte noch wirtschaftliche Einbußen verhindert werden.

Mit dem „Dritten Bevölkerungsschutzgesetz“ wurde eine Vielzahl von Einschränkungen, Bedingungen und Kürzungen hinzugefügt, um wirtschaftliche Fehlanreize und Mitnahmeeffekte unter Kontrolle zu bekommen: So wurden die Freihaltepauschalen pauschal um je 10% gekürzt und der Kreis der Krankenhäuser begrenzt, der die Pauschale in Anspruch nehmen kann. Zudem werden die Pauschalen nur noch für Häuser in jenen Regionen gezahlt, die über hohe Inzidenzzahlen sowie über knappe Intensivkapazitäten verfügen. Auch dieses – nunmehr dritte – Paket löst die Probleme jedoch nicht und lässt zudem neue Schwierigkeiten entstehen. So führt die Neuregelung dazu, dass nun die Behandlungen in jenen Regionen wieder hochgefahren werden, wo (bislang) niedrige Inzidenzwerte und/oder (noch) freie Intensivbetten bestehen. Wie wir im Verlauf des letzten Jahres gelernt haben, kann sich das Pandemiegeschehen aber sehr schnell verändern. Den finanziellen Ausgleich von Erlösausfällen an Inzidenzwerte zu koppeln, ist für eine krisenfeste Gesundheitsversorgung also gefährlich. Darüber hinaus führt das Hochfahren von Behandlungen zu einer erneuten Überlastung von (Pflege-)Personal in den Krankenhäusern. Der wirtschaftliche Druck auf die Krankenhäuser und das finanzielle Risiko bleiben zudem bestehen, etwa wenn Patient*innen aus Angst vor Ansteckungen wegbleiben oder nach wie vor unklar ist, ob die Fördergelder des ‚Rettungspakets‘ die Erlösausfälle im jeweiligen Haus decken oder nicht.

Weil eine selbstkostendeckende Finanzierung der Krankenhäuser, wie sie die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) zu Beginn der Pandemie gefordert hat, für die Dauer der Krise vom Bundesgesundheitsministerium nicht umgesetzt wurde, sind Steuergelder also in den Kassen privater Kliniken verschwunden. Zugleich mussten im Corona-Jahr 2020 eine Reihe kleiner öffentlicher Häuser schließen.

So sehen Sieger aus, schalalalala? – Schlupflöcher und Personalkrise

Ein weiteres Schlupfloch ist mit der Entscheidung entstanden, die Kosten der Pandemie nicht über ein System der Selbstkostendeckung, sondern über wirtschaftliche Anreize bearbeiten zu wollen: Die Krankenhäuser sollten zur Schaffung neuer Intensivbetten angeregt werden und erhielten daher für jedes zusätzlich geschaffene Intensivbett im ersten Halbjahr 2020 einen Zuschuss in Höhe von 50.000 Euro. Auf dem Papier hat dies gut funktioniert. Doch laut Recherchen des ARD-Politikmagazins „Kontraste“ wurden im Frühsommer mehr Betten bezahlt als im DIVI-Register[1] gemeldet waren.So gab es Ende Juni 2020 nur rund 32.400 Intensivbetten; gezahlt wurden jedoch Gelder für mehr als 39.700 Betten – also für rund 7300 Betten mehr als gemeldet wurden. Medial wurde hier kritisiert, dass Fördergelder in Höhe von etwa 365 Millionen Euro verschwunden sind. Allerdings liegt das Problem bei den Zahlen eher darin, dass im DIVI-Register nur jene Betten gemeldet werden dürfen, die auch betrieben werden können. Wenn also Betten und Geräte zwar bestellt wurden, aber nicht genügend (Pflege-)Personal da ist, um die Intensivbetten ausreichend bereuen zu können, werden diese im Intensivbettenregister nicht gezählt. Das zentrale Problem der Gesundheitsversorgung im Krankenhaus bleibt also weiterhin der massive Personalmangel. Materielle Ressourcen zu schaffen und hierfür Pauschalen zu kassieren, führt nicht notwendigerweise zu einer realen Zunahme an Versorgungskapazitäten. Auch hier gab es offensichtlich Mitnahmeeffekte, Gewinner und Verlierer der Krankenhausfinanzierung und Rettungspakete.

Im Zusammenhang mit der Frage, wo wirklich neue Kapazitäten für Intensivpatient*innen geschaffen wurden, ist ein Verfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig bekannt geworden, die eine Ermittlung gegen das Asklepios-Klinikum Schildautal in Seesen wegen des Verdachts auf Subventionsbetrug eingeleitet hat.[2]

Der Hintergrund seien möglicherweise „zu Unrecht erhaltene Zahlungen für freigehaltene Corona-Betten“, wie ein Sprecher der Behörde berichtete. Damit steht ausgerechnet jenes Klinikum im Verdacht, Gelder veruntreut zu haben, das erst jüngst negative Schlagzeilen machte. Das Management von Asklepios in Seesen hat Ende des Jahres 2020 die renommierte Rehaklinik geschlossen und damit auf Tarifkonflikte um angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen reagiert, die seit über einem Jahr im Betrieb heiß liefen. Die Gewerkschaft ver.di hatte für das Unternehmen einen Tarifvertrag nach Vorbild des öffentlichen Dienstes gefordert. Der Konzern reagierte darauf mit Einschüchterungsversuchen, Ausgliederungen und Entlassungen – und letztlich mit der Schließung des Reha-Klinikums. Klarer konnte die Konzernspitze ihre Strategie der Profitmaximierung nicht demonstrieren. Dass dem gleichen Konzern nun das unberechtigte Abrufen von Hilfsgeldern vorgeworfen wird, unterstreicht, wo das Interesse des Unternehmens liegt: Es scheint nicht an einer guten Gesundheitsversorgung und guten Arbeitsbedingungen, sondern an Gewinnen ausgerichtet zu sein.

Ein anderer Sieger des letzten Jahres sieht ähnlich aus: Fresenius Helios, Europas führender privater Klinikbetreiber, konnte seinen Umsatz bei Helios Deutschland im 4. Quartal des Jahres 2020 um 11 Prozent (auf 1,64 Milliarden Euro) steigern. Der Umsatz liegt damit sogar noch höher als im Vergleichsquartal des Vorjahres. Auf das gesamte Geschäftsjahr 2020 bezogen, konnte Helios Deutschland Umsatzsteigerungen (um 7 Prozent auf 6,34 Milliarden Euro) verzeichnen. Für das Geschäftsjahr 2021 erwartet Fresenius Helios überdies ein organisches Umsatzwachstum im niedrigen bis mittleren einstelligen Prozentbereich – und dies trotz der Covid-19-Effekte, wie der Konzern berichtet. Zugleich aber geht das Unternehmen auf Konfrontation zu seinen Beschäftigten: So werden in einigen Helios-Kliniken Assistenzärzt* innen aufgefordert, »freiwillig« auf Gehalt zu verzichten, im Helios-Konzerntarifvertrag hat das Unternehmen die Vereinbarung zur Pflegezulage gekündigt und bei den kürzlich abgeschlossenen Verhandlungen zum Konzerntarifvertrag wollte Helios sich lange Zeit lediglich auf Entgeltsteigerungen einlassen, die Reallohnverluste bedeuten würden. Darüber hinaus scheint Helios nach Angaben der Gewerkschaft Marburger Bund auch bei den ärztlichen Stellen einen starken Abbau von Personal für das noch laufende Jahr zu planen. Dabei hat Fresenius für das Jahr 2020 trotz Pandemie ein Konzernergebnis von 1,8 Milliarden Euro eingefahren und darüber hinaus angekündigt, die Dividende für seine Aktionär*innen zum 28. Mal in Folge zu erhöhen.

Beide Beispiele machen deutlich: Private Klinikkonzerne haben in der Gesundheitsversorgung nichts verloren. Auf Forderungen ihrer Beschäftigten reagieren sie mit Drohungen, Kündigungen und Einschüchterungsversuchen. Das Lohnniveau liegt oftmals unter dem Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes. Und es finden sich zahlreiche Beispiele von Ausgliederungen von Krankenhausbereichen, in denen schließlich schlechter und/oder nicht tariflich bezahlt wird. In der Pandemie mehren sich zudem Berichte, die darauf hindeuten, dass vor allem kommunale oder öffentliche Kliniken die Versorgung von Covid-Patient*innen und damit auch das finanzielle Risiko der Versorgung übernehmen, während sich private Unternehmen teilweise wegducken, möglicherweise Steuergelder veruntreuen oder berechnen, welche Behandlungen und welche gesetzlichen Regelungen sich wirtschaftlich besser nutzen lassen. Diese Schlupflöcher werden zwar politisch geschaffen, schließlich aber auch betriebswirtschaftlich genutzt.

Den Privaten den Kampf ansagen – Die Eigentumsfrage stellen

Anstelle einer kostendeckenden Finanzierung, die Gewinne und Verluste und somit auch ökonomische Fehlanreize unterbinden würde, wurde durch die Rettungspakete Geld verschwendet. Zugleich hat dies die Polarisierung zwischen ‚profitablen‘ und ‚nicht profitablen‘ Krankenhäusern verstärkt. Zwei Lehren lassen sich daher aus dieser Bilanz ziehen: Die Finanzierung nach Fallpauschalen muss überwunden werden. Zudem ist eine Abkehr von privaten Krankenhausträgern nötig. Denn diese treiben die Profitmaximierung durch Outsourcing, Stellenabbau oder Lohnsenkungen nicht nur oft aggressiver voran, sie konzentrieren sich zudem meist auf lukrativere Behandlungen und setzen öffentliche Träger dadurch zusätzlich unter Druck. Selbst in der Pandemie ist ein Umdenken zugunsten einer möglichst guten Gesundheitsversorgung nicht zu erkennen. Vielmehr herrscht die Profitorientierung privater Gesundheitsunternehmen ungebrochen weiter.

Strategische Forderungen bewegungspolitischer Akteure im Gesundheitsbereich müssen also eine kostendeckende Finanzierung einerseits sowie die Rekommunalisierung privater Krankenhausträger andererseits adressieren. Eine Einschränkung von Profitinteressen sowie die Rückgewinnung und der Ausbau des Öffentlichen sind angesichts des wachsenden Einflusses privater Unternehmen und der fortgeführten marktförmigen Reorganisierung des öffentlichen Gesundheitswesens wichtiger denn je. Es ist daher zentral, neben den neuen Konzepten der Finanzierung auch die Eigentumsfrage auf die politische Agenda zu setzen: Die Planung und Ausgestaltung der Daseinsvorsorge darf nicht dem Markt überlassen werden – etwa die Entscheidung darüber, ob und wo eine Klinik wirtschaftlich noch zu halten ist oder geschlossen werden muss; oder wie viele (Betten-)Kapazitäten aus betriebswirtschaftlicher Perspektive für Notfälle vorgehalten werden sollen. Dies sind Entscheidungen, die entlang einer Bedarfsplanung getroffen werden müssen. Die Enteignung und Vergesellschaftung sozialer Infrastrukturen sind also wichtige Bausteine für eine bedarfsorientierte, demokratische und solidarische Gesundheitsversorgung. Dass die Eigentumsfrage folglich nicht nur im Feld des Wohnens zentral ist und dass sie offensiv gestellt werden muss, um eine gute Versorgung für alle zu ermöglichen – das lehrt uns die Pandemie erneut und verstärkt.

Fußnoten:

[1] Das Divi-Intensivregister liefert täglich Zahlen zu freien und belegten Intensivbetten von rund 1.300 Krankenhäusern in Deutschland. Es wurde während der ersten Corona-Welle im Frühjahr von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin gemeinsam mit dem Robert Koch-Institut aufgebaut. Für Kliniken mit Intensivkapazitäten gibt es eine Meldepflicht an das Register. Übermittelt werden Daten zu freien und belegten Intensivbetten insgesamt.

[2] Asklepios betreibt nach Angaben des Bundeskartellamtes deutschlandweit 160 Gesundheitseinrichtungen, darunter neben Krankenhäusern auch medizinische Versorgungszentren und Rehakliniken. Asklepios ist hinter der Fresenius-Tochter Helios der zweitgrößte private Klinikbetreiber in Deutschland.

Julia Dück ist Referentin für soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg-Stiftung. Ihr Schwerpunkt ist Gesundheits- und Pflegepolitik sowie Soziale Reproduktion und Care-Arbeit.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/von-r-wie-rettungspakete-zu-r-wie-rekommunalisierung

#Krankenhaus #Krise #Pflege #Rekommunalisierung

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Rettungspakete sollten die finanziellen Mehrbelastungen der Krankenhäuser durch die Corona-Pandemie kompensieren. Tatsächlich kam es sowohl zu einer Verschwendung staatlicher Mittel als auch zu wirtschaftlichen Einbußen und Schließungen von Krankenhäusern. Die Hilfspakete helfen also weder den Krankenhäusern noch sichern sie eine gute Versorgung von Patient*innen. Sie verschärfen die schon vorher bestandene Polarisierung von Krisengewinnern und Krisenverlierern im Krankenhaussektor: Private Häuser profitieren, während öffentliche Kliniken rote Zahlen schreiben. Dies zeigt einmal mehr, argumentiert die Autorin, dass es eine Abkehr braucht vom ökonomisierten Gesundheitssystem und von der Finanzierung nach diagnosebasierten Fallpauschalen („Diagnosis Related Groups“, DRG). Um eine gute Gesundheitsversorgung für alle zu ermöglichen, müssen eine kostendeckende Finanzierung einerseits sowie die Rekommunalisierung privater Krankenhausträger auf die politische Agenda.

Foto: camilo jimenez / Unsplash

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Glossar: Instrumente einer sozialen Wohnungspolitik

Oktober 2020

Jannis Pfendtner / flickr

Jannis Pfendtner / flickr

Wohnen, Rekommunalisierung#Wohnen #Rekommunalisierung

Die Wohnungsfrage, also das Problem der Versorgung einkommensschwacher und marginalisierter Bevölkerungsgruppen mit angemessenem Wohnraum, ist eine der zentralen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen unserer Zeit. Dieses Problem wird insbesondere auf kommunaler Ebene in wachsenden Städten und Gemeinden deutlich. Ziel dieses Glossars ist es daher, Kommunalpolitiker*innen und wohnungspolitischen Initiativen Instrumente aufzuzeigen, welche die Schaffung und Sicherung von sozialem Wohnraum ermöglichen können und die von Kommunen angewendet werden können – und in einigen Kommunen bereits angewandt werden.

Übergeordnetes Ziel muss es dabei sein, Wohnraum langfristig dem Markt zu entziehen. So machte erst kürzlich eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung über kommunale Bodenpolitik (Heinz/Belina 2019) deutlich, dass eine soziale Wohnungspolitik, die das Privateigentum an Grund und Boden nicht generell in Frage stellt, nur Flickwerk sein kann. Das Ziel einer wirklich sozialen Wohnungspolitik sollte es sein, weg von der Lenkung privater Investor*innen und hin zu einem aktiven Regieren und zu einer Demokratisierung der Wohnungsversorgung zu kommen. Deshalb muss Wohnraum in großem Maße und auf Dauer dem Markt entzogen und rekommunalisiert werden. Dies wiederum wird am besten dadurch ermöglicht, dass durch strenge politische Vorgaben und konsequentes kommunalpolitisches Handeln der Erwerb und Besitz von Liegenschaften für private Investor*innen unattraktiv wird und somit die Bodenpreise fallen (Interventionistische Linke Berlin 2018). Eine solche Strategie vermag es immerhin, für den Erhalt und Ausbau von Wohnraum, der für alle bezahlbar ist, zu sorgen (Heinz/Belina 2019).

In diesem Glossar erläutern wir im Anschluss an diese Diagnosen bestehende Instrumente, mit denen der Weg zu einer sozialen Wohnungspolitik auf kommunaler Ebene beschritten werden kann. Die einzelnen Instrumente sind dabei so aufbereitet, dass sich Kommunalpolitiker*innen, wohnungspolitische Initiativen und soziale Bewegungen in Niedersachsen leicht über die Relevanz und Reichweite der Instrumente informieren können. Wir stellen in diesem Glossar diejenigen schon jetzt zur Verfügung stehenden planerischen Instrumente vor, die entsprechend der oben genannten Bedingungen zumindest teilweise geeignet sind, die marktförmige Organisierung der Wohnraumversorgung zu durchbrechen, dies jedoch selten explizit zum Ziel haben. Aus diesem Grund führen wir zum Beispiel den Mietspiegel nicht auf, weil seine Wirksamkeit bisher nicht eindeutig belegt ist. Da der Fokus dieses Glossars auf kommunalen Instrumenten liegt, stellen wir auch keine politischen Ansätze vor, die nur auf Landes- und Bundesebene umgesetzt werden könnten. Dazu gehört etwa der Ruf nach einer neuen Niedersächsischen Landesentwicklungsgesellschaft (NILEG), vor allem aber auch die Forderung der Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit. Deren Abschaffung hat eine Lücke gerissen, die mit den hier aufgeführten Instrumenten nur notdürftig geschlossen werden kann.

Um einen leicht verständlichen Einstieg in geeignete wohnungspolitische Instrumente zu ermöglichen, haben wir die Darstellung der Instrumente jeweils wie folgt gegliedert: Auf eine Kurzbeschreibung folgt ein Überblick über die Ziele des jeweiligen Instruments aus Sicht einer sozialen Wohnungspolitik. Dann wird ausführlicher die Wirkungsweise des Instruments erklärt und anschließend Vor- und Nachteile aufgeführt. Zur Veranschaulichung des Instruments und seiner Wirkungsweise wird ein Fallbeispiel vorgestellt. Abschließend erfolgt eine Bewertung des Instruments aus Sicht einer sozialen Wohnungspolitik. Die Literaturangaben sollen – wie auch die Fallbeispiele – bei weiteren Recherchen helfen.

Wir hoffen, dass wir mit diesem Glossar einen Beitrag zur Umsetzung einer sozialen Wohnungspolitik leisten können und es Kommunalpolitiker*innen und wohnungspolitischen Initiativen gelingt, die aufgeführten Instrumente vor Ort möglichst zielführend anzuwenden. Wir wünschen eine anregende Lektüre!

Robin Marlow und Michael Mießner

Literatur

  • Heinz, Werner; Belina, Bernd (2019): Die Kommunale Bodenfrage. Hintergrund und Lösungsstrategien. Studien der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.rosalux.de.
  • Interventionistische Linke Berlin (2018): Das Rote Berlin. Strategien für eine sozialistische Stadt. Berlin. Online verfügbar unter: https://interventionistische-linke.org.

Zu den Autoren

Michael Mießner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Technischen Universität Dresden. Zuvor war er lange Zeit an der Georg-August-Universität Göttingen tätig. Seine Forschungsfelder sind die Kritische Geographie der Stadt- und Regionalentwicklung, Gentrifizierung, Immobilienmärkte und Wohnungspolitik in Deutschland. Er bemüht sich, seine Forschungsergebnisse lokalen Stakeholdern und politischen Initiativen zugänglich zu machen und so seinen Teil zu Lösung der Wohnungsfrage beizutragen.

Robin Marlow studiert Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Er war einige Jahre studentische Hilfskraft am Geographischen Institut der Universität. Anhand von Göttinger Beispielen hat er zu verschiedenen Formen und Ursachen von Verdrängung und Gentrifizierung geforscht.

Zum Glossar: https://nds.rosalux.de/glossar-wohnungspolitik

Foto: Jannis Pfendtner / flickr / CC BY 2.0

#Wohnen #Rekommunalisierung

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Die Wohnungsfrage, also das Problem der Versorgung einkommensschwacher und marginalisierter Bevölkerungsgruppen mit angemessenem Wohnraum, ist eine der zentralen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen unserer Zeit. Kommunalpolitiker*innen und wohnungspolitischen Initiativen benötigen Instrumente, welche die Schaffung und Sicherung von sozialem Wohnraum ermöglichen. Wir zeigen in diesem Glossar wohnungspolitische Ansätze und Handlungsstrategien auf, die schon jetzt in Kommunen angewendet werden können.

Jannis Pfendtner / flickr

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Getrieben von der Möglichkeit, durch den Betrieb eines Krankenhauses Gewinne zu erzielen, aber auch vom Risiko, bei negativen Bilanzen den Bestand der Abteilung oder des gesamten Krankenhauses zu gefährden, sind betriebswirtschaftliche Kennzahlen zu den wichtigsten Zielsetzungen jeder Krankenhausleitung avanciert. Um dieser Situation planerisch entgegenzuwirken, müssen die Krankenhausplanung und das Landesrecht zu Steuerungsinstrumenten ausgebaut und als solche genutzt werden. Ganz nebenbei wäre so zudem ein Instrument entwickelt, um (auf Landesebene) der Gewinnerzielung im Gesundheitsbereich entgegenzuwirken; also eine profit- gegen eine bedarfsorientierte Gesundheitsversorgung für alle zu tauschen. Ohne darauf zu warten, bis der Kampf für ein anderes Finanzierungsmodell bundesweit gewonnen ist. Wie aber ist dies möglich?

Auf diese Frage formuliert das vorliegende Rechtsgutachten Antworten.

Claudio Schwarz / unsplah

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Kommunen, häufig Träger staatlicher Leistungen und Institutionen wie Stadtwerke oder Krankenhäuser, geraten immer mehr finanziell unter Druck und müssen sich dem «Privatisierungsdruck» und den «Sachzwang»-Argumentationen erwehren oder sogar beugen. Dass dies aber kein politisches Dogma ist, zeigen zahlreiche Rekommunalisierungen. Die Broschüre gibt einen Überblick über die Entwicklung von Rekommunalisierungen (internationale wie bundesweit) sowie über die rechtlichen Rahmenbedingungen. Aus verschiedenen Branchen (Wasser, Energie, Abfall, Krankenhäuser, Wohnen, Verkehr etc.) werden Beispiele der Rekommunalisierung in Deutschland und damit verbundene Herausforderungen dargestellt. Als Argumentationshilfe richtet sich die Broschüre gleichermaßen an kommunale Amts- und Mandatsträger*innen, lokalpolitisch engagierte Menschen in Vereinen / Initiativen sowie interessierte Menschen, die sich konkret mit öffentlicher Daseinsvorsorge auseinandersetzen möchten.

Dresden; Foto: Martin Fahlander / Unsplash

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Reichtum des Öffentlichen

Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht

August 2020

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen beinharte Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor. Die Unternehmen versuchen, ihre Verluste zu sozialisieren. Nach den öffentlichen Schulden drohen eine Neuauflage von Austeritätspolitiken ebenso wie neue Angriffe der Arbeitgeberseite.

Die Verteidigung des Sozialstaats geht also in eine neue Runde. Doch sie sollte nicht als Abwehrkampf geführt werden, als ein Versuch, das Bedrohte zu konservieren. Stattdessen ist es Zeit, den Sozialstaat gründlich zu erneuern und seine alten Fehler zu beheben. Doch wie sieht ein Sozialstaat aus, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist? Wie lässt sich verhindern, dass sich die Spaltung der Subalternen weiter vertieft? In Krisen drohen die Kapitalfraktionen ihre Spielräume auf Kosten der Lohnabhängigen zu erweitern. Wie kann eine Alternative dazu aussehen? Und wo wird jetzt schon dafür gekämpft?

Krise an zwei Fronten

Bisher war die Finanzierung des Sozialstaates an wirtschaftliches Wachstum gebunden. In einem hart erkämpften historischen Klassenkompromiss wurden Sozialleistungen auf der Grundlage stetigen Wachstums finanziert und schrittweise ausgebaut. Dies war ein Kompromiss, der lange nicht zulasten der Profite ging. Als die Profitrate zu fallen begann, wurde er mit der neoliberalen Offensive seit Beginn der 1980er Jahre einseitig aufgekündigt. Der Sozialstaat geriet mehr und mehr unter Druck. Angesichts von Globalisierung und Transnationalisierung galt ein starker Sozialstaat als Negativfaktor im internationalen Wettbewerb (auch wenn inzwischen im Sinne des „social investment state“ eine produktivistische Neuorientierung erfolgt ist; vgl. Dowling 2016). Die Begründung: Unter dem Kostendruck der Konkurrenz könnten eben nicht alle Wohltaten finanziert werden. Nach und nach wurden die Systeme sozialer Sicherung ausgehebelt und neoliberal umgebaut. Mit dem sogenannten New Public Management gerieten betriebswirtschaftliche Kriterien zum Maßstab des Handelns auf sämtlichen Feldern des Sozialsystems (vgl. Wohlfahrt 2015).

Seitdem kriselt der Sozialstaat an zwei Fronten: Einerseits haben Jahrzehnte der neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik den Bereich sozialer Infrastrukturen und öffentlicher Dienste finanziell und personell ausgezehrt – vom Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Bereich über die Wohnraumversorgung bis hin zu Kultur und Mobilität. Es fehlt an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, aber auch an Verwaltungspersonal, Steuerprüfer*innen oder Planer*innen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beziffert die Lücke schon jetzt auf über eine Millionen Arbeitskräfte und bei weiter dynamisch wachsendem Bedarf auf bis zu vier Millionen (Ötsch u.a. 2020).

Andererseits führte die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu einem längst überwunden geglaubten Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut.[1] Die Ursachen sind vielfältig und hängen doch zusammen: Deregulierung der Arbeitsmärkte und endemische Ausbreitung von Niedriglöhnen und unfreiwilliger Teilzeit, Privatisierung und Ausdünnung der sozialen Infrastrukturen, steigende Mieten sowie eine ungerechte Besteuerungspolitik, die hohe Einkommen sowie große Vermögen begünstigt. In der Folge sehen sich Millionen Menschen mit unsicheren Zukunftsaussichten konfrontiert: Aufgrund von Arbeitslosigkeit, aufgrund von Soloselbständigkeit oder Mini- und Midi-Jobs erwerben immer weniger Menschen ausreichende Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen – unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen. Aber selbst dann, wenn Ansprüche bestehen, reicht das Leistungsniveau oftmals nicht länger für ein Leben ohne Armut. Mit Niedriglöhnen oder erzwungener Teilzeit lässt sich keine vernünftige Rente erwirtschaften oder gar privat vorsorgen. Für große Teile der Bevölkerung bieten die bestehenden Sicherungssysteme keine Perspektive mehr – das Sicherungsversprechen des Sozialstaates verliert an Glaubwürdigkeit und muss grundlegend erneuert werden.

Kein Zurück zum „alten“ Sozialstaat

Wer den Sozialstaat erhalten will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sich seine Gestalt wandeln muss. Um für die neu zusammengesetzte Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts attraktiv zu sein, muss das Konzept von Sozialstaatlichkeit erweitert und verändert werden. Dazu gilt es, linke Kritiken an seiner bisherigen Verfasstheit aufzunehmen.

Der Sozialstaat war immer gekoppelt an spezifische Produktions- und Lebensweisen, an ein bestimmtes Geschlechterregime und an das damit verbundene Modell von Erwerbsarbeit und Reproduktion. Feminist*innen haben die Norm des männlichen Alleinverdieners im fordistischen Wohlfahrtsstaat kritisiert. Soziale Absicherung ist darin an (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit und an eine weitgehend lückenlose Erwerbsbiografie gebunden. Gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, die historisch an Frauen delegiert und in den Verantwortungsbereich der privaten Haushalte verlagert wurde, erfährt weder Anerkennung noch soziale Absicherung. Damit ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit systematisch in das fordistische Wohlfahrtssystem eingeschrieben. Es verstärkt zudem mit seinem patriarchalen Familienmodell die Abhängigkeit von Frauen und benachteiligt queere Menschen. Obgleich sich die Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse inzwischen deutlich gewandelt haben, bleiben die Verkopplung von sozialer Absicherung und Erwerbstätigkeit sowie die Privilegierung eines heteronormativen Ehe- und Familienmodells bestehen. Deswegen: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Erneuerung des Sozialstaates.

Die meisten Leistungen des Sozialstaates sind außerdem an nationale Zugehörigkeit gebunden. Es profitieren von ihnen nur diejenigen, die über eine bestimmte Staatsbürgerschaft verfügen oder über die offizielle Lohnarbeit sozialversichert sind. Geflüchtete, Personen im Asylverfahren und insbesondere Illegalisierte haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, obwohl Letztere in Sektoren wie Hausarbeit, Pflege, Bau, Landwirtschaft, Sexarbeit, Hotellerie, Gastgewerbe oder Reinigungsgewerbe einen elementaren Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung leisten (vgl. Behr 2010). Über das Aufenthaltsrecht wird migrantische Arbeit abgewertet, viele sind gezwungen, besonders schlechte Löhne und unsichere Bedingungen zu akzeptieren, was sich nicht nur in geminderten Leistungsansprüchen niederschlägt, sondern außerdem eine gesellschaftliche Aufwertung der genannten Arbeiten (Hausarbeit, Pflege etc.) erschwert. Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse werden dadurch verschärft.

Aber auch auf Migrant*innen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wirkt sich der bestehende Sozialstaat diskriminierend aus. Sie leiden besonders häufig unter unterbrochenen Erwerbsbiografien und Phasen informeller, schlechter bezahlter oder generell prekärer Beschäftigung, was geringere Anwartschaften zur Folge hat. Nicht erst angesichts wachsender Migrationsbewegungen muss diese Selektivität des Sozialstaats in Bezug auf die nationale Herkunft überwunden werden. Es bedarf hier einer grundlegenden Erneuerung, um ihn für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Eine große Aufgabe.

Die linke Kritik am fordistischen Sozialstaat hat schließlich deutlich gemacht, dass er – trotz seiner zweifellos positiven Funktion der Absicherung und Umverteilung – auch paternalistische Züge trägt und zur Passivität anhält. Das bürokratische, starre und auf Kontrolle orientierte Hilfesystem ist nicht nur an bestimmte Erwerbsmodelle und Lebensformen gebunden, sondern wirkt an vielen Stellen entmündigend. Der Ausschluss vieler Leistungsempfänger*innen von gesellschaftlicher Teilhabe wird so – trotz sozialer Abfederung – letztlich fortgeschrieben.

Zwar sind etliche, von Luc Boltanksi und Ève Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnete Einwände der neuen Linken später vonseiten neoliberaler Gegner*innen des Sozialstaats aufgenommen und entsprechend enteignet worden. Dennoch steckt hier ein für linke Zukunftsentwürfe unhintergehbarer Impuls: Ein Zurück zu den korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats des 20. Jahrhunderts ist keine Alternative, nicht nur wegen gewandelter Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse, sondern auch wegen seines ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Mit einer Erneuerung sozialer Sicherungssysteme ist darum auch die Aufgabe ihrer grundlegenden Demokratisierung verbunden.

Wo die Herausforderungen liegen

Die sozialen Sicherungssysteme stehen vor mehreren neuen Herausforderungen, die mit alten Konzepten nicht gelöst werden können.Sozial "abgehängte" Räume: Die Folgen der Erosion des Sozialstaates zeigen sich besonders prägnant auf der sozialräumlichen Ebene. Soziale Ungleichheit verschärft sich und dokumentiert sich zunehmend in Postleitzahlen, teils entstehen „abgehängte" Räume mit extrem lückenhafter Infrastruktur in benachteiligten Vierteln der Städte und in peripheren Zonen jenseits der Städte. Das trifft am stärksten marginalisierte Gruppen und erzeugt Konkurrenz um bereits knappe Ressourcen. Rechte Sicherheits- und Ordnungsdiskurse, die die Bedrohung einer vermeintlich homogenen Lebensweise der Einheimischen heraufbeschwören, können hieran anschließen. Da ein Großteil der Sozialleistungen von den Kommunen erbracht wird, wachsen zudem die sozialräumlichen Disparitäten zwischen Städten und Regionen.

Krise der Reproduktion: Das fordistische Geschlechter-, Reproduktions- und Familienmodell hat sich stark verändert – ohne dass jedoch Geschlechteregalität oder soziale Rechte für alle erreicht wurden. Heute dominiert nicht länger das Alleinernährer-, sondern das sogenannten Adult-Worker-Modell. Der Zwang, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, trifft nun alle gleichermaßen und verändert auch das Sorgeregime. Zwar werden immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die früher fast ausschließlich privat und unentgeltlich geleistet wurden, heute auch als Erwerbsarbeit erbracht – dies gilt etwa für Pflege und Erziehungsarbeit. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge werden die öffentlichen Angebote jedoch massiv ausgedünnt, was Überlastung, Stress und Erschöpfung zur Folge hat. Care-Arbeit ist auch als Lohnarbeit immer noch mehrheitlich eine Domäne von Frauen und Migrant*innen und wird somit deutlich schlechter bezahlt als andere Tätigkeiten. Ohne Geschlechtergerechtigkeit und ohne ein Ende der Abwertung von migrantischer Arbeit kann es also keine Erneuerung des Sozialstaates geben.

Die Zunahme bezahlter Sorgearbeit und ihre zunehmend privatwirtschaftliche Organisierung wirft auch die Frage neu auf, wo die Grenzen einer kapitalistischen Inwertsetzung von Fürsorge liegen. Ausgehend hiervon ist auch zu klären, ob nicht wichtige gesellschaftliche Aufgaben dem Markt gänzlich entzogen werden müssen, ob und inwieweit also eine Vergesellschaftung oder auch Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge notwendig ist.

Migration: Mit der Zunahme weltweiter Migration stellt sich die alte Frage nach dem Zugang zu bis dato vor allem nationalstaatlich organisierten Sicherungssystemen neu. Die Gesellschaften des Nordens sind noch stärker als bisher zu Einwanderungsgesellschaften geworden. Eine Abschottung gelingt nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche wie dem Anspruch nach Solidarität und Antirassismus. Ein in erster Linie als Versicherungssystem konzipierter Sozialstaat setzt allerdings jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anwartschaften voraus, die mit einer gestiegenen Bewegungsfreiheit und globaler Migration kaum kompatibel sind. Der Ausschluss vieler migrantischer Arbeitskräfte von sozialen Sicherungsleistungen ermöglicht die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sozialstaatliche Rechte müssen deswegen neu gedacht und von einem restriktiv regulierten Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht sukzessive gelöst werden.

Globale Ungleichheit: Das Einkommensgefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern hat zwar über die letzten Jahrzehnte abgenommen. Dies liegt aber vor allem am Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren wie China oder Südkorea oder von sogenannten Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Indien. Andere Länder sind im Prozess neoliberaler Globalisierung weiter zurückgefallen. Krieg und Zerstörung, Ressourcenausbeutung, unfaire Handelsabkommen, ungerechte weltwirtschaftliche Beziehungen und eine Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung in globalen Produktionsketten zerstören die Lebensperspektiven von Millionen. Die dadurch verursachte Ausbeutungsdynamik zwischen Nord und Süd wirft die Frage nach der Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen in den reichen Ländern mit besonderer Schärfe auf. Gleichzeitig hat die Schere zwischen Arm und Reich auch in den wohlhabenderen Gesellschaften ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung selbst. Die wachsende Ungleich unterminiert damit die Fundamente des sozialen Gewebes.

Klimakrise: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme klassenspezifischer Ungleichheiten und einem drastisch steigenden CO2-Ausstoß. Der Anteil, den die Reichen an den weltweiten Emissionen haben, wächst überproportional stark, während der Anteil der Ärmsten rückläufig ist. Dieses Missverhältnis gilt generell auch für die einzelnen Gesellschaften (Kleinhückelkotten u.a. 2016). Mehr Gleichheit ist also nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen notwendig.Die Folgen kapitalistischen Wachstums haben zu einer planetarischen ökologischen Krise geführt, die weitere soziale Verwerfungen sowie eine Zuspitzung der Reproduktionskrise und zunehmende Migrationsbewegungen nach sich zieht und immer mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Damit sind diese Entwicklungen zu nicht mehr hintergehbaren Herausforderungen auch für unser Verständnis von Sozialstaat geworden. Zugleich wird deutlich: „Der Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet“ (Urban). Wenn solidarische Formen der Krisenbearbeitung nicht durchgesetzt werden können und es nicht zu einer Umverteilung von Ressourcen sowie zu einer Verallgemeinerung sozialer Rechte kommt, sind eine Zunahme von Verteilungskonflikten und eine Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse absehbar.

Damit geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Sie betrifft die kommunale, nationale und transnationale Ebene. Doch um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss der Sozialstaat auch finanziert werden. Angesichts der ökologischen Krise kann dabei nicht umstandslos an die Tradition des sozialstaatlichen Kompromisses auf Basis von noch mehr Wachstum angeknüpft werden. Einerseits müssen Unternehmen und Vermögende deutlich stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Andererseits muss das Verhältnis von Steuern und Beiträgen neu austariert werden, um die Abhängigkeit einer sozialen Absicherung von der Erwerbsarbeit zu überwinden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden.

Soziale Infrastrukturen: kostenfrei und demokratisch

Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können. Das zeigt sich auch in den Diskussionen um die Zukunft sozialer Absicherung und die Perspektiven des Sozialstaats im 21. Jahrhundert. Was also wären positive Entwürfe, die die Anliegen der vielfältigen Bewegungen des Protests bündeln könnten? Von den zunehmenden Arbeitskämpfen insbesondere im Bereich Pflege und Erziehung über die Mietenproteste, die Anti-Privatisierungs-Bündnisse bis hin zu den neuen antirassistischen Protesten und der Klimabewegung: Wie könnten gemeinsame Forderungen aussehen, die die unterschiedlichen Anliegen einer pluralen Linken und verschiedenen Teilen der Subalternen aufnehmen und sinnvoll miteinander verbinden?Seit einigen Jahren dreht sich die Debatte – angestoßen von einem Diskussionszusammenhang rund um Joachim Hirsch (2003) und das Frankfurter links-netz (2012) – verstärkt um die Bedeutung sozialer Infrastrukturen als Teil einer postneoliberalen Sozialpolitik. Der Ansatz stellt die sozialen Dienstleistungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Transformation. Nach vielen Jahren neoliberaler Politiken ist hier zum einen der Mangel besonders offensichtlich, zum anderen ist dies der einzige Sektor, der in den Industrieländern ein beträchtliches (klima- und ressourcenneutrales) Beschäftigungspotenzial verspricht.

Statt also Sozialleistungen wie bisher nur über einen Mix aus Versicherungsmodellen und steuerfinanzierten Ansprüchen jeweils individuell abzusichern, besteht die Idee, „soziale Infrastrukturen“ zum Kern eines neuen Sozialstaats zu machen darin, soziale Dienstleistungen konsequent auszubauen und für alle frei – also auch entgeltfrei – zugänglich zu machen. Das betrifft die Gesundheitsversorgung genauso wie den Bereich der (Weiter-)Bildung, der Erziehung und Betreuung, das Recht auf bezahlbares Wohnen und auf Mobilität genauso wie den Zugang zu Energie, Trinkwasser oder zum Internet. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt also – anders als etwa bei einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht primär auf der monetären Absicherung des individuellen Konsums, sondern auf dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, also auf dem kollektiven Konsum.[2]

Alles entgeltfrei? Ja und nein. Vorstellbar wäre beispielsweise, auf allen genannten Feldern eine entgeltfreie Grundversorgung zu ermöglichen und für die Befriedigung darüber hinaus gehender individueller Bedürfnisse, Vorlieben oder Leidenschaften die Menschen ganz oder teilweise bezahlen zu lassen. Für den Bereich der Energieversorgung, die ein modernes menschliches Grundbedürfnis darstellt, würde das Folgendes bedeuten: Die Grundversorgung ist im Rahmen sozialer Infrastrukturen abgedeckt. Wer mehr Energie verbraucht, zahlt dafür, und Vielverbraucher zahlen deutlich mehr, der Preis steigt also progressiv an. Dieses Prinzip ist auf unterschiedliche Bereiche anwendbar (vgl. Schachtschneider/Candeias 2013): Zur Kasse gebeten wird, wer viel verbraucht. Das hieße ein entgeltfreies Pro-Kopf-Trinkwasserkontingent, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen und Luxusautos; entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, die Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle gebührenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, (dauerhaftem) sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums, Vergesellschaftung großen Immobilienbesitzes und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.

Ein solches Konzept wäre nicht nur ein Beitrag zum Abbau von sozialen Ungleichheiten, sondern auch ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise. Investitionen in soziale Dienstleistungen sind ökologisch sinnvoll, da die Arbeit mit Menschen kaum Umweltzerstörung mit sich bringt und deren Ausweitung neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet auch als Ausgleich für die Jobs, die in den rückzubauenden Bereichen klimaschädlicher Industrien verloren gehen werden. Dieser Ansatz hilft nicht nur bei der Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit, sondern auch bei der der (unbezahlten) Reproduktion. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen wird professionelle Care-Arbeit aufgewertet und erhält zusätzliche Ressourcen. Zugleich lässt der Erwerbsdruck nach, da die Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse garantiert ist. Damit steht mehr Zeit für Sorge und Selbstsorge sowie für die Arbeit am Gemeinwesen und politisches Engagement bereit. Nicht zuletzt bietet sich hier auch eine Chance, die für die emanzipative Gestaltung von Geschlechterverhältnissen genutzt werden kann: Der Blick wird stärker auf die reproduktiven Funktionen und Tätigkeiten gerichtet: Was erhält und sichert unser gemeinsames Leben? Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die stärkere Entkopplung der sozialen Teilhabe vom Erwerbsstatus und von der Lebens- oder Familienform – also individuelle Ansprüche für jede und jeden, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft.

Der Ausbau sozialer Infrastrukturen stärkt auch eine solidarische und demokratische Gesellschaft, denn Angst und Unsicherheit vor den notwendigen gesellschaftlichen Umbrüchen werden gemindert. Zugleich erscheinen die diskriminierenden Sozialstaatskonzepte der Rechten weniger attraktiv, wenn Marginalisierung, Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit bekämpft werden. Das Konzept sozialer Infrastrukturen erlaubt es also nicht nur, linke Sozialpolitik jenseits des fordistischen Wohlfahrtstaates neu zu denken. Die Forderung nach einer entgeltfreien, sozialökologischen Grundversorgung für alle, die hier leben (unabhängig von Pass, Geschlecht, Postleitzahl oder sonstigem Status), kann als verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe und eines gesellschaftlichen linken, sozialökologischen solidarischen Pols in der Gesellschaft dienen.

Soziale Infrastrukturen zielen darauf, weite Teile der Daseinsvorsorge dem Markt (wieder) zu entziehen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das bedeutet konkret, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen. Mit der Rekommunalisierung beispielsweise von privatisierten Krankenhäusern, Altenheimen, Kindertagesstätten, Wohnraum oder privaten Mobilitätsdienstleistungen ist nicht zuletzt die Frage der Eigentumsform gestellt – wie insbesondere die Kampagnen gegen überhöhte Mieten zuletzt deutlich gemacht haben. Hier können Umverteilung und soziale Gerechtigkeit mit Forderungen nach Demokratisierung und Emanzipation verbunden werden. Denn jenseits der Eigentumsfrage gilt es, neue Formen der Beteiligung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Soziale Infrastrukturen in öffentlicher Hand bedeutet auch, diese umfassend zu demokratisieren, sie in die Hände der Produzent*innen und Nutzer*innen zu legen. An vielen Stellen wird bereits über Gesundheits- oder Care-Räte diskutiert. Auch regionale Mobilitäts- und Transformationsräte stehen auf der Tagesordnung. Wir könnten so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen und erste Schritt in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus gehen (vgl. Redaktion prager frühling 2009).

Ein strategischer Vorschlag zur richtigen Zeit

Wie lässt sich so ein Umbau öffentlicher Dienstleistungen durchsetzen? Fest steht, das Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn unterschiedliche Akteure darin ihre Interessen wiederfinden. Die Idee kostenfreier, demokratischer Infrastrukturen kann unserer Ansicht nach Spielräume für linke Politik eröffnen: Soziale Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, Spaltungen zu überwinden und solidarisch zu bearbeiten, weil sie egalitäre Zugänge für unterschiedliche Teile der Subalternen bieten. In funktionierenden sozialen Infrastrukturen kommt die Idee eines anderen kollektiven Wohlstands zum Ausdruck, die imstande ist, gemeinsame Interessen an einem öffentlichen Reichtum überhaupt erst zu artikulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. Candeias 2019, 6). Außerdem bietet sich die Chance, aus fruchtlosen, von Gegensätzen geprägten linken Debatten herauszukommen, und zwar hinsichtlich mehrerer Streitfragen:

Das bedingungslose Grundeinkommen: Von diesem Grundeinkommen erhoffen sich beispielsweise Erwerbslose, Soloselbstständige und prekär Beschäftigte mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten dagegen weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Die Idee „sozialer Infrastrukturen“, verbunden mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, kann hier neue Perspektiven aufzeigen und neue Bündnisse ermöglichen.

Die Wachstumsfrage: Auch an diesem Punkt steckt die linke Debatte fest: zwischen Positionen von Degrowth-Anhänger*innen und denen keynesianisch inspirierter Vertreter*innen qualitativen Wachstums. Dabei streitet niemand ab, dass bestimmte Bereiche schrumpfen müssen, etwa die mit hohem Stoffumsatz verbundene industrielle Produktion, und andere zunächst wachsen müssen, wie die gesamte Care-Ökonomie und eben die sozialen Infrastrukturen, bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Ein solches qualitatives Wachstum ist übergangsweise notwendig, nicht zuletzt aufgrund der Lücken in vielen Bereichen der Reproduktion. Auch alternative industrielle Produktion ist notwendig – dies gilt vor allem für Länder des globalen Südens, aber auch hier für ressourcen- und klimaschonende Innovationen. Ein simpler Gegensatz von Wachstums- versus Postwachstumspositionen ist daher kontraproduktiv. Es muss um ein Einschwenken auf einen mittelfristigen Kurs einer „Reproduktionsökonomie“ (Candeias 2011) gehen, in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr stofflich wachsen. Soziale Infrastrukturen stünden im Zentrum einer solchen Reproduktionsökonomie.

Sie wären damit auch die wichtigste Säule für eine neue öffentliche Ökonomie, ohne die eine sozialökologische Transformation kaum möglich sein wird. Es gibt nur wenig Ansätze, die einer öffentlichen Produktionsweise eine eigene ökonomische Qualität zugestehen. Ausnahmen sind zum Beispiel die Ansätze eines "Public Value" (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder einer "Sozialwirtschaft" (Müller 2005 u. 2010). Dafür notwendig wäre eine andere gesellschaftliche Buchführung, die vorhandene wie benötigte Ressourcen gebrauchs- und bedarfsorientiert ins Verhältnis setzt und die die Frage ins Zentrum stellt, zu welchem Zweck und wie wir diese Ressourcen eigentlich einsetzen wollen. Eine solche gesellschaftliche Buchführung könnte eine von kapitalistischen Werttransfers unabhängige Grundlage für eine öffentliche Produktionsweise bieten. Der Sozialstaat wäre dann nicht nur kompensatorisch für den Ausgleich sozialer Verwerfungen und als Stabilisator in Zeiten von Krise zu denken, sondern wäre selbst Element einer solchen öffentlichen Ökonomie. Er wäre die Grundlage einer anderen Form des Produzierens und Reproduzierens, die mit dem Begriff grüner Infrastruktursozialismus umschrieben werden kann.

Verbindende Klassenpolitik für den grünen Infrastruktursozialismus…

Für anstehende sozialökologische Transformationskonflikte ist eine ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur ein Sicherheitsversprechen, das notwendig gewordenen Veränderungen das Bedrohliche nimmt und eine positive Zukunft denkbar werden lässt. Viele Bewegungen und die LINKE haben sich in den letzten Jahren bereits am Konzept der sozialen Infrastrukturen orientiert und es zu einem verbindenden Projekt werden lassen. Hier treffen sich Fragen der Umverteilung mit denen nach Freiheitsrechten und Demokratie, Fragen der Klassenpolitik mit Fragen der Anerkennung und Ermöglichung von Diversität und verschiedenen Lebensweisen.

Auch von anderer Seite wird der Frage sozialer Infrastrukturen (endlich) neue Bedeutung zugemessen: Eine neue "Fundamentalökonomie", wie Wolfgang Streeck es im Anschluss an eine englische Autorengruppe nennt (Foundational Economy Collective 2019), ist ein Bezugspunkt auch für sozialdemokratische Intellektuelle (vgl. u.a. SPW 2019), für Gewerkschaften wie die IG Metall, ver.di, die Eisenbahn- & Verkehrsgewerkschaft oder die GEW, aber auch für Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch für die Umweltbewegung und -verbände.

Die Bedingungen für große progressive Entwürfe sind gerade nicht gut, es stehen beinharte Auseinandersetzungen um die immensen Kosten der Krise bevor. Zugleich hat die Corona-Krise viele vermeintlich feststehende Wahrheiten infrage gestellt und aufgezeigt, dass politische Reaktionsmuster ins Wanken geraten können. Innerhalb kürzester Zeit war es nicht nur möglich, im Sinne der Pandemieprävention die Wirtschafts- und Konsumkreisläufe ganzer Gesellschaften herunterzufahren und damit – zumindest vorübergehend – das Primat der Politik vor das der Ökonomie zu setzen. Es ist im Zuge der Krisenbekämpfung auch möglich geworden, große staatliche Finanzvolumina zur Stützung von Unternehmen, Erwerbstätigen und öffentlichen Infrastrukturen sowie zur Ankurbelung der Konjunktur zu mobilisieren und dafür die "schwarze Null" von heute auf morgen über Bord zu werfen. Auf der Ebene der europäischen Regierungen wurde zudem das Verbot der gemeinsamen Verschuldung geschliffen. Das alles bedeutet für den weiteren Fortgang der Krise noch gar nichts, wie erwähnt stehen beinharte Verteilungskämpfe bevor. Es zeigt aber doch, dass das bisher scheinbar so fest verankerte marktliberale TINA-Prinzip[3] in einer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung aufgeweicht wurde. Unter der Wucht der Pandemie gewannen nicht nur eine andere Finanz- und Schuldenpolitik, sondern allgemein eine vorausschauendere, staatliche Steuerung und Intervention an Attraktivität. An solchen Tabubrüchen gilt es anzusetzen. Es sind kleine erweiterte Spielräume für eine gesellschaftliche Linke, die es zu nutzen gilt, um neue, um andere Pfade denkbar zu machen und zu erkämpfen (vgl. IfG & Friends 2020).

…und wo sie heute schon stattfindet

Um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen wird von vielen Akteuren bereits konkret gekämpft. Am sichtbarsten ist dies momentan wohl im Gesundheitswesen der Fall. In der ab September anlaufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (ÖD) wird es um eine Aufwertung der Pflege gehen. Bund und Länder haben angekündigt, dass es angesichts der Krise nichts zu verteilen gibt. Trotz des größten Rettungspakets der Geschichte soll es für die „systemrelevanten“ Berufe also bei einer symbolischen Anerkennung bleiben. Für höhere Löhne in der Pflege, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Personalquoten wird schon seit Langem gestreikt und gekämpft. Die Forderung nach einer bedarfsorientierten Finanzierung und nach mehr Personal in diesem wichtigen Bereich des Gesundheitswesens könnte zu einem Kristallisationspunkt von Kämpfen sowohl von Beschäftigten als auch von Nutzer*innen sozialer Infrastrukturen werden. Im Sinne eines Infrastruktursozialismus geht es außerdem darum, diese wichtigen Funktionen in gesellschaftliche Verantwortung zurückzuholen – also um eine Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Ähnlich steht es um Bildung und Erziehung, auch hier wird im Rahmen der Tarifrunde ÖD für eine Aufwertung und für bessere Angebote gestritten. Und auch hier hat die Pandemie schonungslos offengelegt, wie schlecht dieser elementare Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausgestattet ist – und zwar sowohl was das qualifizierte Personal angeht als auch die physische und digitale Hardware. Um in den Bereichen Bildung, Erziehung und soziale Arbeit verlässliche soziale Infrastrukturen für alle durchzusetzen, bedarf es neben einer besseren tariflichen Entlohnung des Personals des Ausbaus von Kitaplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten. Zudem wird vonseiten der Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, der Partei DIE LINKE und anderen schon seit Längerem für die bundesweite Abschaffung von Kitagebühren gestritten. Mit diesen Maßnahmen könnte die in Deutschland besonders dramatisch ausgeprägte Bildungsungleichheit verringert und mehr Teilhabe und Demokratie möglich werden.

Parallel zur Tarifrunde im ÖD werden erstmals bundesweit die Tarife im öffentlichen Nahverkehr verhandelt. Neben einer Entlastung durch mehr Personal geht es um einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Angesichts der zugespitzten Klimakrise ist das Letztere ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Fridays for Future, ver.di, die LINKE und andere wollen diese Auseinandersetzungen als gemeinsames Projekt angehen. Konkrete Schritte, um „Mobilität für alle“ als soziale Infrastruktur zu entwickeln, gibt es in einigen Städten schon: Der Einstieg in einen generellen Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist ein kostenloses Jahresabo für Schüler*innen, Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, kombiniert mit der Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle anderen. Dies soll den notwendigen Umstieg vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel erleichtern. Damit der steigende Bedarf an öffentlichen Nah- und Fernverkehrsmitteln überhaupt gedeckt werden kann, muss das Schienennetz ausgebaut und muss eine alternative Produktion von Straßenbahnen, E-Bussen, Zügen, U-Bahnwaggons etc. angeschoben werden. Zumindest Teile davon könnten in öffentlichen Unternehmen realisiert werden und wären damit ein weiterer Baustein der oben skizzierten öffentlichen Ökonomie.

Im Bereich Wohnen & Miete ist die Auseinandersetzung schon weiter. Hier geht es um die Verteidigung eines gesetzlichen Mietendeckels, wie er bisher in Berlin beschlossen wurde, und darum, ihn auf andere Bundesländer auszuweiten. Auch hier wird konkret über Vergesellschaftung diskutiert. Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co hat dies zum Ziel. Um die Menge an bezahlbarem Wohnraum zu erhöhen, wird der Bau von Sozialwohnungen in großer Zahl über eine „neue Gemeinnützigkeit“ ins Auge gefasst. Auch die Gründung einer öffentlichen Bauhütte, also eines Verbunds von Gewerken in öffentlicher Hand, wäre nützlich, um sich von der Bauindustrie unabhängig zu machen.

Auch in feministischen Debatten und Kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit spielt der Ausbau sozialer Infrastrukturen seit Jahren eine wichtige Rolle. Die internationale Bewegung für einen feministischen Streik und Debatten um eine feministische Klassenpolitik stellen die Aufwertung und Entlastung entlohnter wie unbezahlter Sorgearbeit ins Zentrum. Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit zielt auf eine Ausweitung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen, genauso wie hierzulande das queer-feministische Netzwerk Care Revolution. Dort organisieren sich unentlohnt Sorgende zusammen mit professionellen Care-Arbeiter*innen und denjenigen, die als Patient*innen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Gute Arbeitsbedingungen und Ausstattung in Kitas, Ganztagsschulen, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz reduzieren die Überlastung insbesondere von Frauen und ermöglichen eine Aufwertung wie eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit (vgl. Fried/Schurian 2016).

Kämpfe um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren in der weltweiten Bewegung für solidarische Städte gebündelt (vgl. Christoph/Kron 2019). Städte und Kommunen werden hier als Terrain gesehen, um eine demokratische Teilhabe und den Zugang zu lebenswichtigen Leistungen und Infrastrukturen für Geflüchtete und Illegalisierte lokal zu ermöglichen. New York City hat als erste Stadt eine “City Card” eingeführt, eine Art kommunales Personaldokument, das den Zugang zu städtischen Leistungen wie Gesundheit und Bildung ermöglicht sowie den Besuch von Bibliotheken und Museen, aber auch die Eröffnung eines Bankkontos und Abschluss eines Mietvertrags. Darüber hinaus bietet die "City Card" Schutz vor racial profiling, Polizeigewalt und Abschiebung – sie wird von der lokalen Polizeibehörde anerkannt und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Papiere. Auch in Europa wird an vielen Orten über eine "City Card" diskutiert. Zürich und Bern gehen hier voran,[4] aber auch in Berlin denkt die LINKE über die Einführung eines solchen Ausweisdokumentes nach (vgl. Frank 2019).

In Sachen Finanzierung braucht es Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen. Absehbar ist bereits jetzt, dass die Argumente und Konzepte der Austerität spätestens nach der nächsten Bundestagswahl mit Wucht durchschlagen werden. Spätestens dann wird genauer darüber verhandelt werden, wie und von wem die zur Pandemiebekämpfung aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden sollen. Das alles findet unter anderem vor dem Hintergrund der weiterhin ungelösten Altschuldenproblematik der Kommunen in Höhe von derzeit geschätzt rund 45 Milliarden Euro statt.Die Kommunen aber sind die Orte, an denen die Menschen ganz maßgeblich ihre Alltagserfahrungen sammeln und ihre Leben gestalten. Weitere Einschränkungen in weiten Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge werden der Entdemokratisierung, dem Frust und der Akzeptanz destruktiver Konzepte der Rechten sowie weiteren Klassenspaltungen Vorschub leisten. Umgekehrt kann der Ausbau sozialer Infrastrukturen, wie beschrieben, nicht nur Ungleichheiten bekämpfen, sondern eben auch mehr Demokratie und Teilhabe (auch vormals in der Öffentlichkeit unterrepräsentierter Gruppen) ermöglichen.

Für all das braucht es starke Initiativen von unten, die für eine solche Perspektive weitere kampagnenfähige und öffentlichkeitswirksame Kristallisationspunkte identifizieren, an denen es sich lohnt, auf verschiedenen Ebenen (kommunal, national, europäisch etc.) gleichzeitig produktive Konflikte aufzumachen und voranzutreiben. Dafür müssen auch und vor allem diejenigen gewonnen werden, die unter den derzeitigen Mängeln der sozialen Infrastrukturen am stärksten leiden.

Es wird entscheidend sein, ob es bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr gelingen wird, einen sozialökologischen Block zu formen, der Aufwertung und Ausbau sozialer Infrastrukturen zum Fluchtpunkt eines gemeinsamen Projekts macht (das auch nach der Wahl noch Bestand hat). Denn nur mit massivem gesellschaftlichen Druck und einer Bündelung von Kräften lassen sich konsequente Schritte in diese Richtung durchsetzen – Schritte in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus.

Fußnoten

[1] Die soziale Ungleichheit fällt nach neuesten Zahlen noch drastischer aus, als bislang angenommen: Demnach besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland rund 35 Prozent statt, wie bislang angenommen, 22 Prozent des Nettovermögens, die oberen zehn Prozent 67,3 statt 58,9 Prozent (Bartels u.a. 2020).

[2] Dies bedeutet nicht, die Bedeutung und Errungenschaft des klassischen Sozialversicherungsmodells zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Eine demokratischere, solidarischere Gesellschaft muss auch das Sozialversicherungswesen in den Blick nehmen, ausbauen und universalisieren, um die individuellen Risiken und Brüche im Lebenslauf besser abzusichern. Das heißt unter anderem, dass Elemente einer Mindestsicherung (etwa eine Mindestrente, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, oder eine Kindergrundsicherung etc.) gegenüber leistungsbezogenen Anwartschaften verstärkt werden und die Versicherungspflichten ausgeweitet werden müssen. Denkbar wären hier eine umfassende Erwerbstätigenversicherung (unter Einbeziehung auch von Beamt*innen, Freiberufler*innen, Selbstständigen etc.) im Rentensystem sowie eine Bürgerversicherung aller im Gesundheitswesen und eine solidarische Pflegevollversicherung.

[3] TINA: There Is No Alternative.

[4] Vgl. www.zuericitycard.ch/ und https://wirallesindbern.ch/city-card/.

Literatur

AG links-netz, 2012: Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur, http://wp.links-netz.de/?p=23

Bartels, Charlotte/Göbler, Konstantin/Grabka, Markus/König, Johannes/Schröder, Carsten, 2020: MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, DIW-Wochenbericht 29/2020

Behr, Dieter A., 2010: Crossing Borders, in: Kulturrisse, März 2010

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

Candeias, Mario, 2004: Erziehung der Arbeitskräfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat, in: UTOPIE kreativ, Heft 165/166, 589–601

Ders., 2011: Konversion – Einstieg in eine öko-sozialistische Reproduktionsökonomie, in: ders., 2019: Was tun und wo anfangen? 11-Punkte-Plan für einen neuen Sozialismus, in: LuXemburg 3-2019, www.zeitschrift-luxemburg.de/was-tun-und-wo-anfangen

Christoph, Wenke/Kron, Stefanie (Hg.), 2019: Solidarische Städte in Europa. Urbane Politik zwischen Charity und Citizenship, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

Dowling, Emma, 2016: Soziale Wende des Kapitals?, in: LuXemburg-Online, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-wende-des-kapitals

Facundo, Alvaredo u.a. (Hg.), 2018: Die weltweite Ungleichheit. Der World Inequality Report 2018, München

Foundational Economy Collective, 2019: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M.

Frank, Marie, 2019: Eine Karte für alle Fälle. Die Berliner Linkspartei will mehr Teilhabe für Illegalisierte durch einen Ausweis, in: neues deutschland, 13.4.2019

Fried, Barbara/Hannah Schurian, 2016: Nicht im Gleichschritt, aber Hand in Hand. Verbindende Care-Politiken in Pflege und Gesundheit, in: LuXemburg 1/2016, https://www.zeitschrift-luxemburg.de/nicht-im-gleichschritt-aber-hand-in-hand-verbindende-care-politiken-in-pflege-und-gesundheit

Gehrig, Thomas, 2013: Soziale Infrastruktur statt Grundeinkommen, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-infrastruktur-statt-grundeinkommen

Hirsch, Joachim, 2003: Eine andere Gesellschaft ist nötig: Zum Konzept einer Sozialpolitik als soziale Infrastruktur, in: Linksnetz, http://wp.links-netz.de/?p=21

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Kaelble, Hartmut, 2017: Mehr Reichtum, mehr Armut: soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M.

Kleinhückelkotten, Silke/Neitzke, Hans-Peter/Moser, Stephanie, 2016: Repräsentative Erhebung von Pro-Kopf-Verbräuchen natürlicher Ressourcen in Deutschland (nach Bevölkerungsgruppen), Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, Berlin, www.umweltbundesamt.de/publikationen/repraesentative-erhebung-von-pro-kopf-verbraeuchen

Mazzucato, Mariana/ Josh Ryan-Collins, 2019: Putting value creation back into ‘public value’: From market fixing to market shaping. UCL Institute for Innovation and Public Purpose, Working Paper Series, IIPP WP 2019-05, https://www.ucl.ac.uk/bartlett/public-purpose/wp2019-05

Müller, Horst, 2005: Sozialwirtschaft als Systemalternative, in: Ders. (Hg.): Das PRAXIS-Konzept im Zentrum gesellschaftskritischer Wissenschaft, Norderstedt, 254-289

Ders., 2010: Zur wert- und reproduktionstheoretischen Grundlegung und Transformation zu einer Ökonomie des Gemeinwesens, in: Ders. (Hg.): Von der Systemkritik zur gesellschaftlichen Transformation, Norderstedt,157-228

Ötsch, Rainald/Heintze, Cornelia/Troost, Axel, 2020: Die Beschäftigungslücke in der sozialen Infrastruktur, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_2-20_Beschaeftigungsluecke.pdf

Redaktion prager frühling, 2009: Ein Beitrag gegen die Krise. Plädoyer der Redaktion für Infrastruktursozialismus, in: prager frühling 4-2009, www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/302.ein-beitrag-gegen-die-krise.html

Schachtschneider, Ulrich/Candeias, Mario, 2013: Kontrovers: Ökologisches Grundeinkommen vs. soziale Infrastruktur und kollektiver Konsum, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/kontrovers-oekologisches-grundeinkommen-2/

SPW – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 2019: Von der Kapitallogik zur gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie, Heft 235, www.spw.de/xd/public/content/index.html?sid=heftarchiv&year=2019&bookletid=176

Streeck, Wolfgang, 2019: Vorwort, in: Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M., 7–32

Wohlfahrt, Norbert, 2015: Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen – Die Ökonomisierung sozialer Dienste, in: LuXemburg 1/2015, www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-geschaeft-mit-grundbeduerfnissen/

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.

Moritz Warnke ist Referent für Soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur dieser Zeitschrift. Er ist im Landesvorstand der Berliner LINKEN und vertritt den Landesverband in der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«.

Eva Völpel arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für Wirtschaftspolitik.

Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist im Netzwerk Care Revolution aktiv und arbeitet zu Fragen von Sorgearbeit und Feminismus.

Hannah Schurian ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg. Sie ist Redakteurin dieser Zeitschrift.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/reichtum-des-oeffentlichen

#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor, so dass weitere Einschränkungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu befürchten sind. Zeit, den Sozialstaat und seine Finanzierung gründlich zu erneuern, schreiben die Autor:innen. Dabei geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Der Artikel zeigt, vor welchen Herausforderungen die sozialen Sicherungssysteme stehen, wie ein Sozialstaat aussehen kann, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist und wo schon jetzt ganz konkret um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen gekämpft wird.

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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Öffentliche Dienstleistungen und die Daseinsvorsorge stehen seit einigen Jahren unter Druck. Lange wurden Ausgaben massiv gekürzt, Leistungen reduziert und wurde Personal abgebaut. In den letzten Jahren hat sich dieses Bild zwar teilweise etwas verändert, wie einzelne Rekommunalisierungen wie etwa der Berliner Wasserbetriebe ebenso zeigen wie eine auch konjunkturell bedingte bessere Finanzsituation der öffentlichen Hand. Außerdem übernimmt der Bund vermehrt zumindest Teilkosten, für die ehemals Länder oder Kommunen allein verantwortlich waren, etwa im Bereich der frühkindlichen Bildung.

Allerdings zeigt sich auch, dass die Ungleichheit zwischen Städten und Gemeinden, zwischen urbanen und ländlichen Räumen und auch innerhalb von Städten zugenommen hat. Insgesamt ist eine wachsende sozialräumliche Polarisierung zu beobachten und die grundgesetzlich eigentlich garantierte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nicht mehr gegeben, wenn in einigen Regionen Leistungen der Daseinsvorsorge wie zum Beispiel öffentlicher Personennahverkehr nicht mehr oder nur noch zu sehr ausgedünnten Taktzeiten angeboten wird. Die wachsende finanzielle Kluft zwischen Kommunen zeigt sich auch beim Investitionsrückstand und den öffentlichen Investitionen.

Michael Panse / flickr / CC BY-ND 2.0

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Die Solidarität der Städte

Orte einer neuen politischen Phantasie

Januar 2019 • Mario Neumann

Tobias Rademacher / unsplash

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Migration, Rekommunalisierung#Migration #Rekommunalisierung

Der 2017 verstorbene Zygmunt Bauman attestiert in seinem letzten zu Lebzeiten vollendeten Buch eine «globale Epidemie der Nostalgie». Gemeint ist damit, dass quer zu allen politischen Zugehörigkeiten eine Umkehrung der Idee von Veränderung zu beobachten sei. Politische Utopien sind nicht mehr länger Visionen einer zu gewinnenden und noch zu entdeckenden Zukunft, sondern bedienen sich aus einer «untoten» und verklärten Vergangenheit, zu der sie zurückkehren wollen. In einer globalisierten, verflochtenen und chaotischen Situation – so seine Diagnose – erscheint daher auch vielen Linken die Rückkehr zur «territorialen Souveränität» und zu einer Zeit wohlfahrtstaatlich geschützter Heimat als Retropie – als eine Vergangenheit also, die zum politischen Gegenentwurf zur unheilvollen Gegenwart und bedrohlichen Zukunft taugen soll. (Bauman 2017)

Und in der Tat genügt ein Blick in gegenwärtige linke Debatten auf dem Feld der Migrationspolitik, um diese These zumindest nicht direkt zu verwerfen. Da wird nämlich nicht selten ein Gegensatz konstruiert, in dem alle widersprüchlichen, globalen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ausschließlich als Verstärker oder Katalysatoren neoliberaler Globalisierung klassifiziert werden - und wo diese letztlich eine bloße Verfallsgeschichte zu sein scheint, in der die sozialen Kämpfe der letzten Jahrzehnte keinerlei Spuren hinterlassen haben. (Mezzadra und Neumann 2017) Einziger Maßstab der Utopie ist darin die Vergangenheit des nationalen Wohlfahrtsstaates.

Die Kritik an nationaler Zugehörigkeit wird dann als «Kosmopolitismus», die Migrationsbewegungen als Teil einer «neoliberalen Open-Border-Politik» und das der Vielfalt in den Metropolen entsprechende Bewusstsein als das einer «urbanen Mittelschicht» abgetan. Dieser Diskurs produziert schon in seinen Grundstrukturen letztlich das, was Bauman behauptet: Gegenwart und Zukunft scheinen nur mit den Instrumenten der Vergangenheit zu bändigen, weil alle ihre Prozesse einseitig ins Negative weisen. Und die Rückkehr zu dieser Vergangenheit ist letztlich – auch wenn sie als «kommunitaristisch» verklärt wird – ein Prozess der Renationalisierung und Rückgewinnung von nationaler Souveränität. Darin verspielt die Linke zugunsten des «Untoten» eine Kraft, die sie aus den lebendigen sozialen Kämpfen der Gegenwart gewinnen könnte, allen voran jene der Migrationsbewegungen.

Think glokal!

Doch es gibt Auswege aus «Retrotopia», politische Möglichkeiten jenseits der Wahl zwischen einer schlechten Gegenwart und einer verklärten Vergangenheit. Bewegte Ideen, die nicht zwischen einem «kommunitaristischen» Nationalen oder einem «kosmopolitischen», aber abstrakten Weltbürgertum wählen. Politiken, in denen das Lokale und das Globale nicht als Widerspruch konzipiert und dann letztlich vom Nationalen durchschnitten werden – und wo folglich Migration nicht als permanentes Außen, sondern als konstitutives Innen mitgedacht wird – als eine Kraft der Demokratisierung. Es ist noch viel zu tun, aber: Die Konzepte und realen Praxen Solidarischer Städte sind auf dem Vormarsch – und sie scheinen zumindest potentiell Orte einer wirksamen linken Opposition gegen den autoritären Neoliberalismus zu sein.

Ada Colau, ehemalige Aktivistin der PAH, Mitglied der Büger*inneninitiative «Barcelona en Comu» und heute Bürgermeisterin von Barcelona drückte es kürzlich in Vermont auf Einladung von Bernie Sanders bei einer Rede über die Erfahrungen des Munizipalismus in Spanien folgendermaßen aus: «We need a new way of doing politics. We decided to start at the local level … We needed to provide real and concrete solutions through actions, that change peoples live … The local level is the best place to improve democracy. It‘s where we live our daily lives and where the government is close to the people.» Und in der Tat: Städte sind Orte einer konkreten Utopie von unten, die aus gelebter Praxis entsteht und die gegenwärtigen Kämpfe der Migration und der Solidarität in sich aufnimmt und weiterentwickelt. Sie können lebendige Laboratorien und Umschlagplätze einer Politik von unten sein. Darin überkreuzen sich die Debatten um Solidarity Cities mit denen um einen neuen Munizipalismus (Brunner u. a. 2017). Sie werden jedoch nur dann solche Orte sein, wenn damit nicht der Verzicht auf nationale und transnationale Politik gemeint ist – oder sogar der Rückzug auf Praktiken, die nur noch auf kleine, konkrete Verbesserungen des Lebens der Vielen abzielen. Vielmehr geht es darum, mit der Kraft solidarischer, migrantischer und alltäglicher Praxen eine neue Phantasie für eine demokratische, soziale Linke zu entwickeln.

Jenseits der Gewalt des Nationalen: Alle, die hier sind, sind von hier

Das Plädoyer für eine Linke der Städte ist daher kein Versuch, den Rückzug auf den Nationalstaat nun mit einem Rückzug auf das Kommunale zu unterbieten. Die Rechnung geht andersherum: Eine Politik der Städte hat sowohl eine lokale als auch eine transnationale Dimension. Städte sind lokale Orte der Globalisierung und damit Orte eines sozialen und politischen Gemeinsamen, die den Nationalstaat sowohl unterlaufen als auch übersteigen. Orte, an denen Migration, Differenz und Globalisierung von unten eine alltägliche Realität und unumkehrbare Gegenwart sind – und damit eine weitaus plausiblere Geschäftsgrundlage lokaler Politik als die politische Gewalt des Nationalen, die von hieraus als ebensolche durchschaut werden kann.

Anstatt also der allgegenwärtigen Fokussierung auf die Nation mit dem abstrakten Sprung in die Weltpolitik zu begegnen, entdecken die Praxen der solidarischen Städte das Globale im Lokalen. Sie bestreiten nicht, dass der Nationalstaat ein bedeutendes Terrain politischer Auseinandersetzung ist. Aber sie bestreiten entschieden, dass die durch Staatsbürgerschaft, stratifizierte Rechte und Aufenthaltsgesetze gelegten «Grenzen der Demokratie» (Balibar 1993) als Bedingungen demokratischer Politik akzeptiert werden müssen. Der Nationalstaat bleibt ein Terrain der Auseinandersetzung, jedoch ohne die von ihm produzierten politischen Formen und hierarchisierten Gruppen zu übernehmen. Der Macht des Nationalstaates, über Zuwanderungsgesetze, Asylrecht oder Staatsbürgerschaft soziale und politische Rechte zu definieren, wird das universelle Recht aller Anwesenden und Ankommenden entgegengesetzt und zur unhintergehbaren Grundlage des Politischen gemacht.

Soziale Rechte und demokratische Politik werden so tendenziell von der staatsbürgerlichen Zugehörigkeit und den verschiedenen politischen Setzungen des Nationalstaates entkoppelt: Alle, die hier sind, sind von hier – die politische Gemeinschaft wird nicht vom Staat definiert, sondern besteht aus allen Anwesenden. Dieses Paradigma strahlt von der Stadt in die Welt und kann sich in (trans)nationale Politiken übersetzen – davon zeugt die Aufmerksamkeit, die Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando für seinen vielzitierten Satz europaweit generierte: «Wenn Sie fragen, wie viele Flüchtlinge in Palermo leben, antworte ich nicht: 60 000 oder 100 000. Sondern: keine. Wer nach Palermo kommt, ist ein Palermitaner.»(NZZ 2017)

Was ist eine Solidarische Stadt?

Solidarische Städte und ihre konkreten Politiken sind mittlerweile auch in Europa in aller Munde. Sowohl in Spanien (wo in Barcelona eine munizipalistische Bewegung die Stadtregierung unter Ada Colau stellt) als auch in Italien (wo einzelne Bürgermeister*innen in Riace, Palermo, Neapel und anderswo für Aufsehen sorgten und sich als «solidarische Städte» gegen Innenminister Salvini auflehnen) gibt es eine neue Konjunktur einer politischen Opposition, die sich nicht einfach auf eine Zugehörigkeit im nationalen System der Repräsentation beschränkt, sondern an konkrete lokale Praktiken und Regierungen gebunden ist. Verschiedene Netzwerke entstehen, in denen sich einerseits progressive Stadtregierungen, andererseits Basisinitiativen und soziale Bewegungen zusammenschließen.

Ausgangspunkt vieler Ansätze sind Erfahrungen aus Nordamerika, die seit den 1980er Jahren entwickelt wurden und darin wiederum auf lange politische Diskurse (etwa zum «Urban Citizenship») zurückgreifen konnten. Hier wurde und wird in Städten wie Toronto, New York oder San Francisco eine neue Zusammenarbeit von sozialen Initiativen und Stadtregierungen erprobt, die sich gemeinsam den nationalen Behörden und ihren Ausländerpolitiken widersetzen. Zentraler Ausgangspunkt dieser Bewegung der Sanctuary Cities sind die illegalisierten Einwohner*innen der Stadt – und darin der Versuch, sie einerseits vor Abschiebungen zu schützen und andererseits und darüber hinaus den Zugang zu städtischer Infrastruktur und sozialen Rechten zu organisieren. Die vielfältigen Praktiken reichen dabei von Dienstanweisungen an lokale Behörden, die die Zusammenarbeit mit den nationalen Einwanderungsbehörden verbieten, bis hin zu städtischen Ausweispapieren («City-ID», die an Illegalisierte vergeben wird) und dem legalen Zugang zu Bildung, Gesundheit und Kultur (für eine ausführliche Darstellung vgl. (Bauder 2017; Heuser 2018; Kron und Lebuhn 2018; Mayer 2018). Auch in der BRD sind Städte nicht zum ersten Mal das Terrain einer progressiven Migrationspolitik (vgl. das Interview mit Sabine Hess (2018) in diesem Dossier sowie Hess und Lebuhn 2014)

Utopische Praxis

Bei aller Vielfalt dieser Experimente besitzen sie doch einige Merkmale, die Impulsgeber für die europäischen Debatten über Solidarische Städte sind. Zunächst ist entscheidend, dass der Logik nationalstaatlicher Inklusion und Exklusion eine städtische Demokratie entgegengesetzt wird, die Migration nicht problematisiert, sondern stattdessen in ihrer Faktizität anerkennt und von dort die Notwendigkeit sozialer Rechte und gesellschaftlicher Teilhabe für alle ableitet. In einem nächsten Schritt sind es dann häufig solidarische Initiativen und antirassistische Akteure, die bestimmte Solidaritätspraktiken verallgemeinern wollen oder institutionelle Unterstützung anfordern, die sich in der Regel immer direkt oder indirekt nationalstaatlichen Politiken widersetzen. So kommt es häufig zu einer Herausforderung der Grenzen nationaler Demokratien und zu Projekten ihrer Erweiterung – wie z.B. dem Zugang von illegalisierten Menschen zur Gesundheitsversorgung. Ein zentraler Effekt der erfolgreichen Durchsetzung solcher Politiken ist dann wiederum, dass auch weitere Gruppen von den Maßnahmen profitieren, sie sich so über die Gruppe illegalisierter Personen erweitern. Dies kann auch jüngst in Berlin beobachtet werden, wo sich die Arbeit des «Medibüros» für die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Papiere derzeit in eine offizielle Anlaufstelle weiterentwickelt hat, die auch Obdachlose, EU-Migrant*innen und Menschen, die aus der Krankenkasse geflogen sind, nutzen (Medibüro Berlin 2018). Gleichzeitig besitzen viele Praktiken nicht die Struktur institutionalisierter sozialer Rechte, sondern finden häufig in Grauzonen statt, in denen Behörden, Stadtregierungen und Initiativen miteinander interagieren. (Jungfer und Kopp 2018)

Der Schutz vor Abschiebungen und der Zugang zu sozialen Rechten ist darin ein Ausgangspunkt, der Prozesse einer Demokratisierung der Stadtgesellschaften in Gang setzt und dabei zum Teil neue Sozialpolitiken erkämpft, die auch anderen Gruppen zugute kommt. Ein weiteres Feld, das vor allen Dingen in Europa hinzukommt, ist die Frage, inwieweit Städte an den repressiven Grenzpolitik von EU und Nationalstaaten vorbei Akteure der Neuaufnahme von Migrant*innen sein können. Trotz der rechtlichen Grenzen des wesentlich in nationaler Zuständigkeit liegenden Einwanderungs- und Asylrechts haben viele Städte hier eine bedeutende Rolle gespielt – sowohl in der Auseinandersetzung um sichere Häfen in Italien als auch in der Bewegung für sichere Orte der Ankunft, wie sie beispielsweise die Seebrücken-Bewegung fordert und dabei von mittlerweile über 30 Städten in Deutschland unterstützt wird. Klar ist bei all diesen Prozessen jedoch auch, dass auf lange Sicht die Bereitschaft von Stadtregierungen, sich als «rebellische Städte» in Auseinandersetzungen mit der nationalen Politik zu begeben und sich entsprechend zu solidarischen Städten zu verbinden, ein entscheidendes Kriterium dafür ist, ob sie effektiv eine Rolle in den gesellschaftlichen Kämpfen spielen können.

Hervorbringung neuer Politiken von unten

Natürlich geht es nicht darum, dass Politiken der solidarischen Stadt das Initiativrecht auf Seiten der Basisinitiativen legen würden. Ideen und Kreativität kommen auch mancherorts aus den Rathäusern und Behörden. Nichtsdestotrotz ist es essentiell, dass - von Toronto bis zur Seebrücke – die Phantasie sozialer Initiativen und die konkreten Erfahrungen des Alltags in der Stadt eine zentrale Rolle bei der Hervorbringung neuer politischer Konzepte spielen. Dabei ist es wichtig, einen umfassenden Begriff dieser Kräfte zu entwickeln, anstatt sie auf ein einseitiges Verständnis politischer Bewegungen zu reduzieren. Die solidarischen Praxen der Stadt umfassen diverse Unterstützungsstrukturen, persönliche Solidaritäten, anwaltliche Arbeit, ehrenamtliche und hauptamtliche Sozialarbeit und Gesundheitsversorgung und vieles mehr.

Viele von ihnen sind in ihrem Grundverständnis Akteure einer Post-Zivilgesellschaft: Initiativen, die nicht einseitig auf politische Durchsetzung von Forderungen orientieren, sondern aus guten Gründen eigene, autonome Praxen und damit eine soziale Macht entwickeln und von dort aus Strategien ihrer Stärkung und politischen Durchsetzung auflegen. Sie fragen nicht zuallererst, wie die Gesellschaft durch die Regierung verändert werden kann. Sie fragen, wie die Realität der postmigrantischen Gesellschaft, der Mobilität, der sozialen Heterogenität, der Solidaritätsinitiativen in Politik und soziale Rechte übersetzt werden kann.

Das gleiche gilt für den Beitrag der Migrationsbewegungen zu den innovativen Praktiken: Es ist die Autonomie der Migration und ihre Unaufhaltsamkeit, die über die Anwesenheit der Migrant*innen das Außen der globalisierten Welt in das Innere der Städte holt – und damit eine neue politische Konstellation ermöglicht, in der Akteure sich nicht mit dem Nationalstaat und seinem Wunsch nach Migrationskontrolle identifizieren, sondern mit den sozialen Bedürfnissen ihrer Nachbar*innen. Die Stadt ist so gesehen eine Chiffre für eine Politik, die die sozialen Beziehungen und das Zusammenleben der Vielen zu einem Ausgangspunkt macht: Die politische Utopie kommt aus der sozialen Realität. Eine Politik der Städte erkennt die Zusammensetzung der Stadt, ihre Offenheit und ihre postmigrantische Realität bedingungslos an. Sie kann zeigen, dass die Nation nichts Natürliches ist, sondern die Praxis der Hierarchisierung von Menschen und Rechten als eine politische Technik entzaubern. So werden – idealtypisch – neue soziale Rechte durch Migrationsprozesse und solidarische Praktiken von unten produziert.

Chance für die Linke

Solidarische Städte sind Orte, an denen neue linke Politiken erprobt und entwickelt werden können. In der Stadt kehrt sich das Verhältnis von Bewegungen und Politik auf eine produktive Weise um. Regierungen sind Teil einer umfassenden Strategie sozialer Veränderung, die sich auf die faktischen Realitäten in der Stadt stützen kann: Die Bedeutung der Migration, die Existenz solidarischer Initiativen und der Alltag einer Gesellschaft, der aus sich heraus die Natürlichkeit des Nationalen herausfordert und dechiffriert. Ihr Ausgangspunkt ist die Realität des alltäglichen Lebens – die soziale, kulturelle und politische Faktizität der Gesellschaft der Vielen. Städte und ihre Kämpfe können also für die Linke eine methodologische Bedeutung haben, weil sie die Orte sind, an denen soziale Praktiken politisch ausgespielt werden können und die Frage ihrer Übersetzung in neue politische Formen gestellt wird. Diese Prozesse können beispielhaft und vorbildlich sein für die Entdeckung neuer politischer Formen in Stadt, Land, Bundespolitik und darüber hinaus.

Die Grundstruktur der Praxis solidarischer Städte gibt eine konzeptuelle Antwort darauf, wie linke Politik sich aus den Widersprüchen ihres gegenwärtigen Denkens lösen kann. Sie zeigt, wie Migration und Alltagssolidarität als Kräfte der Transformation wirken können und wie die «soziale Frage» nicht bloß gestellt, sondern von links beantwortet und zur Frage der Demokratie in Beziehung gesetzt werden kann. Sie öffnen einen Raum, in dem Narrative und konkrete Projekte entwickelt werden können, wo institutionelle Politiken und Solidaritätsstrukturen interagieren, wo lokale und transnationale Räume sich kreuzen und Bewegung und Regierung in ein neues Verhältnis treten. Das alles löst die Widersprüche darin nicht auf, kann und soll Konflikte nicht stillstellen – erst Recht nicht den zwischen den Institutionen und den Basisakteuren. Sie sind jedoch ein Mechanismus, diese Widersprüche produktiv zu machen.

Solidarische Städte sind keine geschlossene Utopie. Sie sind keine Lösung, aber ein Beginn einer anderen Politik der Übersetzung von unten nach oben, der Konstituierung der Städte als politische Akteure und einer linken Migrationspolitik, die aus dem Paradigma der Integration ausbricht. Dass das alles nicht so einfach geht? Ist klar. Bewegungen und Regierungen können manchmal interagieren, doch niemals eine Einheit sein. Stadtregierungen sind nicht nur Umschlagsplätze für eine Politik von unten, sondern sogar bei besten Absichten den Zwängen des Nationalstaates und der Logik der Institutionen verhaftet. Können Städte rebellieren?

  Mario Neumann ist Politikwissenschaftler und Aktivist aus Berlin. Er ist im Netzwerk «We'll Come United» aktiv, arbeitet an der Universität Kassel und ist gemeinsam mit Sandro Mezzadra Autor von «Jenseits von Interesse und Identität: Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968» (Laika-Verlag).

Literaturangaben:

  • Balibar, Etienne (1993): Die Grenzen der Demokratie. Argument-Verlag.
  • Bauder, Harald (2017): «Sanctuary Cities: Policies and Practices in International Perspective». In: International Migration. 55 (2), S. 174–187.
  • Bauman, Zygmunt (2017): Retrotopia. Erste Auflage, Sonderdruck, Deutsche Erstausgabe. Berlin: Suhrkamp (edition suhrkamp Sonderdruck).
  • Brunner, Christoph; Kubaczek, Niki; Mulvaney, Kelly; u. a. (2017): Die neuen Munizipalismen Soziale Bewegung und die Regierung der Städte.
  • Hess, Sabine (2018): «Es gibt auch in Deutschland eine Kontinuität städtischen Ungehorsams» - RLS
  • Hess, Sabine; Lebuhn, Hendrik (2014): «Politiken der Bürgerschaft. Zur Forschungsgeschichte um Migration, Stadt und Citizenship». In: suburban. zeitschrift für kritische stadtforschung. 2 (3), S. 11–34.
  • Heuser, Helene (2018): «Sanctuary Cities in der BRD – Netzwerk Fluchtforschung»
  • Jungfer, Eberhard; Kopp, Hagen (2018): «‹Umkämpfte Räume› – Mit Solidarity Cities für Bewegungsfreiheit und gleiche soziale Rechte für alle». express- Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. 2018.
  • Kron, Stefanie; Lebuhn, Hendrik (2018): «Solidarische Städte: Globale Soziale Rechte und das Recht auf Mobilität» - RLS
  • Mayer, Margit (2018): «Cities as sites of refuge and resistancex. In: European Urban and Regional Studies. 25 (3), S. 232–249, doi: 10.1177/0969776417729963.
  • Medibüro Berlin (2018): «Anonymer Krankenschein» - Medibüro
  • Mezzadra, Sandro; Neumann, Mario (2017): Jenseits von Interesse und Identität Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968. laika.
  • NZZ (2017): «Wie Palermos Bürgermeister vom Mafiajäger zum Flüchtlingsvater wurde»

#Migration #Rekommunalisierung

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«Solidarische Städte» sind nicht bloß eine kommunalpolitische Antwort auf globale Migrationsbewegungen. Als konkrete Utopien können sie einen Paradigmenwechsel begründen, der eine Antwort auf die Krise der politischen Linken bietet – weil sie das Nationale von innen und von unten herausfordern und darin Migration als Kraft umfassender gesellschaftlicher Transformation sichtbar machen..

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«Alles Weitere bei einer Tasse Tee»

Wie kann eine linke Stadtpolitik aus der Perspektive der Migration aussehen?

November 2018

Andrej Holm und Sandy Kaltenborn

Andrej Holm und Sandy Kaltenborn

Migration, Rekommunalisierung#Migration #Rekommunalisierung

«Missverhältnis in der Repräsentation»

Piening: Sandy, reicht dieses Mitgedacht-Werden aus für Sichtbarmachen in Deinem Sinne?

Kaltenborn: Es bleibt ein Ungleichgewicht in der Repräsentation. Wenn man auf die aktivistischen Kreise schaut - Wer ist da wie sprechfähig? Welche Initiativen treten mit was für einer Geschwindigkeit an die Öffentlichkeit? - dann sind das oft Leute aus der Mittelschicht ohne internationalen Hintergrund. Das bildet sich auch in den Themen ab. Derzeit ist in Berlin das Vorkaufsrecht ein großes Thema. Dabei reden wir aktuell über 13 Häuser! Das steht in keinem Verhältnis zu den 3000 Wohnungen in der Wassertorsiedlung hier am Kottbusser Tor, wo hauptsächlich arme Menschen mit einem internationalen Hintergrund wohnen. Das ist ein Missverhältnis. Die Aufmerksamkeitsökonomie in linken Publikationen und der Presse konzentriert sich sehr auf einzelne Häuser, wo doch Wohnungsgesellschaften wie die Deutsche Wohnen oder die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und der Soziale Wohnungsbau die quantitativ strukturell wichtigere Perspektive wären.

Piening: Dazu kommt eine weitere Entwicklung seit 2015. Bewegungen wie Solidarity Cities haben Geflüchtete und dabei besonders die Undokumentierten im Fokus. Fällt der «Sozialmieter» am Kottbusser Tor nun wieder hinten runter?

Kaltenborn: Bei den Linken und auch den antirassistischen Initiativen gibt es die unterschiedlichsten Konjunkturen zu Rassismus und Migrationspolitik. Aktuell sind es u.a. die Solidarity Cities. Bei aller Skepsis solchen Konjunkturen gegenüber, kann dies aber auch ein guter Katalysator sein, die verschiedenen Fragestellungen miteinander zu verschränken. Konkret heißt das, man sollte nicht nur auf die aktuelle Fluchtbewegung schauen, sondern sie im Kontext des zivilisierenden Charakters von Migration im Allgemeinen zusammen denken und bearbeiten. Dies ist noch nicht einmal eine linke Position, sondern findet sich aktuell z.B. auch in der Präambel des UN-Migrationspakts als Faktum wieder – kurz: man sollte aufhören, Gesellschaften jenseits der Frage der Migration zu denken.

Piening: Selbst in einer von Einwanderung geprägten Stadt wie Berlin ist demnach eine angemessene Repräsentation migrantischer Perspektiven auch in linken Bewegungen keine Selbstverständlichkeit und muss immer wieder hergestellt werden. Verliert sich diese Perspektive endgültig dann, wenn es in und um die Institutionen geht? Wie ist das Zusammenspiel von Bewegung und Stadtpolitik? Und versteht es die LINKE bzw. der Berliner R2G-Senat, diese Kraft und Lösungskompetenz der diversen Stadtgesellschaft zu nutzen?

Kaltenborn: Wir, die mieten- und stadtpolitischen Initiativen sind die treibende Kraft einer sozialen Stadtentwicklung, wir haben die großen Projekte angeschoben und nicht die Politik. Wir haben die Stadt zum Besseren bewegt, die Impulse sind von uns gekommen. Das ist unser Selbstbewusstsein heute. Ob R2G Erfolg hat, wird sich daran festmachen, ob sie lernfähig ist hinsichtlich der Zivilgesellschaft und der Akteure aus diesen Bewegungen. Die zentrale Frage ist, welche Formate des Regierens zwischen Politik, Verwaltung und der Zivilgesellschaft eingerichtet werden können, um nachhaltige Lernprozesse in beide Richtungen zu ermöglichen.

 

Holm: Was hat hier bei Kotti & Co stattgefunden? Ein politischer Akteur, nämlich eine gut organisierte Hausgemeinschaft, hat den Staat zum Gecekondu zitiert und seine Forderung unterstrichen, als Experte anerkannt zu werden. Dahinter kann R2G nicht zurückfallen! Das Versprechen der LINKEN und von Teilen der Grünen ist: Wir wollen diesen Schwung nutzen und wir fühlen uns von diesen sozialen Bewegungen mandatiert.

Piening: Und wie funktioniert es? Wie wird es umgesetzt? Wie fällt Eure Halbzeitbilanz aus?

Holm: Das ist zutiefst von widersprüchlichen Erfahrungen geprägt. Es ist von Vorteil, dass es persönliche Beziehungen zwischen Aktiven und denen gibt, die bis vor zwei Jahren Opposition waren und jetzt Verantwortung tragen. Ohne diesen kurzen Draht wäre einer der großen Erfolge hier am Kottbusser Tor, nämlich die Kommunalisierung des Neuen Kreuzberger Zentrums, nicht gelungen.

Erfahrungen mit Rot-Rot-Grün

Darüber hinaus gibt es eine Tendenz, den Initiativen die Türen in regierungsnahe Abstimmungsrunden zu öffnen. Wir haben die Kungelrunden zwischen Politik und Wohnungs- und Bauwirtschaft jahrelang kritisiert und jetzt heißt es: «Mietshäusersyndikat, Genossenschaften, kritische Wissenschaft - ihr seid alle eingeladen!» Vor allem in den von der Linken geführten Senatsverwaltungen sind die typischen Verwaltungsexperten und die Lobbyisten der jeweiligen Wirtschaftsbranchen nicht mehr unter sich. Wir können noch nicht ermessen, was genau der Ertrag von solchen Beteiligungen ist. Aber die Teilnahme an einem Begleitkreis der Senatorin entspricht ganz sicher noch nicht den Vorstellungen von einem echten «Stadtmitgestalten», den viele hatten und haben.

Piening: «Der Weg vom Protest zum Programm», wie du es einmal formuliert hast, scheint einige unerwartete Kurven zu haben…

Holm: In den Institutionen hat es jahrelang keine Kompetenz z.B. in Fragen des Sozialen Wohnungsbaus oder einer sozial ausgerichteten Liegenschaftspolitik gegeben. Diese Kompetenz hat sich die Protestkultur erarbeitet und von unten in die Politik eingebracht. Alles, was an konkreten Maßnahmen in den Abschnitten zur Wohnungspolitik in der R2G-Koalitionsvereinbarung steht, kommt aus den stadtpolitischen Initiativen. Es gab keine eigenen Gestaltungsideen der Koalitionspartner, sie griffen auf, was unten vorbereitet war. Und das ist aus meiner Perspektive kein Mangel sondern eine Stärke des Regierungsversprechens von Rot-Rot-Grün.

Im Vergleich zu früheren politischen Konstellationen in Berlin gibt es zurzeit eigentlich keinen Dissens zwischen stadt- und wohnungspolitischen Basisbewegungen und den Regierenden. Die Geister scheiden sich vor allem an der Frage, wie, wie schnell und wie konsequent eine soziale Stadtpolitik implementiert werden kann. Die LINKE droht in das klassische Muster zurückzufallen, und immer mal wieder ist zu hören, dass alles schwer durchzusetzen sei, weil die Koalitionspartner sich quer stellen oder weil die Verwaltung nicht will. Das ist auch für die Initiativen eine neue Situation. Mit diesen praktischen Implementierungsfragen konnten sich die Bewegungen in Berlin bisher gar nicht beschäftigen, wir waren ja ständig dabei, unser Programm an die Politik zu adressieren. Jetzt kommt die Anforderung, dass wir uns an der Umsetzung beteiligen.

Kaltenborn: Es sind zähe Lernprozesse. Das liegt auch an den lebensweltlichen Kontexten linker Politiker. Wir haben die Expertise, wir haben neue Formate entwickelt - und dann erleben wir Verwaltungen, wo man sich fragt, wo leben die eigentlich? Dieses organische Wissen der Bewegung fehlt vielen politischen Verantwortungsträger*innen. Das ist auch nicht verwunderlich. Wer von den LINKEN hat denn teilgenommen an den sozialen Kämpfen? Wer war auf den Kotti-Lärm-Demonstrationen, im Gecekondu? Nicht viele haben wirklich verstanden, was es heißt, dass wir die Stadt gestalten. Wenn nach wie vor bei allen Parteien die Vorstellung herrscht, dass sie die  Gestalter sind, hat das auch biografische Gründe. Darum ist die Frage entscheidend, welche Menschen mit welchen Hintergründen und welchem Wissen in die Institutionen geholt werden - in die Verwaltung, in die Politik, in die Hochschulen.

Piening: Die Stadt als «Motor der Transformation» - das ist derzeit ein Schlagwort in vielen linken Diskussionen. Nation, supranationale Strukturen scheinen keine Rolle mehr zu spielen. Aber auch rebellische Städte stoßen an Grenzen nationaler und internationaler Restriktionen. Beschneidet sich die Bewegung nicht selbst, wenn sie das «drumherum» außer Acht lässt?

Holm: Die sozialen Kämpfe sind immer da, wo man gerade ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass Städte nicht nur Voraussetzung und Ergebnis von Machtverhältnissen sind, sondern auch die Arena, in der die Konflikte ausgetragen werden. Hobsbawm hat ganz simpel erklärt, warum Revolutionen immer in den Städten ihren Ausgangspunkt hatten: Weil da die Menge zusammenkommt und weil die Orte der Herrschaft gut zu erreichen sind. Das gilt im übertragenden Sinne immer noch. Konflikte werden sichtbarer in Städten. Verhältnisse schlagen sich unmittelbar in deinem Alltag nieder, nicht vermittelt durch eine abstrakte Struktur. Deshalb ist die Stadt Inkubator und Beschleuniger von vielen Konflikten, was aber nicht bedeutet, dass es in anderen Konstellationen keine Bewegung gibt. Gerade in den grenzregime-bezogenen Diskussionen sehen wir, wie nationale Organisationen unfähig sind, Lösungspotentiale zu finden. Darum ist ja mit der Ermächtigung von Städten als politischen Körperschaften so viel Hoffnung verbunden. Die Stadt ist die politische Einheit, in der sich die politischen Machtverhältnisse schneller und sichtbarer verschieben können. Bewegungen in der Stadt nutzen die Vielfalt und die hohen Verdichtungen, die in anderen räumlichen Konstellationen schwerer herzustellen sind.

«Versprechen auf die Gesellschaft von morgen»

Kaltenborn: Das neue Selbstbewusstsein der stadtpolitischen Bewegungen, das etwa in den Diskussionen um Munizipalismus deutlich wird, hat doch Ursachen. Unsere Kämpfe sind verhältnismäßig erfolgreich und sie strahlen in die Fläche aus. In der Stadt lassen sich die Kämpfe der Migration von den sozialen Kämpfen nicht trennen. Daraus entstehen die Lernprozesse und die neuen Perspektiven. Kotti & Co macht ja nicht «nur» Mietenpolitik, sondern Politik für den Alltag, für das Leben. Damit werfen wir die Frage auf: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Solche Prozesse laufen an vielen Stellen. Beispiel Volksentscheide: Das sind vollkommen unterschiedliche Themen, ganz unterschiedliche Kämpfe, die hier ihren Ausdruck finden, aber sie kommen zusammen, haben sich beraten und vernetzt. Da wird Solidarität mit anderen Kampffeldern gelebt.

Holm: Die Problemlagen, die aus städtischen Alltagserfahrungen wachsen, unterscheiden sich ja nicht grundlegend von anderen Fragestellungen in der Gesellschaft: Diskriminierung, Offenheit, Anerkennung von Differenzen und Lebensentwürfen, die verheerende Wirkung einer Marktorientierung, der Ruf nach öffentlicher Verantwortung und das Bedürfnis mitzubestimmen.  Das kann ich im Mikrokonflikt thematisieren und zu einer gesellschaftlichen Utopie weiterdenken. Die städtischen Protestbewegungen sind Versprechungen auf die Gesellschaft von morgen.

Auf der nationalen oder gar europäischen Ebene kann ich mir kaum vorstellen, dass eine Bewegung, die eher horizontal organisiert ist und auf basisdemokratische Elemente setzt, diese Durchschlagskraft bekommt. Beim derzeitigen Stand an Organisationsgraden hat die Stadt die passende Reichweite, um die Prozesse in der politischen Arena kontrollierbar zu halten. Wir beobachten das in Spanien. Das, was Barcelona En Comú erreicht, ist wesentlich attraktiver als das, was PODEMOS auf der nationalen Ebene hervorbringt. Das liegt ja nicht daran, dass die einen eine bessere Idee haben oder bessere Leute. Viel von dem Versprechen, Gesellschaft gemeinsam zu gestalten und Machtverhältnisse ins Wanken zu bringen, erscheint im Lokalen noch halbwegs möglich, aber je höher die Ebene, umso unwahrscheinlicher wird es.

Piening: Bleibt das nicht unbefriedigend? Die Antiglobalisierungsbewegung nahm wenigstens das Ganze in den Blick. Wo bleibt die große Transformation im globalisierten Kapitalismus?

Holm: Naja, jenseits kurzfristiger Mobilisierung war die Antiglobalisierungsbewegung ja nicht gerade sehr erfolgreich. Sie hatten im Unterschied zu den stadtpolitischen Bewegungen wohl zu wenig Bodenhaftung. Stadtpolitische Bewegung ist keine Weltrevolution. Ich bin skeptisch, ob wir mit einer anderen Adressierung - Nation, Europa - mehr erreichen könnten. Da fallen mir vor allem Schwierigkeiten ein, z.B. dass es eher wieder ein Expertending von jenen wird, die die Ressourcen haben …

Kaltenborn: Als wir im Gecekondu gesessen haben, sind Leute aus der ganzen Welt gekommen. Sie wollten politische Lösungen von den Leuten hören, für die sich früher nicht einmal die deutsche Linke interessiert hat. Es gibt Kotti & Co noch, weil die Leute, die vorher kaum sichtbar waren, stolz sind, was erreicht zu haben. Diese Selbstermächtigung, die auf einer ganz kleinen Begegnungsebene aufbaut, ist die Basis jeder Veränderung.

Sandy Kaltenborn, eigentlich Alexander Sandy Paul Omar Abdullah Kaltenborn, ist Kommunikationsdesigner und betreibt das Kommunikationsdesign-Büro image-shift am Kottbusser Tor in Berlin. Er war bei Kanak Attak aktiv und setzt
sich in Ausstellungen, Videos, Plakaten und Aktionen mit Praktiken
urbaner Aneignung auseinander.

Andrej Holm ist
Soziologe, Stadtforscher, Aktivist. Holm ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Humboldt Universität (derzeit beurlaubt) mit den
Forschungsschwerpunkten Gentrifizierung, Wohnungspolitik im
internationalen Vergleich und Europäische Stadtpolitik. Seit 2017 berät Holm die Senatsverwaltung als Mitglied des «Begleitkreises zum
Stadtentwicklungsplan Wohnen 2030».

Website von Kotti & Co

Film zu Kotti & Co (2016)

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://www.rosalux.de/publikation/id/39629/alles-weitere-bei-einer-tasse-tee

#Migration #Rekommunalisierung

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«Linke Stadtpolitik aus der Perspektive der Migration entwickeln» - das ist ein Standardsatz im Repertoire der aufgeklärten Linken. Aber was heißt das konkret, welche Haltungen, Allianzen, Akteursgruppen kommen wie ins Spiel? Fragen an den Stadtforscher Andrej Holm und den Designer Sandy Kaltenborn von Kotti & Co.

Andrej Holm und Sandy Kaltenborn

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Bewegung in der unternehmerischen Stadt

Wie sich das Terrain verändert hat

Juli 2019 • Margit Mayer

Foto: Dan Burton / Unsplash

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Wohnen, Krise, Organisierung, Rekommunalisierung#Wohnen #Krise #Organisierung #Rekommunalisierung

Die Auseinandersetzungen, die heute im und um den städtischen Raum ausgetragen werden, unterscheiden sich in wichtigen Dimensionen von früheren. Urbane Proteste und Bewegungen manifestieren sich spätestens seit der Französischen Revolution, als solche wahrgenommen wurden sie erst ab den 1960er und vor allem 1970er Jahren, als Sozialwissenschaftler wie Manuel Castells und Henri Lefebvre sie zu Forschungsgegenständen machten und als politische Subjekte analysierten. Konzepte und Theorien über städtische Bewegungen wurden vornehmlich an den – heute würden wir sagen: fordistisch geprägten – Kontexten und Konflikten dieser Zeit entwickelt. Der fordistische Urbanismus war allerdings ein sehr spezifischer historischer Moment. Er prägte das Aufbegehren der Bewegungen gegen die technokratische Zurichtung und die daraus resultierende »Unwirtlichkeit unserer Städte« (Mitscherlich 1965).

Die städtischen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre waren Teil eines Protestzyklus, der sich aus der Kritik am Fordismus und den ihm eigenen Produktions-, Regierungs- und Lebensweisen entwickelte. Die Funktion der Städte und die Bedingungen städtischen Lebens spielten dabei zentrale Rollen. Der Angelpunkt der Kämpfe hatte sich von der »produktiven« hin zur »reproduktiven Sphäre« mit ihren öffentlichen Infrastrukturen und Dienstleistungen verschoben, deren kulturelle Normen genauso hinterfragt wurden wie ihr Preis und ihre Qualität. Die Bewegungen forderten nicht nur eine Verbesserung dieser Einrichtungen des kollektiven Konsums, sondern auch eine stärkere Beteiligung an deren Gestaltung. Während sie so auf eine am Gebrauchswert orientierte Stadt drängten, entwickelten sie selbst autonome lokale Szenen und Projekte gegen die Standardisierung und einseitige Planung von Lebens-, Kultur- und Arbeitsweisen. In vielen Städten entstand eine dynamische Bewegungsinfrastruktur von Stadtteil- und Jugendzentren, Kinderläden, Gesundheitszentren und anderen selbstverwalteten Projekten. Die Bewegungen richteten sich also gegen die »keynesianische Stadt«, in der ein Großteil der sozialen Reproduktion vom (lokalen) Staat übernommen wird, weshalb zeitgenössische Autor*innen das Städtische explizit in Kategorien kollektiven Konsums definierten (vgl. Castells 1983). Heute, nach mehreren Runden neoliberaler Umstrukturierung, agieren die städtischen Bewegungen in einem völlig anderen Setting. Sie konfrontieren keine »keynesianische« Stadt mehr. Auf die Rollback-Phase der 1980er Jahre, in der der keynesianische Wohlfahrtsstaat geschliffen wurde, und die Rollout-Phase der 1990er Jahre, in der die Folgen dieser Sparpolitik durch flankierende Maßnahmen abgemildert werden sollten, folgte die durch die Finanz- und Wirtschaftskrise geprägte Phase der Austerität. Entscheidende Dimensionen der Stadtpolitik werden heute weniger von kommunalpolitischen Institutionen als von zunehmend globalen Wirtschafts-, Finanz- und Immobilieninteressen bestimmt. Statt zentral regulierter wohlfahrtsstaatlicher Politik sehen sich die Bewegungen multi-skalaren Aktivierungsstrategien – und machtvollen privaten Developern und Investoren gegenüber. Die Aufgabe von Stadtpolitik hat sich darauf verengt, das (ungezügelte) Wirken »des Markts« zu ermöglichen – was inzwischen aber auch Gegenwehr hervorruft.

Vier Merkmale kennzeichnen die heutige Neoliberalisierung des Städtischen bzw. der Stadtpolitik

1 | Nach wie vor ist der neoliberale Urbanismus bestimmt vom obersten Ziel, Wachstum zu befördern. Um sich in der verschärften interurbanen Konkurrenz gut zu platzieren, bemühen sich Lokalpolitiker*innen, Investitionsströme in ihre Stadt zu schleusen. In dieser Konkurrenz können nicht alle Städte gewinnen, doch sie hat überall Bodennutzungsentscheidungen hervorgebracht, die auf die größtmögliche Renditeerwartung setzen und somit für die Ausbreitung von Gentrifizierung, neuer privatisierter Enklaven für den Elitenkonsum und desinfizierter Räume sozialer Reproduktion sorgen. Diese Wachstumspolitik (häufig angeheizt durch internationale Boden- und Immobilienspekulation) hat nicht nur die gebaute Umwelt transformiert, sondern auch die Boden- und Immobilienpreise explodieren lassen, was Verdrängungsprozesse, vermehrte Räumungen und eine neue Wohnungs- und Obdachlosigkeitskrise zur Folge hat. Im Gegensatz zu den führenden Global Cities sehen sich die meisten »normalen« Städte schrumpfenden Haushalten gegenüber. Sie können das Wachstum also kaum noch mithilfe der in den 1980er Jahren gängigen Standortpolitik beflügeln, die auf teure Groß-Events wie Gartenshows oder Bauausstellungen setzte. Stattdessen haben sie sich eher symbolischen, preisgünstigen Formen der Standortpolitik zugewandt, um ihr lokales Flair aufzumöbeln und »kreative Klassen« und in der Folge auch Investoren anzuziehen, darunter so simple Maßnahmen wie erleichterte Vorschriften für die Gründung von Internetcafés. Solche innovativen, zunehmend kulturellen Branding-Strategien kommen unter anderem alternativen und subkulturellen Bewegungen zugute. Stadtmanager*innen haben festgestellt, dass sich solche Bewegungen als nützlich für Vermarktungsstrategien erweisen und leicht in »Kreative-Stadt-Projekte« eingepasst werden können.

2 | Städte haben in mehr und mehr Bereichen ihres Regierungshandelns unternehmerische Formen von Governance eingeführt. Sie nutzen dabei nicht nur angeblich effizientere betriebswirtschaftliche Modelle, sondern vergeben immer mehr Aufgaben an private Akteure (in Form von Sub- und Out-Contracting), etwa bei Ausschreibungen für (spekulative) Investitionsprojekte oder die Entwicklung bestimmter Stadtteile. Indem Bürgermeister*innen zusammen mit ihren Partnern aus der Wirtschaft für einzelne Projekte spezielle Träger beauftragen oder Public-Private-Partnerships einrichten, werden Stadträte zunehmend umgangen. Hegemonie wird hier, wenn überhaupt, nur über kleinteilige Einbindungen hergestellt. An die Stelle von langfristigen, tripartistisch angelegten Regulierungsmodi treten flexible, ständig wechselnde Zugeständnisse an verschiedene Gruppen. Dieser Trend einer »Projektepolitik« hat die kommunale Planung deutlich verändert und informelle und kooperative Prozesse verankert. Die von der Kommune orchestrierten kooperativen Planungsverfahren beteiligen neben (globalen) Developern und allerlei Experten für technologische, logistische und algorithmische Lösungen vermehrt auch zivilgesellschaftliche Gruppen. Diese Praxis von »Adhocismus« und Informalisierung der Politik verschafft externen und internationalen Akteuren wie Developern und Investoren einen wachsenden Einfluss, eröffnet aber auch neue Zugänge für artikulationsstarke Bewegungsakteure. Die fehlende öffentliche Transparenz dieser Strategie ruft aber auch neue Proteste auf den Plan, weil unberücksichtigte Gruppen sich von der Gestaltung der Stadt ausgeschlossen sehen und gegen die Erosion repräsentativer Demokratie zur Wehr setzen.

3 | Intensivierte Privatisierungsprozesse – sei es von kommunalem Vermögen oder öffentlichen Diensten – nehmen immer extremere Formen an und haben die traditionelle Beziehung und Abgrenzung von öffentlicher und privater Sphäre transformiert. Soziale Einrichtungen wurden abgebaut bzw. reorganisiert und kollektive Dienstleistungen und Infrastrukturen wie Versorgungsunternehmen dem Markt ausgesetzt. Zunehmend wird aus Privatisierung sogar Finanzialisierung, indem kommunale Verkehrssysteme oder Sozialwohnblöcke auf den Finanzmärkten verhökert werden. Bei dieser Plünderung öffentlicher Haushalte werden städtische Ressourcen und öffentliche Dienstleistungen zu Optionen für eine erweiterte Kapitalakkumulation durch Enteignung. Besonders gern haben Städte die Privatisierung öffentlicher Räume vorangetrieben. Je mehr private Räume dem Elitenkonsum gewidmet werden, umso besser kann eine maximale Bodenrente realisiert werden. Dies hat spürbare Effekte auf die Stadtlandschaft: Die Privatisierung von Plätzen, Bahnhöfen und quasi-öffentlichen Einkaufszentren hat den Zugang zu kollektiven Infrastrukturen beschränkt oder verteuert. Längst sind ganze Stadtzentren, von Paris, New York und London bis Hongkong oder Singapur, zu exklusiven »Zitadellen der Eliten« geworden. Gegen diese Einhegungen regt sich vielfältiger Protest, etwa gegen die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen oder für Rekommunalisierungen.

4 | Ein weiteres wichtiges Merkmal ist eine neue Doppelstrategie im Umgang mit der wachsenden sozialräumlichen Polarisierung. In den frühen Phasen der Neoliberalisierung in den 1980er und 1990er Jahren bestanden die einschlägigen Instrumente vor allem aus quartiersbezogenen Revitalisierungs- und Aktivierungsprogrammen, die eine unterstellte Abwärtsspirale in sogenannten Problembezirken aufhalten sollten. Solche Programme sind inzwischen zurückgefahren worden oder werden ersetzt durch eine neue zweigleisige Politik: Sie koppelt einerseits unverblümte Verdrängungsstrategien mit repressiven Maßnahmen und zielt andererseits darauf, mit scheinbar wohlmeinenden Programmen bestimmte ausgewählte verarmte Gebiete und soziale Gruppen in Aufwertungsprozesse einzubeziehen. Die repressiven Instrumente beinhalten Strategien, die unerwünschtes Verhalten sowie unerwünschte Gruppen (wie Obdachlose oder Bettelnde) bestrafen, ebenso wie die Verdrängung unterer Einkommensgruppen in immer entferntere Peripherien oder versteckte Elendsnischen innerhalb der Stadt. Diese punitive Seite der neoliberalen Stadt – mit ihren verschärften Gesetzen, härteren Polizeimaßnahmen, zunehmender Entrechtung – trifft insbesondere Obdachlose, papierlose Migrant*innen, informelle Arbeiter*innen, aber zunehmend auch neue Opfer von Austeritätspolitiken.Die »gutartigen« Instrumente dagegen kommen in Gebieten zum Einsatz, wo sich ein neues Entwicklungspotenzial abzeichnet: alte Industriegebiete oder verfallende Sozialwohnungsbezirke, also eigentlich stigmatisierte Gegenden. Wenn sie günstig gelegen sind, werden sie zu Standorten von Entwicklungsprojekten, die laut Versprechen des Stadtmanagements auch den Anwohner*innen zugutekommen sollen. Diese Strategien greifen nur dort, wo erfolgreiche Verwertungsprozesse, also ein Ansteigen von Immobilienpreisen und Investitionen, winken. Sobald es gelingt, die erwünschte hochpreisige Klientel anzuziehen – häufig durch Vermarktung des vorgefundenen »wilden Urbanismus«, des authentischen Arbeiterklassenmilieus oder der hippen »kulturellen Authentizität« – werden die ärmeren Bewohner*innen verdrängt. Häufig sind begleitende partizipatorische Verfahren vorgesehen, um die antizipierten Konflikte um die gegensätzlichen Interessen kleinzuarbeiten.

Aktuelle Konflikte und Kämpfe um die neoliberale Stadt

Die vielfältigen und vielschichtigen, mit der neoliberalen Stadtentwicklung einhergehenden Ausgrenzungs-, Verdrängungs-, Enteignungs- und Entrechtungsprozesse haben der Bewegungslandschaft neue unkonventionelle Akteure zugeführt und sie zugleich heterogenisiert und fragmentiert. Während die Folgen der intensivierten Wachstumspolitik Proteste von Anwohner*innen und unterschiedlichsten Betroffenen hervorbrachten – gegen Aufwertung und Verdrängung, gegen Touristifizierung oder Zweckentfremdung –, haben die neuen Wachstumsstrategien der »Kreative-Stadt-Politik« neue Spaltungslinien innerhalb der Bewegungslandschaft produziert. Prekäre, aber in diesem Kontext über »symbolisches Kapital« verfügende Kulturschaffende und Künstler*innen konnten hier zumindest temporär zu potenziellen »Profiteuren« der neoliberalen Stadtpolitik werden. Auch besetzte Häuser oder selbstverwaltete soziale Zentren konnten mancherorts über Jahre überleben, weil sie als Attraktivitätsmarker fungierten in einem Prozess, der über kurz oder lang von Investoren in lukratives Development überführt wird – womit meist eine neue Runde (nun defensiver) Kämpfe beginnt. Bewegungen, die sich nicht so zweckdienlich in lokale Standortpolitik und Vermarktungsstrategien einbinden lassen, haben weniger Entgegenkommen von staatlicher Seite zu erwarten.

Dennoch erstarken neben Protesten gegen Aufwertung und Verdrängung auch unter ressourcenarmen Gruppen diejenigen, die sich gegen Austeritätspolitik und Sozialkürzungen sowie gegen Privatisierung und überhaupt gegen das Vordringen globaler (Finanz-)Markt-Akteure in die Stadtentwicklung und die damit verbundene Erosion lokaler Demokratie richten. So hat sich vielerorts eine öffentlichkeitswirksame Bewegungsszene herausgebildet, welche die politischen Eliten massiv unter Druck setzt. Viele dieser – seit Kurzem und seit Langem – Bewegten kommen unter dem Dach des Protests gegen »Mietenwahnsinn« zusammen[1]. Die großen Demonstrationen im April 2019 in Berlin, München, Leipzig, Stuttgart, Frankfurt am Main und weiteren Städten markierten einen vorläufigen Höhepunkt. Dahinter stehen rasante Selbstorganisationsprozesse unterschiedlichster Mietergruppen, die sich mit kreativen Aktionen gegen exorbitante Mietsteigerungen zur Wehr setzen und zunehmend mit anderen Protestgruppen verbünden – etwa jenen gegen Gentrifizierung, Zwangsräumungen und Zweckentfremdung; für Rekommunalisierung, gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbau und Enteignung großer Wohnungsunternehmen. Allein in Berlin hatten 280 Initiativen zu dem bundesweiten Protesttag am 6. April aufgerufen. Dahinter stehen auch lokale Aktivistengruppen, die sich seit Jahren unter dem Banner »Recht auf Stadt«[2] über Landesgrenzen hinweg vernetzen, um ihren Kampf um bezahlbaren Wohnraum oder gegen Zwangsräumungen[3] multi-skalar zu führen. Den derart erstarkten Bewegungen neuer und alter urban outcasts gelingt es zunehmend, ihre Themen auf die mediale und politische Agenda zu setzen, gewisse Konzessionen zu erstreiten und mancherorts auch bewegungsnahe Politiker*innen in kommunale Ämter zu hieven. Da die eigentlichen Adressaten der Proteste, die global agierenden Investmentfirmen und Developer, schwer greifbar sind und die Kommune oft nicht mehr als Feind der Bewegungen wahrgenommen wird, kommt es zu Annäherung und Kooperationen »zwischen Zivilgesellschaft und Politik«, vor allem dort, wo Letztere zugänglich erscheint. Unter dem Label des »neuen Munizipalismus« finden Bewegungsforderungen Fürsprache bei Stadträten und/oder Bürgermeister*innen – von Barcelona über Zagreb, Warschau, Bologna und Berlin bis nach Jackson (Mississippi) und jüngst auch in Chicago.

Die Versuche, nicht nur Forderungen, sondern auch Akteure der Bewegung in lokale Institutionen und Regierungen hineinzuheben, rufen erheblichen Widerstand der etablierten Parteien und vor allem des Immobilien- und Finanzkapitals hervor. Gleichzeitig generieren sie Friktionen aufseiten von Bewegungsgruppen, deren Erwartungen über das »realpolitisch Durchsetzbare« oft hinausgehen. Oder sie verstärken vorhandene Spaltungslinien, weil die bereitgestellten Partizipationsformate eher von »Bewegungseliten« genutzt werden (Balcerowiak 2018). Meist sind es langwierige und mühsame Kämpfe, in denen Initiativen wie »Stadt von unten« darauf drängen, gerade NICHT »ein paar Projektorchideen für ein paar Glückliche zu schaffen« (Stadt von unten 2018).

»Stadt von unten« wurde 2014 in Berlin gegründet, um ein Modellprojekt in kommunalem Eigentum am Dragoner-Areal, einem größeren, von der Bundesanstalt für Immobilien (BIMA) zum Verkauf bestimmten bebauten Gebiet in Berlin-Kreuzberg durchzusetzen. Gemeinsam mit anderen Initiativen gelang es ihnen 2016, eine Privatisierung des Areals zu verhindern und es zum Sanierungsgebiet erklären zu lassen.[4] Mit der Kommunalisierung verknüpfen sie als Hauptziel die Demokratisierung der Wohnungsunternehmen und substanzielle Mitbestimmungsrechte der Mieter*innen, die eine langfristige soziale Ausrichtung und bezahlbare Mieten gewährleisten sollen. 2018 gelang es ihnen, einen paritätisch besetzten »Gründungsrat« zu etablieren und dort gemeinsam mit allen Projektbeteiligten Leitlinien für eine Kooperation zu entwerfen. Es zeichnete sich aber ab, dass Senat und Bezirk sich nicht auf inhaltliche Vorgaben einlassen wollten, die über die üblichen Auflagen für Sanierungsgebiete hinausgehen, wie zum Beispiel das Erbbaurecht. Noch bevor die Kooperationsvereinbarung unterzeichnet war, berief die Kreuzberger Bezirksverwaltung eine eher exklusive (da tagsüber im Rathaus tagende) »Beteiligungswerkstatt« ein, um Bau- und Nutzungsanforderungen zu klären – worauf die Initiativen mit Boykott reagierten (Stadt von unten 2019).

Während die Initiativen beim Tauziehen mit politischen Entscheidungsträger*innen in Gremien wie dem Gründungsrat kaum Zugeständnisse bei inhaltlichen Vorgaben und Leitlinien der Kooperationsvereinbarung erreichen können, konzediert die Politik auf Bezirkswie übergeordneter Ebene neue, informelle wie formelle Arbeits- und Koordinierungsstellen, die es ermöglichen, bislang ehrenamtliche und deshalb oft prekäre aktivistische Arbeit auf solidere Beine zu stellen. Dadurch werden Teile der Initiativen professionalisiert und in eine »gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung« eingebunden. Derartige Stellen steigern allerdings, genauso wie die oft umkämpften Kooperationsverfahren (vgl. Ziehl 2018), ohne aufmerksame Begleitung das Risiko von Intransparenz und Demokratiemangel in den Planungs- und Entscheidungsprozessen (vgl. Mayer 2019). Wo es also um die Umsetzung von Bewegungszielen geht, bewirken sowohl die unter »neuen munizipalistischen« Vorzeichen eröffneten Verhandlungs- und Kooperationsrunden als auch die Projektplanungen im Rahmen einer unternehmerischen Governance ein Auseinanderdividieren von Bewegungsakteuren: ein Teil entscheidet sich für eine Mitwirkung in diesen Gremien, ein anderer kritisiert deren fehlende öffentliche Transparenz.

Erfolg oder Scheitern heutiger städtischer Bewegungen lässt sich nicht bestimmen, indem man sie mit früheren fordistischen Bewegungen vergleicht. Aber so wie die damaligen Bewegungen die fordistische Stadt widerspiegelten und schließlich zu ihrer Krise beitrugen, so lassen sich auch die heutigen erst in ihrer Relation zum neoliberalen Urbanismus begreifen. Ihr Erfolg wird nur an dessen Demontage zu messen sein. Daraus folgt, dass Linke bei der Wahl ihrer stadtpolitischen Aktionen und Kampagnen die Dynamik der neoliberalen Stadtpolitik und deren Auswirkungen auf die Bewegungslandschaft beachten sollten. Die Wohnraumfrage etwa bietet Mobilisierungs- und Politisierungschancen, allerdings nur, wenn es gelingt, auf die große Masse der Betroffenen und auf Solidarität zwischen ressourcenarmen und mehr oder weniger privilegierten Gruppen hin zu orientieren und so den inhärenten Spaltungstendenzen entgegenzuwirken. Eine Vereinnahmung und Kooptierung von Akteuren, die über Artikulationsstärke, kulturelles Kapital oder sonstige für die »kreative Stadt« nützliche Kompetenzen verfügen, torpediert das cross-movement building, das so nötig ist. Nur wenn viele verschiedene Bewegungen sich hinter eine Forderung wie etwa die von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen!« stellen, besteht die Chance, über kosmetische Veränderungen hinauszukommen.

Fußnoten

[1] Vgl. die Pressemitteilung von Bundesweites Bündnis #Mietenwahnsinn vom 22.3.2019.

[2] Siehe z. B. www.realize-ruhrgebiet.de/2018/05/14/recht-auf-stadt-zwischen-abwehr-kaempfen-radikaler-realpolitik-und-alternativen.

[3] Siehe z. B. European Action Coalition for the Right to Housing and to the City aus Anti-Zwangsräumungsinitiativen aus 13 europäischen Ländern: www.rosalux.eu/publications/resisting-evictions-across-europe.

[4] Das Areal ist seither im Besitz des Landes Berlin. Die BIMA regelte, dass 90 Prozent der Fläche kommunal (also von einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft) bewirtschaftet werden müssen, das heißt, maximal zehn Prozent könnten selbstverwaltet bzw. in Erbbaurecht gemanagt werden.

Literatur

Balcerowiak, Rainer, 2018: Gegenteil einer sozialen Bewegung. In Großstädten tritt immer häufiger ein links-alternatives Bürgertum auf, das ein Recht auf Stadt einfordert – für sich und nicht für Wohnungslose, in: die tageszeitung, 15.11.2018.

Castells, Manuel, 1983: The City and the Grassroots, Berkeley.

Mayer, Margit, 2019: The Promise and Limits of Participatory Discourses and Practices, in: Ülker, Bariş/Mar Castro, Maria do (Hg.), Doing Tolerance. Democracy, Citizenship and Social Protests, Leverkusen.

Mitscherlich, Alexander, 1965: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt a.M.

Stadt von unten, 2018: Kommunal ist nicht genug! Übertragungsvertrag zum Dragonerareal frisst Modellprojekt, 9.10.2018, https://stadtvonunten.de/kommunal-ist-nicht-genug-uebertragungsvertrag-zum-dragonerareal-frisst-modellprojekt

Stadt von unten, 2019: Rathausblock/Dragonerareal: Stadtpolitische Initiative verweigert Mitarbeit an Werkstatt zur »Beteiligung«, 4.4.2019, https://stadtvonunten.de/pressemitteilung-rathausblockdragonerareal-stadtpolitische-initiative-verweigert-mitarbeit-an-werkstatt-zur-beteiligung

Ziehl, Michael, 2018: Zukunftsfähigkeit durch Kooperation. Ein Laborbericht, http://urban-upcycling.de/laborbericht

 

Margit Mayer ist Politikwissenschaftlerin und Professorin a. D. an der Freien Universität Berlin und Senior Fellow am Center for Metropolitan Studies Berlin. Sie forscht seit Langem zu städtischen Themen und sozialen Bewegungen in den USA und Deutschland.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/bewegung-in-der-unternehmerischen-stadt

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Entscheidende Dimensionen der Stadtpolitik werden heute weniger von kommunalpolitischen Institutionen als von zunehmend globalen Wirtschafts-, Finanz- und Immobilieninteressen bestimmt. Die mit der neoliberalen Stadtentwicklung einhergehenden Ausgrenzungs-, Verdrängungs-, Enteignungs- und Entrechtungsprozesse ruft aber auch Gegenwehr hervor. Margit Mayer skizziert Merkmale der Neoliberalisierung des Städtischen sowie Konflikte und Kämpfe um die neoliberale Stadt.

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In den großen Städten explodieren die Mieten, bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Das birgt sozialen Sprengstoff. Dass es problematische Folgen hat, Wohnraum marktförmig zu organisieren, ist eine alte linke Erkenntnis. In der aktuellen Wohnungskrise ist sie vielen neu bewusst geworden.

Stadtpolitik ist aber auch ein Feld der politischen Hoffnung und des solidarischen Widerstands. In Hausgemeinschaften und Nachbarschaften, mit Kampagnen und Demonstrationen machen immer mehr Menschen gegen den Mietenwahnsinn mobil. Die Forderung nach Enteignung großer Immobilienkonzerne gewinnt ungeahnte Zustimmung. Diese Proteste haben die Wohnungsfrage wieder auf die politische Agenda gesetzt.

Wie kann eine Wohnungspolitik aussehen, die sich am Gemeinwohl orientiert, die Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausspielt, die inklusiv und zugänglich für alle ist? Dies beleuchtet diese Ausgabe der Zeitschrift «LuXemburg» 2/2019 zu Wohnungskrise und Stadtpolitik.

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