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Selbstorganisation als Grundfeste Sorgender Städte

April 2022 • Ana María Vásquez Duplat

Adi Goldstein / unsplash

Adi Goldstein / unsplash

Wohnen, Organisierung, SorgendeStadt#Wohnen #Organisierung #SorgendeStadt

Eine der größten Herausforderungen, die uns die Corona-Pandemie hinterlässt, ist die Notwendigkeit, unsere Städte anders zu gestalten. Das derzeitige Modell muss dringend überdacht werden, denn es hat sich gezeigt, dass die Art und Weise, wie unsere Städte konzipiert und bewohnt werden, zu anfällig dafür ist, zu einem Brennpunkt der Expansion und der Verschärfung jeglicher Art von Krise zu werden. Die anhaltende soziale, wirtschaftliche und territoriale Ungerechtigkeit und Ungleichheit lassen keinen Zweifel an der Notwendigkeit, unsere Territorien umzugestalten und andere Formen der Nutzung und der symbolischen Bedeutung zurückzugewinnen. Die Städte müssen ihren Bewohner*innen in jedem erdenklichen Sinn zurückgegeben werden. Wir wissen heute, dass: geeigneter Wohnraum retten kann; auf das eigene Zuhause begrenzt zu sein ein Risiko für Frauen und LGBTIQ+-Personen ist; dass lokale Infrastruktur, Auffangsorte und Ökonomien als Motor für die Produktion und Reproduktion städtischen Lebens verstanden werden müssen; dass das Kollektive ist wesentlich für den Erhalt von Leben; u.a.

80 Prozent der Menschen auf diesem Planeten leben in Städten. Es ist daher unmöglich, einen Ausweg aus der jetzigen multidimensionalen (sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, gesundheitlichen, politischen, Sorge-, etc.) Krise zu finden, wenn wir es uns nicht zur Aufgabe machen, Ideen und konkrete Maßnahmen zu entwerfen, um die Städte aus dem Sog der reinen Profitlogik zu retten. Wenn wir eine gleichberechtigte, gerechte und gewaltfreie Gesellschaft wollen, dann müssen wir den städtischen Raum umgestalten und mit dem Bau von Städten beginnen, in denen die Nachhaltigkeit des Lebens im Mittelpunkt aller Entscheidungsprozesse steht. Dies würde bedeuten, den Weg für Sorgende Städte zu ebnen.

Heute sind wir, wie es Gabriela Massuh formuliert, auf dem Weg hin zu Städten, die „als leerer Signifikant bewegungslos in einem Haufen falscher Wahlversprechen glänzen und die reale Dimension des unwiederbringlichen Verlustes darstellt: des öffentlichen Raums. Jener Raum, durch den wir in unserer Vielfalt an einem gemeinsamen Projekt teilhaben, und zwar als politische Wesen, die fühlen, denken, überlegen, bewahren und die Wurzeln eines sozialen Bandes teilen. Das macht uns zu einer Gemeinschaft“. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, die Stadt zu dekonstruieren, wieder neu zu aufzubauen, als öffentlichen Raum zurückzugewinnen und sie auf diese Weise wieder mit Sinn zu erfüllen.

Um in diesem Prozess von Dekonstruktion und Wiederaufbau der Stadt voranzukommen, ist es wesentlich zu verstehen, wie wir überhaupt bis zu diesem Punkt gekommen sind; zu verstehen, wie das bisherige Modell städtischer Entwicklung immense Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Gewalt etabliert hat. Nur so können wir diesem Modell entgegentreten. Das Konzept des städtischen Extraktivismus wird hier zu einem Schlüssel, da es ermöglicht, konkrete Phänomene zu untersuchen und sie durch die Lupe des wirtschaftlichen Modells zu betrachten, das diese Phänomene hervorruft. Der Begriff des städtischen Extraktivismus ermöglicht Untersuchungen, durch die institutionelle Gerüste,  Marktmechanismen,  Typologien der durchgeführten politischen Maßnahmen, Strategien zur Stigmatisierung und Kriminalisierung gewaltsam ausgestoßener und ausgeschlossener „Anderer“ ergründet werden können; ebenso können so materielle und symbolische Konstrukte untersucht werden, die es ermöglicht haben, dass der globale Neoliberalismus städtischen Raum gewaltsam vereinnahmt und die Türen unserer Häuser und die Grenzen unseres Lebens überschreitet.

Städte haben sich räumlich, funktional und symbolisch von jenem Binarismus her entwickelt, der dem Kapitalismus eigen ist: ein Prinzip, das Raum in Funktion zweier Kernideen trennt und organisiert: Wohnraum und Arbeit. Der Wohnraum stellt hier das Herz des Privaten und die Arbeit den Mittelpunkt des Öffentlichen dar. Die zutiefst patriarchale Gestaltung der Städte hat den Bereich des Privaten (den Wohnraum) als Entwicklungsraum von Frauen und den Rest (das Öffentliche, die Arbeit) als Betätigungsfeld beruflich aktiver Männer gekennzeichnet. Eine der Folgen, städtischen Raum auf diese Weise zu gestalten, ist die Tatsache, dass andere städtische Funktionen und Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit und Erholung fast als Ornamente der städtischen Organisation erscheinen. Sorge in den Mittelpunkt der Stadtplanung zu stellen heißt also, mit diesem Binarismus zu brechen, die Bedeutungen des Privaten und des Öffentlichen zu erweitern und die Prioritäten bezüglich der Funktionen von Städten neu zu ordnen. Die feministische Stadtplanung hat diesbezüglich eine strategische Reihe von Diskussionen und konkreten Vorschlägen entwickelt.

Um eine Sorgende Stadt zu gestalten, die die Reproduktion des Lebens in Gleichberechtigung und Würde in den Mittelpunkt stellt, braucht es sowohl Veränderungen bei der Verteilung und der Vergütung von Sorgearbeit als auch bei dem ihr zugeschriebenen Wert: Sorgearbeit muss die Grenzen der Privatssphäre überschreiten, darf nicht weiter ausschließlich weiblich gelesenen Körpern zugeschrieben werden und muss zu einer Leitlinie werden für gesellschaftliche Beziehungen, für politisches Handeln und für neue Formen, unsere Beziehungen mit der Natur und den Gemeingütern zu verstehen.

Im Hinblick auf die Stadtplanung bedeutet dies, dem Gemeinschaftlichen, dem Kollektiven, den Begegnungsräumen, der Gesundheit, der Stadtteilkultur und dem Aufbau von Räumen der echten Vergesellschaftung einen zentralen Wert zuzuweisen. Sorgearbeit zu vergemeinschaftlichen und gemeinsame Verantwortung aufzubauen bedeutet außerdem, Mobilität und öffentlichen Verkehr neu zu planen sowie neue Infrastruktur und lokale und zugängliche Dienstleistungen und Einrichtungen zu schaffen, die die Grenzen und Trennung zwischen Wohnraum und Arbeit, zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten verwischen und die Dekonstruktion von Geschlechterrollen begünstigen.

Die Bewegung für genossenschaftliches und selbstorganisiertes Wohnen hat Schritte in diese Richtung unternommen und Schlüssel bereitgestellt. Nicht nur wurden Debatten und Grundlagen entwickelt, sondern durch die genossenschaftliche Praxis, die Selbstorganisation und gegenseitige Hilfe zum Bau von Wohnraum wurde eine „Alternative [aufgezeigt], die den ausgeschlossenen Mehrheiten einen Horizont gibt, in dem sie eine andere Wirtschaft und andere Werte aufbaut“ (Rodríguez, 2021).

FUCVAM (Federación Uruguaya de Cooperativas de Vivienda por Ayuda Mutua, dt.: Bund der Wohnbaugenossenschaften durch Gegenseitige Hilfe Uruguay) ist zu einem weltweiten Symbol geworden. Seine Geschichte ist ein Beispiel für das Potential der Selbstorganisation von sozialem Wohnraum und den strategischen Wert desselben beim Bau neuer Städte. Wie es in der Grundsatzerklärung der Kooperative zu lesen ist, ist „die Genossenschaftliche Bewegung für Wohnraum durch Gegenseitige Hilfe im Herzen der Arbeiterklasse entstanden, mit dem Ziel, das Wohnraumproblem zu lösen. Von diesem konkreten Bedürfnis ausgehend wurden Stadtteile gestaltet, die ihren Bewohnern ein würdiges und anständiges Leben ermöglichen sollen. Die Wohnbaugenossenschaften waren ursprünglich aufs Engste mit der Gewerkschaftsbewegung in Uruguay verbunden und von dort ausgehend trafen sie eine Reihe strategischer und zutiefst klassenbewusster Entscheidungen. Sich global als Klasse zu verstehen ermöglichte es, eine Reihe von Forderungen und Bedürfnissen zu umfassen, die zu einer integralen Definition des Projekts führten. Die Genossenschaft beschränkt sich nicht allein auf den Wohnraum, sondern integriert, vom Klassenverständnis ausgehend, alle Bedürfnisse, die der Begriff Klasse – im Gegensatz zur Vorstellung als gesellschaftlicher Teilbereich - mit sich bringt“.

Zwei der bahnbrechenden Bauprojekte von FUCVAM sind Beispiele für diese Prozesse: der Komplex José Pedro Varela Zone 3 und das Viertel General Artigas. Zwei Orte, an denen Gemeinschaft entstand. Abgesehen von den 1200 Wohneinheiten, aus denen die beiden Komplexe bestehen, haben die Genossenschaften Kindergärten gebaut, die später zu staatlich geführten Kindergärten wurden, frei zugängliche Polikliniken, Gemeinschaftsbibliotheken, Fußballplätze, Sportplätze und -hallen, Geschäfte, Supermärkte und Gemeinschaftsräume, die nicht nur als Orte für Kultur- und Freizeitaktivitäten dienen, sondern auch für Begegnungen und Entscheidungsprozesse der Einwohner*innen.

Die Genossenschaften in Uruguay haben Lebensraum, ja, sie haben Sorgende Städte geschaffen. Sie sind ein Beispiel für eine Gestaltung von Städten, die Binarismen aufbricht, Gemeinschaft bildet und eine Vergemeinschaftlichung der Sorgearbeit ermöglicht; und dies nicht nur durch den Bau von Infrastruktur und Raum für Spiel, Erholung und Bildung für Kinder, sondern weil sie als Stadtteil die Möglichkeiten von Nähe und Nachbarschaftlichkeit nutzen und mit vielen Augen und vielen Armen kollektiv und mitverantwortlich Sorge tragen.

Auf beiden Seiten des Río de la Plata (in Uruguay und Argentinien) wurden bedeutende Initiativen zur selbstorganisierten Gestaltung von Lebensraum durchgeführt; Erfahrungen, die andere, sorgende Städte erahnen lassen. Die genossenschaftlich gebauten Komplexe sind wahre Beispiele eines Modells sozialer Wohnraumverwaltung, die es schafft, im Einklang mit einer tiefgreifenden Klassenperspektive zentrale Debatten zum Umsturz der kapitalistischen Stadtplanung anzuregen, wie z.B. die Verteidigung von Kollektiveigentum. Ebenso werden Werte für neue soziale Beziehungen verbreitet, die sich auf Solidarität durch gegenseitige Hilfe stützen und die mit einer enormen Partizipation von Frauen zählt, was dazu geführt hat, dass die im Rahmen dieser Bewegungen gebauten Stadtteile zu tatsächlichen Sorgenden Städten wurden. Dort müssen wir hinschauen, denn in diesen Bewegungen wird, so wie es in Argentinien MOI (Movimiento de Ocupantes e Inquilinos, dt.: Bewegung von Besetzern und Mietern) bekräftigt, mit und ohne Ziegel eine neue Gesellschaft aufgebaut.

Ana María Vásquez Duplat ist Projektmanagerin im Regionalbüro ConoSur der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Literatur:

Rodríguez, María Carla (Leiterin), 2021. Hábitat, autogestión y horizonte socialista. Construyendo con y sin ladrillos la nueva sociedad (dt. Lebensraum, Selbstorganisation und sozialistischer Horizont. Mit und ohne Ziegel eine neue Gesellschaft aufbauen). Buenos Aires, El Colectivo.

Interview mit Isabel Zerboni von FUCVAM

Foto: Adi Goldstein / unsplash

#Wohnen #Organisierung #SorgendeStadt

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80 Prozent der Menschen auf diesem Planeten leben in Städten. Es ist daher unmöglich, einen Ausweg aus der jetzigen multidimensionalen (sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, gesundheitlichen, politischen, Sorge-, etc.) Krise zu finden, wenn wir es uns nicht zur Aufgabe machen, Ideen und konkrete Maßnahmen zu entwerfen, um die Städte aus dem Sog der reinen Profitlogik zu retten

Wenn wir eine gleichberechtigte, gerechte und gewaltfreie Gesellschaft wollen, dann müssen wir den städtischen Raum umgestalten und mit dem Bau von Städten beginnen, in denen die Nachhaltigkeit des Lebens im Mittelpunkt aller Entscheidungsprozesse steht. Im Hinblick auf die Stadtplanung bedeutet dies, dem Gemeinschaftlichen, dem Kollektiven, den Begegnungsräumen, der Gesundheit, der Stadtteilkultur und dem Aufbau von Räumen der echten Vergesellschaftung einen zentralen Wert zuzuweisen.

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Türkei: Studierendenproteste gegen Wohnraummangel

Barınamıyoruz – Wir finden keine Bleibe

März 2022 • Sultan Eylem Keleş • Svenja Huck

Foto: Sultan Eylem Keleş

Foto: Sultan Eylem Keleş

Wohnen, Organisierung#Wohnen #Organisierung

Nach fast zwei Jahren Online-Lehre, kehren in der Türkei die Studierenden wieder an die Universitäten zurück. Für viele von ihnen ist es das erste Mal, dass sie ihre Hochschule betreten. Mit der Rückkehr zum Präsenzunterricht, wird auch ein lange schwelendes Problem sichtbar: fehlende oder unbezahlbare Unterkünfte für Studierende – und nicht nur für sie. Die unzureichende Anzahl von Wohnheimplätzen und die exorbitant ansteigenden Mieten, vor allem in größeren Städten wie Istanbul, Izmir und Ankara, stellen die Studierenden vor existentielle Probleme.

Zum Semesterbeginn im September begannen deshalb spontane Proteste einer zunächst kleinen Gruppe von obdachlosen Studierenden in Istanbul. Sie nennen sich «Barınamıyoruz Hareketi», die Bewegung derer, die keine Bleibe finden. Um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen, übernachteten sie in öffentlichen Parks und informierten in den sozialen Medien über ihren Protest.

Sie fordern das Grundrecht auf eine Unterkunft, die bezahlbar ist und menschenwürdigen Standards entspricht. Dass gerade letzteres oft nicht der Fall ist, zeigen die zahlreichen Berichte, die bei der sogenannten «Beschwerdehotline» eingehen. «Wir hatten diese Hotline zunächst eingerichtet, um Fälle von obdachlosen Studierenden zu sammeln», berichtet die Jurastudentin Ezgi Ertürk, die Teil der Barınamıyoruz-Bewegung ist. «Doch schnell wurde deutlich, dass auch diejenigen, die einen Wohnheimplatz ergattert hatten, massive Probleme haben. Das Essen dort wird zu horenden Preisen verkauft, aber ist ungesund, teilweise finden sich darin Maden oder Haare. Die Internetverbindung im Gebäude ist oft schlecht und reicht nicht zum Arbeiten. Einige Wohnheime sind weit entfernt von den Universitätsgebäuden, sodass die Bewohner*innen von der städtischen Infrastruktur abgeschnitten sind.» Belegt werden all diese Berichte mit Fotos und Videos, die aus der gesamten Republik gesendet werden. Durch die Vernetzung in den sozialen Medien, vor allem auf Twitter, wird nicht nur das Ausmaß der Misere schnell deutlich, sondern auch Berichte über spontane Proteste in den Wohnheimen und auf zentralen Plätzen verbreiten sich rasant.

Für die Aktivist*innen steht fest, verantwortlich ist die Regierung in Ankara. Deshalb kündigten sie für den 13. Dezember eine zentrale Kundgebung in der türkischen Hauptstadt an, die jedoch umgehend vom dortigen Gouverneur verboten wurde. Dennoch kamen zahlreiche Protestierende aus verschiedenen Städten zusammen, 90 von ihnen wurden festgenommen und waren massiver Polizeigewalt ausgesetzt.

Bauen, bauen, bauen?

In den regierungsnahen Medien wird als Grund für das Mietenproblem das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage genannt, zu wenig Neubau sei das Problem. Doch die seit 20 Jahren regierende AKP verdankt ihren jahrelangen wirtschaftlichen Erfolg vor allem dem Wachstum im Bau- und Immobiliensektor. Laut einer Recherche der Zeitung BirGün stehen allein in Ankara und Istanbul aktuell rund 1,7 Millionen Wohnungen leer, diese Zahl stieg seit Beginn der Corona-Pandemie weiter an. Im Vergleich zu anderen eurpäischen Großstädten ist der Leerstand damit sogar recht groß. Wie in anderen Städten der Welt auch, ist das grundlegende Problem des Wohnungsmarkts demnach nicht die steigende Nachfrage gegenüber einem geringen Angebot, sondern die Preisklasse der verfügbaren Wohnungen. Dies räumt auch die Istanbuler Stadtverwaltung ein. Nicht die fehlenden Wohnungen seien das Problem, sondern das fehlende Angebot von bezahlbarem Wohnraum für Studierende, für ärmere Menschen, für Geflüchtete etc.

Mieter*innen in Istanbul haben einen massiven Preisanstieg erlebt. Laut einer Studie der Stadtverwaltung von Istabul sind die Preise bei Neuvermietung 2021 im Vergleich zum Vorjahr um durchschnittlich 66 Prozent gestiegen. Ein konkretes Beispiel: Eine in Istanbul lebende Familie mit zwei Kindern, in der beide Eltern den Mindestlohn verdienen, hat ein monatliches Einkommen von 5.650 Lira (340 Euro, Stand 15.12.2021). Bei einer Miete von 2.500 Lira für eine Drei-Zimmer-Wohnung bleiben ihr nur knapp mehr als 3.000 Lira zum Leben. Bei der aktuellen Inflation und dem massiven Preisanstieg in allen essentiellen Bereichen lebt eine solche Familie in absoluter Armut. Studierende zahlen für ein Zimmer im Wohnheim zwischen 230 und 533 Lira, das türkische Äquivalent zum Bafög beträgt momentan 650 Lira, also keine 40 Euro.

Es dauerte nicht lange, bis die AKP-Regierung begann,  rhetorisch gegen die protestierenden Studierenden schießen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan bezeichnete sie als Lügner*innen und zweifelte sogar ihren Studierendenstatus an. Laut regierungsnahen Medien handele es sich vielmehr um Provokateur*innen, die wie schon bei den Gezi-Protesten die Jugend anstacheln würden. Um weiteren Druck auszuüben, rief die Polizei die Familien der im Park campierenden Demonstrant*innen an und drohte mit Verhaftungen, falls sie ihre Kinder nicht umgehend abholten. Doch die Protestierenden ließen sich zunächst nicht einschüchtern. Auf die Aufforderung der Polizei, sie sollen verschwinden, lautete die Antwort: «Genau das ist unser Problem, wir haben keine Wohnungen, keine WG-Zimmer, keine Wohnheimplätze, wohin sollen wir denn verschwinden?»

Mit dem Wintereinbruch war die Barınamıyoruz-Bewegung gezwungen, ihre Plätze im Freien zu verlassen. Einige sind bei Verwandten untergekommen, andere mussten in die Städte ihrer Familien zurückkehren oder leben in völlig überfüllten WGs. Gelöst wurden die Probleme nicht, ihre Forderungen werden nur teilweise erfüllt. Wie in anderen politischen Feldern auch, findet ein Wettlauf zwischen den Stadtverwaltungen, die von der AKP regiert werden, und denen, die in den Händen der Opposition sind, statt. Dies führte immerhin dazu, dass in einigen Orten Aufträge für den Neubau von Wohnheimen in Auftrag gegeben oder leerstehende Gebäude zu diesem Zweck angemietet wurden.

Die Wohnungskrise in der Türkei betrifft jedoch weitaus mehr Menschen als die Studierenden. Ihr spontaner Protest zeigte bisher nur die Spitze des Eisbergs, eine landesweite Mieter*innenbewegung sehen wir hier (noch) nicht. Doch das erfolgreiche Beispiel der Mietenproteste in Berlin und besonders das Referendum zur Enteignung großer Immobilienkonzerne hat sich bis in die Türkei herumgesprochen und wird auch dort diskutiert. Die Betroffenen sind sich einig: Eine umfassendere Lösung muss her, beispielsweise durch die Bereitstellung von Sozialwohnungen.

Vergesellschaftung auf türkisch heißt übrigens «kamulaştırma»…

 

Sultan Eylem Keleş studierte Journalismus an der Ege Üniversitesi in Izmir. Nach einem Praktikum bei der Zeitung Agos arbeitet sie nun als Journalistin in Istanbul. Sie beschäftigt sich mit politischen Kämpfen nationaler Gruppen, die in der Türkei nicht zur dominierenden Nation gehören, sowie mit Themen der Arbeitswelt.

Svenja Huck studierte Geschichtswissenschaften in Berlin mit Auslandsaufenthalten in Istanbul und London. Ihre Abschlussarbeit thematisiert die türkische Gewerkschaftskonföderation DİSK 1967-80. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen als freie Journalistin über Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.

#Wohnen #Organisierung

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Nach fast zwei Jahren Online-Lehre, kehren in der Türkei die Studierenden wieder an die Universitäten zurück. Für viele von ihnen ist es das erste Mal, dass sie ihre Hochschule betreten. Mit der Rückkehr zum Präsenzunterricht, wird auch ein lange schwelendes Problem sichtbar: fehlende oder unbezahlbare Unterkünfte für Studierende – und nicht nur für sie. Die unzureichende Anzahl von Wohnheimplätzen und die exorbitant ansteigenden Mieten, vor allem in größeren Städten wie Istanbul, Izmir und Ankara, stellen die Studierenden vor existentielle Probleme.

Foto: Sultan Eylem Keleş

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Das Recht auf Wohnen in Würde und eine bezahlbare Stadt für alle ist ein essentielles Thema in den aktuellen Kämpfen sowohl in Brasilien als auch in Deutschland. Die Erfahrungen in der Mobilisierung, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, diskutieren Aktive aus Bewegung und Politik. Die Veranstaltung fand wenige Tage nach dem Berliner Volksbegehren statt, in dem die Berliner Bevölkerung vor dem Hintergrund einer akuten Wohnungskrise darüber entschieden hat, dass der Staat eingreifen und die Konzentration von Wohnraum auf wenige Wohnkonzerne verhindern soll.

Die Wohnungskrise ist auch der Hintergrund der Anti-Räumungs-Kampagne Despejo Zero, in der die brasilianischen Volksbewegungen den Nationalkongress dazu drängen, das Veto von Präsident Jair Bolsonaro gegen ein Gesetz zu kippen, das Zwangsräumungen während der Pandemie verhindert.

Im Gespräch kommen die Stadtplanerin Erminia Maricato, Architektin und Koordinatorin von BR Cidades, sowie Rud Rafael, von der Anti-Räumungs-Kampagne Despejo Zero und landesweiter Koordinator der Bewegung der Wohnungslosen Arbeiter*innen (MTST) sowie die Abgeordnete Katalin Gennburg, MdA DIE LINKE in Berlin und Rouzbeh Taheri, Koordinator der Berliner Kampagne Deutsche Wohnen & Co Enteignen zusammen

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Recht auf Stadt queer aneignen

Wie können wir uns gegen Gentrifizierung, Verdrängung und Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt organisieren?

März 2019 • GLADT e.V • Jutta Brambach (RuT e.V.)

Liebigstraße 34 in Berlin nach der polizeilichen Räumung. Foto: Mark König / Unsplash

Liebigstraße 34 in Berlin nach der polizeilichen Räumung. Foto: Mark König / Unsplash

Wohnen, Feminismus#Wohnen #Feminismus

Auf dem Berliner Wohnungsmarkt ist es eng. Immobilienfonds und private Eigentümer profitieren. Steigende Mieten und Verdrängung machen vielen das Leben schwerer. Für manche LGBTIQs war es nie leicht: wegen Rassismus und zahlreicher anderer Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, geringer Einkommen oder weil Wohnungen nicht barrierefrei sind. Andere waren Teil von Gentrifizierungsprozessen, sind nun zunehmend selbst von Verdrängung bedroht. Konkurrenz um Wohnraum findet aber auch innerhalb von LGBTTIQ-communities statt. Derzeit fehlen Räume für kollektives, solidarisches Wohnen – gerade im Alter, für ältere Lesben und trans*-Menschen, für QPOCs und (geflüchtete) Neuberliner_innen. Was brauchen wir vom und zum Wohnen – ob jung oder alt, cis oder trans?

Längst organisiert sich in Berlin breit getragener Widerstand  gegen steigende Mieten und Verdrängung. Was könnte es bedeuten, miteinander für das Recht auf Stadt aus queerer und solidarischer Perspektive zu kämpfen?

Mit dieser Frage beschäftigte sich die Veranstaltung «Recht auf Stadt queer aneignen» mit Jutta Brambach (RuT e.V.); GLADT e.V., TRIQ.

Die Audioaufzeichnung ist auf der Soundcloud-Seite der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu hören:

#Wohnen #Feminismus

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Auf dem Berliner Wohnungsmarkt ist es eng. Immobilienfonds und private Eigentümer profitieren. Steigende Mieten und Verdrängung machen vielen das Leben schwerer.

Längst organisiert sich in Berlin breit getragener Widerstand gegen steigende Mieten und Verdrängung. Was könnte es bedeuten, miteinander für das Recht auf Stadt aus queerer und solidarischer Perspektive zu kämpfen?

Liebigstraße 34 in Berlin nach der polizeilichen Räumung. Foto: Mark König / Unsplash

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LUX.local: Rekommunalisierung

Podcast

Dezember 2021

Rekommunalisierung, Krankenhaus, Wohnen, Krise, Selbstverwaltung, Gewerkschaft#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

Auf der RLS-Webseite hören: rosalux.de/mediathek/media/element/1698

Auf Soundcloud hören: soundcloud.com/rosaluxstiftung/luxlocal-2-rekommunalisierung

Der Podcast beginnt zuerst mit einem Blick auf die politischen Entwicklungen in Österreich: Ende September 2021 wurde die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) die stärkste Partei bei den Gemeinderatswahlen in Graz und stellt nun mit Elke Kahr auch die Bürgermeisterin. Hanno Wisiak aus Graz berichtet über den Weg zu diesem Erfolg, die Themen der KPÖ vor Ort und über ihre Rolle in der Kommunalpolitik Österreichs. Im Anschluss dreht sich alles um Rekommunalisierung

Dr. Vera Weghmann verrät, ob sie insgesamt einen Trend zur Rekommunalisierung sieht und was die wichtigsten Erkenntnisse aus ihrer Arbeit an der neuen Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung» sind.

Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand von zwei ganz konkreten Beispielen: In den Kliniken in Nürnberg und Ingolstadt wurden Teile des Personals in privatrechtlich organisierte Servicegesellschaften (aber in öffentlicher Hand) ausgelagert und seitdem noch unterhalb der üblichen Pflegetarife in Krankenhäusern bezahlt. Die beiden Kommunalpolitiker*innen erzählen vom gemeinsamen Kampf von Personal und Gewerkschaften und davon, wie es gelingen kann, dass auch das Servicepersonal wieder tariflich bezahlt wird.

Die Gäste:

Hanno Wisiak arbeitet in der Öffentlichkeitsarbeit der KPÖ im Grazer Rathaus. Er ist Büroleiter des kommunistischen Gesundheitsstadtrats Robert Krotzer und ist derzeit stellv. Bezirksvorsteher des dritten Grazer Bezirks Geidorf. Er ist außerdem Mitglied des Landesvorstands und der Programmkommission der KPÖ Steiermark in Österreich.

Vera Weghmann ist die Autorin der neuen Broschüre „Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung“ der RLS. Sie arbeitet für Public Services International Research Unit (PSIRU) an der University of Greenwich in London. Die Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind öffentliche Dienstleistungen, Privatisierung und Rekommunalisierung sowie Arbeitspolitik und Gewerkschaften. Vera ist Co-Gründerin der unabhängigen Gewerkschaft United Voices of the World.

Kathrin Flach-Gomez ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Nürnberg und außerdem Landessprecherin der Partei DIE LINKE in Bayern.

Eva Bulling Schröter ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Ingolstadt und war zuvor Bundestagsabgeordnete für die PDS und DIE LINKE sowie bis 2020 Landessprecherin der Partei in Bayern.

Links und Hinweise zur Sendung:

Rekommunalisierung

Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung. Broschüre von Dr. Vera Weghmann

Rekommunalisierungen in Thüringen — Chancen und Risiken. Von Frank Kuschel für DIE THÜRINGENGESTALTER - Kommunalpolitisches Forum Thüringen e.V.

Klinikum zurück in die öffentliche Hand? Rechtsgutachten zu den rechtlichen Möglichkeiten einer Rücküberführung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg in öffentliches Eigentum. Von Joachim Wieland

Für starke Kommunen mit leistungsfähigen Betrieben in öffentlicher Hand. - Ein Leitfaden zur Rekommunalisierung  

Darüber hinaus

 Linke Akteure in den Städten und Gemeinden Zum Zustand der Demokratie und zur Rolle der Partei auf kommunaler Ebene. Von Katrin Nicke

Sammlung einführender Literatur und Websites zu Rekommunalisierung

Krise der Privatisierung – Rückkehr des Öffentlichen, Mario Candeias, Rainer Rilling, Katharina Weise (Hrsg.)

Von R wie Rettungspakete zu R wie Rekommunalisierung. Von Julia Dück

Es gibt viel zu tun – packen wir´s an - Der Erfolg von «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» ist erst der Anfang. Von Stefan Thimmel und Armin Kuhn

#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

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«Lux.local» ist der Kommunalpodcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Katharina Weise. In dieser Folge von «Lux.local» dreht sich alles um das Thema Rekommunalisierung. Dazu wird zuerst erklärt, was Rekommunalisierung, Daseinsvorsorge und Privatisierung bedeutet. Im Anschluss sind folgende Interviewgäste zu hören: Dr. Vera Weghmann, Autorin der Broschüre «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung», sowie Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter. Die beiden Stadträtinnen erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand konkreter Beispiele.

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Der Kampf um das Recht auf Wohnen ist auch ein europäischer Kampf

Wie ist die Situation auf dem Mietwohnungsmarkt in Schweden, den Niederlanden und in Spanien?

Dezember 2021

Demonstration zum «Woonopstand» am 17. Oktober 2021 in Rotterdam. Foto: Sandra Fauconnier via flickr / Bildausschnitt / CC BY 2.0

Demonstration zum «Woonopstand» am 17. Oktober 2021 in Rotterdam. Foto: Sandra Fauconnier via flickr / Bildausschnitt / CC BY 2.0

Wohnen, Krise, Organisierung#Wohnen #Krise #Organisierung

Die Machtkonzentration der großen, profitorientierten Wohnungsunternehmen ist eines der bestimmenden Themen der aktuellen wohnungspolitischen Debatte. Seit Jahren werden die Player auf dem Markt immer weniger, dafür aber immer größer. Und die Bestände werden weiter ausgebaut. Ihre Kernbestände stammen zu großen Teilen aus Wohnungsbeständen, die in den 2000er Jahren zu einem sehr niedrigen Preis von städtischen und kommunalen Wohnungsunternehmen erworben wurden. Spekulativer Leerstand, die gezielte Vernachlässigung von Wohnungen, um danach notwendige Modernisierungskosten auf die Mieter:innen umzulegen, und die Ausreizung sämtlicher Möglichkeiten für Mieterhöhungen, sind in vielen deutschen Großstädten längst Realität.

Die Mieter:innen von Konzernen wie Vonovia, Deutsche Wohnen oder Akelius/Heimstaden nehmen diese Strategien als gezielte Angriffe auf ihr Recht auf Wohnen wahr. Nach einem Jahrzehnt der Wohnungskrise sind sie immer öfter gezwungen, im Mittel mehr als 30% ihres Einkommens für ihre Wohnung auszugeben. Und damit mehr, als sie sich leisten können. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung leben in 77 deutschen Großstädten 4.4 Millionen Haushalte in Wohnungen, die sie sich entweder gar nicht leisten können, oder die eigentlich zu klein für sie sind.

Die zunehmende Finanzialisierung von Wohnraum greift allerdings nicht nur Mieter:innen in Deutschland an. International wird Wohnraum immer mehr zur Ware. Viele der großen Wohnungskonzerne agieren global und organisieren ihre Geschäftsmodelle über Landesgrenzen hinweg. Demgegenüber sind die meisten Proteste gegen hohe Mieten und Wohnungsnot meist immer noch lokale, bestenfalls nationale Proteste. Das ist eine verpasste Chance. Die Notwendigkeit zur internationalen Vernetzung ist zwar keine neue Erkenntnis, sie bleibt allerdings auch heute noch eine dringende Forderung. Denn, vergleicht man die Kämpfe um leistbaren Wohnraum und ein Recht auf Stadt in verschiedenen europäischen Städten und die dortigen Geschäftspraktiken der großen Wohnungskonzerne, so lassen sich viele Parallelen erkennen.

Schweden – zwischen Mieter:innen-Gewerkschaft und Marktmieten

So ist Vonovia, das mit Abstand größte Wohnungsunternehmen in Deutschland, auch in Österreich und vor allem in Schweden aktiv, wo es mittlerweile ebenfalls zum größten privaten Wohnungsunternehmen aufgestiegen ist. In Schweden, einst Leuchtturm für einen regulierten Mietmarkt und Sozialstaat, hat die rechts-konservative Regierung zu Beginn der 1990er Jahre eine Liberalisierung und Privatisierung des Wohnungsmarktes eingeleitet. Nur noch knapp jede:r Dritte wohnt in Schweden zur Miete und heute nur noch etwa die Hälfte davon in Wohnungen der öffentlichen Hand.

Wie in Deutschland, fällt Vonovia auch hier durch strategische Renovierungen (sogenannte «concept renovations») auf, die in jeweils einzelnen Wohnungen durchgeführt werden, sobald ein kurzer Leerstand dies zulässt, wie Ilhan Kellecioglu von der Stockholmer Mieter:innen-Initiative «Ort till Ort» berichtet. In der Folge darf die Miete beim nächsten Vertragsabschluss erhöht werden. Dabei sind die Arbeiten oft von fragwürdiger Qualität und Nutzen, die darauffolgenden Mieterhöhungen betragen im Schnitt dennoch 50-60%. Eine gesetzliche Grenze für diese Erhöhungen gibt es nicht. Außerdem komme es so zu teils drastisch unterschiedlichen Miethöhen innerhalb eines Hauses, was eine Organisierung der Mieter:innen erschwert. Dabei sind Mieter:innen in Schweden momentan noch durch das so genannte «use-value»-System zur am «Nutzungswert» orientierten Ermittlung der Miethöhe geschützt. Demnach werden die Wohnungen nach Kriterien wie Größe, Lage und Ausstattung eingeteilt. Allerdings werden die Mieten dann nicht, wie in Deutschland, mithilfe von Mietspiegeln bestimmt, sondern von den Vermietervertreter:innen mit der tenant‘s unions (Mieter:innen-Gewerkschaft) ausgehandelt.

Dieses Konstrukt, als letztes Schild der schwedischen Mieter:innen gegen eine vollständige Liberalisierung des Mietmarktes, sieht sich jedoch ebenfalls starken Angriffen ausgesetzt. Im Juni 2021 drohte die schwedische Linkspartei die amtierende Mitte-links-Regierung platzen zu lassen, nachdem die Regierung einen Reformvorschlag zur Einführung reiner Marktmieten für alle Wohnungen, die nach dem ersten Juli 2022 fertig gestellt werden, vorlegte. Begleitet wurde dieser Vorstoß von Protesten unter dem Motto «Nein zur Marktmiete», bei denen Mieter:innen hunderte von Kundgebungen abhielten – schlussendlich mit Erfolg, wie die Aktivistin und Mitorganisatorin von «Nej till Markadshyra» Sandra Mandell berichtet. Die Mietmarktreform musste der zu dieser Zeit amtierende sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven zurückziehen.

«Woonopstand» in den Niederlanden

Ähnlich wie Schweden haben auch die Niederlande, historisch betrachtet, einen starken Sozialstaat entwickelt. Etwa 60 Prozent der Niederländer:innen leben allerdings im Wohneigentum. Viele der Mietenden jedoch (30 Prozent der Niederländer:innen) wohnen in Wohnraum der öffentlichen Hand. Dieser hohe Anteil des öffentlichen Wohnungsbaus steht aber, ähnlich wie in Schweden, unter starkem Beschuss, wie aus den Berichten von Kees Stad und Gwen van Eijk deutlich wurde. So wurde im Jahr 2013 eine Steuer auf Sozialwohnraum, die so genannte «Vermieterabgabe», eingeführt, ursprünglich als temporäre Maßnahme zur Aufstockung des Haushalts nach Rettung zweier großer, niederländischer Finanzinstitutionen. Diese Abgabe gilt, unabhängig von ihrer ursprünglichen Intention, nach wie vor und belastet ausschließlich Anbietende von Sozialwohnungen. Die Folgen sind fatal – Vermietende geben diese Last in der Regel an die Mieter:innen weiter. Hinzu kommt, dass der private Mietmarkt weitestgehend unreguliert ist. Die so genannte «Vermieterabgabe» schafft jedoch einen Anreiz, zum Beispiel für Wohnungsbaugesellschaften, weniger Geld in sozialen Neubau zu investieren oder sogar Sozialwohnungen zu verkaufen. Das Angebot an Sozialwohnungen geht so zu Lasten eines weitestgehend unregulierten Mietmarktes zurück.

Heute haben 800.000 Haushalte in den Niederlanden nach ihrer Mietzahlung zu wenig Geld für alltäglich notwendige Ausgaben übrig. Auch vor diesem Hintergrund hat sich landesweit eine starke Protestbewegung gebildet, die unter dem Namen «Woonopstand» für bezahlbaren Wohnraum und ein Recht auf Stadt auf die Straßen geht. Der Demonstration in Rotterdam, die von Gwen van Eijk mitorganisiert wurde, schlossen sich im Oktober 2021 zehntausend Menschen an. Sie forderten die Rückkehr zu einem starken sozialen Wohnungsbau sowie unbefristete Mietverträge für einen besseren Mieter:innenschutz. Viele Mietverträge sind heute auf zwei Jahre befristet, was Mieter:innen mit dauerhafter Unsicherheit belastet und regelmäßige Mieterhöhungen nach sich zieht. Dabei spielen die internationalen Akteure der finanzialisierten Wohnungswirtschaft in den Niederlanden noch eine untergeordnete Rolle, erklärte Kees Stadt vom kapitalismuskritischen Portal globalinfo. Die größten Akteure vor Ort sind bis dato der schwedische Konzern Heimstaden und der US-amerikanische Private-Equity-Fonds Blackstone, die hier durch ähnliche Praktiken wie beispielweise in Berlin auffallen. Insbesondere die Geschäftspraxis, Sozialwohnungen aufzukaufen und sie leer stehen zu lassen, bis die Mietpreisbindungen auslaufen, führt zu einem drastischen Anstieg der Mietpreise, während gleichzeitig undurchsichtige Steuervermeidungskonstrukte dafür sorgen, dass die öffentliche Hand um Einnahmen geprellt wird.

Spanien – Kataloniens Mietendeckel als gutes Vorbild?

Auch in Spanien spielten große Wohnungsunternehmen bisher eine relativ kleine Rolle, sagte Lorenz Vidal aus Barcelona. Doch seit der Finanzkrise 2008/2009 und des darauffolgenden Spardiktats, das die EU-Troika den Ländern Südeuropas aufoktroyiert hat, wurde auch in Spanien der Wohnungsmarkt weiter liberalisiert, um internationales Finanzkapital anzulocken. Gleichzeitig erschwert der geringe Anteil der Mieter:innen an der Bevölkerung  eine breite Organisierung. Viele Kämpfe müssen eher auf der Ebene der einzelnen Wohnung als des einzelnen Hauses gekämpft werden. In Spanien sind unbefristete Mietverträge heute ebenfalls noch eine Utopie. Die Mietenbewegung konnte jedoch bereits erkämpfen, dass Verträge mit einer Laufzeit von fünf Jahren mittlerweile sehr verbreitet sind.

Große Aufmerksamkeit konnte vor kurzem Katalonien auf sich ziehen, das einen Mietenstopp und eine Absenkung überhöhter Mieten nach dem Vorbild des Berliner Mietendeckels erlassen hat. Auch diesem Vorstoß ist es wohl mit zu verdanken, dass eine Mietpreisregulierung ähnlich der deutschen Mietpreisbremse im neuen Wohnraumgesetz Spaniens enthalten ist, welches am 26. Oktober 2021 beschlossen wurde. Das eine solche Bremse tatsächlich Wirkung entfaltet und nicht durch Ausnahmeregelungen entkernt wird, ist jedoch keinesfalls ausgemacht, wie das deutsche Beispiel zeigt. Die Angriffe von Seiten der Vermieterlobby und das Suchen nach Schlupflöchern hätten jedenfalls bereits begonnen, sagt Lorenz Vidal.

All dies zeigt: Obwohl die jeweils nationalen und lokalen Umstände der Mieter:innenbewegung in den betrachteten Ländern stellenweise große Unterschiede aufweisen, zum Beispiel in Bezug auf die Eigentümerstrukturen und den grundsätzlichen Ausbau des Sozialstaates, gibt es erhebliche Gemeinsamkeiten. Die Wohnungsnot greift in ganz Europa um sich, und immer größer und lauter werdende Bewegungen finden sich zusammen, um darauf Antworten zu finden und diese zu erkämpfen. Nach Jahrzehnten der neoliberalen Hegemonie werden allerorts die Rufe nach einer erneuten Regulierung des Wohnungswesens lauter – und insbesondere das Beispiel Schweden zeigt, dass Regierungen sich dem gegenüber nicht länger verschließen können.

Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Ausbreitung der großen, finanzgetriebenen Wohnungsunternehmen in immer mehr Städten und Ländern. Insbesondere die ähnlichen Vorgehensweisen, zum Beispiel im Rahmen des Leerstandsmodells oder bei Mietsteigerungen durch Sanierung/Modernisierung, sowie die überall existierenden Fragezeichen bezüglich der Eigentumsstrukturen und Steuervermeidung dieser Konzerne zeigen, dass eine europaweit vernetzte Mieter:innenbewegung gebraucht wird, um diesen Akteuren und ihren Profiten zulasten der Mietenden Einhalt zu gebieten. So können Ressourcen gebündelt und Wissen geteilt werden um gerade dort, wo Vonovia und Co gerade erst richtig loslegen, mit einem hohen Organisationsgrad von Anfang an Widerstand zu leisten.

Weitere Informationen zum Bündnis, den einzelnen Partner:innen und zur Vernetzung finden sich unter www.reclaiming-spaces.org/tenants-and-power

Um sich über die aktuellen Bedrohungen und Widerstände auszutauschen, hat das aktivistische Bündnis «Socialise Housing across Europe», gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Vertreter:innen europäischer mietenpolitischer Bewegungen, unter anderem aus Schweden, Spanien und den Niederlanden, zu einer Veranstaltungsreihe eingeladen. Die Veranstaltung «A New Cycle of Housing Struggles – Political impacts and challenges of the rising tenants’ movements» ist aufgezeichnet worden.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://www.rosalux.de/news/id/45508/der-kampf-um-das-recht-auf-wohnen-ist-auch-ein-europaeischer-kampf

#Wohnen #Krise #Organisierung

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Die Machtkonzentration der großen, profitorientierten Wohnungsunternehmen ist eines der bestimmenden Themen der aktuellen wohnungspolitischen Debatte. Die zunehmende Finanzialisierung von Wohnraum greift allerdings nicht nur Mieter:innen in Deutschland an. International wird Wohnraum immer mehr zur Ware. Viele der großen Wohnungskonzerne agieren global und organisieren ihre Geschäftsmodelle über Landesgrenzen hinweg. Demgegenüber sind die meisten Proteste gegen hohe Mieten und Wohnungsnot meist immer noch lokale, bestenfalls nationale Proteste. Das ist eine verpasste Chance. Die Notwendigkeit zur internationalen Vernetzung ist zwar keine neue Erkenntnis, sie bleibt allerdings auch heute noch eine dringende Forderung. Denn, vergleicht man die Kämpfe um leistbaren Wohnraum und ein Recht auf Stadt in verschiedenen europäischen Städten und die dortigen Geschäftspraktiken der großen Wohnungskonzerne, so lassen sich viele Parallelen erkennen.

Demonstration zum «Woonopstand» am 17. Oktober 2021 in Rotterdam. Foto: Sandra Fauconnier via flickr / Bildausschnitt / CC BY 2.0

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Glossar: Instrumente einer sozialen Wohnungspolitik

Oktober 2020

Jannis Pfendtner / flickr

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Wohnen, Rekommunalisierung#Wohnen #Rekommunalisierung

Die Wohnungsfrage, also das Problem der Versorgung einkommensschwacher und marginalisierter Bevölkerungsgruppen mit angemessenem Wohnraum, ist eine der zentralen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen unserer Zeit. Dieses Problem wird insbesondere auf kommunaler Ebene in wachsenden Städten und Gemeinden deutlich. Ziel dieses Glossars ist es daher, Kommunalpolitiker*innen und wohnungspolitischen Initiativen Instrumente aufzuzeigen, welche die Schaffung und Sicherung von sozialem Wohnraum ermöglichen können und die von Kommunen angewendet werden können – und in einigen Kommunen bereits angewandt werden.

Übergeordnetes Ziel muss es dabei sein, Wohnraum langfristig dem Markt zu entziehen. So machte erst kürzlich eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung über kommunale Bodenpolitik (Heinz/Belina 2019) deutlich, dass eine soziale Wohnungspolitik, die das Privateigentum an Grund und Boden nicht generell in Frage stellt, nur Flickwerk sein kann. Das Ziel einer wirklich sozialen Wohnungspolitik sollte es sein, weg von der Lenkung privater Investor*innen und hin zu einem aktiven Regieren und zu einer Demokratisierung der Wohnungsversorgung zu kommen. Deshalb muss Wohnraum in großem Maße und auf Dauer dem Markt entzogen und rekommunalisiert werden. Dies wiederum wird am besten dadurch ermöglicht, dass durch strenge politische Vorgaben und konsequentes kommunalpolitisches Handeln der Erwerb und Besitz von Liegenschaften für private Investor*innen unattraktiv wird und somit die Bodenpreise fallen (Interventionistische Linke Berlin 2018). Eine solche Strategie vermag es immerhin, für den Erhalt und Ausbau von Wohnraum, der für alle bezahlbar ist, zu sorgen (Heinz/Belina 2019).

In diesem Glossar erläutern wir im Anschluss an diese Diagnosen bestehende Instrumente, mit denen der Weg zu einer sozialen Wohnungspolitik auf kommunaler Ebene beschritten werden kann. Die einzelnen Instrumente sind dabei so aufbereitet, dass sich Kommunalpolitiker*innen, wohnungspolitische Initiativen und soziale Bewegungen in Niedersachsen leicht über die Relevanz und Reichweite der Instrumente informieren können. Wir stellen in diesem Glossar diejenigen schon jetzt zur Verfügung stehenden planerischen Instrumente vor, die entsprechend der oben genannten Bedingungen zumindest teilweise geeignet sind, die marktförmige Organisierung der Wohnraumversorgung zu durchbrechen, dies jedoch selten explizit zum Ziel haben. Aus diesem Grund führen wir zum Beispiel den Mietspiegel nicht auf, weil seine Wirksamkeit bisher nicht eindeutig belegt ist. Da der Fokus dieses Glossars auf kommunalen Instrumenten liegt, stellen wir auch keine politischen Ansätze vor, die nur auf Landes- und Bundesebene umgesetzt werden könnten. Dazu gehört etwa der Ruf nach einer neuen Niedersächsischen Landesentwicklungsgesellschaft (NILEG), vor allem aber auch die Forderung der Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit. Deren Abschaffung hat eine Lücke gerissen, die mit den hier aufgeführten Instrumenten nur notdürftig geschlossen werden kann.

Um einen leicht verständlichen Einstieg in geeignete wohnungspolitische Instrumente zu ermöglichen, haben wir die Darstellung der Instrumente jeweils wie folgt gegliedert: Auf eine Kurzbeschreibung folgt ein Überblick über die Ziele des jeweiligen Instruments aus Sicht einer sozialen Wohnungspolitik. Dann wird ausführlicher die Wirkungsweise des Instruments erklärt und anschließend Vor- und Nachteile aufgeführt. Zur Veranschaulichung des Instruments und seiner Wirkungsweise wird ein Fallbeispiel vorgestellt. Abschließend erfolgt eine Bewertung des Instruments aus Sicht einer sozialen Wohnungspolitik. Die Literaturangaben sollen – wie auch die Fallbeispiele – bei weiteren Recherchen helfen.

Wir hoffen, dass wir mit diesem Glossar einen Beitrag zur Umsetzung einer sozialen Wohnungspolitik leisten können und es Kommunalpolitiker*innen und wohnungspolitischen Initiativen gelingt, die aufgeführten Instrumente vor Ort möglichst zielführend anzuwenden. Wir wünschen eine anregende Lektüre!

Robin Marlow und Michael Mießner

Literatur

  • Heinz, Werner; Belina, Bernd (2019): Die Kommunale Bodenfrage. Hintergrund und Lösungsstrategien. Studien der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.rosalux.de.
  • Interventionistische Linke Berlin (2018): Das Rote Berlin. Strategien für eine sozialistische Stadt. Berlin. Online verfügbar unter: https://interventionistische-linke.org.

Zu den Autoren

Michael Mießner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Technischen Universität Dresden. Zuvor war er lange Zeit an der Georg-August-Universität Göttingen tätig. Seine Forschungsfelder sind die Kritische Geographie der Stadt- und Regionalentwicklung, Gentrifizierung, Immobilienmärkte und Wohnungspolitik in Deutschland. Er bemüht sich, seine Forschungsergebnisse lokalen Stakeholdern und politischen Initiativen zugänglich zu machen und so seinen Teil zu Lösung der Wohnungsfrage beizutragen.

Robin Marlow studiert Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Er war einige Jahre studentische Hilfskraft am Geographischen Institut der Universität. Anhand von Göttinger Beispielen hat er zu verschiedenen Formen und Ursachen von Verdrängung und Gentrifizierung geforscht.

Zum Glossar: https://nds.rosalux.de/glossar-wohnungspolitik

Foto: Jannis Pfendtner / flickr / CC BY 2.0

#Wohnen #Rekommunalisierung

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Die Wohnungsfrage, also das Problem der Versorgung einkommensschwacher und marginalisierter Bevölkerungsgruppen mit angemessenem Wohnraum, ist eine der zentralen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen unserer Zeit. Kommunalpolitiker*innen und wohnungspolitischen Initiativen benötigen Instrumente, welche die Schaffung und Sicherung von sozialem Wohnraum ermöglichen. Wir zeigen in diesem Glossar wohnungspolitische Ansätze und Handlungsstrategien auf, die schon jetzt in Kommunen angewendet werden können.

Jannis Pfendtner / flickr

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Welchen Beitrag leisten Genossenschaften zur gesellschaftlichen Transformation? Sind sie ein Baustein im Prozess hin zur Überwindung kapitalistischer Verhältnisse? Ein «dritter Weg» zwischen Privateigentum und Vergesellschaftung? Oder sind sie Wohlfühlinseln, die die Verhältnisse stabilisieren, anstatt sie zu verändern?

Der erste Teil (Kapitel 1 bis 3) der Broschüre beschreibt, welche Prozesse in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen haben, dass sich viele Genossenschaften von ihrer Ursprungsidee entfernt haben. Im zweiten Teil (Kapitel 4 bis 6) wird beleuchtet, worin trotz alledem die Potenziale der Genossenschaften bestehen und welche Rahmenbedingungen nötig sind, damit ihre gemeinwirtschaftliche Funktion wieder zum Tragen kommen kann. Eines ist dabei klar: Diese Veränderungen können nicht «von oben» verordnet werden, sondern müssen durch aktive Mitglieder in den Genossenschaften und auf der Straße – gemeinsam mit den stadtpolitischen Initiativen – erkämpft werden. Darum gibt der abschließende Teil Hilfestellungen, wie Mitglieder in Genossenschaften aktiv werden können (Kapitel 7).

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Kommunen, häufig Träger staatlicher Leistungen und Institutionen wie Stadtwerke oder Krankenhäuser, geraten immer mehr finanziell unter Druck und müssen sich dem «Privatisierungsdruck» und den «Sachzwang»-Argumentationen erwehren oder sogar beugen. Dass dies aber kein politisches Dogma ist, zeigen zahlreiche Rekommunalisierungen. Die Broschüre gibt einen Überblick über die Entwicklung von Rekommunalisierungen (internationale wie bundesweit) sowie über die rechtlichen Rahmenbedingungen. Aus verschiedenen Branchen (Wasser, Energie, Abfall, Krankenhäuser, Wohnen, Verkehr etc.) werden Beispiele der Rekommunalisierung in Deutschland und damit verbundene Herausforderungen dargestellt. Als Argumentationshilfe richtet sich die Broschüre gleichermaßen an kommunale Amts- und Mandatsträger*innen, lokalpolitisch engagierte Menschen in Vereinen / Initiativen sowie interessierte Menschen, die sich konkret mit öffentlicher Daseinsvorsorge auseinandersetzen möchten.

Dresden; Foto: Martin Fahlander / Unsplash

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Reichtum des Öffentlichen

Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht

August 2020

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

Rekommunalisierung, Krise, Wohnen, Krankenhaus, Mobilität, Migration, Pflege, Feminismus, Alternativen, Selbstverwaltung, Organisierung#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen beinharte Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor. Die Unternehmen versuchen, ihre Verluste zu sozialisieren. Nach den öffentlichen Schulden drohen eine Neuauflage von Austeritätspolitiken ebenso wie neue Angriffe der Arbeitgeberseite.

Die Verteidigung des Sozialstaats geht also in eine neue Runde. Doch sie sollte nicht als Abwehrkampf geführt werden, als ein Versuch, das Bedrohte zu konservieren. Stattdessen ist es Zeit, den Sozialstaat gründlich zu erneuern und seine alten Fehler zu beheben. Doch wie sieht ein Sozialstaat aus, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist? Wie lässt sich verhindern, dass sich die Spaltung der Subalternen weiter vertieft? In Krisen drohen die Kapitalfraktionen ihre Spielräume auf Kosten der Lohnabhängigen zu erweitern. Wie kann eine Alternative dazu aussehen? Und wo wird jetzt schon dafür gekämpft?

Krise an zwei Fronten

Bisher war die Finanzierung des Sozialstaates an wirtschaftliches Wachstum gebunden. In einem hart erkämpften historischen Klassenkompromiss wurden Sozialleistungen auf der Grundlage stetigen Wachstums finanziert und schrittweise ausgebaut. Dies war ein Kompromiss, der lange nicht zulasten der Profite ging. Als die Profitrate zu fallen begann, wurde er mit der neoliberalen Offensive seit Beginn der 1980er Jahre einseitig aufgekündigt. Der Sozialstaat geriet mehr und mehr unter Druck. Angesichts von Globalisierung und Transnationalisierung galt ein starker Sozialstaat als Negativfaktor im internationalen Wettbewerb (auch wenn inzwischen im Sinne des „social investment state“ eine produktivistische Neuorientierung erfolgt ist; vgl. Dowling 2016). Die Begründung: Unter dem Kostendruck der Konkurrenz könnten eben nicht alle Wohltaten finanziert werden. Nach und nach wurden die Systeme sozialer Sicherung ausgehebelt und neoliberal umgebaut. Mit dem sogenannten New Public Management gerieten betriebswirtschaftliche Kriterien zum Maßstab des Handelns auf sämtlichen Feldern des Sozialsystems (vgl. Wohlfahrt 2015).

Seitdem kriselt der Sozialstaat an zwei Fronten: Einerseits haben Jahrzehnte der neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik den Bereich sozialer Infrastrukturen und öffentlicher Dienste finanziell und personell ausgezehrt – vom Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Bereich über die Wohnraumversorgung bis hin zu Kultur und Mobilität. Es fehlt an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, aber auch an Verwaltungspersonal, Steuerprüfer*innen oder Planer*innen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beziffert die Lücke schon jetzt auf über eine Millionen Arbeitskräfte und bei weiter dynamisch wachsendem Bedarf auf bis zu vier Millionen (Ötsch u.a. 2020).

Andererseits führte die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu einem längst überwunden geglaubten Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut.[1] Die Ursachen sind vielfältig und hängen doch zusammen: Deregulierung der Arbeitsmärkte und endemische Ausbreitung von Niedriglöhnen und unfreiwilliger Teilzeit, Privatisierung und Ausdünnung der sozialen Infrastrukturen, steigende Mieten sowie eine ungerechte Besteuerungspolitik, die hohe Einkommen sowie große Vermögen begünstigt. In der Folge sehen sich Millionen Menschen mit unsicheren Zukunftsaussichten konfrontiert: Aufgrund von Arbeitslosigkeit, aufgrund von Soloselbständigkeit oder Mini- und Midi-Jobs erwerben immer weniger Menschen ausreichende Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen – unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen. Aber selbst dann, wenn Ansprüche bestehen, reicht das Leistungsniveau oftmals nicht länger für ein Leben ohne Armut. Mit Niedriglöhnen oder erzwungener Teilzeit lässt sich keine vernünftige Rente erwirtschaften oder gar privat vorsorgen. Für große Teile der Bevölkerung bieten die bestehenden Sicherungssysteme keine Perspektive mehr – das Sicherungsversprechen des Sozialstaates verliert an Glaubwürdigkeit und muss grundlegend erneuert werden.

Kein Zurück zum „alten“ Sozialstaat

Wer den Sozialstaat erhalten will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sich seine Gestalt wandeln muss. Um für die neu zusammengesetzte Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts attraktiv zu sein, muss das Konzept von Sozialstaatlichkeit erweitert und verändert werden. Dazu gilt es, linke Kritiken an seiner bisherigen Verfasstheit aufzunehmen.

Der Sozialstaat war immer gekoppelt an spezifische Produktions- und Lebensweisen, an ein bestimmtes Geschlechterregime und an das damit verbundene Modell von Erwerbsarbeit und Reproduktion. Feminist*innen haben die Norm des männlichen Alleinverdieners im fordistischen Wohlfahrtsstaat kritisiert. Soziale Absicherung ist darin an (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit und an eine weitgehend lückenlose Erwerbsbiografie gebunden. Gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, die historisch an Frauen delegiert und in den Verantwortungsbereich der privaten Haushalte verlagert wurde, erfährt weder Anerkennung noch soziale Absicherung. Damit ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit systematisch in das fordistische Wohlfahrtssystem eingeschrieben. Es verstärkt zudem mit seinem patriarchalen Familienmodell die Abhängigkeit von Frauen und benachteiligt queere Menschen. Obgleich sich die Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse inzwischen deutlich gewandelt haben, bleiben die Verkopplung von sozialer Absicherung und Erwerbstätigkeit sowie die Privilegierung eines heteronormativen Ehe- und Familienmodells bestehen. Deswegen: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Erneuerung des Sozialstaates.

Die meisten Leistungen des Sozialstaates sind außerdem an nationale Zugehörigkeit gebunden. Es profitieren von ihnen nur diejenigen, die über eine bestimmte Staatsbürgerschaft verfügen oder über die offizielle Lohnarbeit sozialversichert sind. Geflüchtete, Personen im Asylverfahren und insbesondere Illegalisierte haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, obwohl Letztere in Sektoren wie Hausarbeit, Pflege, Bau, Landwirtschaft, Sexarbeit, Hotellerie, Gastgewerbe oder Reinigungsgewerbe einen elementaren Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung leisten (vgl. Behr 2010). Über das Aufenthaltsrecht wird migrantische Arbeit abgewertet, viele sind gezwungen, besonders schlechte Löhne und unsichere Bedingungen zu akzeptieren, was sich nicht nur in geminderten Leistungsansprüchen niederschlägt, sondern außerdem eine gesellschaftliche Aufwertung der genannten Arbeiten (Hausarbeit, Pflege etc.) erschwert. Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse werden dadurch verschärft.

Aber auch auf Migrant*innen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wirkt sich der bestehende Sozialstaat diskriminierend aus. Sie leiden besonders häufig unter unterbrochenen Erwerbsbiografien und Phasen informeller, schlechter bezahlter oder generell prekärer Beschäftigung, was geringere Anwartschaften zur Folge hat. Nicht erst angesichts wachsender Migrationsbewegungen muss diese Selektivität des Sozialstaats in Bezug auf die nationale Herkunft überwunden werden. Es bedarf hier einer grundlegenden Erneuerung, um ihn für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Eine große Aufgabe.

Die linke Kritik am fordistischen Sozialstaat hat schließlich deutlich gemacht, dass er – trotz seiner zweifellos positiven Funktion der Absicherung und Umverteilung – auch paternalistische Züge trägt und zur Passivität anhält. Das bürokratische, starre und auf Kontrolle orientierte Hilfesystem ist nicht nur an bestimmte Erwerbsmodelle und Lebensformen gebunden, sondern wirkt an vielen Stellen entmündigend. Der Ausschluss vieler Leistungsempfänger*innen von gesellschaftlicher Teilhabe wird so – trotz sozialer Abfederung – letztlich fortgeschrieben.

Zwar sind etliche, von Luc Boltanksi und Ève Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnete Einwände der neuen Linken später vonseiten neoliberaler Gegner*innen des Sozialstaats aufgenommen und entsprechend enteignet worden. Dennoch steckt hier ein für linke Zukunftsentwürfe unhintergehbarer Impuls: Ein Zurück zu den korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats des 20. Jahrhunderts ist keine Alternative, nicht nur wegen gewandelter Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse, sondern auch wegen seines ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Mit einer Erneuerung sozialer Sicherungssysteme ist darum auch die Aufgabe ihrer grundlegenden Demokratisierung verbunden.

Wo die Herausforderungen liegen

Die sozialen Sicherungssysteme stehen vor mehreren neuen Herausforderungen, die mit alten Konzepten nicht gelöst werden können.Sozial "abgehängte" Räume: Die Folgen der Erosion des Sozialstaates zeigen sich besonders prägnant auf der sozialräumlichen Ebene. Soziale Ungleichheit verschärft sich und dokumentiert sich zunehmend in Postleitzahlen, teils entstehen „abgehängte" Räume mit extrem lückenhafter Infrastruktur in benachteiligten Vierteln der Städte und in peripheren Zonen jenseits der Städte. Das trifft am stärksten marginalisierte Gruppen und erzeugt Konkurrenz um bereits knappe Ressourcen. Rechte Sicherheits- und Ordnungsdiskurse, die die Bedrohung einer vermeintlich homogenen Lebensweise der Einheimischen heraufbeschwören, können hieran anschließen. Da ein Großteil der Sozialleistungen von den Kommunen erbracht wird, wachsen zudem die sozialräumlichen Disparitäten zwischen Städten und Regionen.

Krise der Reproduktion: Das fordistische Geschlechter-, Reproduktions- und Familienmodell hat sich stark verändert – ohne dass jedoch Geschlechteregalität oder soziale Rechte für alle erreicht wurden. Heute dominiert nicht länger das Alleinernährer-, sondern das sogenannten Adult-Worker-Modell. Der Zwang, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, trifft nun alle gleichermaßen und verändert auch das Sorgeregime. Zwar werden immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die früher fast ausschließlich privat und unentgeltlich geleistet wurden, heute auch als Erwerbsarbeit erbracht – dies gilt etwa für Pflege und Erziehungsarbeit. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge werden die öffentlichen Angebote jedoch massiv ausgedünnt, was Überlastung, Stress und Erschöpfung zur Folge hat. Care-Arbeit ist auch als Lohnarbeit immer noch mehrheitlich eine Domäne von Frauen und Migrant*innen und wird somit deutlich schlechter bezahlt als andere Tätigkeiten. Ohne Geschlechtergerechtigkeit und ohne ein Ende der Abwertung von migrantischer Arbeit kann es also keine Erneuerung des Sozialstaates geben.

Die Zunahme bezahlter Sorgearbeit und ihre zunehmend privatwirtschaftliche Organisierung wirft auch die Frage neu auf, wo die Grenzen einer kapitalistischen Inwertsetzung von Fürsorge liegen. Ausgehend hiervon ist auch zu klären, ob nicht wichtige gesellschaftliche Aufgaben dem Markt gänzlich entzogen werden müssen, ob und inwieweit also eine Vergesellschaftung oder auch Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge notwendig ist.

Migration: Mit der Zunahme weltweiter Migration stellt sich die alte Frage nach dem Zugang zu bis dato vor allem nationalstaatlich organisierten Sicherungssystemen neu. Die Gesellschaften des Nordens sind noch stärker als bisher zu Einwanderungsgesellschaften geworden. Eine Abschottung gelingt nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche wie dem Anspruch nach Solidarität und Antirassismus. Ein in erster Linie als Versicherungssystem konzipierter Sozialstaat setzt allerdings jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anwartschaften voraus, die mit einer gestiegenen Bewegungsfreiheit und globaler Migration kaum kompatibel sind. Der Ausschluss vieler migrantischer Arbeitskräfte von sozialen Sicherungsleistungen ermöglicht die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sozialstaatliche Rechte müssen deswegen neu gedacht und von einem restriktiv regulierten Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht sukzessive gelöst werden.

Globale Ungleichheit: Das Einkommensgefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern hat zwar über die letzten Jahrzehnte abgenommen. Dies liegt aber vor allem am Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren wie China oder Südkorea oder von sogenannten Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Indien. Andere Länder sind im Prozess neoliberaler Globalisierung weiter zurückgefallen. Krieg und Zerstörung, Ressourcenausbeutung, unfaire Handelsabkommen, ungerechte weltwirtschaftliche Beziehungen und eine Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung in globalen Produktionsketten zerstören die Lebensperspektiven von Millionen. Die dadurch verursachte Ausbeutungsdynamik zwischen Nord und Süd wirft die Frage nach der Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen in den reichen Ländern mit besonderer Schärfe auf. Gleichzeitig hat die Schere zwischen Arm und Reich auch in den wohlhabenderen Gesellschaften ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung selbst. Die wachsende Ungleich unterminiert damit die Fundamente des sozialen Gewebes.

Klimakrise: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme klassenspezifischer Ungleichheiten und einem drastisch steigenden CO2-Ausstoß. Der Anteil, den die Reichen an den weltweiten Emissionen haben, wächst überproportional stark, während der Anteil der Ärmsten rückläufig ist. Dieses Missverhältnis gilt generell auch für die einzelnen Gesellschaften (Kleinhückelkotten u.a. 2016). Mehr Gleichheit ist also nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen notwendig.Die Folgen kapitalistischen Wachstums haben zu einer planetarischen ökologischen Krise geführt, die weitere soziale Verwerfungen sowie eine Zuspitzung der Reproduktionskrise und zunehmende Migrationsbewegungen nach sich zieht und immer mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Damit sind diese Entwicklungen zu nicht mehr hintergehbaren Herausforderungen auch für unser Verständnis von Sozialstaat geworden. Zugleich wird deutlich: „Der Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet“ (Urban). Wenn solidarische Formen der Krisenbearbeitung nicht durchgesetzt werden können und es nicht zu einer Umverteilung von Ressourcen sowie zu einer Verallgemeinerung sozialer Rechte kommt, sind eine Zunahme von Verteilungskonflikten und eine Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse absehbar.

Damit geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Sie betrifft die kommunale, nationale und transnationale Ebene. Doch um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss der Sozialstaat auch finanziert werden. Angesichts der ökologischen Krise kann dabei nicht umstandslos an die Tradition des sozialstaatlichen Kompromisses auf Basis von noch mehr Wachstum angeknüpft werden. Einerseits müssen Unternehmen und Vermögende deutlich stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Andererseits muss das Verhältnis von Steuern und Beiträgen neu austariert werden, um die Abhängigkeit einer sozialen Absicherung von der Erwerbsarbeit zu überwinden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden.

Soziale Infrastrukturen: kostenfrei und demokratisch

Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können. Das zeigt sich auch in den Diskussionen um die Zukunft sozialer Absicherung und die Perspektiven des Sozialstaats im 21. Jahrhundert. Was also wären positive Entwürfe, die die Anliegen der vielfältigen Bewegungen des Protests bündeln könnten? Von den zunehmenden Arbeitskämpfen insbesondere im Bereich Pflege und Erziehung über die Mietenproteste, die Anti-Privatisierungs-Bündnisse bis hin zu den neuen antirassistischen Protesten und der Klimabewegung: Wie könnten gemeinsame Forderungen aussehen, die die unterschiedlichen Anliegen einer pluralen Linken und verschiedenen Teilen der Subalternen aufnehmen und sinnvoll miteinander verbinden?Seit einigen Jahren dreht sich die Debatte – angestoßen von einem Diskussionszusammenhang rund um Joachim Hirsch (2003) und das Frankfurter links-netz (2012) – verstärkt um die Bedeutung sozialer Infrastrukturen als Teil einer postneoliberalen Sozialpolitik. Der Ansatz stellt die sozialen Dienstleistungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Transformation. Nach vielen Jahren neoliberaler Politiken ist hier zum einen der Mangel besonders offensichtlich, zum anderen ist dies der einzige Sektor, der in den Industrieländern ein beträchtliches (klima- und ressourcenneutrales) Beschäftigungspotenzial verspricht.

Statt also Sozialleistungen wie bisher nur über einen Mix aus Versicherungsmodellen und steuerfinanzierten Ansprüchen jeweils individuell abzusichern, besteht die Idee, „soziale Infrastrukturen“ zum Kern eines neuen Sozialstaats zu machen darin, soziale Dienstleistungen konsequent auszubauen und für alle frei – also auch entgeltfrei – zugänglich zu machen. Das betrifft die Gesundheitsversorgung genauso wie den Bereich der (Weiter-)Bildung, der Erziehung und Betreuung, das Recht auf bezahlbares Wohnen und auf Mobilität genauso wie den Zugang zu Energie, Trinkwasser oder zum Internet. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt also – anders als etwa bei einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht primär auf der monetären Absicherung des individuellen Konsums, sondern auf dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, also auf dem kollektiven Konsum.[2]

Alles entgeltfrei? Ja und nein. Vorstellbar wäre beispielsweise, auf allen genannten Feldern eine entgeltfreie Grundversorgung zu ermöglichen und für die Befriedigung darüber hinaus gehender individueller Bedürfnisse, Vorlieben oder Leidenschaften die Menschen ganz oder teilweise bezahlen zu lassen. Für den Bereich der Energieversorgung, die ein modernes menschliches Grundbedürfnis darstellt, würde das Folgendes bedeuten: Die Grundversorgung ist im Rahmen sozialer Infrastrukturen abgedeckt. Wer mehr Energie verbraucht, zahlt dafür, und Vielverbraucher zahlen deutlich mehr, der Preis steigt also progressiv an. Dieses Prinzip ist auf unterschiedliche Bereiche anwendbar (vgl. Schachtschneider/Candeias 2013): Zur Kasse gebeten wird, wer viel verbraucht. Das hieße ein entgeltfreies Pro-Kopf-Trinkwasserkontingent, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen und Luxusautos; entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, die Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle gebührenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, (dauerhaftem) sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums, Vergesellschaftung großen Immobilienbesitzes und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.

Ein solches Konzept wäre nicht nur ein Beitrag zum Abbau von sozialen Ungleichheiten, sondern auch ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise. Investitionen in soziale Dienstleistungen sind ökologisch sinnvoll, da die Arbeit mit Menschen kaum Umweltzerstörung mit sich bringt und deren Ausweitung neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet auch als Ausgleich für die Jobs, die in den rückzubauenden Bereichen klimaschädlicher Industrien verloren gehen werden. Dieser Ansatz hilft nicht nur bei der Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit, sondern auch bei der der (unbezahlten) Reproduktion. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen wird professionelle Care-Arbeit aufgewertet und erhält zusätzliche Ressourcen. Zugleich lässt der Erwerbsdruck nach, da die Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse garantiert ist. Damit steht mehr Zeit für Sorge und Selbstsorge sowie für die Arbeit am Gemeinwesen und politisches Engagement bereit. Nicht zuletzt bietet sich hier auch eine Chance, die für die emanzipative Gestaltung von Geschlechterverhältnissen genutzt werden kann: Der Blick wird stärker auf die reproduktiven Funktionen und Tätigkeiten gerichtet: Was erhält und sichert unser gemeinsames Leben? Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die stärkere Entkopplung der sozialen Teilhabe vom Erwerbsstatus und von der Lebens- oder Familienform – also individuelle Ansprüche für jede und jeden, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft.

Der Ausbau sozialer Infrastrukturen stärkt auch eine solidarische und demokratische Gesellschaft, denn Angst und Unsicherheit vor den notwendigen gesellschaftlichen Umbrüchen werden gemindert. Zugleich erscheinen die diskriminierenden Sozialstaatskonzepte der Rechten weniger attraktiv, wenn Marginalisierung, Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit bekämpft werden. Das Konzept sozialer Infrastrukturen erlaubt es also nicht nur, linke Sozialpolitik jenseits des fordistischen Wohlfahrtstaates neu zu denken. Die Forderung nach einer entgeltfreien, sozialökologischen Grundversorgung für alle, die hier leben (unabhängig von Pass, Geschlecht, Postleitzahl oder sonstigem Status), kann als verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe und eines gesellschaftlichen linken, sozialökologischen solidarischen Pols in der Gesellschaft dienen.

Soziale Infrastrukturen zielen darauf, weite Teile der Daseinsvorsorge dem Markt (wieder) zu entziehen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das bedeutet konkret, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen. Mit der Rekommunalisierung beispielsweise von privatisierten Krankenhäusern, Altenheimen, Kindertagesstätten, Wohnraum oder privaten Mobilitätsdienstleistungen ist nicht zuletzt die Frage der Eigentumsform gestellt – wie insbesondere die Kampagnen gegen überhöhte Mieten zuletzt deutlich gemacht haben. Hier können Umverteilung und soziale Gerechtigkeit mit Forderungen nach Demokratisierung und Emanzipation verbunden werden. Denn jenseits der Eigentumsfrage gilt es, neue Formen der Beteiligung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Soziale Infrastrukturen in öffentlicher Hand bedeutet auch, diese umfassend zu demokratisieren, sie in die Hände der Produzent*innen und Nutzer*innen zu legen. An vielen Stellen wird bereits über Gesundheits- oder Care-Räte diskutiert. Auch regionale Mobilitäts- und Transformationsräte stehen auf der Tagesordnung. Wir könnten so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen und erste Schritt in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus gehen (vgl. Redaktion prager frühling 2009).

Ein strategischer Vorschlag zur richtigen Zeit

Wie lässt sich so ein Umbau öffentlicher Dienstleistungen durchsetzen? Fest steht, das Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn unterschiedliche Akteure darin ihre Interessen wiederfinden. Die Idee kostenfreier, demokratischer Infrastrukturen kann unserer Ansicht nach Spielräume für linke Politik eröffnen: Soziale Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, Spaltungen zu überwinden und solidarisch zu bearbeiten, weil sie egalitäre Zugänge für unterschiedliche Teile der Subalternen bieten. In funktionierenden sozialen Infrastrukturen kommt die Idee eines anderen kollektiven Wohlstands zum Ausdruck, die imstande ist, gemeinsame Interessen an einem öffentlichen Reichtum überhaupt erst zu artikulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. Candeias 2019, 6). Außerdem bietet sich die Chance, aus fruchtlosen, von Gegensätzen geprägten linken Debatten herauszukommen, und zwar hinsichtlich mehrerer Streitfragen:

Das bedingungslose Grundeinkommen: Von diesem Grundeinkommen erhoffen sich beispielsweise Erwerbslose, Soloselbstständige und prekär Beschäftigte mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten dagegen weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Die Idee „sozialer Infrastrukturen“, verbunden mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, kann hier neue Perspektiven aufzeigen und neue Bündnisse ermöglichen.

Die Wachstumsfrage: Auch an diesem Punkt steckt die linke Debatte fest: zwischen Positionen von Degrowth-Anhänger*innen und denen keynesianisch inspirierter Vertreter*innen qualitativen Wachstums. Dabei streitet niemand ab, dass bestimmte Bereiche schrumpfen müssen, etwa die mit hohem Stoffumsatz verbundene industrielle Produktion, und andere zunächst wachsen müssen, wie die gesamte Care-Ökonomie und eben die sozialen Infrastrukturen, bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Ein solches qualitatives Wachstum ist übergangsweise notwendig, nicht zuletzt aufgrund der Lücken in vielen Bereichen der Reproduktion. Auch alternative industrielle Produktion ist notwendig – dies gilt vor allem für Länder des globalen Südens, aber auch hier für ressourcen- und klimaschonende Innovationen. Ein simpler Gegensatz von Wachstums- versus Postwachstumspositionen ist daher kontraproduktiv. Es muss um ein Einschwenken auf einen mittelfristigen Kurs einer „Reproduktionsökonomie“ (Candeias 2011) gehen, in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr stofflich wachsen. Soziale Infrastrukturen stünden im Zentrum einer solchen Reproduktionsökonomie.

Sie wären damit auch die wichtigste Säule für eine neue öffentliche Ökonomie, ohne die eine sozialökologische Transformation kaum möglich sein wird. Es gibt nur wenig Ansätze, die einer öffentlichen Produktionsweise eine eigene ökonomische Qualität zugestehen. Ausnahmen sind zum Beispiel die Ansätze eines "Public Value" (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder einer "Sozialwirtschaft" (Müller 2005 u. 2010). Dafür notwendig wäre eine andere gesellschaftliche Buchführung, die vorhandene wie benötigte Ressourcen gebrauchs- und bedarfsorientiert ins Verhältnis setzt und die die Frage ins Zentrum stellt, zu welchem Zweck und wie wir diese Ressourcen eigentlich einsetzen wollen. Eine solche gesellschaftliche Buchführung könnte eine von kapitalistischen Werttransfers unabhängige Grundlage für eine öffentliche Produktionsweise bieten. Der Sozialstaat wäre dann nicht nur kompensatorisch für den Ausgleich sozialer Verwerfungen und als Stabilisator in Zeiten von Krise zu denken, sondern wäre selbst Element einer solchen öffentlichen Ökonomie. Er wäre die Grundlage einer anderen Form des Produzierens und Reproduzierens, die mit dem Begriff grüner Infrastruktursozialismus umschrieben werden kann.

Verbindende Klassenpolitik für den grünen Infrastruktursozialismus…

Für anstehende sozialökologische Transformationskonflikte ist eine ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur ein Sicherheitsversprechen, das notwendig gewordenen Veränderungen das Bedrohliche nimmt und eine positive Zukunft denkbar werden lässt. Viele Bewegungen und die LINKE haben sich in den letzten Jahren bereits am Konzept der sozialen Infrastrukturen orientiert und es zu einem verbindenden Projekt werden lassen. Hier treffen sich Fragen der Umverteilung mit denen nach Freiheitsrechten und Demokratie, Fragen der Klassenpolitik mit Fragen der Anerkennung und Ermöglichung von Diversität und verschiedenen Lebensweisen.

Auch von anderer Seite wird der Frage sozialer Infrastrukturen (endlich) neue Bedeutung zugemessen: Eine neue "Fundamentalökonomie", wie Wolfgang Streeck es im Anschluss an eine englische Autorengruppe nennt (Foundational Economy Collective 2019), ist ein Bezugspunkt auch für sozialdemokratische Intellektuelle (vgl. u.a. SPW 2019), für Gewerkschaften wie die IG Metall, ver.di, die Eisenbahn- & Verkehrsgewerkschaft oder die GEW, aber auch für Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch für die Umweltbewegung und -verbände.

Die Bedingungen für große progressive Entwürfe sind gerade nicht gut, es stehen beinharte Auseinandersetzungen um die immensen Kosten der Krise bevor. Zugleich hat die Corona-Krise viele vermeintlich feststehende Wahrheiten infrage gestellt und aufgezeigt, dass politische Reaktionsmuster ins Wanken geraten können. Innerhalb kürzester Zeit war es nicht nur möglich, im Sinne der Pandemieprävention die Wirtschafts- und Konsumkreisläufe ganzer Gesellschaften herunterzufahren und damit – zumindest vorübergehend – das Primat der Politik vor das der Ökonomie zu setzen. Es ist im Zuge der Krisenbekämpfung auch möglich geworden, große staatliche Finanzvolumina zur Stützung von Unternehmen, Erwerbstätigen und öffentlichen Infrastrukturen sowie zur Ankurbelung der Konjunktur zu mobilisieren und dafür die "schwarze Null" von heute auf morgen über Bord zu werfen. Auf der Ebene der europäischen Regierungen wurde zudem das Verbot der gemeinsamen Verschuldung geschliffen. Das alles bedeutet für den weiteren Fortgang der Krise noch gar nichts, wie erwähnt stehen beinharte Verteilungskämpfe bevor. Es zeigt aber doch, dass das bisher scheinbar so fest verankerte marktliberale TINA-Prinzip[3] in einer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung aufgeweicht wurde. Unter der Wucht der Pandemie gewannen nicht nur eine andere Finanz- und Schuldenpolitik, sondern allgemein eine vorausschauendere, staatliche Steuerung und Intervention an Attraktivität. An solchen Tabubrüchen gilt es anzusetzen. Es sind kleine erweiterte Spielräume für eine gesellschaftliche Linke, die es zu nutzen gilt, um neue, um andere Pfade denkbar zu machen und zu erkämpfen (vgl. IfG & Friends 2020).

…und wo sie heute schon stattfindet

Um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen wird von vielen Akteuren bereits konkret gekämpft. Am sichtbarsten ist dies momentan wohl im Gesundheitswesen der Fall. In der ab September anlaufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (ÖD) wird es um eine Aufwertung der Pflege gehen. Bund und Länder haben angekündigt, dass es angesichts der Krise nichts zu verteilen gibt. Trotz des größten Rettungspakets der Geschichte soll es für die „systemrelevanten“ Berufe also bei einer symbolischen Anerkennung bleiben. Für höhere Löhne in der Pflege, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Personalquoten wird schon seit Langem gestreikt und gekämpft. Die Forderung nach einer bedarfsorientierten Finanzierung und nach mehr Personal in diesem wichtigen Bereich des Gesundheitswesens könnte zu einem Kristallisationspunkt von Kämpfen sowohl von Beschäftigten als auch von Nutzer*innen sozialer Infrastrukturen werden. Im Sinne eines Infrastruktursozialismus geht es außerdem darum, diese wichtigen Funktionen in gesellschaftliche Verantwortung zurückzuholen – also um eine Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Ähnlich steht es um Bildung und Erziehung, auch hier wird im Rahmen der Tarifrunde ÖD für eine Aufwertung und für bessere Angebote gestritten. Und auch hier hat die Pandemie schonungslos offengelegt, wie schlecht dieser elementare Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausgestattet ist – und zwar sowohl was das qualifizierte Personal angeht als auch die physische und digitale Hardware. Um in den Bereichen Bildung, Erziehung und soziale Arbeit verlässliche soziale Infrastrukturen für alle durchzusetzen, bedarf es neben einer besseren tariflichen Entlohnung des Personals des Ausbaus von Kitaplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten. Zudem wird vonseiten der Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, der Partei DIE LINKE und anderen schon seit Längerem für die bundesweite Abschaffung von Kitagebühren gestritten. Mit diesen Maßnahmen könnte die in Deutschland besonders dramatisch ausgeprägte Bildungsungleichheit verringert und mehr Teilhabe und Demokratie möglich werden.

Parallel zur Tarifrunde im ÖD werden erstmals bundesweit die Tarife im öffentlichen Nahverkehr verhandelt. Neben einer Entlastung durch mehr Personal geht es um einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Angesichts der zugespitzten Klimakrise ist das Letztere ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Fridays for Future, ver.di, die LINKE und andere wollen diese Auseinandersetzungen als gemeinsames Projekt angehen. Konkrete Schritte, um „Mobilität für alle“ als soziale Infrastruktur zu entwickeln, gibt es in einigen Städten schon: Der Einstieg in einen generellen Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist ein kostenloses Jahresabo für Schüler*innen, Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, kombiniert mit der Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle anderen. Dies soll den notwendigen Umstieg vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel erleichtern. Damit der steigende Bedarf an öffentlichen Nah- und Fernverkehrsmitteln überhaupt gedeckt werden kann, muss das Schienennetz ausgebaut und muss eine alternative Produktion von Straßenbahnen, E-Bussen, Zügen, U-Bahnwaggons etc. angeschoben werden. Zumindest Teile davon könnten in öffentlichen Unternehmen realisiert werden und wären damit ein weiterer Baustein der oben skizzierten öffentlichen Ökonomie.

Im Bereich Wohnen & Miete ist die Auseinandersetzung schon weiter. Hier geht es um die Verteidigung eines gesetzlichen Mietendeckels, wie er bisher in Berlin beschlossen wurde, und darum, ihn auf andere Bundesländer auszuweiten. Auch hier wird konkret über Vergesellschaftung diskutiert. Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co hat dies zum Ziel. Um die Menge an bezahlbarem Wohnraum zu erhöhen, wird der Bau von Sozialwohnungen in großer Zahl über eine „neue Gemeinnützigkeit“ ins Auge gefasst. Auch die Gründung einer öffentlichen Bauhütte, also eines Verbunds von Gewerken in öffentlicher Hand, wäre nützlich, um sich von der Bauindustrie unabhängig zu machen.

Auch in feministischen Debatten und Kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit spielt der Ausbau sozialer Infrastrukturen seit Jahren eine wichtige Rolle. Die internationale Bewegung für einen feministischen Streik und Debatten um eine feministische Klassenpolitik stellen die Aufwertung und Entlastung entlohnter wie unbezahlter Sorgearbeit ins Zentrum. Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit zielt auf eine Ausweitung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen, genauso wie hierzulande das queer-feministische Netzwerk Care Revolution. Dort organisieren sich unentlohnt Sorgende zusammen mit professionellen Care-Arbeiter*innen und denjenigen, die als Patient*innen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Gute Arbeitsbedingungen und Ausstattung in Kitas, Ganztagsschulen, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz reduzieren die Überlastung insbesondere von Frauen und ermöglichen eine Aufwertung wie eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit (vgl. Fried/Schurian 2016).

Kämpfe um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren in der weltweiten Bewegung für solidarische Städte gebündelt (vgl. Christoph/Kron 2019). Städte und Kommunen werden hier als Terrain gesehen, um eine demokratische Teilhabe und den Zugang zu lebenswichtigen Leistungen und Infrastrukturen für Geflüchtete und Illegalisierte lokal zu ermöglichen. New York City hat als erste Stadt eine “City Card” eingeführt, eine Art kommunales Personaldokument, das den Zugang zu städtischen Leistungen wie Gesundheit und Bildung ermöglicht sowie den Besuch von Bibliotheken und Museen, aber auch die Eröffnung eines Bankkontos und Abschluss eines Mietvertrags. Darüber hinaus bietet die "City Card" Schutz vor racial profiling, Polizeigewalt und Abschiebung – sie wird von der lokalen Polizeibehörde anerkannt und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Papiere. Auch in Europa wird an vielen Orten über eine "City Card" diskutiert. Zürich und Bern gehen hier voran,[4] aber auch in Berlin denkt die LINKE über die Einführung eines solchen Ausweisdokumentes nach (vgl. Frank 2019).

In Sachen Finanzierung braucht es Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen. Absehbar ist bereits jetzt, dass die Argumente und Konzepte der Austerität spätestens nach der nächsten Bundestagswahl mit Wucht durchschlagen werden. Spätestens dann wird genauer darüber verhandelt werden, wie und von wem die zur Pandemiebekämpfung aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden sollen. Das alles findet unter anderem vor dem Hintergrund der weiterhin ungelösten Altschuldenproblematik der Kommunen in Höhe von derzeit geschätzt rund 45 Milliarden Euro statt.Die Kommunen aber sind die Orte, an denen die Menschen ganz maßgeblich ihre Alltagserfahrungen sammeln und ihre Leben gestalten. Weitere Einschränkungen in weiten Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge werden der Entdemokratisierung, dem Frust und der Akzeptanz destruktiver Konzepte der Rechten sowie weiteren Klassenspaltungen Vorschub leisten. Umgekehrt kann der Ausbau sozialer Infrastrukturen, wie beschrieben, nicht nur Ungleichheiten bekämpfen, sondern eben auch mehr Demokratie und Teilhabe (auch vormals in der Öffentlichkeit unterrepräsentierter Gruppen) ermöglichen.

Für all das braucht es starke Initiativen von unten, die für eine solche Perspektive weitere kampagnenfähige und öffentlichkeitswirksame Kristallisationspunkte identifizieren, an denen es sich lohnt, auf verschiedenen Ebenen (kommunal, national, europäisch etc.) gleichzeitig produktive Konflikte aufzumachen und voranzutreiben. Dafür müssen auch und vor allem diejenigen gewonnen werden, die unter den derzeitigen Mängeln der sozialen Infrastrukturen am stärksten leiden.

Es wird entscheidend sein, ob es bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr gelingen wird, einen sozialökologischen Block zu formen, der Aufwertung und Ausbau sozialer Infrastrukturen zum Fluchtpunkt eines gemeinsamen Projekts macht (das auch nach der Wahl noch Bestand hat). Denn nur mit massivem gesellschaftlichen Druck und einer Bündelung von Kräften lassen sich konsequente Schritte in diese Richtung durchsetzen – Schritte in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus.

Fußnoten

[1] Die soziale Ungleichheit fällt nach neuesten Zahlen noch drastischer aus, als bislang angenommen: Demnach besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland rund 35 Prozent statt, wie bislang angenommen, 22 Prozent des Nettovermögens, die oberen zehn Prozent 67,3 statt 58,9 Prozent (Bartels u.a. 2020).

[2] Dies bedeutet nicht, die Bedeutung und Errungenschaft des klassischen Sozialversicherungsmodells zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Eine demokratischere, solidarischere Gesellschaft muss auch das Sozialversicherungswesen in den Blick nehmen, ausbauen und universalisieren, um die individuellen Risiken und Brüche im Lebenslauf besser abzusichern. Das heißt unter anderem, dass Elemente einer Mindestsicherung (etwa eine Mindestrente, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, oder eine Kindergrundsicherung etc.) gegenüber leistungsbezogenen Anwartschaften verstärkt werden und die Versicherungspflichten ausgeweitet werden müssen. Denkbar wären hier eine umfassende Erwerbstätigenversicherung (unter Einbeziehung auch von Beamt*innen, Freiberufler*innen, Selbstständigen etc.) im Rentensystem sowie eine Bürgerversicherung aller im Gesundheitswesen und eine solidarische Pflegevollversicherung.

[3] TINA: There Is No Alternative.

[4] Vgl. www.zuericitycard.ch/ und https://wirallesindbern.ch/city-card/.

Literatur

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Bartels, Charlotte/Göbler, Konstantin/Grabka, Markus/König, Johannes/Schröder, Carsten, 2020: MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, DIW-Wochenbericht 29/2020

Behr, Dieter A., 2010: Crossing Borders, in: Kulturrisse, März 2010

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

Candeias, Mario, 2004: Erziehung der Arbeitskräfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat, in: UTOPIE kreativ, Heft 165/166, 589–601

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Christoph, Wenke/Kron, Stefanie (Hg.), 2019: Solidarische Städte in Europa. Urbane Politik zwischen Charity und Citizenship, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

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Facundo, Alvaredo u.a. (Hg.), 2018: Die weltweite Ungleichheit. Der World Inequality Report 2018, München

Foundational Economy Collective, 2019: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M.

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Gehrig, Thomas, 2013: Soziale Infrastruktur statt Grundeinkommen, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-infrastruktur-statt-grundeinkommen

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Kleinhückelkotten, Silke/Neitzke, Hans-Peter/Moser, Stephanie, 2016: Repräsentative Erhebung von Pro-Kopf-Verbräuchen natürlicher Ressourcen in Deutschland (nach Bevölkerungsgruppen), Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, Berlin, www.umweltbundesamt.de/publikationen/repraesentative-erhebung-von-pro-kopf-verbraeuchen

Mazzucato, Mariana/ Josh Ryan-Collins, 2019: Putting value creation back into ‘public value’: From market fixing to market shaping. UCL Institute for Innovation and Public Purpose, Working Paper Series, IIPP WP 2019-05, https://www.ucl.ac.uk/bartlett/public-purpose/wp2019-05

Müller, Horst, 2005: Sozialwirtschaft als Systemalternative, in: Ders. (Hg.): Das PRAXIS-Konzept im Zentrum gesellschaftskritischer Wissenschaft, Norderstedt, 254-289

Ders., 2010: Zur wert- und reproduktionstheoretischen Grundlegung und Transformation zu einer Ökonomie des Gemeinwesens, in: Ders. (Hg.): Von der Systemkritik zur gesellschaftlichen Transformation, Norderstedt,157-228

Ötsch, Rainald/Heintze, Cornelia/Troost, Axel, 2020: Die Beschäftigungslücke in der sozialen Infrastruktur, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_2-20_Beschaeftigungsluecke.pdf

Redaktion prager frühling, 2009: Ein Beitrag gegen die Krise. Plädoyer der Redaktion für Infrastruktursozialismus, in: prager frühling 4-2009, www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/302.ein-beitrag-gegen-die-krise.html

Schachtschneider, Ulrich/Candeias, Mario, 2013: Kontrovers: Ökologisches Grundeinkommen vs. soziale Infrastruktur und kollektiver Konsum, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/kontrovers-oekologisches-grundeinkommen-2/

SPW – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 2019: Von der Kapitallogik zur gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie, Heft 235, www.spw.de/xd/public/content/index.html?sid=heftarchiv&year=2019&bookletid=176

Streeck, Wolfgang, 2019: Vorwort, in: Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M., 7–32

Wohlfahrt, Norbert, 2015: Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen – Die Ökonomisierung sozialer Dienste, in: LuXemburg 1/2015, www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-geschaeft-mit-grundbeduerfnissen/

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.

Moritz Warnke ist Referent für Soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur dieser Zeitschrift. Er ist im Landesvorstand der Berliner LINKEN und vertritt den Landesverband in der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«.

Eva Völpel arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für Wirtschaftspolitik.

Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist im Netzwerk Care Revolution aktiv und arbeitet zu Fragen von Sorgearbeit und Feminismus.

Hannah Schurian ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg. Sie ist Redakteurin dieser Zeitschrift.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/reichtum-des-oeffentlichen

#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor, so dass weitere Einschränkungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu befürchten sind. Zeit, den Sozialstaat und seine Finanzierung gründlich zu erneuern, schreiben die Autor:innen. Dabei geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Der Artikel zeigt, vor welchen Herausforderungen die sozialen Sicherungssysteme stehen, wie ein Sozialstaat aussehen kann, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist und wo schon jetzt ganz konkret um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen gekämpft wird.

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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»Wohnraum muss für alle da sein - auch für Geflüchtete«

Juli 2019

Rasande Tyskar / flickr

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Anti-Rassismus, Migration, Wohnen#Anti-Rassismus #Migration #Wohnen

Ihr unterstützt Personen mit Fluchterfahrung bei der Wohnungssuche. Was sind die dringlichsten Probleme, mit denen die Menschen zu euch kommen?

BEA: Die meisten wollen dringend aus den Unterkünften raus und in einer eigenen Wohnung leben, eine Privatsphäre haben.

REMZI: Wir unterstützen Personen, die beider Wohnungssuche eine Diskriminierung erfahren. Leider stellen wir täglich fest,dass die Wohnungssuche insbesondere für Menschen mit Flucht- oder Migrationserfahrung besonders schwierig ist. Sie haben kaum Zugänge zum Wohnungsmarkt und sind von unterschiedlichen Arten der Diskriminierung betroffen.

Was könnt ihr dagegen tun?

REMZI: In konkreten Fällen der Diskriminierung lässt sich politisch leider wenig machen. Die Betroffenen müssen selbst rechtliche Schritte unternehmen, die wir jedoch unterstützen können. Neben den Diskriminierungserfahrungen bei der Wohnungssuche kommen Fälle von Diskriminierung auchin mietrechtlichen oder strafrechtlichen Verfahren, beispielsweise in Nachbarschaftskonflikten vor und müssten eigentlich dort als solche verhandelt werden. In diesem Rahmen werden Fragen der Diskriminierung aber oft nicht berücksichtigt. Es gibt jedoch vereinzelt Erfolge, wenn Vermieterinnen im Rahmen von Klagen nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Diskriminierung nachgewiesen werden kann. Damit bekommen die Betroffenen leider noch keinen Rechtsanspruch auf eine Wohnung. Nach dem AGG ist nur eine Entschädigung oder Schadensersatz vorgesehen. Frustrierend ist zudem, wenn die Betroffenen aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten von einer an sich aussichtsreichen Klage absehen. Die Betroffenen müssen darüber hinaus individuell klagen und ihre Rechte allein durchsetzen. Die Möglichkeit von Sammel- und Verbandsklagen sieht das AGG nicht vor.

Wer ist besonders von Ausschlüssen betroffen?

REMZI: Insbesondere große Familien oder Haushalte über fünf Personen haben praktisch keine Chance, eine Wohnung zu finden. Das liegt an der sogenannten Eine-Person-ein-Wohnraum-Regelung. Diese besagt, dass Wohnungen mindestens so viele Zimmer haben sollen wie die Anzahl der zusammenlebenden Personen. Im bezahlbaren und öffentlich geförderten Sektor gibt es aber einfach kaum Wohnungen mit fünf und mehr Zimmern.

BEA: Bei Xenion arbeiten wir mit Familien, die seit neun Jahren im Heim leben – obwohl sich ihr Aufenthaltsstatus geändert hat. Die Kinder kennen nur Flucht- und Heimunterbringung, sie haben noch nie in einer eigenen Wohnung gewohnt. Wir brauchen eine ganz gezielte Förderung für große Familien, die ihnen Zugang zu bezahlbaren Wohnungen ermöglicht. Kürzlich haben wir im Wedding ein halbes Jahr gebraucht, bis wir endlich für eine Familie zwei Wohnungen zusammenlegen konnten.

Wie sieht es mit privaten Vermieterinnen aus?

 

REMZI: Hier gibt es die gleiche Praxis. An eine Familie mit sechs Personen wird nur eine Sechszimmerwohnung vergeben. Die gibt es aber nicht. Das bedeutet im Klartext, dass diese Familien vom Wohnungsmarkt quasi komplett ausgeschlossen sind.

BEA: Hier müsste die Bauförderung verändert werden. Momentan ist die Förderung für Bauunternehmen an die Anzahl der bereitgestellten Wohnungen geknüpft, nicht an die Anzahl der Personen, die darin leben können. Daher gibt es im sozialen Wohnungsbau sehr viele Ein- und Zweizimmerwohnungen. In Gesprächen beim Runden Tisch »Alternativen zur öffentlichen Unterbringung Geflüchteter«, einer von den Senatsverwaltungen für Integration, Arbeit und Soziales sowie für Stadtentwicklung und Wohnen einberufenen Runde, wurde zudem deutlich: Private Vermieterinnen haben oft Angst vor Mietausfall. Sie erhalten ja keine Bürgschaft wie im geschützten Marktsegment, sondern tragen das Risiko selbst. Hier müsste der Senat eine Bürgschaft übernehmen, denn es gibt durchaus engagierte private Hausverwaltungen, die auch an Geflüchtete vermieten würden. Es reicht nicht, hier nur die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften im Blick zu haben, die privaten machen schließlich einen großen Teil des Wohnungsmarktes aus. In Brandenburg haben die Kommunen beispielsweise direkt Wohnungen angemietet, die sie an Geflüchtete weitervermieten.

Das wären konkrete politische Maßnahmen, die den Zugang von Geflüchteten zu Wohnraum verbessern würden. Gäbe es weitere?

BEA: Eine unserer wichtigsten Forderungen ist ein Wohnberechtigungsschein (WBS) für alle. Der WBS berechtigt ja Menschen mit geringen Einkommen, in eine mit öffentlichen Mitteln geförderte und damit günstigere Wohnung zu ziehen (vgl. Holm in diesem Heft). Obwohl Geflüchtete zu diesem Personenkreis gehören, schließt die Senatspolitik aktuell Menschen im laufenden Asylverfahren vom Anspruch auf einen WBS und damit vom Zugang zu Sozialwohnungen aus. Das Gleiche gilt für Menschen, deren Aufenthaltsbewilligung weniger als elf Monate umfasst. Ein Asylverfahren dauert ja oft mehrere Jahre. Solange müssen die Menschen in den meisten Fällen in Gemeinschaftsunterkünften bleiben. Außerdem kann es zu Fehlern beiden Einträgen in die Ausweispapiere kommen. Ich hatte in der Beratung eine Familie mit einem behinderten Kind. Die Mutter hatteeine zweijährige Aufenthaltsgenehmigung, der Mann allerdings nur eine einjährige, weil sein Ausweis verloren gegangen war und die Ausländerbehörde dann statt zwei Jahren nur noch ein Jahr in den neuen Ausweis geschrieben hat. Deshalb wurde der WBS abgelehnt. Die Sachbearbeiterinnen ziehen sich immer auf das Argument zurück: »Es muss ein Aufenthalt von mindestens elf Monaten gegeben sein.« Dabei genießt die Familie in Deutschland seit fünf Jahren subsidiären Schutz. Es gibt viele ähnliche Geschichten. Widersprüche reichen hier teils bis zur Sozialstadträtin – ohne Erfolg, egal in welchem Bezirk. Daher fordern wir, dass Geflüchtete unabhängig vom Aufenthaltsstatus einen WBS erhalten. Damit könnten sie in integrierte Wohnprojekte in der Mitte der Gesellschaft einziehen und müssten nicht weiter in separierten Einrichtungen wohnen.

REMZI: Würden die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften hier ihre Vergabepraxis ändern, hätte das sicherlich auch Ausstrahlung auf den privaten Wohnungsmarkt.Auch die privaten Vermieterinnen möchten unbedingt eine lange Aufenthaltsdauer nachgewiesen haben. Wobei ich sagen muss, ein Mieterwechsel gehört halt zum Job eines Eigentümers oder einer Hausverwaltung. Das kann auch unabhängig von der Aufenthaltsdauer passieren.

Woran liegt es, dass sich die Forderung nach einem WBS für Geflüchtete derzeit politisch nicht durchsetzen lässt?

BEA: Der Staatssekretär für Wohnen, Sebastian Scheel, argumentiert beispielsweise, dass aktuell schon 30.000 Sozialwohnungen in Berlin fehlen. Da könne man den sozialen Wohnraum nicht für eine weitere anspruchsberechtigte Gruppe, nämlich Geflüchtete im Asylverfahren, öffnen. Das gäbe schlechte Stimmung. Die Tatsache, dass es einen deutlichen Mangel an Sozialwohnungen gibt, darf jedoch kein Argument dafür sein, eine bedürftige Gruppe vom Anspruch auszuschließen. Einen offensichtlichen Mangel fair zu verwalten stellt eine große soziale Verantwortung dar. Transparente Vergabekriterien sind hier zentral, um zu verhindern, dass Betroffene sich gegeneinander ausgespielt fühlen. Der Flüchtlingsrat Berlin hat hier Praxisbeispiele aus anderen Bundesländern vorgestellt, die Geflüchteten weit mehr Möglichkeiten geben. Zum Teil werden Wohnungen dann vergeben, wenn eine positive Bleibeperspektive besteht. Wenn etwa eine Arbeitserlaubnis vonseiten der Ausländerbehörde erteilt wird, dann reicht dies, damit die/ der zuständige Sachbearbeiterin dem Umzug in eine eigene Wohnung zustimmen kann. Das ist eine ganz praktikable Sache.

REMZI: Ich finde auch: Transparenz ist sehr wichtig. Wir müssen gerade in Gesprächen mit den unterschiedlichen Bedarfsgruppen betonen, dass sie im selben Boot sitzen und sich nicht gegeneinander ausspielen lassen dürfen. Und: Wir müssen allen passgenaue Angebote machen.

Gibt es weitere Handlungsfelder, um für Geflüchtete bessere Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt zu schaffen?

BEA: Mein Schwerpunkt sind gerade Genossenschaften. Wir versuchen, zusammenmit Stiftungen einen Unterstützungsfondzu schaffen, um Geflüchtete auch in neue Genossenschaftsprojekte und frei finanzierte Neubauprojekte integrieren zu können. Der Zugang ist leider an hohe finanzielle Einlagen gebunden, die diese Menschen nicht aufbringen können. Wir suchen deshalb das Gespräch mit Genossenschaftsmitgliedern, um dafür zu werben, auch Neuberlinerinnen in diese Projekte einzubinden. Mit Unterstützung der Genossenschaft Ostseeplatz konnten beispielweise 23 geflüchtete Menschen in ein Gemeinschaftsprojekt, einen Neubau nach neuestem Standard, in der Lynarstraße im Wedding einziehen. Sie waren auch an dem zweijährigen Planungsprozess beteiligt. Außerdem wäre es wichtig, die Genossenschaftsidee und -struktur auch unter Geflüchteten publik zu machen. Städtischer Wohnungsbau, so wie er derzeit organisiert ist, ist langfristig keine Lösung. Wir brauchen wieder einen rechtlich abgesicherten und kontrollierten gemeinnützigen Wohnungsbau (vgl. Kuhn in diesem Heft).

 

Das Gespräch führten Jan Drunkenmölle und Julia Schnegg. 

Bea Fünfrocken arbeitet bei Xenion, einem Verein, der psychosoziale Unterstützung für politisch Verfolgte anbietet. Als Koordinatorin der AG Wohnen berät sie Geflüchtete bei der Wohnungssuche und vertritt deren Interessen gegenüber Vermieterinnen und Ämtern.

Remzi Uyguner arbeitet bei der Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt und ist ehrenamtlich Vorstandsmitglied des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (TBB).

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wohnraum-fuer-alle/

Foto: Rasande Tyskar / flickr / CC BY-NC 2.0

#Anti-Rassismus #Migration #Wohnen

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Ein Gespräch mit Bea Fünfrocken (Xenion) und Remzi Uyguner (Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt) über Probleme von Geflüchteten bei der Wohnungssuche, Unterstützungsmöglichkeiten und politische Forderungen.

Rasande Tyskar / flickr

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Bewegung in der unternehmerischen Stadt

Wie sich das Terrain verändert hat

Juli 2019 • Margit Mayer

Foto: Dan Burton / Unsplash

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Wohnen, Krise, Organisierung, Rekommunalisierung#Wohnen #Krise #Organisierung #Rekommunalisierung

Die Auseinandersetzungen, die heute im und um den städtischen Raum ausgetragen werden, unterscheiden sich in wichtigen Dimensionen von früheren. Urbane Proteste und Bewegungen manifestieren sich spätestens seit der Französischen Revolution, als solche wahrgenommen wurden sie erst ab den 1960er und vor allem 1970er Jahren, als Sozialwissenschaftler wie Manuel Castells und Henri Lefebvre sie zu Forschungsgegenständen machten und als politische Subjekte analysierten. Konzepte und Theorien über städtische Bewegungen wurden vornehmlich an den – heute würden wir sagen: fordistisch geprägten – Kontexten und Konflikten dieser Zeit entwickelt. Der fordistische Urbanismus war allerdings ein sehr spezifischer historischer Moment. Er prägte das Aufbegehren der Bewegungen gegen die technokratische Zurichtung und die daraus resultierende »Unwirtlichkeit unserer Städte« (Mitscherlich 1965).

Die städtischen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre waren Teil eines Protestzyklus, der sich aus der Kritik am Fordismus und den ihm eigenen Produktions-, Regierungs- und Lebensweisen entwickelte. Die Funktion der Städte und die Bedingungen städtischen Lebens spielten dabei zentrale Rollen. Der Angelpunkt der Kämpfe hatte sich von der »produktiven« hin zur »reproduktiven Sphäre« mit ihren öffentlichen Infrastrukturen und Dienstleistungen verschoben, deren kulturelle Normen genauso hinterfragt wurden wie ihr Preis und ihre Qualität. Die Bewegungen forderten nicht nur eine Verbesserung dieser Einrichtungen des kollektiven Konsums, sondern auch eine stärkere Beteiligung an deren Gestaltung. Während sie so auf eine am Gebrauchswert orientierte Stadt drängten, entwickelten sie selbst autonome lokale Szenen und Projekte gegen die Standardisierung und einseitige Planung von Lebens-, Kultur- und Arbeitsweisen. In vielen Städten entstand eine dynamische Bewegungsinfrastruktur von Stadtteil- und Jugendzentren, Kinderläden, Gesundheitszentren und anderen selbstverwalteten Projekten. Die Bewegungen richteten sich also gegen die »keynesianische Stadt«, in der ein Großteil der sozialen Reproduktion vom (lokalen) Staat übernommen wird, weshalb zeitgenössische Autor*innen das Städtische explizit in Kategorien kollektiven Konsums definierten (vgl. Castells 1983). Heute, nach mehreren Runden neoliberaler Umstrukturierung, agieren die städtischen Bewegungen in einem völlig anderen Setting. Sie konfrontieren keine »keynesianische« Stadt mehr. Auf die Rollback-Phase der 1980er Jahre, in der der keynesianische Wohlfahrtsstaat geschliffen wurde, und die Rollout-Phase der 1990er Jahre, in der die Folgen dieser Sparpolitik durch flankierende Maßnahmen abgemildert werden sollten, folgte die durch die Finanz- und Wirtschaftskrise geprägte Phase der Austerität. Entscheidende Dimensionen der Stadtpolitik werden heute weniger von kommunalpolitischen Institutionen als von zunehmend globalen Wirtschafts-, Finanz- und Immobilieninteressen bestimmt. Statt zentral regulierter wohlfahrtsstaatlicher Politik sehen sich die Bewegungen multi-skalaren Aktivierungsstrategien – und machtvollen privaten Developern und Investoren gegenüber. Die Aufgabe von Stadtpolitik hat sich darauf verengt, das (ungezügelte) Wirken »des Markts« zu ermöglichen – was inzwischen aber auch Gegenwehr hervorruft.

Vier Merkmale kennzeichnen die heutige Neoliberalisierung des Städtischen bzw. der Stadtpolitik

1 | Nach wie vor ist der neoliberale Urbanismus bestimmt vom obersten Ziel, Wachstum zu befördern. Um sich in der verschärften interurbanen Konkurrenz gut zu platzieren, bemühen sich Lokalpolitiker*innen, Investitionsströme in ihre Stadt zu schleusen. In dieser Konkurrenz können nicht alle Städte gewinnen, doch sie hat überall Bodennutzungsentscheidungen hervorgebracht, die auf die größtmögliche Renditeerwartung setzen und somit für die Ausbreitung von Gentrifizierung, neuer privatisierter Enklaven für den Elitenkonsum und desinfizierter Räume sozialer Reproduktion sorgen. Diese Wachstumspolitik (häufig angeheizt durch internationale Boden- und Immobilienspekulation) hat nicht nur die gebaute Umwelt transformiert, sondern auch die Boden- und Immobilienpreise explodieren lassen, was Verdrängungsprozesse, vermehrte Räumungen und eine neue Wohnungs- und Obdachlosigkeitskrise zur Folge hat. Im Gegensatz zu den führenden Global Cities sehen sich die meisten »normalen« Städte schrumpfenden Haushalten gegenüber. Sie können das Wachstum also kaum noch mithilfe der in den 1980er Jahren gängigen Standortpolitik beflügeln, die auf teure Groß-Events wie Gartenshows oder Bauausstellungen setzte. Stattdessen haben sie sich eher symbolischen, preisgünstigen Formen der Standortpolitik zugewandt, um ihr lokales Flair aufzumöbeln und »kreative Klassen« und in der Folge auch Investoren anzuziehen, darunter so simple Maßnahmen wie erleichterte Vorschriften für die Gründung von Internetcafés. Solche innovativen, zunehmend kulturellen Branding-Strategien kommen unter anderem alternativen und subkulturellen Bewegungen zugute. Stadtmanager*innen haben festgestellt, dass sich solche Bewegungen als nützlich für Vermarktungsstrategien erweisen und leicht in »Kreative-Stadt-Projekte« eingepasst werden können.

2 | Städte haben in mehr und mehr Bereichen ihres Regierungshandelns unternehmerische Formen von Governance eingeführt. Sie nutzen dabei nicht nur angeblich effizientere betriebswirtschaftliche Modelle, sondern vergeben immer mehr Aufgaben an private Akteure (in Form von Sub- und Out-Contracting), etwa bei Ausschreibungen für (spekulative) Investitionsprojekte oder die Entwicklung bestimmter Stadtteile. Indem Bürgermeister*innen zusammen mit ihren Partnern aus der Wirtschaft für einzelne Projekte spezielle Träger beauftragen oder Public-Private-Partnerships einrichten, werden Stadträte zunehmend umgangen. Hegemonie wird hier, wenn überhaupt, nur über kleinteilige Einbindungen hergestellt. An die Stelle von langfristigen, tripartistisch angelegten Regulierungsmodi treten flexible, ständig wechselnde Zugeständnisse an verschiedene Gruppen. Dieser Trend einer »Projektepolitik« hat die kommunale Planung deutlich verändert und informelle und kooperative Prozesse verankert. Die von der Kommune orchestrierten kooperativen Planungsverfahren beteiligen neben (globalen) Developern und allerlei Experten für technologische, logistische und algorithmische Lösungen vermehrt auch zivilgesellschaftliche Gruppen. Diese Praxis von »Adhocismus« und Informalisierung der Politik verschafft externen und internationalen Akteuren wie Developern und Investoren einen wachsenden Einfluss, eröffnet aber auch neue Zugänge für artikulationsstarke Bewegungsakteure. Die fehlende öffentliche Transparenz dieser Strategie ruft aber auch neue Proteste auf den Plan, weil unberücksichtigte Gruppen sich von der Gestaltung der Stadt ausgeschlossen sehen und gegen die Erosion repräsentativer Demokratie zur Wehr setzen.

3 | Intensivierte Privatisierungsprozesse – sei es von kommunalem Vermögen oder öffentlichen Diensten – nehmen immer extremere Formen an und haben die traditionelle Beziehung und Abgrenzung von öffentlicher und privater Sphäre transformiert. Soziale Einrichtungen wurden abgebaut bzw. reorganisiert und kollektive Dienstleistungen und Infrastrukturen wie Versorgungsunternehmen dem Markt ausgesetzt. Zunehmend wird aus Privatisierung sogar Finanzialisierung, indem kommunale Verkehrssysteme oder Sozialwohnblöcke auf den Finanzmärkten verhökert werden. Bei dieser Plünderung öffentlicher Haushalte werden städtische Ressourcen und öffentliche Dienstleistungen zu Optionen für eine erweiterte Kapitalakkumulation durch Enteignung. Besonders gern haben Städte die Privatisierung öffentlicher Räume vorangetrieben. Je mehr private Räume dem Elitenkonsum gewidmet werden, umso besser kann eine maximale Bodenrente realisiert werden. Dies hat spürbare Effekte auf die Stadtlandschaft: Die Privatisierung von Plätzen, Bahnhöfen und quasi-öffentlichen Einkaufszentren hat den Zugang zu kollektiven Infrastrukturen beschränkt oder verteuert. Längst sind ganze Stadtzentren, von Paris, New York und London bis Hongkong oder Singapur, zu exklusiven »Zitadellen der Eliten« geworden. Gegen diese Einhegungen regt sich vielfältiger Protest, etwa gegen die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen oder für Rekommunalisierungen.

4 | Ein weiteres wichtiges Merkmal ist eine neue Doppelstrategie im Umgang mit der wachsenden sozialräumlichen Polarisierung. In den frühen Phasen der Neoliberalisierung in den 1980er und 1990er Jahren bestanden die einschlägigen Instrumente vor allem aus quartiersbezogenen Revitalisierungs- und Aktivierungsprogrammen, die eine unterstellte Abwärtsspirale in sogenannten Problembezirken aufhalten sollten. Solche Programme sind inzwischen zurückgefahren worden oder werden ersetzt durch eine neue zweigleisige Politik: Sie koppelt einerseits unverblümte Verdrängungsstrategien mit repressiven Maßnahmen und zielt andererseits darauf, mit scheinbar wohlmeinenden Programmen bestimmte ausgewählte verarmte Gebiete und soziale Gruppen in Aufwertungsprozesse einzubeziehen. Die repressiven Instrumente beinhalten Strategien, die unerwünschtes Verhalten sowie unerwünschte Gruppen (wie Obdachlose oder Bettelnde) bestrafen, ebenso wie die Verdrängung unterer Einkommensgruppen in immer entferntere Peripherien oder versteckte Elendsnischen innerhalb der Stadt. Diese punitive Seite der neoliberalen Stadt – mit ihren verschärften Gesetzen, härteren Polizeimaßnahmen, zunehmender Entrechtung – trifft insbesondere Obdachlose, papierlose Migrant*innen, informelle Arbeiter*innen, aber zunehmend auch neue Opfer von Austeritätspolitiken.Die »gutartigen« Instrumente dagegen kommen in Gebieten zum Einsatz, wo sich ein neues Entwicklungspotenzial abzeichnet: alte Industriegebiete oder verfallende Sozialwohnungsbezirke, also eigentlich stigmatisierte Gegenden. Wenn sie günstig gelegen sind, werden sie zu Standorten von Entwicklungsprojekten, die laut Versprechen des Stadtmanagements auch den Anwohner*innen zugutekommen sollen. Diese Strategien greifen nur dort, wo erfolgreiche Verwertungsprozesse, also ein Ansteigen von Immobilienpreisen und Investitionen, winken. Sobald es gelingt, die erwünschte hochpreisige Klientel anzuziehen – häufig durch Vermarktung des vorgefundenen »wilden Urbanismus«, des authentischen Arbeiterklassenmilieus oder der hippen »kulturellen Authentizität« – werden die ärmeren Bewohner*innen verdrängt. Häufig sind begleitende partizipatorische Verfahren vorgesehen, um die antizipierten Konflikte um die gegensätzlichen Interessen kleinzuarbeiten.

Aktuelle Konflikte und Kämpfe um die neoliberale Stadt

Die vielfältigen und vielschichtigen, mit der neoliberalen Stadtentwicklung einhergehenden Ausgrenzungs-, Verdrängungs-, Enteignungs- und Entrechtungsprozesse haben der Bewegungslandschaft neue unkonventionelle Akteure zugeführt und sie zugleich heterogenisiert und fragmentiert. Während die Folgen der intensivierten Wachstumspolitik Proteste von Anwohner*innen und unterschiedlichsten Betroffenen hervorbrachten – gegen Aufwertung und Verdrängung, gegen Touristifizierung oder Zweckentfremdung –, haben die neuen Wachstumsstrategien der »Kreative-Stadt-Politik« neue Spaltungslinien innerhalb der Bewegungslandschaft produziert. Prekäre, aber in diesem Kontext über »symbolisches Kapital« verfügende Kulturschaffende und Künstler*innen konnten hier zumindest temporär zu potenziellen »Profiteuren« der neoliberalen Stadtpolitik werden. Auch besetzte Häuser oder selbstverwaltete soziale Zentren konnten mancherorts über Jahre überleben, weil sie als Attraktivitätsmarker fungierten in einem Prozess, der über kurz oder lang von Investoren in lukratives Development überführt wird – womit meist eine neue Runde (nun defensiver) Kämpfe beginnt. Bewegungen, die sich nicht so zweckdienlich in lokale Standortpolitik und Vermarktungsstrategien einbinden lassen, haben weniger Entgegenkommen von staatlicher Seite zu erwarten.

Dennoch erstarken neben Protesten gegen Aufwertung und Verdrängung auch unter ressourcenarmen Gruppen diejenigen, die sich gegen Austeritätspolitik und Sozialkürzungen sowie gegen Privatisierung und überhaupt gegen das Vordringen globaler (Finanz-)Markt-Akteure in die Stadtentwicklung und die damit verbundene Erosion lokaler Demokratie richten. So hat sich vielerorts eine öffentlichkeitswirksame Bewegungsszene herausgebildet, welche die politischen Eliten massiv unter Druck setzt. Viele dieser – seit Kurzem und seit Langem – Bewegten kommen unter dem Dach des Protests gegen »Mietenwahnsinn« zusammen[1]. Die großen Demonstrationen im April 2019 in Berlin, München, Leipzig, Stuttgart, Frankfurt am Main und weiteren Städten markierten einen vorläufigen Höhepunkt. Dahinter stehen rasante Selbstorganisationsprozesse unterschiedlichster Mietergruppen, die sich mit kreativen Aktionen gegen exorbitante Mietsteigerungen zur Wehr setzen und zunehmend mit anderen Protestgruppen verbünden – etwa jenen gegen Gentrifizierung, Zwangsräumungen und Zweckentfremdung; für Rekommunalisierung, gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbau und Enteignung großer Wohnungsunternehmen. Allein in Berlin hatten 280 Initiativen zu dem bundesweiten Protesttag am 6. April aufgerufen. Dahinter stehen auch lokale Aktivistengruppen, die sich seit Jahren unter dem Banner »Recht auf Stadt«[2] über Landesgrenzen hinweg vernetzen, um ihren Kampf um bezahlbaren Wohnraum oder gegen Zwangsräumungen[3] multi-skalar zu führen. Den derart erstarkten Bewegungen neuer und alter urban outcasts gelingt es zunehmend, ihre Themen auf die mediale und politische Agenda zu setzen, gewisse Konzessionen zu erstreiten und mancherorts auch bewegungsnahe Politiker*innen in kommunale Ämter zu hieven. Da die eigentlichen Adressaten der Proteste, die global agierenden Investmentfirmen und Developer, schwer greifbar sind und die Kommune oft nicht mehr als Feind der Bewegungen wahrgenommen wird, kommt es zu Annäherung und Kooperationen »zwischen Zivilgesellschaft und Politik«, vor allem dort, wo Letztere zugänglich erscheint. Unter dem Label des »neuen Munizipalismus« finden Bewegungsforderungen Fürsprache bei Stadträten und/oder Bürgermeister*innen – von Barcelona über Zagreb, Warschau, Bologna und Berlin bis nach Jackson (Mississippi) und jüngst auch in Chicago.

Die Versuche, nicht nur Forderungen, sondern auch Akteure der Bewegung in lokale Institutionen und Regierungen hineinzuheben, rufen erheblichen Widerstand der etablierten Parteien und vor allem des Immobilien- und Finanzkapitals hervor. Gleichzeitig generieren sie Friktionen aufseiten von Bewegungsgruppen, deren Erwartungen über das »realpolitisch Durchsetzbare« oft hinausgehen. Oder sie verstärken vorhandene Spaltungslinien, weil die bereitgestellten Partizipationsformate eher von »Bewegungseliten« genutzt werden (Balcerowiak 2018). Meist sind es langwierige und mühsame Kämpfe, in denen Initiativen wie »Stadt von unten« darauf drängen, gerade NICHT »ein paar Projektorchideen für ein paar Glückliche zu schaffen« (Stadt von unten 2018).

»Stadt von unten« wurde 2014 in Berlin gegründet, um ein Modellprojekt in kommunalem Eigentum am Dragoner-Areal, einem größeren, von der Bundesanstalt für Immobilien (BIMA) zum Verkauf bestimmten bebauten Gebiet in Berlin-Kreuzberg durchzusetzen. Gemeinsam mit anderen Initiativen gelang es ihnen 2016, eine Privatisierung des Areals zu verhindern und es zum Sanierungsgebiet erklären zu lassen.[4] Mit der Kommunalisierung verknüpfen sie als Hauptziel die Demokratisierung der Wohnungsunternehmen und substanzielle Mitbestimmungsrechte der Mieter*innen, die eine langfristige soziale Ausrichtung und bezahlbare Mieten gewährleisten sollen. 2018 gelang es ihnen, einen paritätisch besetzten »Gründungsrat« zu etablieren und dort gemeinsam mit allen Projektbeteiligten Leitlinien für eine Kooperation zu entwerfen. Es zeichnete sich aber ab, dass Senat und Bezirk sich nicht auf inhaltliche Vorgaben einlassen wollten, die über die üblichen Auflagen für Sanierungsgebiete hinausgehen, wie zum Beispiel das Erbbaurecht. Noch bevor die Kooperationsvereinbarung unterzeichnet war, berief die Kreuzberger Bezirksverwaltung eine eher exklusive (da tagsüber im Rathaus tagende) »Beteiligungswerkstatt« ein, um Bau- und Nutzungsanforderungen zu klären – worauf die Initiativen mit Boykott reagierten (Stadt von unten 2019).

Während die Initiativen beim Tauziehen mit politischen Entscheidungsträger*innen in Gremien wie dem Gründungsrat kaum Zugeständnisse bei inhaltlichen Vorgaben und Leitlinien der Kooperationsvereinbarung erreichen können, konzediert die Politik auf Bezirkswie übergeordneter Ebene neue, informelle wie formelle Arbeits- und Koordinierungsstellen, die es ermöglichen, bislang ehrenamtliche und deshalb oft prekäre aktivistische Arbeit auf solidere Beine zu stellen. Dadurch werden Teile der Initiativen professionalisiert und in eine »gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung« eingebunden. Derartige Stellen steigern allerdings, genauso wie die oft umkämpften Kooperationsverfahren (vgl. Ziehl 2018), ohne aufmerksame Begleitung das Risiko von Intransparenz und Demokratiemangel in den Planungs- und Entscheidungsprozessen (vgl. Mayer 2019). Wo es also um die Umsetzung von Bewegungszielen geht, bewirken sowohl die unter »neuen munizipalistischen« Vorzeichen eröffneten Verhandlungs- und Kooperationsrunden als auch die Projektplanungen im Rahmen einer unternehmerischen Governance ein Auseinanderdividieren von Bewegungsakteuren: ein Teil entscheidet sich für eine Mitwirkung in diesen Gremien, ein anderer kritisiert deren fehlende öffentliche Transparenz.

Erfolg oder Scheitern heutiger städtischer Bewegungen lässt sich nicht bestimmen, indem man sie mit früheren fordistischen Bewegungen vergleicht. Aber so wie die damaligen Bewegungen die fordistische Stadt widerspiegelten und schließlich zu ihrer Krise beitrugen, so lassen sich auch die heutigen erst in ihrer Relation zum neoliberalen Urbanismus begreifen. Ihr Erfolg wird nur an dessen Demontage zu messen sein. Daraus folgt, dass Linke bei der Wahl ihrer stadtpolitischen Aktionen und Kampagnen die Dynamik der neoliberalen Stadtpolitik und deren Auswirkungen auf die Bewegungslandschaft beachten sollten. Die Wohnraumfrage etwa bietet Mobilisierungs- und Politisierungschancen, allerdings nur, wenn es gelingt, auf die große Masse der Betroffenen und auf Solidarität zwischen ressourcenarmen und mehr oder weniger privilegierten Gruppen hin zu orientieren und so den inhärenten Spaltungstendenzen entgegenzuwirken. Eine Vereinnahmung und Kooptierung von Akteuren, die über Artikulationsstärke, kulturelles Kapital oder sonstige für die »kreative Stadt« nützliche Kompetenzen verfügen, torpediert das cross-movement building, das so nötig ist. Nur wenn viele verschiedene Bewegungen sich hinter eine Forderung wie etwa die von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen!« stellen, besteht die Chance, über kosmetische Veränderungen hinauszukommen.

Fußnoten

[1] Vgl. die Pressemitteilung von Bundesweites Bündnis #Mietenwahnsinn vom 22.3.2019.

[2] Siehe z. B. www.realize-ruhrgebiet.de/2018/05/14/recht-auf-stadt-zwischen-abwehr-kaempfen-radikaler-realpolitik-und-alternativen.

[3] Siehe z. B. European Action Coalition for the Right to Housing and to the City aus Anti-Zwangsräumungsinitiativen aus 13 europäischen Ländern: www.rosalux.eu/publications/resisting-evictions-across-europe.

[4] Das Areal ist seither im Besitz des Landes Berlin. Die BIMA regelte, dass 90 Prozent der Fläche kommunal (also von einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft) bewirtschaftet werden müssen, das heißt, maximal zehn Prozent könnten selbstverwaltet bzw. in Erbbaurecht gemanagt werden.

Literatur

Balcerowiak, Rainer, 2018: Gegenteil einer sozialen Bewegung. In Großstädten tritt immer häufiger ein links-alternatives Bürgertum auf, das ein Recht auf Stadt einfordert – für sich und nicht für Wohnungslose, in: die tageszeitung, 15.11.2018.

Castells, Manuel, 1983: The City and the Grassroots, Berkeley.

Mayer, Margit, 2019: The Promise and Limits of Participatory Discourses and Practices, in: Ülker, Bariş/Mar Castro, Maria do (Hg.), Doing Tolerance. Democracy, Citizenship and Social Protests, Leverkusen.

Mitscherlich, Alexander, 1965: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt a.M.

Stadt von unten, 2018: Kommunal ist nicht genug! Übertragungsvertrag zum Dragonerareal frisst Modellprojekt, 9.10.2018, https://stadtvonunten.de/kommunal-ist-nicht-genug-uebertragungsvertrag-zum-dragonerareal-frisst-modellprojekt

Stadt von unten, 2019: Rathausblock/Dragonerareal: Stadtpolitische Initiative verweigert Mitarbeit an Werkstatt zur »Beteiligung«, 4.4.2019, https://stadtvonunten.de/pressemitteilung-rathausblockdragonerareal-stadtpolitische-initiative-verweigert-mitarbeit-an-werkstatt-zur-beteiligung

Ziehl, Michael, 2018: Zukunftsfähigkeit durch Kooperation. Ein Laborbericht, http://urban-upcycling.de/laborbericht

 

Margit Mayer ist Politikwissenschaftlerin und Professorin a. D. an der Freien Universität Berlin und Senior Fellow am Center for Metropolitan Studies Berlin. Sie forscht seit Langem zu städtischen Themen und sozialen Bewegungen in den USA und Deutschland.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/bewegung-in-der-unternehmerischen-stadt

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Entscheidende Dimensionen der Stadtpolitik werden heute weniger von kommunalpolitischen Institutionen als von zunehmend globalen Wirtschafts-, Finanz- und Immobilieninteressen bestimmt. Die mit der neoliberalen Stadtentwicklung einhergehenden Ausgrenzungs-, Verdrängungs-, Enteignungs- und Entrechtungsprozesse ruft aber auch Gegenwehr hervor. Margit Mayer skizziert Merkmale der Neoliberalisierung des Städtischen sowie Konflikte und Kämpfe um die neoliberale Stadt.

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Das Bundesinnenministerium würde gern wissen, wie viele ausländische Immobilieneigentümer es in Deutschland gibt und ob es sich lohnt, sie vom Immobilienmarkt auszuschließen. Eine Studie wurde beauftragt und empfiehlt, die Notare zu fragen. Das Bundeslandwirtschaftsministerium würde gern wissen, wie viele Finanzinvestoren Agrarland kaufen. Eine Studie wurde beauftragt und Brandenburg hat umfangreiche Daten zur Verfügung gestellt. Ein großer Teil der Berliner Bevölkerung würde gern wissen, wer in der Stadt mehr als 3.000 Wohnungen besitzt. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat dazu mehrere Studien herausgegeben, offizielle Daten lassen aber immer noch auf sich warten. Gründe, warum die Informationen darüber, wem große Teile des deutschen Vermögens in Form von Gebäuden und Land gehören, endlich ordentlich ausgewertet werden müssen, gibt es viele. Gleich mehrere Ansätze deuten den Weg, wie das gehen könnte. Jetzt wird es Zeit für den nächsten Schritt – in Berlin und deutschlandweit.

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Ein bundesweiter Mietendeckel ist verfassungsrechtlich möglich, verbessert flächendeckend den Schutz vor steigenden und überhöhten Mieten und leistet damit einen unverzichtbaren Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage. Zu diesen Ergebnissen kommt die Studie, die der Stadtsoziologe Andrej Holm und der Fachanwalt für Mietrecht Benjamin Raabe im Auftrag der Fraktion DIE LINKE im Bundestag und der Rosa-Luxemburg-Stiftung verfasst haben. Zugleich könnten die staatlichen Ausgaben für Mietzuschüsse an einkommensärmere Haushalte gesenkt werden. Allein in den 42 untersuchten Großstädten kann ein bundesweiter Mietendeckel mehr als einer Million Haushalten das Wohnen zu einer leistbaren Miete ermöglichen. Jeder siebte Haushalt würde so entlastet – in den besonders von der Wohnungsnot betroffenen Gebieten sogar jeder vierte. Um das gleiche Ziel zu erreichen, wären staatliche Mietzuschüsse, etwa durch Wohngeld, in Höhe von 5 Milliarden Euro pro Jahr nötig. Mit den vorgeschlagenen Regelungen kann erreicht werden, dass bezahlbarer Wohnraum erhalten und auch Menschen mit geringen Einkommen vor Verdrängung geschützt werden. Zudem zielen die Reformen darauf ab, Anreize zur Investition in den Wohnungsneubau anstelle von mietsteigernden Aufwertungen im Bestand zu setzen.

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Wohnungsbaugenossenschaften, insbesondere die teils über 100 Jahre alten Traditionsgenossenschaften, werden in progressiven wohnungspolitischen Debatten oft zu wenig beachtet. Dabei zeigt sich, dass sie dank ihres solidarischen Eigentumsmodells, ihrer Erfahrung und ihres Know-hows in der Lage sind, günstigen Wohnraum bereitzustellen. Sie gehören damit zu den wenigen verbliebenen nicht-profitorientierten Akteuren und zu potenziell wichtigen Bündnispartnern einer progressiven Wohnungspolitik. Es gilt, sie als Akteure einer auf das Gemeinwohl orientierten Stadtpolitik ernst zu nehmen und stärker einzubeziehen, plädieren Bernd Belina und Maximilian Pechstein in diesem Standpunkt.

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In den großen Städten explodieren die Mieten, bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Das birgt sozialen Sprengstoff. Dass es problematische Folgen hat, Wohnraum marktförmig zu organisieren, ist eine alte linke Erkenntnis. In der aktuellen Wohnungskrise ist sie vielen neu bewusst geworden.

Stadtpolitik ist aber auch ein Feld der politischen Hoffnung und des solidarischen Widerstands. In Hausgemeinschaften und Nachbarschaften, mit Kampagnen und Demonstrationen machen immer mehr Menschen gegen den Mietenwahnsinn mobil. Die Forderung nach Enteignung großer Immobilienkonzerne gewinnt ungeahnte Zustimmung. Diese Proteste haben die Wohnungsfrage wieder auf die politische Agenda gesetzt.

Wie kann eine Wohnungspolitik aussehen, die sich am Gemeinwohl orientiert, die Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausspielt, die inklusiv und zugänglich für alle ist? Dies beleuchtet diese Ausgabe der Zeitschrift «LuXemburg» 2/2019 zu Wohnungskrise und Stadtpolitik.

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Eine soziale Wohnungsversorgung muss fast immer gegen private Gewinninteressen durchgesetzt werden. Diese Broschüre soll all jene mit Informationen und Argumenten ausstatten, die sich im Alltag oder in ihrer professionellen bzw. politischen Funktion für eine sozialere Wohnungspolitik einsetzen. Können es Private wirklich besser? Muss Neubau immer teuer sein? Schützt das Mietrecht vor Verdrängung? Gängige Behauptungen gegenwärtiger wohnungspolitischer Auseinandersetzungen werden auf den Prüfstand gestellt. Sie soll dabei helfen, die üblichen Argumente für den sogenannten freien Wohnungsmarkt kritisch zu hinterfragen und den Blick für bedürfnisgerechtere Formen der Wohnungsversorgung zu öffnen. Konzepte für eine andere Wohnungspolitik liegen längst vor. Insbesondere die vielen Mieterinitiativen und selbstverwalteten Wohnprojekte haben für zahlreiche Fragen und Probleme bereits sehr konkrete Antworten und Lösungen entwickelt und Vorschläge formuliert, wie diese umgesetzt werden könnten.

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Wie groß das Problem mit mangelndem Wohnraum und Obdachlosigkeit in Berlin ist, wird sich in der «Nacht der Solidarität» in Zahlen zeigen. Steigende Mieten, strukturelle Wohnungsprobleme und Zwangsräumungen stehen in einem direkten Zusammenhang mit den Menschen, die auf Berlins Straßen leben. Obdach- und Wohnungslosigkeit sind dabei unterschiedliche Phänomene, deren Behandlung in der öffentlichen Debatte und im gesellschaftlichen Leben jedoch ähnlich ist: Man schaut in der Regel weg. Doch die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales will nun gemeinsam mit vielen Freiwilligen bewusst hinschauen, genauer gesagt zählen. Dies kann ein bedeutsamer Schritt für eine angemessenere Wohnungslosenhilfe und -politik sein, darf aber nicht getrennt werden von den Diskursen um Wohnungskrise sowie Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik in Berlin.

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Die Initiative «Mieter*innenprotest Deutsche Wohnen» ist ein Zusammenschluss von Mieter:innen-Initiativen und einzelnen Mieter:innen aus ganz Berlin. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, sich mit den Nachbar*innen zusammenzuschließen und gemeinsam aktiv zu werden, um ihre Nachbarschaften und Kieze zu erhalten.

In dem vorliegenden Leitfaden teilen sie die Erfahrungen ihrer Organisierung und beschreiben Schritt für Schritt, was bei der Gründung einer Mieter:innen-Initiative beachtet werden sollte. Er ist für alle Kämpfe mit Vermieter:innen nutzbar, egal ob sie ein einzelnes Haus besitzen oder eine ganze Siedlung. Die AG Starthilfe des Zusammenschlusses organisiert auch Trainings, in denen Vieles von dem, was in dem Leitfaden beschreiben wird, ganz praktisch geübt werden kann.

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Kommunal und selbstverwaltet.

Modellprojekt am Kottbusser Tor

Juli 2019 • Jannis Willim

Alternativen, Organisierung, Selbstverwaltung, Wohnen#Alternativen #Organisierung #Selbstverwaltung #Wohnen

Als 2011 am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg der Unmut gegen zu hohe Mieten hochkochte und eine kraftvolle, heterogene Nachbarschaft ihren Protest artikulierte, entstand unsere Initiative Kotti & Co. Viele der Wohnungen dort wurden im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus errichtet. Bei einem näheren Blick wurde deutlich, dass die hohen Mieten die Folgen eines Fördersystems sind, in das die Interessen von privaten Immobilieninvestoren und ihren kreditgebenden Banken eingeschrieben sind und das nur nachgeordnet der Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum für einkommensarme Haushalte dient (vgl. Holm in diesem Heft). Das führt dazu, dass Sozialmieter*innen, die Hartz IV beziehen, einen viel zu hohen Anteil ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen. Eine Reform des sozialen Wohnungsbaus zugunsten einer Mietsenkung wird momentan in der rot-rot-grünen Regierungskoalition blockiert.

Seit 2012 fordern wir daher als langfristige Lösung die (Re-)Kommunalisierung der Sozialwohnungen. Die ersten Ideen für die Selbstverwaltung ganzer Sozialwohnungsbestände haben wir in einer Konferenz 2012 entwickelt. (Hamann/Kaltenborn 2014) nachzulesen sind. Die Kämpfe der letzten Jahre um die Sozialwohnungen – nicht nur am Kottbusser Tor – haben eine andere Ausgangslage geschaffen. So wurde aufgrund der Forderung nach Rekommunalisierung und Selbstverwaltung im Koalitionsvertrag der Berliner rot-rot-grünen Landesregierung von 2016 eine Klausel aufgenommen, auf deren Grundlage diese Forderung zumindest am Kottbusser Tor Realität werden könnte, wenn der politische Wille dazu bestehen bleibt. Die Klausel lautet:

»Die Koalition will den Bestand der Sozialwohnungen zur Wohnraumversorgung bedürftiger Haushalte erhalten. Deshalb sollen sich die städtischen Wohnungsbaugesellschaften bei den geplanten Zukäufen verstärkt um den Erwerb von Sozialwohnungen bemühen, insbesondere in Stadtteilen mit einem Mangel an preiswertem Wohnraum. Die Koalition unterstützt stadtweit Modellprojekte, wie am Falkenhagener Feld und am Kottbusser Tor angedacht, für selbstverwaltete Mietergenossenschaften.«

Mittlerweile wurde das Neue Kreuzberger Zentrum (NKZ) nach massivem öffentlichem Druck insbesondere durch den Mieterrat des NKZ von der Landesregierung kommunalisiert. Auf dieser Grundlage und der im Koalitionsvertrag verankerten Klausel sind Fragen nach einer stärkeren Mieterselbstverwaltung und deren Umsetzung ganz praktische geworden. In diesem Zusammenhang haben wir die Bedarfe der Mieter*innen in einer Studie mit dem Titel »Rekommunalisierung Plus« erhoben. Dabei haben wir auch untersucht, was für Vorstellungen von Mitbestimmung existieren und welche Bereitschaft in einer so benachteiligten Nachbarschaft wie am Kottbusser Tor unter den Mieter*innen besteht, sich aktiv an einer Selbstverwaltung ihrer Wohnungen und Häuser zu beteiligen. Das Plus steht für die größtmögliche Mitbestimmung. Denn unmittelbar in Anschluss an eine Rekommunalisierung – ob über Rückkauf oder Vergesellschaftung mit Entschädigung – stellen sich weitere Fragen: Was ist gewonnen, wenn die Bestände in die öffentliche Hand überführt sind? Schließlich wissen wir, dass öffentliche Wohnungsbauunternehmen seit der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit nach unternehmerischen Prinzipien funktionieren. Hinzu kommt, dass sie große bürokratische Apparate sind, denen die Auseinandersetzung mit lokalen Problemlagen zum Teil mit sehr viel Geduld und Durchhaltevermögen fast schon aufgezwungen werden muss. Ist die politische Mitsprache durch die Mieter*innen automatisch verbessert, wenn die Wohnungen kommunales Eigentum sind? In welchen Bereichen wollen Mieter*innen mitbestimmen? Was ist gemeint, wenn wir etwa die Forderung »kommunal und selbstverwaltet« für Häuser erheben, die von der sozialen Zusammensetzung der Bewohner*innen her nicht unbedingt klassischen Hausprojekten gleichen, sondern deren Bewohnerschaft viel heterogener ist und stärker durch Migrations- und Rassismuserfahrung, Armut und Ausgrenzung geprägt?

Ergebnisse der Studie

An der Erstellung der Studie waren überwiegend Menschen beteiligt, die selbst Sozialmieter*innen am Kottbusser Tor sind. Die Studie soll auch ausloten, wie sich die gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung ausweiten lässt und welche unterschiedlichen Perspektiven auf ein solches Engagement dabei zu berücksichtigen sind. Methodisch haben wir verschiedene Ansätze miteinander verknüpft. Die Palette reichte von Recherchen und einem Community Mapping über Interviews mit wichtigen Akteuren im Kiez, eine quantitative Erhebung, bei der an die 1 255 betroffenen Haushalte des Untersuchungsgebiets Fragebögen verteilt wurden (Antwortquote von 12,9 Prozent, 162 ausgewertete Fragebögen), bis hin zu einer Qualifizierung des Beteiligungspotenzials. Diese Qualifizierung geht von der Forderung von Kotti & Co. und des Mieterrats im NKZ aus, dass die zu entwickelnde Mitbestimmungsformen in Bezug auf das Wohnen und die Nachbarschaft an den realen Ressourcen und Interessen der Nachbarschaft auszurichten sind. Kernziel der Studie war also die Ermittlung handlungsorientierter Mietertypen, die hinsichtlich ihrer Ansprechbarkeit sowie ihrer Einsatz- und Mitwirkungsbereitschaft unterschiedlich sind.

Ein Ergebnis der Studie ist, dass es bei der Bewertung der Wohnzufriedenheit im Vergleich zwischen staatlichen und privaten Vermietern in einem Punkt zu deutlich unterschiedlichen Einschätzungen kommt: nämlich in der Miethöhe. Dass diese bei staatlichen Vermietern besser bewertet wird als bei privaten, ist wenig überraschend. So liegt die Warmmietbelastung bei letzteren durchschnittlich bei 41 Prozent, im Kreuzberger Zentrum hingegen, wo die landeseigene Gewobag die Vermieterin ist, lediglich bei 30 Prozent. Auch in Bezug auf »klassische Themen« der Mitverwaltung zeigt sich, dass die Unzufriedenheit bei Mieter*innen der Deutschen Wohnen – mit Ausnahme des Themas Sicherheit – höher ist als bei Mieter*innen der Gewobag (eines von derzeit sechs kommunalen Wohnungsunternehmen in Berlin).

Dabei lassen sich zwei wichtige Anliegen der Mieter*innen als Ergebnis der Studie feststellen, die zukünftig berücksichtigt werden sollten: Zum einen wurdedie Ansprechbarkeit bei Reparaturen bzw. Hausverwaltungsthemen kritisiert und zum anderen Probleme bei der Müllentsorgung. Überraschenderweise gaben 59 Prozent der befragten Mieter*innen in Gewobag-Häusern an, dass sich seit der Kommunalisierung des NKZ im Januar 2016 die Ansprechbarkeitbei Reparaturen verschlechtert habe. Bei Mieter*innen der Deutschen Wohnen (DW) waren es nur 19 Prozent der Befragten, diein diesem Zeitraum eine Verschlechterung beklagten. Das schlechte Abschneiden der kommunalen Wohnungsunternehmen in diesem Punkt gegenüber dem für seine schlechte Ansprechbarkeit stadtweit bekannten Immobilienaktienunternehmen Deutsche Wohnen, ist unter anderem damit zu erklären, dass sich die Frage nach einer Verschlechterung nur auf die letzten zwei Jahre bezog. Dazu muss man wissen, dass die Privatisierung der GSW (jetzt Deutsche Wohnen) zum Zeitpunkt der Befragung schon 15 Jahre zurücklag und die Mieter*innen seit langer Zeit mit einem schlechten Service der Hausverwaltung konfrontiert waren. Das kürzlich kommunalisierte Gebäude des NKZ mit 300 Wohnungen hatte jedoch bis zum Kauf durch die Gewobag eine private lokale Hausverwaltung, die sehr gut ansprechbar war und einen engen Kontakt zu den Mieter*innen pflegte. Dass es seit Jahren am Kottbusser Tor immer wieder Beschwerden über Vermüllung gibt, ist darauf zurückzuführen, dass für die Abfallentsorgung ein privates Unternehmen, die B&O Berlin Service GmbH, zuständigist, deren Geschäftsmodell auf geringen Personalkosten der vor Ort Beschäftigten beruht. Einige Mieter*innen vermuten auch eine bewusste »Verslumungsstrategie« der Deutsche Wohnen, denn andere Wohnblöcke mit einer ähnlichen Bewohnerstruktur, aber einen anderen Hausverwaltung, haben keine vergleichbaren Probleme.

Diese beiden Teilergebnisse unserer Studie zeigen, wie wichtig es ist, in einer Übergangsphase nach der Rekommunalisierung – in welcher Verwaltungsform auch immer – auf die Bedürfnisse und Vorschläge der Bewohner*innen einzugehen und gemeinsam mit der Nachbarschaft einen »Fahrplan« für die Zukunft zu entwickeln. So gilt es auch zu berücksichtigen, welches die Bereiche sind, bei denen die Mieter*innen mehr Mitsprache einfordern und wo sie sich engagieren wollen. Ein für uns zentrales und motivierendes Ergebnis der Studie ist, dass ein Viertel der befragten Anwohner*innen angab, bereits aktiv zu sein, etwa in einer lokalen Initiative. Die Hälfte der Befragten möchte sich in Zukunft an solchen Aktivitäten beteiligen und nurein Viertel der Bewohner*innen zeigte kein Interesse an einer gegenseitigen Unterstützung in der Nachbarschaft.

Insgesamt ergibt sich ein differenziertes Bild. Deutlich wird, dass sowohl die vorhandenen Strukturen, beispielsweise die Eigentumsverhältnisse und auch die konkreten Eigentümer*innen der Häuser, als auch die jeweiligen finanziellen und zeitlichen Ressourcen der Nachbar*innen am Kotti Einfluss darauf haben, wie und wie stark die Bewohner*innen bereit sind, sich einzubringen. So wird etwa die Sinnhaftigkeit des eigenen Engagements klar an die Besitzverhältnisse der bewohnten Immobilie gekoppelt: »Wieso sollten wir das selbst machen? Der Deutschen Wohnen Geld sparen helfen?« (Clausen et.al. 2018, 41) Reale Möglichkeiten der Mitbestimmung werden zudem als Voraussetzung benannt,um Mieter*innen zu aktivieren:

»Das habe ich damals zum Hausmeister auch gesagt, wenn da Sitzungen stattfinden würden, einmal in der Woche Hausversammlungen [...] einfach, dass man zusammenkommt. Wo der Hausverwalter auch dabei ist und sagt: ‚So, was für Sorgen habt ihr, was für Probleme gibt es, was können wir besser machen?‘ Dass da Gespräche stattfinden und Ideen umgesetzt werden, dann reagieren auch Mieter ganz anders.« (Ebd.)

Bemerkenswert sind zudem die durchaus realistischen Vorstellungen, was die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung und bestimmter persönlicher Voraussetzungen (z.B. die Aneignung von Kompetenzen) bei der Selbstverwaltung von Wohnhäusern angeht: »Nicht alle Mieter können mitverwalten, weil da braucht man schon ein bisschen Erfahrung, bisschen Organisationstalent auch, auch mit der Gesetzeslage sich auseinandersetzen, dass man das mitberücksichtigt. Aber jeder Mieter kann auch mitgestalten, das ist machbar.« (Ebd.) Die für eine Mitbestimmung erforderlichen Zeitressourcen werden ebenfalls angesprochen, was letztlich auch die Frage nach der Bezahlung solchen Engagements in der Selbstverwaltung aufwirft: »Man bekommt bestimmt jetzt nicht viele dazu, sich Vollzeit zu engagieren. Deswegen ist es gut, ein Gremium zu haben oder einen Vorstand und eine Mieterversammlung einmal im Jahr.« (Ebd.)

Perspektiven für eine »Rekommunalisierung plus«

Ziel der Studie war, die Ergebnisse für die Gestaltung der Zukunft der Bewohner*innen im Untersuchungsgebiet nutzbar zu machen. Für diesen Zweck wurden mit den Fragebögen auch Informationen zu Einkommen, Wohndauer und Haushaltsgröße abgefragt, um aus diesem Wissen über die sozioökonomische Lage sowie aus den Positionen der Mieter*innen modellhafte Handlungsansätze für zukünftige Formen der nachbarschaftlichen Unterstützung ableiten zu können. Die Voraussetzungen und das Interesse der Menschen, an nachbarschaftlichen Projekten mitzuwirken, sind sehr unterschiedlich. Dieses Wissen ist für uns zentral, um geeignete Formate und Orte für die gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung zu finden. Wir betrachten die Selbstorganisierung und das Vorhandensein nachbarschaftlicher Netzwerke als Grundlage für die erfolgreiche Mitbestimmung von Mieter*innen im kommunalem Wohnungsbestand.

Wie unsere Studie zeigt, sind diese nachbarschaftlichen Netzwerke am Kottbusser Tor auch immer migrantische Netzwerke. Einerseits zeigt die hohe Anzahl der türkisch- und arabischsprachigen Haushalte die Bedeutung der Migrationsgeschichte im untersuchten Gebiet. Dabei ist auch interessant, dass diese Gruppen überdurchschnittlich lange (12,5 Jahre) am Kottbusser Tor wohnen und ihr Einkommen im Vergleich zum Durchschnitt niedriger ist (913 Euro im Verhältnis zum Berliner Durchschnitt von 1250 Euro). Insgesamt beträgt das Durchschnittseinkommen im Untersuchungsgebiet nur 77 Prozent des Durchschnittseinkommens in der Umgebung. (ebd., 38) Daraus ist zu schließen, dass der Verdrängungsdruck, der auf der ansässigen Bewohnerschaft lastet, besonders groß ist. Dies gilt umso mehr für die türkisch- und arabischsprachigen Haushalte und Familien. Andererseits ist interessant, dass in jüngerer Zeit deutlich mehr Französisch, Italienisch, Hebräisch und Spanisch am Kottbusser Tor gesprochen wird. Dies lässt sich auf jüngere Migrationsbewegungen von gut ausgebildeten Fachkräften und Studierenden zurückführen (ebd., 40). Sie sind Ausdruck der europäischen Krise, die sich auch hier räumlich niederschlägt. Denn es ist anzunehmen, dass diese junge Generation für eine bessere Lebensperspektive nach Deutschland migriert ist. Tatsächlich liegt das Durchschnittsalter dieser Personengruppen mit 31,6 Jahren deutlich unter dem Gesamtdurchschnitt von 54,4 Jahren.

Die Heterogenität unserer Nachbarschaft verstehen wir dabei als Vorteil. Unser gemeinsamer Kampf um bezahlbaren Wohnraum ist von gegenseitigem Interesse an unseren Unterschiedlichkeiten geprägt. Das hat sich als sehr bereichernd erwiesen, für das Wohnen und Zusammenleben im Alltag, aber auch für die politische Zusammenarbeit. Wir haben zum Teil selbst erlebt, was es bedeutet, in einem Kiez anzukommen und sich dort eine (neue) Heimat zu schaffen. Wir sind stolz darauf, wie wir gemeinsam unser Viertel zu dem gemacht haben, was es heute ist – auch wenn die Gentrifizierung uns die Möglichkeiten nimmt, unsere Vorstellungen vom Zusammenleben in einer postmigrantischen Stadt und von einem solidarischen Miteinander im Alltag umzusetzen. Genauso werden wir nie aufhören darüber zu reden, dass Rassismus ein beständiger Begleiter von vielen von ist, sei es auf der Straße, bei der Wohnungssuche oder beim Jobcenter.

Wir wollen am Kottbusser Tor mit »Rekommunalisierung Plus« nun einen nächsten Schritt gehen. Dazu soll nicht nur die vielfältige nachbarschaftliche Unterstützung sichtbarer werden, sondern wir wollen erstmals diese Ansprüche auch in selbstverwalteten Mieterstrukturen in landeseigenen Wohnungsbeständen umsetzen. Wichtig ist dabei:

1 | Selbstverwaltung bedeutet Ressourcenaufwand – damit sie von einer breiten, diversen nachbarschaftlichen Mischung getragen wird, muss sie vor allem Auswirkungen auf die Miete haben und der Sicherung einer guten Wohnqualität dienen.

2 | Für die Mitbestimmung bei voraussetzungsvollen Themen wie Instandhaltung, Gewerbeentwicklung, Modernisierung, Planungsprozesse etc. kann es kein allgemeingültiges Rezept geben. Vielmehr schlagen wir ein Bausteinsystem vor, welches die Ausgangsbedingungen des jeweiligen Organisationsgrades der Mieter*innen berücksichtigt. Mehr dazu unter: https://kommunal-selbstverwaltet-wohnen.de

3 | Die Reprivatisierung rekommunalisierter Wohnungsbestände muss dauerhaft unterbunden werden. 

Letzten Endes geht es darum, dass in Zukunft mehr Menschen in unserem Viertel darüber mitentscheiden können, was mitden Häusern, in denen wir leben, passiert.Es lohnt sich, in Richtung größtmöglicher Mitbestimmung von Sozialmieter*innen weiterzudenken. Die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften werden diesen Prozess von sich heraus weder anstoßen noch meistern – »Insellösungen« von einzelnen Hausprojekten sind dagegen zu klein dimensioniert. Beidem »Modellprojekt Kottbusser Tor« gehtes deshalb darum, auszuprobieren, wie eine Rekommunalisierung mit realer Demokratisierung und Teilhabe der postmigrantischen Gesellschaft verbunden werden kann.

Literatur

Holm, Andrej/Hamann, Ulrike/Kaltenborn, Sandy, 2016: Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau, Berlin

Clausen, Matthias et al., 2018: Rekommunalisierung Plus: Modellprojekt am Kottbusser Tor, Berlin

Hamann, Ulrike/Kaltenborn, Sandy (Hg.), 2014: Nichts läufthier richtig. Informationsbroschüre zum sozialen Wohnungsbau in Berlin, http://www.nichts-laeuft-hier-richtig.de/

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/modellprojekt-kottbusser-tor

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Als 2011 am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg der Unmut gegen zu hohe Mieten hochkochte und eine kraftvolle, heterogene Nachbarschaft ihren Protest artikulierte, entstand die Initiative Kotti & Co, die die Rekommunalisierung des Neuen Kreuzberger Zentrums erreichte. Bei dem »Modellprojekt Kottbusser Tor« geht es darum, auszuprobieren, wie eine solche Rekommunalisierung mit realer Demokratisierung und Teilhabe der postmigrantischen Gesellschaft verbunden werden kann.

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Auf der Suche nach rentablen Investments stehen Berliner Immobilien an oberster Stelle. Damit einher geht die Finanzialisierung des Immobilienmarktes. Das heißt, Techniken und Methoden aus der Finanzwelt werden auf den Immobilienmarkt angewandt. Immer öfter gehören Gebäude einer Firma, die wiederum einer Firma gehört, die vielleicht an der Börse notiert ist oder in einem Immobilienfonds liegt. Mieter:innen wissen nur, an welche Firma sie ihre Miete überweisen, aber wem sie letztendlich zufließt, verliert sich meist in einer komplexen Struktur. Auch die zuständigen Behörden wissen oft nicht, wie sie die eigentlichen Besitzer:innen eines Hauses erreichen können, wenn eine Briefkastenfirma dazwischengeschaltet ist.

Abhilfe möchte dieses Handbuch schaffen. Es soll helfen, zu beantworten: 1. Wem gehört meine Wohnung? 2. Wer verdient an meiner Miete? Wer bei der eigenen Wohnung anfängt, versteht Schritt für Schritt, wem die Stadt gehört, wer von den Privatisierungen und dem finanzialisierten Immobilienmarkt profitiert und was sich ändern muss.

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