Weiter zum Inhalt
Stadtplan
Bushaltestelle
Gesundheitszentrum
Internationaler Treffpunkt
Konferenz: Sorgende Städte
Nachbarschaftszentrum
Park
Rathaus
Schule
Seniorenresidenz
Stadtbibliothek
Theater
Willkommenszentrum
Zuhause
Wer wir sind
  • ESP /
  • ENG /
  • DEU

Podcast: Aufstand der Trauer

Über antirassistische Erinnerungskultur und Gedenkpolitik

März 2021

Kalea Morgan / unsplash

Kalea Morgan / unsplash

Anti-Rassismus, Organisierung#Anti-Rassismus #Organisierung

Zum Podcast geht es hier!

Zu Gast von ManyPod – der Podcast für die Gesellschaft der Vielen – sind die aktivistischen Kulturschaffenden Miriam Schickler und Ulf Aminde. Mit ihnen spricht Massimo Perinelli über historische und aktuelle Formen des Erinnerns von Betroffenen von rassistischer und antisemitischer Gewalt und darüber, dass Aufforderungen wie #saytheirnames der Initiative 19. Februar Hanau, «Reclaim & Remember» von Ibrahim Arslan, «Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße» der Familie Yozgat in Kassel oder die Parole «Keupstraße ist überall» nicht nur die Opfer dem Vergessen entreißen, sondern für eine andere Gesellschaft kämpfen, in der solche Taten nicht mehr möglich sind.

Miriam Schickler ist Klangkünstlerin und entwickelt intersektionale Audiowalks im urbanen Raum des Er- und Entinnerns.

Ulf Aminde hat das Mahnmal «Herkesin Meydanı - Platz für alle» zum Nagelbombenanschlag auf der Keupstraße entwickelt und kämpft mit den Menschen vor Ort für dessen Realisierung.

Links zu dieser Sendung:

Zu Miriam Schickler:  https://geteiltewelten.net/ - echoingyafa.alllies.org/

Zu Ulf Aminde - foundationclass.org - mahnmal-keupstrasse.de

Zu Hanau: - 19feb-hanau.org

Foto: Kalea Morgan / Unsplash

#Anti-Rassismus #Organisierung

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Zu Gast von ManyPod – der Podcast für die Gesellschaft der Vielen – sind die aktivistischen Kulturschaffenden Miriam Schickler und Ulf Aminde. Mit ihnen spricht Massimo Perinelli über historische und aktuelle Formen des Erinnerns von Betroffenen von rassistischer und antisemitischer Gewalt und darüber, dass Aufforderungen wie #saytheirnames der Initiative 19. Februar Hanau, «Reclaim & Remember» von Ibrahim Arslan, «Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße» der Familie Yozgat in Kassel oder die Parole «Keupstraße ist überall» nicht nur die Opfer dem Vergessen entreißen, sondern für eine andere Gesellschaft kämpfen, in der solche Taten nicht mehr möglich sind.

Kalea Morgan / unsplash

  • #Anti-Rassismus
  • #Organisierung

Podcast: "Etwas stimmt nicht in dieser Gesellschaft"

Rassistische Polizeigewalt in Deutschland

März 2022

Folco Masi / unsplash

Folco Masi / unsplash

Anti-Rassismus#Anti-Rassismus

Hör den Podcast hier!

Erschreckende Bilder von Gewalt durch Polizeibeamt*innen kursierten nach dem grausamen Tod George Floyds Ende Mai 2020 in den sozialen Medien. Diese Bilder zeigen, dass die Ermordung Floyds durch vier weiße Polizisten in Minneapolis, USA kein Einzelfall war, sondern vielmehr Teil eines größeren Rassismus-Problems von Polizei und Gesellschaft ist.

Der Fall Floyd hatte eine weltweite Solidarisierung erfahren und vielerorts zu Demonstrationen und Protesten geführt, so auch in Deutschland. Denn auch hier kommt es immer wieder zu unverhältnismäßiger Gewaltanwendung der Polizei gegenüber nicht-weißen Menschen.

Von einem solchen Vorfall berichtet in diesem Podcast Tarzan Kilic, der Ende Mai vor dem Haus seiner Schwester in Herne Opfer eines gewaltvollen Übergriffs von Polizeibeamten wurde – obwohl er selbst die Polizei gerufen hatte.

Außerdem spricht Biplab Basu, Gründer der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP). Basu berichtet von einem Anstieg an Brutalität bei der Polizei in den letzten Jahren.

Dass diese behördliche Gewalt einer strukturellen Dimension unterliegt und oftmals mit fehlenden Konsequenzen für Polizeibeamt*innen einhergeht, beschreiben die Hamburger LINKE-Politikerin Christiane Schneider und Mouctar Bah, von der Oury Jalloh Initiative.

Foto: Folco Masi / unsplash

#Anti-Rassismus

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Erschreckende Bilder von Gewalt durch Polizeibeamt*innen kursierten nach dem grausamen Tod George Floyds Ende Mai 2020 in den sozialen Medien. Diese Bilder zeigen, dass die Ermordung Floyds durch vier weiße Polizisten in Minneapolis, USA kein Einzelfall war, sondern vielmehr Teil eines größeren Rassismus-Problems von Polizei und Gesellschaft ist.

Der Fall Floyd hatte eine weltweite Solidarisierung erfahren und vielerorts zu Demonstrationen und Protesten geführt, so auch in Deutschland. Denn auch hier kommt es immer wieder zu unverhältnismäßiger Gewaltanwendung der Polizei gegenüber nicht-weißen Menschen.

Folco Masi / unsplash

  • #Anti-Rassismus
Datei öffnen ↓
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Oft ist Schule mühevoll und einschüchternd, eher Lernfabrik als Lebensraum. In kaum einem Land entscheidet die soziale Herkunft so sehr über den Bildungsweg wie in Deutschland. Wenn Schulen auch noch in einem Leistungswettbewerb stehen, erscheinen Kinder mit schlechteren Startbedingungen als «Problem». Die Ungerechtigkeit ist enorm.

Die Zeitschrift «LuXemburg» 2/2021 bringt frischen Wind in die Bildungsdiskussion: Was sind die großen und kleinen Schritte hin zu einer Schule für alle? Was fordern Schüler:innen und wie können Lehrer:innen von ihnen lernen? Warum ist Schule für Kinder aus Arbeiter:innen- und Migrant:innen-Familien oft ein Spießrutenlauf? Wie steht es um die berufliche Bildung? Wie können Lehrer:innen, Eltern und Schüler:innen gemeinsam für bessere Bedingungen kämpfen?

Die Ausgabe sucht, was SCHULE MACHEN kann, zeigt Klassenzimmer, in denen kooperativ und ohne Druck gelernt wird sowie Schulgebäude, die lebendiger Anlaufpunkt für das soziale Leben in der Nachbarschaft sind.

  • #Alternativen
  • #Migration
  • #Anti-Rassismus
  • #Organisierung

Die Sicherheit der Anderen

Für wen ist die Polizei gefährlich?

Dezember 2020

Singlespeedfahrer, CC0, via Wikimedia Commons

Singlespeedfahrer, CC0, via Wikimedia Commons

Anti-Rassismus#Anti-Rassismus

Polizeigewalt wird momentan so breit disku­tiert wie selten. Doch viele halten Übergriffe für Ausnahmen. Sie sehen die Polizei als neutrale Gesetzeshüterin oder sogar als Freund und Helfer. Warum widersprichst du? Was ist das Problem mit der Polizei?

Um das zu verstehen, muss man sich histo­risch ihre Funktion anschauen. Die Polizei ist eng verknüpft mit dem nationalstaatlichen Prinzip und eine Institution des racial capita­lism, um mit Cedric Robinson zu sprechen. In dieser Rolle soll sie die Eigentumsver­hältnisse und die liberalen Freiheitsrechte schützen. Marx hat es schon beschrieben: Die moderne Polizei hat die Aufgabe, den Bürger, seine Rechte und sein Eigentum zu erhalten – wohlgemerkt »seines« und nicht »ihres« –, denn das liberale Versprechen von Freiheit und Sicherheit ging mit der Unfreiheit, Ausbeutung und Entmenschli­chung von anderen einher, etwa People of Color, Schwarzen Menschen, Frauen und nicht-binären Personen. Die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bauen auf Verskla­vung, Kolonialismus und der Ausbeutung von Arbeitskraft in Europa auf. In diesem System hat die Polizei auch die Aufgabe, Körper für die Ausbeutung produktiv zu machen, und das trifft insbesondere rassifizierte und migrantisierte Arbeitskraft. Das gilt bis heute, auch wenn sich die Bedingungen natürlich verändert haben und wir eine stärkere Kriminalisierung all derjenigen sehen, die als »überflüssig« konstruiert werden. Die Polizei schützt noch immer ein ganz bestimmtes Rechtssubjekt, eines, das Eigentum besitzt oder als Teil einer nationalen, »weiß« imagi­nierten Gemeinschaft gesehen wird. Sie folgt damit einer Logik der Unterscheidung: Der Schutz der einen geht oft mit der Verunsiche­rung der anderen einher.

Was heißt das, der Schutz der einen bedeutet die Verunsicherung der anderen?

Schauen wir uns die Gentrifizierung in den Städten an. Da fordern Leute, die neu in bestimmte Viertel ziehen, »dass es hier sicherer wird«. In der Folge werden aber andere Bewohnergruppen neu oder stärker kriminalisiert. Das können Migrant*innen sein oder auch Wohnungslose, die von den Parkbänken verscheucht werden. Oder betrachten wir das racial profiling. Während die einen unbehelligt von der Polizei ihrem Alltag nachgehen, heißt es für die anderen: »Stehenbleiben, Identitätskontrolle, können wir mal die Papiere sehen?« Eine polizeiliche Aktion befördert hier Ausgrenzung und Differenzierung. Das fühlt sich demütigend an, aber auch entsolidarisierend, weil die meisten einfach weitergehen. Für sie ist es Normalität geworden, dass es die Schwarzen Körper sind, die kontrolliert werden und an den Wänden stehen, die Migrantisierten, die Wohnungslosen, die Suchtkranken. Sie denken sich: »Es werden schon die Richtigen sein« und »Hier wird für Ordnung gesorgt«. Daran sehen wir, dass es auch eine gesellschaftliche Anrufung an die Polizei gibt, für Sicherheit zu sorgen. Darum sprechen wir vom »Polizieren«, das über die Polizei hinausgeht. Es beschreibt ein Verhältnis der Kriminalisierung, in der auch große Teile der Gesellschaft den »polizeilichen Blick« einnehmen. Für Menschen, die keine alltäg­liche Repression durch die Polizei erfahren, kann es sehr schwer sein, sich aus diesem Blick herauszuarbeiten. Weil die polizeiliche Anrufung ihren Status als Rechtssubjekt garantiert und gleichzeitig den Subjektstatus von anderen unterminiert, um es mit Frantz Fanon zu sagen.

Heißt das, ich selbst gewinne subjektiv an Sicherheit, wenn ich als Mitglied der weißen Mehrheitsgesellschaft sehe, wie der ver­meintliche Dealer da hinten kontrolliert wird?

Genau das diskutieren wir mit dem Konzept der white wages von W.E.B. Du Bois. Du Bois hat sich gefragt, warum sich im US-amerika­nischen Bürgerkrieg nicht mehr ausgebeu­tete Weiße dem Kampf gegen Versklavung angeschlossen haben, der ja auch ein Kampf für eine andere Gesellschaftsordnung war. Du Bois sieht whiteness (Weiß-Sein) auch als sozialpsychologischen Ertrag, als nicht-monetäre Kompensation. Sie funktioniert darüber, sich von anderen abzugrenzen und dadurch bestätigt und ermächtigt zu fühlen: Auch wenn ich selbst Unsicherheit erlebe, die Kriminalisierten sind die anderen. Denken wir an die Anrufungsszene bei Louis Althusser, wo der Polizist ruft: »He, Sie da!« Das Subjekt dreht sich um und wird sich durch den Ruf seiner Rechtssubjekthaftigkeit bewusst: Es weiß, es hat ein Anrecht auf diese Polizei.

Und was bedeutet das für diejenigen, die die Polizei fürchten?

Rassifizierte und marginalisierte Menschen werden durch den Ruf eben nicht zu Rechts­subjekten. Daher würden sie auch eher versuchen, zu entfliehen. Ich beschreibe das in Anlehnung an Schwarze kritische Theorien als fugitivity, Flüchtigkeit, und frage mich, was es eigentlich bedeutet, konstant auf der Flucht zu sein. Von Jugendlichen aus den französischen Banlieues gibt es ein Banner, auf dem steht: »Theo und Adama erinnern uns daran, warum Zyed und Bouna weglie­fen«. Adama kam durch die Polizei um, Theo wurde misshandelt, und Zyed und Bouna sind vor Polizeikontrollen geflohen und dabei zu Tode gekommen. Der Satz macht diese Ausweglosigkeit klar, dass sowohl das Wegrennen wie auch das Gefasst-Werden im Tod enden können. Die polizeiliche Anrufung schafft hier eben keine Rechtssub­jekte, sondern sie vermittelt Geflüchteten, Migrant*innen und Post-Migrant*innen, Schwarzen/People of Color, trans*- oder nicht-binären Menschen, aber auch mittellosen oder wohnungslosen weißen Menschen, dass sie kein Anrecht auf Schutz haben.

Liegt im Wegrennen dennoch ein wider­ständiges Potenzial? Schließlich ist die Umwendung ja auch eine Unterwerfung.

Die Flüchtigkeit ist immer auch der Versuch, den gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien zu entkommen, ja. Es ist eine Bewegung aus der polizeilichen Ordnung hinaus und damit auch aus dem differenziellen Sicherheitsversprechen dieses Systems. Hier setzt der Abolitionismus an, der auf die Überwindung der Polizei zielt. Er fragt, welche anderen Formen des Schutzes und Füreinander-Sorgens aus dieser Flüchtigkeit heraus entwickelt werden konnten und können. Polizeikritik ist hier also immer auch Gesellschaftskritik. Denn fugitivity steht in der Schwarzen radikalen Theoriebildung auch für alternative Formen des Zusam­menlebens und Wirtschaftens, etwa in den maroon communities, die von Menschen nach der Flucht aus amerikanischen Plan­tagen aufgebaut wurden. Natürlich kann man es trotzdem nicht romantisieren, das Wegrennen vor der Polizei. Das Nicht-atmen-Können, das Außer-Puste-Kommen, das »I can’t breathe« ist eine Erfahrung, die körperlich spürbar und sozio-historisch tief in Schwarze und Schwarz-radikale Wissens­bestände eingeschrieben ist.

Du beschreibst Polizeigewalt als eine kolonial geprägte Gewalt. Warum gilt das auch für Europa?

Das Polizieren war in den deutschen Kolonien wesentlich, um Regierung und Ausbeutung der Bevölkerung sicherzustellen. Die Kolo­nien waren gewissermaßen Laboratorien für polizeiliche Praktiken wie Arbeitscamps oder Versammlungsverbote. Diese Techni­ken wurden dann auch innerhalb Europas angewandt, um etwa die Roma-Bevölkerung zu kontrollieren und die Ausbeutung von Arbeitskräften zu ermöglichen. Hier müssen wir gerade in Deutschland die Rolle der Polizei im Nationalsozialismus betrachten, wo bis heute Kontinuitäten bestehen. Mit der formalen Dekolonialisierung und durch die globale Arbeitsmigration kamen die kolonia­len Kontinuitäten zunehmend auch innerhalb der europäischen Gesellschaften zur Geltung. Die Techniken und Strategien des Polizierens haben sich natürlich inzwischen verändert. Aber noch immer sind es besonders rassifi­zierte, migrantisierte und jüdische Körper, die keinen Schutz erfahren oder kriminalisiert werden.

Wie wehren sich Menschen gegen diese Gewalt?

Es gibt eine lange Geschichte des Wider­stands auch in Europa. Besonders seit den 1960er und vor allem 1980er Jahren sehen wir in Großbritannien und Frankreich zahl­reiche rebellions, die sich an Polizeigewalt entzünden. In Frankreich gab es ab Ende der 1950er Jahre die antikolonialen Solida­ritätsbewegungen mit Algerien, die brutal niedergeschlagen wurden. In den 1980ern gab es die großen antirassistischen Demos. Jugendliche in den Banlieues begannen, sich selbst gegen Polizeigewalt zu organisieren, etwa in sogenannten Gangs, die natürlich wieder eigene Probleme mit sich bringen. In Deutschland haben sich viele, auch ich selbst, damals im kleinen Kreis, in Jugend­zentren organisiert, um Polizeigewalt von sich wegzuhalten. Im Hamburger Polizei­skandal von 1990 organisierten sich Schwarze Menschen gegen polizeiliche Übergriffe und versuchten, Öffentlichkeit herzustellen. Dazu kommt die selbstorganisierte Bewegung von Geflüchteten, etwa die Kampagnen gegen die Residenzpflicht, die auch eine polizeiliche Maßnahme ist. Wie sich die Widerstände gegen policing im Kleinen und im Großen in Deutschland entwickelt haben, ist noch gar nicht ausreichend aufgearbeitet.

Zurück zur Polizei: Wieso ist es eigentlich so schwer, polizeiliche Gewalt zu kontrollieren?

Schon Walter Benjamin hat gezeigt, dass sich die Macht der Polizei verselbstständigt, weil sie nicht nur Recht durchsetzt, sondern auch setzt. Dieser interpretative Spielraum birgt die Gefahr des Machtmissbrauchs  oder ist, besser gesagt, Teil ihrer Macht. Zudem gibt es einen eigenen Korpsgeist dieser Institution. Man versteht sich als explizit hierarchische Solidargemeinschaft und kapselt sich nach außen ab. Die Polizei ist aber nicht allein das Problem. Sie ist durchzogen von gesellschaftlichen Herr­schaftsverhältnissen und Diskursen. Stuart Hall hat das in »Policing the crisis« in Bezug auf Großbritannien gezeigt. Obwohl die Anzahl kleinerer Raubüberfälle gar nicht zugenommen hatte, wurden sie in der Krise plötzlich zum Politikum und Schwarze Jugendliche wurden verstärkt kontrolliert. Da hat sich eine rassistische Konjunktur in neue Polizeipraktiken übersetzt.

Ist eine Reform der Polizei unter diesen Um­ständen möglich? Wo müsste man ansetzen?

Ganz wichtig wäre als Erstes, die rechtlichen Grundlagen solcher Praktiken abzuschaffen: verdachtsunabhängige Kontrollen und sogenannte Gefahrenorte. Darüber hinaus ist die Forderung des defunding zentral, die in den USA diskutiert wird. Die Idee ist, alle Energie und Mittel in die Unterstützung der betroffenen Personen zu stecken und nicht in die Polizeiarbeit. Statt Bodycams und techni­scher Infrastruktur müssen wir die Strukturen der Unterstützung ausbauen. Wir müssen die Institutionen stärken, die eine Kontrolle der Polizei und soziale Teilhabe ermöglichen. Das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) ist sicher ein Anfang, um sich gegen Diskriminierung durch Behörden zu wehren. Unabhängige Beschwerde- oder Ermittlungs­stellen müssten erst geschaffen werden. Doch wir müssen noch weiter denken: Wo lassen sich Straftatbestände beseitigen, die der Kriminalisierung von Armut dienen? Die Legalisierung von Migration oder gewissen Betäubungsmitteln wäre ein Riesenschritt, um einer prison abolition, einer Ent-Kerkerung der Gesellschaft, näherzukommen. Auch hierzulande sitzt ein großer Teil der Inhaftier­ten wegen Betäubungsdelikten und unzählige wegen Armutsdelikten. Es geht bei Abolition um mehr als um Antidiskriminierung auf rechtlicher Ebene oder um eine Polizeireform. Es geht darum, Ressourcen umzuverteilen, die Betroffenen von Gewalt effektiv zu stärken und die gesellschaftlichen Beziehungen radikal zu transformieren.

Vielen macht die Forderung nach Abschaf­fung der Polizei Angst. Warum bedeutet eine Welt ohne Polizei nicht Chaos oder ­Rechtslosigkeit?

Für Menschen, denen die Polizei nie Si­cherheit gebracht hat, stellt sich die Frage des Chaos so nicht. »Wer soll denn dann für Sicherheit sorgen?« – das fragen meist Menschen, in deren Alltag und in deren Viertel die Polizei kaum eine Rolle spielt, die nie kontrolliert werden und dennoch nicht im Chaos leben. Tatsache ist, dass die Polizei für die meisten marginalisierten Menschen eben keine Schutzinstanz ist, sondern eine der Gewalt. Wenn diese Gewalt aufhört, sind sie erst mal sicherer und es entsteht Raum für einen anderen Umgang mit Konflikten. Dafür ist zentral, dass Institutionen geschaf­fen werden, die die Sorge um das Leben ins Zentrum stellen und nicht dessen Krimina­lisierung. Denn natürlich wird es weiterhin Konflikte geben, von sexualisierter Gewalt bis zu Armutsdelikten. Ein abolitionistischer Ansatz schaut: Was sind die Ursachen für solche Probleme und was hilft wirklich da­gegen? Ansätze von Transformative Justice oder kollektiver Verantwortungsübernahme zielen auf eine Veränderung von Strukturen. Sie wurden von den Menschen entwickelt, die wussten, dass sie die Polizei im Notfall nicht anrufen können, weil es ihre Situation nur verschlimmert – migrantische, Schwarze und Women of Color sowie nicht-binäre Personen. Ihr Ansatz war, zuallererst die Betroffenen von Gewalt zu unterstützen. Was braucht die Person, die häusliche Gewalt erlebt, welche Ressourcen, welche Beratung? Wie will sie mit der Person um­gehen, die Gewalt ausübt? Und wieso wird jemand eigentlich gewalttätig? Der Ansatz geht davon aus, dass wir alle in unterschied­licher Art und Weise Gewalt erleben und ausüben, und fragt nach den Vorausset­zungen von Sicherheit in den Communities, in denen Menschen leben. Es geht darum, diese ­Voraussetzungen zu schaffen, anstatt weiter materiell und subjektiv in Gewalt zu ­investieren.

Häufig wird kritisiert, dass Community-basierte Ansätze die Verantwortung auf die Einzelnen übertragen und dem Abbau des Sozialstaats Vorschub leisten.

Diese Kritik am neoliberalen Rückbau des Wohlfahrtsstaates ist essenziell. Genau mit ihr ging ja die Expansion des strafenden Staates einher, wie ihn Ruth Wilson Gilmore oder Loïc Wacquant beschrieben haben. Die marginalisierten Gruppen haben darunter am stärksten zu leiden und sind überproportional in den Gefängnissen vertreten. Aber der Punkt ist: Diese Gruppen wurden auch vom ›alten Sozialstaat‹ nicht aufgefangen. Er zog immer die Trennlinie zwischen den deserving und den undeserving poor, entlang von nationalstaatlichen Regelungen, Geschlech­terrollen, Migrationsstatus. Dahin wollen wir nicht zurück, sondern müssen an diesen Leerstellen ansetzen und nach Alternativen suchen. Abolitionismus heißt nicht, die Lösung für alles zu haben. Wir wissen nicht genau, wie eine Welt ohne Polizei organisiert wäre. Aber wir wissen, dass Institutionen der Gewalt keine soziale Gerechtigkeit schaffen können, und von diesem Punkt aus können wir losgehen.

»Polizei abschaffen« – so eine Parole wird auf heftigen Gegenwind stoßen. Schon Kritik an der Polizei wird massiv angegriffen. Wie kann man die Debatte erfolgreich führen?

Es geht zunächst darum, sich auch als Linke aus einer polizeilichen Sichtweise herauszu­arbeiten, die Perspektive zu wechseln. Wir müssen offensiv sagen, dass es kein Zurück zum nationalen Wohlfahrtsstaat geben kann. Wir müssen neue Wege gehen und an den vorhandenen Beispielen ansetzen: von den maroons bis zu Ansätzen von demokrati­schen Rätegemeinschaften oder Marina­leda in Spanien. Das Ziel ist Gerechtigkeit ohne Bestrafung und institutionelle Gewalt. Gesamtgesellschaftlich müssen wir genau das sprechbar machen: Abolition will nicht einfach nur abschaffen und Chaos stiften. Defunding will nicht nur Geld kürzen, sondern Geld umverteilen in Bereiche, von denen ein Großteil der Menschen profitiert: in sozialen Wohnungsbau, in Bildung, in soziale Absi­cherung. Allerdings darf man Abolition nicht darauf reduzieren. Wenn wir mehr Mittel in die Daseinsvorsorge stecken, müssen wir bedenken, dass auch deren Institutionen re­pressiv sein können. Auch im Bildungssystem, auf Jugendämtern oder in Beratungsstellen gibt es Diskriminierung. Mit der Reinvestition muss also eine Dekolonisierung einhergehen. Und ja, natürlich ist der politische Gegen­wind massiv. Aber es gibt auch immer mehr Menschen, die sagen: Wir wollen Polizeige­walt nicht mehr akzeptieren, nicht gegen uns, nicht gegen andere. Wir wollen nicht in einer Welt leben, in der so viele Menschen einen frühzeitigen Tod fürchten müssen. Da gibt es Bewegung in vielen politischen Segmenten, und daran müssen wir jetzt weiterarbeiten.

 

Das Gespräch führte Hannah Schurian.

Vanessa E. Thompson arbeitet an der Viadrina-Universität Frankfurt (Oder) unter ande­rem zu kritischer Rassismusforschung, post- und dekolonialer Theorie sowie zum Abolitionismus. Sie engagiert sich auch aktivistisch zu diesen Themen, etwa bei der Internationalen Unabhän­gigen Kommission zur Aufklärung der Wahrheit über den Tod des Oury Jalloh.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/die-sicherheit-der-anderen

#Anti-Rassismus

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Das Polizeiproblem polarisiert auch in linken Debatten. Für die einen ist sie öffentliche Dienstleistung, für die anderen eine tödliche Gefahr.

Ein Interview mit Vanessa E. Thompson über die kolonialen Wurzeln der modernen Polizei, über das Gefühl, nicht atmen zu können und über die Utopie einer Welt ohne Gefängnisse.

Singlespeedfahrer, CC0, via Wikimedia Commons

  • #Anti-Rassismus

»Irgendwann sind auch unsere Kräfte am Ende«

Juni 2020 • Llanquiray Painemal • Susanne Schultz • Michel Jungwirth

Foto: Legalisierung jetzt!

Foto: Legalisierung jetzt!

Anti-Rassismus, Migration, Organisierung#Anti-Rassismus #Migration #Organisierung

„Guten Abend allerseits! Ich möchte Euch gern mitteilen, vor welchen Herausforderungen ich als undokumentierte Frau in dieser globalen Covid-19-Pandemie stehe. Ich habe meinen Job verloren, nachdem das Restaurant geschlossen hat, in dem ich gearbeitet habe. Als informelle Arbeiterin heißt das, dass es keinerlei Entschädigung für eine plötzliche Kündigung gibt. Ohne einen formalen Arbeitsvertrag habe ich kaum Verhandlungsmacht. Ich komme aus armen Verhältnissen, aus einem hochverschuldeten Haushalt. Bei mir hat dieser zusätzliche Schock des Lockdown meine Kräfte extrem geschwächt, auch noch damit fertig werden zu können. Ich habe zwei Söhne und auch meine Eltern sind von mir abhängig (sie leben im Herkunftsland, Kommentar respect). Keine Arbeit bedeutet kein Geld – und kein Geld bedeutet kein Essen, keine Medikamente und keine Mittel für Miete und andere Rechnungen. Ich kann wohl noch ein oder zwei Wochen überleben, aber ich weiß nicht, was in einem Monat passieren wird.“

„Hallo! Ich bin eine lateinamerikanische Frau und lebe hier seit fast drei Jahren. Ich bin illegal und bin mit meinem jüngsten Sohn hergekommen, um ein besseres Leben zu haben und eine bessere Bildung für ihn. Als diese Pandemie ausgebrochen ist, bin ich leider schlimm erkrankt, hatte Probleme mit den Bronchien. Seitdem ich hier bin, habe ich die ganze Zeit gearbeitet, habe Wohnungen geputzt und auf Babys aufgepasst. Aus der Wohnung, in der ich bisher wohnte, haben sie mich rausgeschmissen, weil ich krank war. Gerade hilft mir eine Freundin: Sie hat mich aufgenommen und ich schlafe mit meinem kleinen Sohn auf dem Boden in ihrem Wohnzimmer. Ich bin sehr besorgt und sehr erschrocken darüber, was gerade passiert. Denn ich habe keinerlei Rücklagen. Ich hoffe sehr, dass Ihr uns unterstützt: Wir wollen legalisiert werden, wir möchten arbeiten, wir möchten etwas tun können.“[1]  

Diese Botschaften haben uns Frauen ohne Papiere aus unserem Netzwerk Ende April zugeschickt. Anlass war der Aktionstag #LegalisierungJetzt am 25. April, den wir, die respect-Initiative Berlin und das Bündnis Solidarity City Berlin, gemeinsam organisiert haben. Ziel war es, auf die Situation Illegalisierter aufmerksam zu machen, einmal mehr für die Forderung nach Legalisierung einzutreten und durch einen Solidaritätsfonds auch praktische Unterstützung leisten zu können. Wir haben an dem Tag unglaublich viele Solidaritäts-Fotos aus aller Welt erhalten und können nun für einige Monate mit den erhaltenen Spenden auf niedrigem, nicht existenzsicherndem Niveau Nothilfe für acht Frauen aus unserem Netzwerk leisten.[2] 

Mit diesem Text stellen wir die aktuelle Situation illegalisierter Migrantinnen in Berlin vor und wollen in Anknüpfung an den Aktionstag Ansatzpunkte für politische Forderungen in Zeiten der Corona-Krise diskutieren. Denn wir merken zurzeit, dass die extreme Zuspitzung der Krisensituation es mehr als sonst ermöglicht, auf die schlechte Normalität der Illegalisierung aufmerksam zu machen. Wir hoffen, dass es eine Chance gibt, dass die kleinen Pflänzchen der aktuellen Solidarität wachsen und sich ausweiten – in Richtung einer Politik der Legalisierung, in Richtung eines Existenzgeldes für alle, in Richtung eines Rechts auf eine gute öffentliche Gesundheitsversorgung für alle und auch in Richtung einer anderen Organisation und Verteilung von Sorgearbeit. Doch kurz zu uns: Die respect-Initiative macht seit mehr als 20 Jahren in Berlin auf die Situation von Frauen ohne Papiere aufmerksam, fördert die Selbstorganisierung, ist mit ihnen solidarisch und unterstützt sie konkret. Die meisten der illegalisierten Frauen kommen aus lateinamerikanischen und aus afrikanischen Ländern. Seit einigen Jahren sind wir auch in dem Bündnis Solidarity City Berlin aktiv und setzen uns mit anderen Gruppen für einen gleichberechtigten und würdigen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Schulbildung für Menschen ohne oder mit nur prekärem Aufenthaltsstatus in Berlin ein.

Die Situation illegalisierter Menschen in Zeiten von Corona – Legalisierung jetzt erst recht!

Die aktuelle Krisensituation, die wir in Zeiten einer globalen Pandemie, des (partiellen) ökonomischen Lockdowns sowie einer drastischen Verschiebung von Sorgearbeitsverhältnissen erleben, trifft illegalisierte Frauen besonders hart. Und sie macht in dieser drastischen Zuspitzung auf eine Normalität aufmerksam, die für Illegalisierte nichts Neues ist: die alltägliche Angst vor Polizeikontrollen; die mangelnde oder allenfalls prekäre Gesundheitsversorgung; die alltägliche ökonomische Unsicherheit und Abhängigkeit von Jobs in Gastronomie und Privathaushalten – und die Abwesenheit von rechtlicher Absicherung, von Kündigungsschutz, Urlaub und Krankengeld. Hinzu kommt die Belastung illegalisierter Frauen in der Sorge und Verantwortung für Kinder und Familienangehörige, sowohl hier als auch sehr oft im Herkunftsland. Angesichts dieser Ausgrenzungen und Vielfachbelastungen sind sie oftmals angewiesen auf Alltagssolidarität, erfahrungsgemäß meist vor allem von denjenigen, denen es so ähnlich geht oder die diese Erfahrung früher einmal gemacht haben. Die Gründe, warum viele Menschen illegalisiert in Deutschland leben, sind vielfältig. Vielen von ihnen wurde politisches Asyl verweigert. Aus Angst vor Repression in ihren Ländern entschieden sie sich, in den Untergrund zu gehen. Andere sind als Touristinnen gekommen und haben beschlossen, hier zu bleiben, um zu arbeiten und ihren Familien in ihren Herkunftsländern zu helfen. Viele Frauen versuchen, in Deutschland ein eigenständiges Leben aufzubauen, manchmal auch, um sich patriarchalen und sexistischen Verhältnissen zu entziehen. Die zentrale Ursache dieser Situation ist die Ungleichheit zwischen dem Globalen Süden und Norden. So wie viele Europäerinnen in Krisenzeiten nach Lateinamerika ausgewandert sind, wandern auch heute Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben aus oder fliehen vor Unterdrückung. Seit Jahrzehnten haben antirassistische, migrantische, solidarische Bewegungen in Deutschland immer wieder ein Recht auf Rechte eingefordert, um gegen einen zentralen Pfeiler rassistischer Diskriminierung und Ausbeutung vorzugehen: den systematischen Ausschluss aus sozialen und Bürgerrechten in der Illegalisierung – sei es in der langjährigen Kampagne „kein Mensch ist illegal“, sei es in der Anfang der 2000er aktiven „Gesellschaft für Legalisierung“, sei es in vielfältigen selbstorganisierten migrantischen Bewegungen und Protesten. Dennoch ist auf der Ebene der staatlichen Regulierung in Deutschland trotz all dieser Kämpfe nichts verbessert worden für die Hunderttausende, die trotz ihrer enormen Expertise und „Systemrelevanz“ nicht als „Fachkräfte“ gelten und für die die (sowieso minimalen) klassenselektiven Öffnungen des Einwanderungsregimes der letzten Jahre irrelevant sind. Es gibt keinerlei Stichtagsregelungen oder Kontingente der Legalisierung wie in anderen europäischen Ländern. Die Einzelnen müssen in Härtefallkommissionen als Bittstellerinnen auftreten, die nur wenigen eine Perspektive bieten. Oder es ergeben sich neue Möglichkeiten aufgrund biographischer Veränderungen in ihren Familienverhältnissen (etwa abhängige Aufenthaltsrechte nach einer Heirat oder der Geburt eines „deutschen“ Kindes). Viele müssen sich auf lange Sicht in dem extrem prekären und entrechteten Leben als Menschen ohne Papiere einrichten. In Zeiten von Covid-19 sind zwar Abschiebungen vorübergehend und teilweise ausgesetzt. Dies ändert aber nichts an der prinzipiellen Bedrohung Illegalisierter durch das Abschieberegime. Ganz im Gegenteil ist ihre Bewegungsfreiheit aufgrund der massiven und beängstigenden Polizeipräsenz zusätzlich eingeschränkt: Viele Menschen ohne Papiere wagen es derzeit nicht, auf die Straße zu gehen, aus Angst, kontrolliert zu werden. Die anfänglich in Berlin eingeführte Ausweispflicht wurde zwar wieder zurückgenommen, das ändert aber nichts an der prinzipiellen Angst und dem Unbehagen angesichts der vielen Ordnungskräfte und Polizeiwagen, die derzeit das Bild der Öffentlichkeit prägen. Auch ohne Ausweispflicht ist das Thema Racial Profiling eine Alltagsrealität für von Rassismus betroffene Menschen – insbesondere an den sogenannten gefährlichen Orten, wo die Polizei kontrollieren kann, wie sie will. Die sich zuspitzende prekäre Lage der Menschen ohne Papiere in der Pandemiekrise hat aber auch zu neuen Initiativen geführt. In der Partei Die Linke wird bereits seit einiger Zeit ausgelotet, ob mit einem Städte-Ausweis der Zugang Illegalisierter zu städtischen Dienstleistungen ermöglicht werden könnte. Am 22. April haben 27 Abgeordnete der Linken an Kanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer einen offenen Brief geschrieben, in dem sie sich u.a. für eine einmalige finanzielle Hilfe für Illegalisierte einsetzen – des weiteren für einen Abschiebestopp, eine Generalamnestie für Illegalisierte und insbesondere dafür, „eine Legalisierung für alle Menschen ohne Aufenthalt in Deutschland einzuleiten“ (Jelpke 2020). Diese begrüßenswerte Initiative setzt sich also für eine Stichtagsregelung ein, wie sie in anderen europäischen Ländern in der Vergangenheit Praxis war und geht damit erfreulicherweise über eine temporäre Krisenbewältigung nur für bestimmte (bereits registrierte) Gruppen hinaus, wie etwa die vielbeachtete Sofortmaßnahme der portugiesischen Regierung.[3] 

Bisher ist allerdings wenig unternommen worden, um dieser parlamentarischen Initiative mehr politischen Nachdruck zu verleihen und zu verhindern, dass sie eine Eintagsfliege bleibt. Hier liegt es nicht zuletzt an den sozialen antirassistischen Bewegungen, die neue Sichtbarkeit in der aktuellen Krisensituation zu nutzen, um die Frage der Legalisierung wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen und eine solidarische Lösung zu fordern. Aufgrund der Kriminalisierung ist es Illegalisierten kaum möglich, massenhaft auf die Straße zu gehen oder allein eine öffentliche Kampagne zu stemmen.

Globale Care-Arbeit in der Krise – die gekündigten Care-Arbeiterinnen ohne Papiere  stehen jetzt vor dem Nichts

Illegalisierte Menschen arbeiten hauptsächlich im Dienstleistungssektor. Migrantinnen übernehmen die Haus-, Sorge- und Pflegearbeit, die viele Menschen mit besseren wirtschaftlichem Lebensbedingungen selbst nicht mehr leisten und dadurch Zeit für ihre Erwerbsarbeit haben. Menschen ohne Papiere kümmern sich um Kinder, sie holen sie von der Schule ab, bringen sie ins Bett, wenn die Eltern ins Kino oder auf eine Party gehen, putzen die Häuser, bügeln, kochen in Restaurants, machen sauber in Hotels, oder arbeiten auch auf dem Bau. Als Isolation und soziale Distanzierung in der Pandemie zur neuen gesellschaftlichen Priorität wurden, blieben die Arbeit gebenden Familien zu Hause. Schulen und Kitas wurden geschlossen und illegalisierte Arbeiterinnen wurden nicht mehr gebraucht. Die Arbeitgeberinnen teilten den Care-Arbeiterinnen meist mit, dass sie auf unbestimmte Zeit ihre Arbeit nicht mehr benötigen. Die uns bekannten illegalisierten Arbeiterinnen haben fast alle ihre Jobs verloren, und bis auf das eine oder andere Almosen (etwa 20 Euro im Briefumschlag bei der letzten Arbeitsstunde) wurden sie ohne jegliche Unterstützungsangebote in die Kontaktsperre entlassen. Insbesondere die wichtige Einnahmequelle Babysitten und Kinderbetreuung fällt komplett aus, weil eine Ansteckung durch die Arbeiterinnen befürchtet wird. Die körperlich oft härteren stundenweisen Putzjobs gibt es teilweise noch, aber nicht in dem Umfang, dass sie annähernd zum Überleben ausreichen. Zu alledem kommt noch die enorme Belastung der globalen Care-Arbeiterinnen durch die Situation ihrer Familienangehörigen in ihren Herkunftsländern. Gerade jetzt sind diese in vielen Ländern besonders auf die Unterstützung durch Familienangehörige im globalen Norden angewiesen. Oftmals hängen nicht nur die Kinder von deren Einkommen vom Putzen und Babysitten ab, sondern auch weitere Familienangehörige, etwa die alten Eltern. Und gerade jetzt verlieren viele der Familienangehörigen in den Herkunftsländern mit oft extremen Ausgangssperren selbst ihre Einnahmequellen. „Wenn wir nicht wegen Corona sterben, sterben wir, weil wir hungern“, teilten etwa Familienangehörige aus El Alto in Bolivien mit. In Zeiten von Corona zeigen sich viele widersprüchliche und problematische Entwicklungen in der Care-Arbeit gleichzeitig, und die Frage der “Systemrelevanz” wirft viel weitergehende Fragen auf, als sie in der Öffentlichkeit oft diskutiert werden. Immerhin wird gerade relativ breit in der Öffentlichkeit kritisiert, dass es zu einer extremen Retraditionalisierung von Rollenmustern kommt. Es sind vor allem die Frauen, deren Arbeitskapazitäten in den Haushalten beim Wegfallen der öffentlichen Kinderbetreuung extrem in Anspruch genommen werden. Was demgegenüber kaum öffentlich problematisiert wird ist, dass das übliche prekäre Outsourcing dieser Arbeiten an migrantische Arbeiterinnen vorübergehend und teilweise reduziert wird die weiterhin unsichtbaren Carearbeiterinnen um ihre Existenzgrundlage bringt. Im Unterschied zu den osteuropäischen Pflegekräften, von denen viele das Land verlassen haben und so den häuslichen Pflegenotstand verstärkt haben, bleiben die Frauen, mit denen wir vernetzt sind, hier – und stehen vor dem Nichts. Wieder einmal erscheint das Hin- und Herschieben dieser für die Gesellschaft so zentralen und gleichzeitig so abgewerteten Haus- und Sorgearbeiten als die einzige Möglichkeit; ein Hin- und Herschieben, das allein zwischen unbezahlter und absolut prekarisierter Arbeit und vor allem zwischen Frauen stattfindet – und zwar zwischen Frauen mit verschiedenen Klassenzugehörigkeiten und unterschiedlichen Aufenthaltsrechten bzw. unterschiedlicher Betroffenheit von rassistischer Diskriminierung. Eine wirkliche Debatte über „Systemrelevanz“ müsste unserer Meinung nach ganz grundsätzlich die Frage einbeziehen, wie diese Arbeit zugleich aufgewertet, besser bezahlt und umverteilt werden kann. Dann würde aus der Debatte um Systemrelevanz allerdings auch eine Debatte um Systemwechsel.

Der mühselige Kampf für eine Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere in Berlin geht weiter…

Angesichts der enormen Schwierigkeit, einer Legalisierungskampagne in Deutschland zum Erfolg zu verhelfen, bleibt es akut unsere Aufgabe, für elementare soziale Rechte auch in der Illegalität zu kämpfen. Wie die Frauen in ihren Audiobotschaften berichten, ist die Gesundheitssituation für illegalisierte Menschen in Berlin weiterhin extrem prekär – sowohl die allgemeine Versorgung als auch die spezifische zu COVID-19. In den letzten Jahren haben wir uns im Bündnis Solidarity City Berlin für einen anonymisierten Krankenschein eingesetzt, der einen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Menschen ohne Krankenversicherung ermöglichen würde, darunter insbesondere für Leute ohne Papiere. Viele Jahre der Kämpfe und des Nachhakens von Solidarity City kurz vor den Wahlen 2016 haben zwar bewirkt, dass der rot-rot-grüne Senat eine Clearingstelle eingerichtet hat, um Menschen ohne Krankenversicherung den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Leider blieb dies aber bisher höchst bürokratisch und mangelhaft organisiert: Es gab bisher wenig Engagement, die Existenz der Clearingstelle überhaupt in den verschiedenen Communities bekannt zu machen. Zudem erlebten die Antragsstellerinnen, die meist mit akuten Gesundheitsproblemen kamen, teilweise entwürdigende Interviews. Immerhin hat sich in Zeiten von Corona etwas Positives getan: Der Senat hat endlich einen Vertrag mit der Kassenärztlichen Vereinigung in Berlin gemacht, so dass die Clearingstelle nun Menschen ohne Papiere zu allen Berliner Hausärztinnen schicken kann, und nicht nur zu wenigen Vertragsärztinnen. Dennoch bleibt die Clearingstelle ein Nadelöhr, das unter Corona-Bedingungen noch enger geworden ist: Oft wird erst mehrere Wochen nach einer telefonischen Anfrage ein Termin angeboten. Zudem fehlt es weiterhin an verlässlichen und ausführlichen Informationen zu Tests und Behandlungen für Illegalisierte im Falle einer möglichen COVID-19-Infektion. Auch jetzt, Ende Mai, bleibt die Kostenübernahme für die mindestens 60 Euro teuren Tests unklar, und falls die Person positiv getestet ist, wird sie gemeldet. Das habe zwar – so die Gesundheitsämter – keine aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen für Illegalisierte, schürt aber dennoch Ängste bei den Betroffenen, weil nicht ausführlich über den Umgang mit den Daten informiert wird. So bleiben auch in Corona-Zeiten die allermeisten Menschen ohne Papiere in Berlin weiter auf solidarische und karitative Organisationen angewiesen – oder gehen wenn überhaupt nur in extremen Notlagen zu Ärztinnen oder ins Krankenhaus.

Zwischen Depression, gegenseitiger Hilfe und ersten Schritten des Protestes

Wie ist es möglich, sich zu organisieren, wenn es so schwierig ist, sich zu bewegen und zu treffen – und wenn die Kräfte schwinden, wie es die Botschaften unserer Freundinnen eindrücklich schildern? Insbesondere die ersten Wochen während der Pandemie-Krise in Deutschland waren von Verzweiflung und Depression geprägt. Viele der Frauen ohne Papiere waren völlig isoliert und entwickelten in einer extrem nervenaufreibenden Situation der Unsicherheit und Notlage Angstzustände und Depressionen. Einerseits müssen sie ihre Gesundheit besonders schützen, denn ohne Krankenversicherung oder die Möglichkeit, sich auf COVID-19 testen zu lassen, leben sie besonders prekär. Andererseits ist es in dieser Lage fast unmöglich, nach anderen Jobs zu suchen, und so müssen viele mit der täglichen Sorge leben, wie sie ihre Miete in den kommenden Monaten bezahlen werden – oder wo sie weiter unterkommen könnten, wenn sie ihre Unterkünfte schon verloren haben. Langsam entstehen aber auch wieder solidarische Netzwerke untereinander – und wie so oft sind es zuallererst die Frauen, die in einer ähnlichen Lage sind oder waren, die sich gegenseitig unterstützen. Zudem gibt es viel Bereitschaft in unserem Netzwerk, auch an politischen Forderungen zu arbeiten und diese zu artikulieren, wie anlässlich des Aktionstages #LegalisierungJetzt. Aber auch in den gemeinsamen Forderungen Berliner Basisorganisationen, bei den Protesten gegen die Situation in den Lagern der Kampagne #leavenoonebehind oder in den Mobilisierungen gegen rassistische Gewalt am 8. Mai unter dem Schlagwort #entnazifizierungjetzt kommt dies zum Ausdruck. Zentraler Ausgangspunkt ist die Art und Weise, wie die Pandemiekrise die skandalösen sozialen Ungleichheiten aufdeckt und verschärft – und wie es dennoch an jeglicher staatlicher Unterstützung mangelt. Menschen ohne Papiere existieren für den deutschen Staat auch weiterhin nicht und bleiben unsichtbar. Auf Wunsch der illegalisierten Frauen, mit denen wir in Kontakt sind, möchten wir darum alle Organisationen, Initiativen und Menschen auffordern, sich für die Legalisierung der Menschen ohne Papiere einzusetzen. Wir fordern ein Recht auf gleichberechtigten Zugang zu öffentlicher Gesundheitsversorgung für alle Menschen, die in Deutschland leben, sowie die Existenzsicherung für alle, die in der Krise ihre Arbeit teilweise oder ganz verloren haben, egal ob formal oder informell. Und wir fordern, dass Arbeitsrechte unabhängig vom Aufenthaltsstatus gelten und auch geltend gemacht werden können. Wir glauben, dass es in Zeiten, in denen viel Verantwortung und Solidarität von uns verlangt wird, extrem wichtig ist, dass illegalisierte Menschen nicht auf der Strecke bleiben und dass auch für sie die Idee einer solidarischen Gesellschaft gelten muss. Die aktuelle Krise zeigt deutlich, dass niemand von grundlegenden sozialen Rechten ausgeschlossen werden darf. Die plötzliche Aufmerksamkeit für systemrelevante“ Sorgearbeiterinnen sollte alle – auch die Arbeiterinnen ohne Papiere – einbeziehen und dazu genutzt werden, dass deren Arbeit mit Rechten versehen, aufgewertet und besser bezahlt wird. Dies ist ein erster und unverzichtbarer Schritt, um weitere, langfristige Ideen zu entwickeln, wie Sorgearbeit gerechter umverteilt werden kann und eine rassistische und patriarchale Arbeitsteilung überwunden werden kann.

 

Llanquiray Painemal und Susanne Schultz engagieren sich in der respect-Initative Berlin. Michel Jungwirth ist aktiv im Bündnis Solidarity City Berlin.

Fußnoten:

[1] Botschaften von illegalisierten Frauen in Berlin – mehr Erfahrungsberichte unter: www.respectberlin.org/. 

[2] Siehe http://www.respectberlin.org/wordpress/2020/04/aktionstag-heute-information-siehe-unten/ https://twitter.com/hashtag/LegalisierungJetzt?src=hashtag_click; https://de-de.facebook.com/events/2286744208301926/. 

[3] Ein weiteres, wiederum anders gelagertes Beispiel einer Erweiterung von Aufenthaltsrechten während der Pandemiekrise ist Italien, wo Erntearbeiterinnen legalisiert werden können, allerdings auch hier nur, wenn sie schon Anfang März registriert waren, nur mit Arbeitsvertrag und für sechs Monate befristet – eine eindeutig ökonomisch begründete Politik der Regularisierung (Süddeutsche Zeitung, 13.5.2020).

#Anti-Rassismus #Migration #Organisierung

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Illegalisierte Arbeiter*innen in Berlin fordern: Legalisierung jetzt!

Foto: Legalisierung jetzt!

  • #Anti-Rassismus
  • #Migration
  • #Organisierung

Teilhabe für alle

Linke Geländegewinne im Kampf um Antidiskriminierung

Juni 2021 • Elif Eralp

wal_172619 / Pixabay

wal_172619 / Pixabay

Berlin, Anti-Rassismus, Migration#Berlin #Anti-Rassismus #Migration

Über Rassismus sprechen

Das Wichtigste vorneweg: Die gesellschaftliche Ausgangslage ist entscheidend für die Frage, was eine LINKE in Regierung (und außerhalb) durchsetzen kann. Diese steht aktuell für progressive und antirassistische Projekte nicht schlecht. Zwar haben wir es mit einer zunehmend aggressiven rassistischen Stimmungsmache und Mobilisierung eines Teils der Gesellschaft zu tun, doch zugleich wurde im letzten Jahr in Deutschland erstmals monatelang umfassend über Rassismus diskutiert und zwar auch in seinen strukturellen Dimensionen. Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland fasst diese Verschiebung in der gesellschaftlichen Debatte so zusammen: „Nach dem Attentat von Hanau wurde zum ersten Mal sehr schnell von Rassismus gesprochen. Zuvor wurde das oft mit Begriffen wie „fremdenfeindlich“ oder „ausländerfeindlich“ verharmlost. Rassismus ist endlich kein Tabuthema mehr.“

In Berlin gibt es Mehrheiten für eine offene und solidarische Gesellschaft und sehr viele Menschen, die sich aktiv dafür engagieren und sich organisieren. Der rassistische Terroranschlag von Hanau, dem neun junge als „fremd“ markierte Menschen zum Opfer fielen, war für viele junge Menschen und gerade Menschen mit Migrationsgeschichte eine Zäsur. Weite Teile der jungen Generation haben sich politisiert. Bundesweit gründeten sich etliche Initiativen, antirassistische Bündnisse und Migrantifa-Gruppen. Dieser Prozess wurde verstärkt durch die Black Lives Matter Proteste, deren Initialzündung die Ermordung George Flyods durch einen weißen Polizisten in Minneapolis war. Ausgehend von den USA fanden sie global Widerhall und brachten im Juni 2020 in Berlin Zehntausende auf den Alexanderplatz. Sie rückten Polizeigewalt und Rassismus in staatlichen Institutionen auch hierzulande in den Fokus der Öffentlichkeit. Aber auch das Recht auf Teilhabe und Partizipation von migrantisierten Menschen wurde auf allen Ebenen stark gemacht. In Reaktion auf Hanau forderte beispielsweise die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen, die über 40 Selbstvertretungen vereint, eine „Migrationsquote“ für den öffentlichen Dienst.

Ein Gelegenheitsfenster

In dieser Situation stand laut Koalitionsvertrag die Novellierung des „Partizipations- und Integrationsgesetzes“ in Berlin an. Das Gesetz war 2010 auf Initiative des Landesbeirats für Integrations- und Migrationsfragen durch die damals von LINKEN und SPD geführte Landesregierung entstanden. Es sollte die Teilhabe von Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund[1] in der Verwaltung verbessern, vorhandene Zugangsbarrieren durch gezielte Förderung und die Einbindung migrantischer Organisationen in behördliche Entscheidungsprozesse abbauen.

Dem lag die Feststellung zugrunde, dass sehr wenig Menschen mit Migrationsgeschichte in den Behörden beschäftigt sind und ihre Perspektiven folglich in Entscheidungsprozessen kaum eine Rolle spielen. Berlin war mit dem Gesetz damals bundesweit Vorreiterin.[2]

Es hat im Laufe von 10 Jahren jedoch kaum zu Verbesserungen geführt. Schätzungen zufolge haben derzeit nur etwa 12 Prozent der Beschäftigten in der Verwaltung einen sogenannten Migrationshintergrund, obwohl dies auf 35 Prozent der Berliner Bevölkerung zutrifft. Laut einer Studie von Vielfalt entscheidet bezeichnen sich unter den Führungskräften in der Verwaltung sogar nur drei Prozent als „nicht weiß“. Der Evaluationsbericht zum Gesetz von 2019 macht deutlich, dass es kaum umgesetzt wurde. In einzelnen Verwaltungen gab es kleinere Maßnahmen, aber keine konkreten Förderpläne, keine Zielmarken und keine verbindlichen, mit Ressourcen ausgestatteten Instrumente. So gaben beispielsweise nur 60 Prozent der Verwaltungseinheiten an, bei Ausschreibungen den Beisatz „Bewerbungen von Menschen mit Migrationshintergrund sind besonders erwünscht“ tatsächlich zu verwenden. Die Integrationssenatorin Elke Breitenbach spricht von einem der am wenigsten umgesetzten Gesetze überhaupt.

Die notwendige Novellierung lag in LINKER Zuständigkeit und bot damit die Chance endlich effektive Umsetzungsinstrumente für Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung einzuführen und langjährige Forderungen von Migrant*innenorganisationen aufzunehmen. Dazu gehört die schon lange geforderte, rechtlich und politisch aber umstrittene Quote. Anders als die Frauenquote ist die Quote für Menschen mit Migrationsgeschichte rechtliches Neuland. Progressive Rechtsexpert*innen stützen jedoch die Verfassungsgemäßheit eines solchen Vorhabens.[3]

Die LINKE könnte – so die Einschätzung – hier den Unterschied machen und beweisen, dass sie nicht nur von Teilhabe fabuliert, sondern ernst macht und vorangeht, wenn es sich um neues und strittiges Terrain handelt. Bisher hat bundesweit niemand in Regierungsverantwortung eine so weitgehende Regelung angestrebt und auch die Beschlusslagen bei den Berliner Koalitionspartnern gaben das nicht her.

Im Vorstand der Berliner LINKEN fassten wir nach intensiver Debatte den Beschluss für eine Einstellungsquote zu kämpfen, obwohl abzusehen war, dass es von Seiten der SPD erhebliche Widerstände geben würde und unklar war, wo sich die Grünen in dem Konflikt verorten würden – von der Opposition und reaktionären gesellschaftlichen Kräften ganz zu schweigen. Dass der Beschluss so zustande kam, lag auch an der geschilderten gesellschaftlichen Ausgangslage. Uns war bewusst, dass wir die Quote innerhalb der Koalition möglicherweise nicht durchsetzen würden. Die historische Chance, erstmalig durch einen Gesetzesvorschlag aus einer Senatsverwaltung die politische und rechtliche Machbarkeit einer Quote für Menschen mit „Migrationshintergrund“[4] zu beweisen, wollten wir aber nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Das Terrain der Auseinandersetzung

Für dieses Vorhaben war der frühzeitige und regelmäßige Austausch von Mitgliedern des Parteivorstands der LINKEN mit migrantischen Selbstvertretungen, zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und Gewerkschafter*innen maßgeblich, aber auch der Kontakt zwischen Parteivorstand und Elke Breitenbach als zuständiger Integrationssenatorin.

In der mündlichen und schriftlichen Verbändeanhörung sprachen sich zahlreiche migrantische Selbstvertretungen und Verbände für die Erweiterung der Zielgruppe des Gesetzes und für effektive Instrumente wie eine flächendeckende Datenerhebung, Dokumentationspflichten, fördernde Bewerbungs- und Einstellungsverfahren sowie für die Einstellungsquote für Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung aus. Auch ein von der Integrationsverwaltung in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten, dass die von der SPD und anderen angezweifelte Verfassungsgemäßheit einer Quote bescheinigte, war von Bedeutung. Gegen Widerstände auch innerhalb der Fachebenen der Verwaltung setzte Elke Breitenbach die Quote in einer zweiten Fassung des Referentenentwurfs durch. Wichtig war dabei auch, dass innerhalb der verschiedenen Senatshäuser Verwaltungsmitarbeiter*innen unser Anliegen politisch teilten und gegen anders lautende Fachauffassungen argumentierten. Gleiches gilt für die Berliner Integrationsbeauftragte.

Als sich im senatsinternen Mitzeichnungsverfahren abzeichnete, dass zwar die Grünen den Vorschlag mittrugen, die SPD sich jedoch als vehemente Gegnerin der Quote darstellte und drohte das gesamte Vorhaben zu blockieren, bezog Elke Breitenbach vielfach öffentlich Stellung für die Quote.

Damit wurde der Konflikt öffentlich geführt und ermöglicht, dass sich die Zivilgesellschaft an der Debatte beteiligt. Die SPD schäumte, weil sie unter Druck geriet und sich öffentlich positionieren musste. Der Tagesspiegel titelte „Streit über Berliner Migrantenquote, SPD wertet Breitenbachs Vorstoß als ‚grobes Foul’“. Es folgte eine intensive Presseberichterstattung.[5]

Auch die Parteiführung der Grünen bezog öffentlich Stellung für das Gesetz und für die Quote. Die zahlreichen Wortmeldungen aus der Stadtgesellschaft gaben Rückenwind für den Quotenvorschlag und es konnte zumindest kurzzeitig eine intensive Debatte in der Stadt entfacht werden. Viele Verbände wiesen die Kritik der SPD zurück und unterstützen den Gesetzesvorschlag von Elke Breitenbach. Dazu gehörten die Neuen Deutschen Organisationen, die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen, der Berliner Migrationsrat, in dem sich über 70 Selbstvertretungen organisieren, auch wenn sie noch weitergehende Forderungen hatten. Letzterer startete sogar eine Social-Media-Kampagne #35%Quote. Gewerkschafter*innen of Color appellierten in einem offenen Brief an die SPD ihren Widerstand gegen die Quote aufzugeben und sich für die Beschäftigten mit Migrationsgeschichte einzusetzen. Die Berliner Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial setze sich vielfach öffentlich für die Gesetzesnovelle und die Quotenregelung ein. Auch Rechtsexpert*innen widerlegten die seitens der SPD und anderer vorgetragenen Bedenken gegen die Verfassungsgemäßheit einer Quote. In verschiedenen Diskussionsveranstaltungen wurde kontrovers debattiert. Es fand eine breite gesellschaftliche Mobilisierung statt.

Diese Debatte rief natürlich auch die Gegner*innen von Teilhabepolitik auf den Plan. Neben Hassmails an die Integrationssenatorin und zahllosen rassistischen und rechtsextremen Kommentaren und Hetze im Internet wurde auch von bürgerlicher Seite gegen die Quote angeschrieben. Die CDU stellte einen Antrag zur Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus mit dem Titel „Migrantenquote im Öffentlichen Dienst: unnötig, unsinnig, schädlich, verfassungswidrig“. Die Debatte verlief turbulent und die üblichen Ressentiments und Rassismen gegen migrantisierte Menschen kamen auch hier wieder einmal zum Ausdruck.[6]

Viele Vorbehalte, wie eine Quote bedeute einen Generalverdacht gegen Einstellende, reduziere Menschen auf ein bestimmtes Merkmal oder sei eine ungerechte Bevorzugung kennen wir aus den Debatten und Widerständen gegen die Frauenquote. In dieser Diskussion kamen sie leider auch von deren Vorkämpferinnen. So positionierte sich die Berliner SPD-Vorsitzende und Bundesfamilienministerin Franziska Giffey gegen die „Migrationsquote“, obwohl sie selbst wenig vorher zur Verteidigung der Frauenquote anführte, dass „der eine Thomas den anderen Thomas, der eine Michael den anderen Michael“ fördere und „Kontakte, Beziehungen und Sympathien in festgefügten Netzwerken von Männern“ dazu führten, dass ein Kreislauf entstünde, in den Frauen nicht eindringen könnten. Diese Förderung von Personen, die einem ähnlich erscheinen, nennt die Journalistin und Teilhabe-Expertin Ferda Ataman „similar-to-me“ Effekt und weist daraufhin, dass das gleiche Phänomen auch Menschen mit Migrationsgeschichte betreffe. In der SPD war die Bereitschaft für ein weiteres umstrittenes antirassistisches Projekt wohl auch deswegen gering, weil sie sich kurz zuvor durch das Mittragen des Landesantidiskriminierungsgesetzes viel Kritik in ihrer Wählerschaft eingehandelt hatte.

Raus aus der Defensive

Trotz des Gegenwinds wirkte die Debatte auch stärkend, weil sich migrantisierte sowie sich antirassistisch positionierende Menschen über die verschiedensten Zusammenhänge und Communities hinweg zu Wort meldeten, Diskriminierung anprangerten und Teilhabe einforderten. Es entstand eine Art Wettbewerb zwischen den sich als offen verstehenden Parteien und Politiker*innen, wer mehr Menschen mit Migrationsgeschichte in den eigenen Reihen habe. Dass es einen solchen Wettbewerb gibt ist gut und zeigt, dass inzwischen auch Entscheidungsträger*innen erkannt haben, dass sie sich anstrengen müssen, um ihre Strukturen durchlässiger zu machen. Denn ohne Vielfalt und Teilhabe Aller werden wir es weiter mit einem erheblichen Demokratiedefizit zu tun haben.

Als LINKE haben wir, wie auch einige Verbände, versucht die hinter der Quotenforderung stehende Klassenfrage in der Debatte stark zu machen. Schließlich sind Menschen mit Migrationsgeschichte besonders häufig von prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen betroffen, haben schlechtere Bildungs- und Aufstiegschancen als andere. Insofern sollte das Gesetz mit seinen vielen Förderelementen auch einen sozialen Nachteislausgleich darstellen und dazu beitragen Chancengleichheit herzustellen.

Die Debatte hat sich sehr stark auf die Quote fokussiert. Andere wichtige Teilhabeaspekte des Gesetzes und gesellschaftliche Schieflagen, die einen Nachteilsausgleich erforderlich machen, haben weniger eine Rolle gespielt. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass vor allem Zuspitzungen und Themen mit einem hohen Konfliktpotential medial durchdringen. Für uns barg das die Gefahr, Erwartungen zu enttäuschen, falls wir uns nicht durchsetzen.

Scheitern und Erfolg

Letztlich ist eine verbindliche Einstellungsquote am Widerstand der SPD gescheitert. Dennoch sind wichtige Fortschritte erzielt worden, die ohne die weitgehenden Vorschläge von Elke Breitenbach und der Berliner LINKEN nicht möglich gewesen wären. Ähnlich zentral waren jedoch die politische Bereitschaft auch öffentlich in den Konflikt zu gehen sowie der Rückenwind und das Zusammenspiel mit der Berliner Stadtgesellschaft.

Statt einer einklagbaren Quotenregelung ist lediglich eine Zielvereinbarung beschlossen worden, diese steht aber immerhin im Gesetz statt bloß in Förderplänen. Dies ist insofern als Erfolg zu werden, als sie sowohl für Einstellungen als auch bei der Ausbildungsplatzvergabe vorsieht, auf allen Ebenen mindestens den Anteil von Personen mit „Migrationshintergrund“ abzubilden, der dem Berliner Bevölkerungsanteil entspricht. Außerdem wird eine Dokumentationspflicht für Einstellungsverfahren eingeführt, welche die Defizite transparent machen wird. Besonders wichtig für die Kontrolle der Umsetzung des Gesetzes ist, dass endlich eine Rechtsgrundlage zur flächendeckenden auf freiwilligen Angaben beruhenden Datenerhebung geschaffen wird, die transparent machen wird, in welcher Besoldungsgruppe wie viele Menschen mit „Migrationshintergrund“ beschäftigt sind. So können zielgenaue Maßnahmen ergriffen und Förderpläne geschrieben werden. Schließlich wurde die Zielgruppe des Gesetzes erweitert und erstmals die Begriffe „Menschen mit Migrationsgeschichte“ und „rassistisch Diskriminierte“ in einem Partizipationsgesetz eingeführt, die die zu fördernde Gruppe besser beschreiben.[7]

Verwaltungsbeschäftigte mit Migrationsgeschichte werden regelmäßig anonym zu ihrer Situation und zu Diskriminierungserfahrungen befragt, um Maßnahmen für eine diskriminierungsfreie Organisationskultur zu entwickeln. Bei der Auswahl der Bewerber*innen wird nun sichergestellt, dass mindestens so viele Menschen mit „Migrationshintergrund“ zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Außerdem soll gezielt angeworben werden. Zur Umsetzung des Gesetzes ist zusätzliches Personal vorgesehen und Berlin erfüllt eine langjährige Forderung der Rom*nja und Sinti*zze Organisationen und bekommt einen „Beirat für die Angelegenheiten der Roma und Sinti“. Der positive Begriff der Partizipation wurde im Gesetz gestärkt, auch wenn es, wegen des Widerstands der SPD, leider nicht gelungen ist, den Begriff „Integration“ vollständig aus dem Gesetz zu streichen.[8]

Der Gesetzestitel lautet nun aber immerhin: „Gesetz zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin (Partizipationsgesetz – PartMigG)“ statt „Integrations- und Partizipationsgesetz“.

Das Partizipationsgesetz ist inzwischen im Senat beschlossen worden und derzeit stehen die Beratungen dazu im Abgeordnetenhaus an, wo es erneut die Chance gibt unsere weitergehenden Forderungen stark zu machen.

Aber schon jetzt ist viel erreicht worden und die geführte Debatte kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wir sind bei der Forderung nach mehr Teilhabe und Repräsentanz von Menschen mit Migrationsgeschichte, von Schwarzen Menschen und Menschen of Color auch diskursiv einen großen Schritt weitergekommen. Der Geländegewinn muss durch Kämpfe der Selbstvertretungen, der progressiven Kräfte in Parteien und der Gesellschaft weiter ausgebaut werden!

Fußnoten:

[1] Ein solcher besteht, wenn die betroffene Person selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht schon bei Geburt besaß (vgl. § 6 Mikrozensusgesetz).

[2] Später haben andere Bundesländer, wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern ähnliche Gesetze erlassen und auch in anderen Bundesländern wurde darüber diskutiert.

[3] Neben dem von der Integrationsverwaltung in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten von Doris Liebscher, „Möglichkeiten zur Verbesserung der Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund/Migrationsgeschichte durch eine Novellierung des PartIntG Berlin“ gehen auch Verfassungsrichterin Professorin Susanne Baer und Professorin Nora Markard von der Verfassunsgemäßheit positiver Maßnahmen wie der Einstellungsquote aus (vgl. Baer/Markard, Grundgesetz Kommentar Mangoldt u.w., 2. Aufl., 2018, Art. 3, Rn. 422 ff.). Vgl. außerdem Dr. Ibrahim Kanalan, Weder revolutionär noch eine Besonderheit – Verfassungsblog.

[4] Richtiger wäre es, die Quote und andere Fördermaßnahmen an dem Umstand der gesellschaftlichen Diskriminierung festzumachen und entsprechend eher an Kriterien wie „rassistisch diskriminierte Person“ oder zumindest „Person mit Migrationsgeschichte“. So können etwa weiße Nordeuropäer*innen nach der genannten Definition einen „Migrationshintergrund“ haben, sie sind aber deshalb meist nicht von Diskriminierung betroffen. Für Schwarze Menschen, deren Familien seit vielen Generationen in Deutschland leben und keinen „Migrationshintergrund“ mehr haben, sind jedoch Rassismus und Diskriminierung feste Größen in ihrem Alltag. Um Fördermaßnahmen wie eine Quote umsetzbar zu machen, bedarf es aber einer statistischen Bezugsgröße. Repräsentatives Datenmaterial liegt in Berlin und bundesweit bisher nur zum sogenannten Migrationshintergrund vor, der daher der Quote als Anknüpfungspunkt dient (vgl. dazu auch Liebscher 2019).

[5]  Siehe dazu in den folgenden Fußnoten sowie in DER SPIEGEL, 26.1.2021; Tagesspiegel, 2.2.2021; ND, 18.1.2021; Verfassungsblog, 29.1.2021; BR Podcast, 19.1.2021; Tagesspiegel, 24.1.2021; SZ.de, 5.2.2021; ZEIT ONLINE, 26.1.2021; BZ, 23.1.2021; ARD, 19.1.2021.

[6] Vgl. Abgeordnetenhaus, Plenarprotokoll 18/71 v. 28. Januar 2021, Seite 8452 ff., Plenum - Protokoll (parlament-berlin.de); Elke Breitenbach fasste die gesellschaftliche Debatte, die sich auch im Parlament widerspiegelte, gut zusammen, indem sie auf den Reflex hinwies, „dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte per se ihre Eignung abgesprochen wird, in den öffentlichen Dienst zu gehen – und zwar bis tief hinein in Funktionärskreise von Parteien und Gewerkschaften“ und darauf, dass „ein zutiefst rassistisches Denken in dieser Gesellschaft verankert“ sei (siehe: https://m.tagesspiegel.de/berlin/berliner-senatorin-verteidigt-migrantenquote-rassistisches-denken-ist-tief-in-unserer-gesellschaft-verankert/26840408.html).

[7] Der Begriff der „Menschen mit Migrationsgeschichte“ wird im Gesetz überall dort verwandt, wo es nicht zwingend einer statistischen Bezugsgröße bedarf. Bei Fördermaßnahmen die auf eine statistische Bezugsgröße angewiesen sind, wird der Begriff der „Menschen mit Migrationshintergrund“ verwandt, zu dem Vergleichsdaten im Hinblick auf den Bevölkerungsanteil vorliegen, siehe auch Fußnote 4.

[8] Der Begriff „Integration“ suggeriert, dass es eine heterogene vorzufindende Gesellschaft gäbe, in die sich (vermeintlich) Hinzugekommene integrieren müssten, dabei muss es um die gemeinsame Gestaltung der vielfältigen Gesellschaft gehen. Das Konzept der „Integration“ gilt in der Diskriminierungsforschung daher auch weitgehend als überholt (vgl. z.B. Ein Gesetz für die Berliner Stadtgesellschaft – Bericht der Evaluation des Partizipations- und Integrationsgesetzes ist öffentlich - Berlin.de).

Elif Eralp ist Juristin und Mitglied im Landesvorstand der Berliner LINKEN. Sie war am Entwurf des im März 2021 auf den Weg gebrachten „Gesetzes zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin“ massgeblich beteiligt.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/teilhabe-fuer-alle

#Berlin #Anti-Rassismus #Migration

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung sind in den meisten gesellschaftlichen Feldern unterrepräsentiert, Zugänge deutlich erschwert. Um dies zu ändern und um die Chancen auf gleichberechtigte Teilhabe und Repräsentanz in der Berliner Verwaltung zu verbessern, sollte Ende 2020/Anfang 2021 das Berliner Partizipationsgesetz überarbeitet werden. In diesen Prozess haben die Berliner LINKE und die zuständige Senatorin Elke Breitenbach eine Quotenregelung für Menschen mit Migrationsgeschichte vorgeschlagen. Wie zu erwarten gab es erheblichen Widerstand, der jedoch in eine breite öffentliche Debatte um Teilhabechancen und eine glaubwürdige Politik gegen Diskriminierung gewendet werden konnte. Insofern kann dies als Beispiel für „rebellisches Regieren“ dienen – aber auch dessen Grenzen aufzeigen. Es veranschaulicht, wie durch arbeitsteiliges Zusammenwirken von Partei, Senatsmitgliedern und Zivilgesellschaft sowohl diskursive als auch materielle Erfolge erzielt werden können.

wal_172619 / Pixabay

  • #Berlin
  • #Anti-Rassismus
  • #Migration

»Wohnraum muss für alle da sein - auch für Geflüchtete«

Juli 2019

Rasande Tyskar / flickr

Rasande Tyskar / flickr

Anti-Rassismus, Migration, Wohnen#Anti-Rassismus #Migration #Wohnen

Ihr unterstützt Personen mit Fluchterfahrung bei der Wohnungssuche. Was sind die dringlichsten Probleme, mit denen die Menschen zu euch kommen?

BEA: Die meisten wollen dringend aus den Unterkünften raus und in einer eigenen Wohnung leben, eine Privatsphäre haben.

REMZI: Wir unterstützen Personen, die beider Wohnungssuche eine Diskriminierung erfahren. Leider stellen wir täglich fest,dass die Wohnungssuche insbesondere für Menschen mit Flucht- oder Migrationserfahrung besonders schwierig ist. Sie haben kaum Zugänge zum Wohnungsmarkt und sind von unterschiedlichen Arten der Diskriminierung betroffen.

Was könnt ihr dagegen tun?

REMZI: In konkreten Fällen der Diskriminierung lässt sich politisch leider wenig machen. Die Betroffenen müssen selbst rechtliche Schritte unternehmen, die wir jedoch unterstützen können. Neben den Diskriminierungserfahrungen bei der Wohnungssuche kommen Fälle von Diskriminierung auchin mietrechtlichen oder strafrechtlichen Verfahren, beispielsweise in Nachbarschaftskonflikten vor und müssten eigentlich dort als solche verhandelt werden. In diesem Rahmen werden Fragen der Diskriminierung aber oft nicht berücksichtigt. Es gibt jedoch vereinzelt Erfolge, wenn Vermieterinnen im Rahmen von Klagen nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Diskriminierung nachgewiesen werden kann. Damit bekommen die Betroffenen leider noch keinen Rechtsanspruch auf eine Wohnung. Nach dem AGG ist nur eine Entschädigung oder Schadensersatz vorgesehen. Frustrierend ist zudem, wenn die Betroffenen aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten von einer an sich aussichtsreichen Klage absehen. Die Betroffenen müssen darüber hinaus individuell klagen und ihre Rechte allein durchsetzen. Die Möglichkeit von Sammel- und Verbandsklagen sieht das AGG nicht vor.

Wer ist besonders von Ausschlüssen betroffen?

REMZI: Insbesondere große Familien oder Haushalte über fünf Personen haben praktisch keine Chance, eine Wohnung zu finden. Das liegt an der sogenannten Eine-Person-ein-Wohnraum-Regelung. Diese besagt, dass Wohnungen mindestens so viele Zimmer haben sollen wie die Anzahl der zusammenlebenden Personen. Im bezahlbaren und öffentlich geförderten Sektor gibt es aber einfach kaum Wohnungen mit fünf und mehr Zimmern.

BEA: Bei Xenion arbeiten wir mit Familien, die seit neun Jahren im Heim leben – obwohl sich ihr Aufenthaltsstatus geändert hat. Die Kinder kennen nur Flucht- und Heimunterbringung, sie haben noch nie in einer eigenen Wohnung gewohnt. Wir brauchen eine ganz gezielte Förderung für große Familien, die ihnen Zugang zu bezahlbaren Wohnungen ermöglicht. Kürzlich haben wir im Wedding ein halbes Jahr gebraucht, bis wir endlich für eine Familie zwei Wohnungen zusammenlegen konnten.

Wie sieht es mit privaten Vermieterinnen aus?

 

REMZI: Hier gibt es die gleiche Praxis. An eine Familie mit sechs Personen wird nur eine Sechszimmerwohnung vergeben. Die gibt es aber nicht. Das bedeutet im Klartext, dass diese Familien vom Wohnungsmarkt quasi komplett ausgeschlossen sind.

BEA: Hier müsste die Bauförderung verändert werden. Momentan ist die Förderung für Bauunternehmen an die Anzahl der bereitgestellten Wohnungen geknüpft, nicht an die Anzahl der Personen, die darin leben können. Daher gibt es im sozialen Wohnungsbau sehr viele Ein- und Zweizimmerwohnungen. In Gesprächen beim Runden Tisch »Alternativen zur öffentlichen Unterbringung Geflüchteter«, einer von den Senatsverwaltungen für Integration, Arbeit und Soziales sowie für Stadtentwicklung und Wohnen einberufenen Runde, wurde zudem deutlich: Private Vermieterinnen haben oft Angst vor Mietausfall. Sie erhalten ja keine Bürgschaft wie im geschützten Marktsegment, sondern tragen das Risiko selbst. Hier müsste der Senat eine Bürgschaft übernehmen, denn es gibt durchaus engagierte private Hausverwaltungen, die auch an Geflüchtete vermieten würden. Es reicht nicht, hier nur die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften im Blick zu haben, die privaten machen schließlich einen großen Teil des Wohnungsmarktes aus. In Brandenburg haben die Kommunen beispielsweise direkt Wohnungen angemietet, die sie an Geflüchtete weitervermieten.

Das wären konkrete politische Maßnahmen, die den Zugang von Geflüchteten zu Wohnraum verbessern würden. Gäbe es weitere?

BEA: Eine unserer wichtigsten Forderungen ist ein Wohnberechtigungsschein (WBS) für alle. Der WBS berechtigt ja Menschen mit geringen Einkommen, in eine mit öffentlichen Mitteln geförderte und damit günstigere Wohnung zu ziehen (vgl. Holm in diesem Heft). Obwohl Geflüchtete zu diesem Personenkreis gehören, schließt die Senatspolitik aktuell Menschen im laufenden Asylverfahren vom Anspruch auf einen WBS und damit vom Zugang zu Sozialwohnungen aus. Das Gleiche gilt für Menschen, deren Aufenthaltsbewilligung weniger als elf Monate umfasst. Ein Asylverfahren dauert ja oft mehrere Jahre. Solange müssen die Menschen in den meisten Fällen in Gemeinschaftsunterkünften bleiben. Außerdem kann es zu Fehlern beiden Einträgen in die Ausweispapiere kommen. Ich hatte in der Beratung eine Familie mit einem behinderten Kind. Die Mutter hatteeine zweijährige Aufenthaltsgenehmigung, der Mann allerdings nur eine einjährige, weil sein Ausweis verloren gegangen war und die Ausländerbehörde dann statt zwei Jahren nur noch ein Jahr in den neuen Ausweis geschrieben hat. Deshalb wurde der WBS abgelehnt. Die Sachbearbeiterinnen ziehen sich immer auf das Argument zurück: »Es muss ein Aufenthalt von mindestens elf Monaten gegeben sein.« Dabei genießt die Familie in Deutschland seit fünf Jahren subsidiären Schutz. Es gibt viele ähnliche Geschichten. Widersprüche reichen hier teils bis zur Sozialstadträtin – ohne Erfolg, egal in welchem Bezirk. Daher fordern wir, dass Geflüchtete unabhängig vom Aufenthaltsstatus einen WBS erhalten. Damit könnten sie in integrierte Wohnprojekte in der Mitte der Gesellschaft einziehen und müssten nicht weiter in separierten Einrichtungen wohnen.

REMZI: Würden die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften hier ihre Vergabepraxis ändern, hätte das sicherlich auch Ausstrahlung auf den privaten Wohnungsmarkt.Auch die privaten Vermieterinnen möchten unbedingt eine lange Aufenthaltsdauer nachgewiesen haben. Wobei ich sagen muss, ein Mieterwechsel gehört halt zum Job eines Eigentümers oder einer Hausverwaltung. Das kann auch unabhängig von der Aufenthaltsdauer passieren.

Woran liegt es, dass sich die Forderung nach einem WBS für Geflüchtete derzeit politisch nicht durchsetzen lässt?

BEA: Der Staatssekretär für Wohnen, Sebastian Scheel, argumentiert beispielsweise, dass aktuell schon 30.000 Sozialwohnungen in Berlin fehlen. Da könne man den sozialen Wohnraum nicht für eine weitere anspruchsberechtigte Gruppe, nämlich Geflüchtete im Asylverfahren, öffnen. Das gäbe schlechte Stimmung. Die Tatsache, dass es einen deutlichen Mangel an Sozialwohnungen gibt, darf jedoch kein Argument dafür sein, eine bedürftige Gruppe vom Anspruch auszuschließen. Einen offensichtlichen Mangel fair zu verwalten stellt eine große soziale Verantwortung dar. Transparente Vergabekriterien sind hier zentral, um zu verhindern, dass Betroffene sich gegeneinander ausgespielt fühlen. Der Flüchtlingsrat Berlin hat hier Praxisbeispiele aus anderen Bundesländern vorgestellt, die Geflüchteten weit mehr Möglichkeiten geben. Zum Teil werden Wohnungen dann vergeben, wenn eine positive Bleibeperspektive besteht. Wenn etwa eine Arbeitserlaubnis vonseiten der Ausländerbehörde erteilt wird, dann reicht dies, damit die/ der zuständige Sachbearbeiterin dem Umzug in eine eigene Wohnung zustimmen kann. Das ist eine ganz praktikable Sache.

REMZI: Ich finde auch: Transparenz ist sehr wichtig. Wir müssen gerade in Gesprächen mit den unterschiedlichen Bedarfsgruppen betonen, dass sie im selben Boot sitzen und sich nicht gegeneinander ausspielen lassen dürfen. Und: Wir müssen allen passgenaue Angebote machen.

Gibt es weitere Handlungsfelder, um für Geflüchtete bessere Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt zu schaffen?

BEA: Mein Schwerpunkt sind gerade Genossenschaften. Wir versuchen, zusammenmit Stiftungen einen Unterstützungsfondzu schaffen, um Geflüchtete auch in neue Genossenschaftsprojekte und frei finanzierte Neubauprojekte integrieren zu können. Der Zugang ist leider an hohe finanzielle Einlagen gebunden, die diese Menschen nicht aufbringen können. Wir suchen deshalb das Gespräch mit Genossenschaftsmitgliedern, um dafür zu werben, auch Neuberlinerinnen in diese Projekte einzubinden. Mit Unterstützung der Genossenschaft Ostseeplatz konnten beispielweise 23 geflüchtete Menschen in ein Gemeinschaftsprojekt, einen Neubau nach neuestem Standard, in der Lynarstraße im Wedding einziehen. Sie waren auch an dem zweijährigen Planungsprozess beteiligt. Außerdem wäre es wichtig, die Genossenschaftsidee und -struktur auch unter Geflüchteten publik zu machen. Städtischer Wohnungsbau, so wie er derzeit organisiert ist, ist langfristig keine Lösung. Wir brauchen wieder einen rechtlich abgesicherten und kontrollierten gemeinnützigen Wohnungsbau (vgl. Kuhn in diesem Heft).

 

Das Gespräch führten Jan Drunkenmölle und Julia Schnegg. 

Bea Fünfrocken arbeitet bei Xenion, einem Verein, der psychosoziale Unterstützung für politisch Verfolgte anbietet. Als Koordinatorin der AG Wohnen berät sie Geflüchtete bei der Wohnungssuche und vertritt deren Interessen gegenüber Vermieterinnen und Ämtern.

Remzi Uyguner arbeitet bei der Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt und ist ehrenamtlich Vorstandsmitglied des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (TBB).

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wohnraum-fuer-alle/

Foto: Rasande Tyskar / flickr / CC BY-NC 2.0

#Anti-Rassismus #Migration #Wohnen

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Ein Gespräch mit Bea Fünfrocken (Xenion) und Remzi Uyguner (Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt) über Probleme von Geflüchteten bei der Wohnungssuche, Unterstützungsmöglichkeiten und politische Forderungen.

Rasande Tyskar / flickr

  • #Anti-Rassismus
  • #Migration
  • #Wohnen
Datei öffnen ↓
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Wie können wir mit jungen Menschen rassismuskritische, offene solidarische und selbstreflektierte Positionen entwickeln? Die Autor_innen sind sich einig, dass die Bildungspraxis entscheidend ist: Es geht darum, wie Bildungsprozesse gestaltet werden und wie wir von- und miteinander lernen. Anders als in einem zunehmend neoliberal ausgerichteten Bildungssystem, das auf die Konformität von Menschen abzielt, lässt sich politische Bildung mit Inhalten füllen, die uns etwas bedeuten. Wir können dort Bildung organisieren, wo wir etwas verändern wollen am Status quo.

In der Broschüre (Heft 7 in der RLS-Reihe «Bildungsmaterialien») werden beispielhaft vier Bereiche und Methodenbausteine ausgewählt, die bildungspolitisch relevant und allgemein von großem Interesse sind: Jugendbildungsarbeit nach dem NSU; Klasse und Klassismus; Organisierung und selbstverwaltete Jugendclubs; Utopie in der politischen Bildung.

  • #Alternativen
  • #Organisierung
  • #Anti-Rassismus
  • #Migration
Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0 1.0
Datei öffnen ↓
Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

In den großen Städten explodieren die Mieten, bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Das birgt sozialen Sprengstoff. Dass es problematische Folgen hat, Wohnraum marktförmig zu organisieren, ist eine alte linke Erkenntnis. In der aktuellen Wohnungskrise ist sie vielen neu bewusst geworden.

Stadtpolitik ist aber auch ein Feld der politischen Hoffnung und des solidarischen Widerstands. In Hausgemeinschaften und Nachbarschaften, mit Kampagnen und Demonstrationen machen immer mehr Menschen gegen den Mietenwahnsinn mobil. Die Forderung nach Enteignung großer Immobilienkonzerne gewinnt ungeahnte Zustimmung. Diese Proteste haben die Wohnungsfrage wieder auf die politische Agenda gesetzt.

Wie kann eine Wohnungspolitik aussehen, die sich am Gemeinwohl orientiert, die Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausspielt, die inklusiv und zugänglich für alle ist? Dies beleuchtet diese Ausgabe der Zeitschrift «LuXemburg» 2/2019 zu Wohnungskrise und Stadtpolitik.

  • #Wohnen
  • #Organisierung
  • #Selbstverwaltung
  • #Krise
  • #Alternativen
  • #Migration
  • #Anti-Rassismus
  • #Rekommunalisierung

„Bis unsere Arbeit nicht mehr nötig ist, braucht es viele weitere Schritte“

Mai 2017

Foto: Medibüro Berlin / facebook.com/medibuero.berlin.kampagne

Foto: Medibüro Berlin / facebook.com/medibuero.berlin.kampagne

Anti-Rassismus, Migration, Alternativen, Organisierung#Anti-Rassismus #Migration #Alternativen #Organisierung

Als Medibüro organisiert ihr nicht nur konkrete Unterstützung für Menschen ohne Papiere, sondern seid auch eine politische Initiative, die universalen Zugang zu Gesundheitsleistungen fordert. Inwiefern haben sich die Bedingungen dafür mit dem Regierungswechsel in Berlin geändert ?

Wir begrüßen es zunächst einmal, dass eine unserer Forderungen Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat: die Umsetzung eines anonymisierten Krankenscheins. Gemeinsam mit vielen anderen Organisationen fordern wir Medibüros schon seit langem, die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus zu verbessern. In Berlin haben wir bereits 2007/2008 das Konzept der Vergabe eines solchen Krankenscheins entwickelt, der die Betroffenen in die entsprechende Regelversorgung integriert, ohne dass ihre Daten über das Sozialamt an die Ausländerbehörden weitergegeben werden. Im rot-roten Senat der vorletzten Legislaturperiode ist das Projekt aber am Widerstand des SPD-geführten Innensenats gescheitert. Die schwarz-rote Koalition hat es dann bereits im Koalitionsvertrag ausgeschlossen. Das Thema war von der politischen Agenda verschwunden. Es ist also gut, dass es jetzt endlich in Angriff genommen wird. Das hat auch damit zu tun, dass das Bewusstsein für die Problematik gewachsen ist. Die Proteste und Forderungen zahlreicher Initiativen und Geflüchteter sind nicht mehr so einfach zu ignorieren. Andere Bundesländer sind mittlerweile auch schon an Berlin vorbei gezogen: In Niedersachsen wurde der anonymisierte Krankenschein auf Initiative der Medinetze in Göttingen und Hannover als dreijähriges Pilotprojekt eingeführt. In Hamburg und Düsseldorf wurden vergleichbare Modelle umgesetzt. Allerdings muss man dazu sagen, dass bei keinem dieser Modelle ein wirklicher Krankenschein ausgegeben wird, der ein individuelles Recht auf Gesundheitsversorgung umsetzt. Die Modelle basieren auf Fondsgelder. Wenn die aufgebraucht sind, können keine weiteren Behandlungen mehr finanziert werden. Auch in Berlin wird es eine solche Begrenzung geben. Wie hoch diese sein wird, steht noch nicht fest.

Wie weit ist denn dieses Ziel bis jetzt umgesetzt worden in Berlin?

Das Medibüro beteiligt sich aktuell intensiv an einer Konzeptentwicklung für Berlin zusammen mit der Senatsverwaltung für Gesundheit sowie anderen Initiativen und Einrichtungen. Inwieweit es tatsächlich gelingt, auf diese Weise den Zugang zu medizinischer Versorgung für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Berlin zu verbessern, hängt maßgeblich von der konkreten Ausgestaltung ab. Hier sind noch viele Punkte offen und umstritten. Es ist aber schon jetzt klar, dass mit dem Modell nicht alle Probleme gelöst werden. Zum einen aufgrund des beschränkten Budgets des Fonds. Zum anderen wegen der Frage des Zugangs: wer wird den Schein wirklich nutzen können, wer bleibt ausgeschlossen? Das hängt auch von den Vergabemodalitäten ab und von der alltagstauglichen Gestaltung des Zugangs. Wahrscheinlich wird das Ergebnis nicht all unseren Idealvorstellungen entsprechen.

Was wäre denn aus eurer Sicht entscheidend in der Umsetzung?

Eine eingeschränkte oder fehlende Versorgung trifft nicht nur Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus, sondern auch Menschen aus anderen EU-Staaten. Darunter sind zum Beispiel auch sogenannte Drittstaatsangehörige, die einen Aufenthaltstitel in anderen EU-Ländern haben, aber in Berlin leben, weil die Lebensbedingungen z.B. in Auffanglagern in Italien nicht tragbar sind. Es ist noch offen, inwiefern für diese genannten Gruppen im Rahmen des Konzepts eine Lösung gefunden werden kann. Klar ist aber, dass es zumindest ein vertieftes Beratungsangebot geben soll, um bestehende Rechtsansprüche der Personen zu verwirklichen. Was die Versorgung von EU-Bürgerinnen anbelangt, ist hier sicherlich nicht nur der Gesundheits-, sondern auch der Sozialsenat gefragt.

Natürlich ist klar: Nicht alle Probleme können auf Länderebene gelöst werden. Unsere Forderungen zielen auf gleiche soziale und politische Rechte für alle und somit eine gleiche Gesundheitsversorgung aller Menschen, die hier leben. Vom Berliner Senat fordern wir aber, dass die Grenzen des Möglichen ausgelotet werden und alles für die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus und ohne Krankenversicherung getan wird. In anderen Bereichen kritisieren wie außerdem neue Einschränkungen im Vergleich zu bisherigen Regelungen. So ist gerade erst die seit über sechs Jahren bestehende erweiterte Duldungsregelung für Schwangere verschärft worden, eine Maßnahme, die noch vom rot-schwarzen Senat initiiert wurde. Wir haben die Hoffnung und fordern vom Senat, dass das wieder rückgängig gemacht wird.

Ihr seid ja nun selbst in die Kommunikation mit dem Senat eingebunden. Wir erlebt ihr die Zusammenarbeit?

Auf Basis des Runden Tischs und im Rahmen der Konzeptausarbeitung des anonymisierten Krankenscheins kommunizieren wir intensiv mit dem Senat, bislang nur mit dem Gesundheitssenat. Das Gesprächsklima erleben wir dabei als respektvoll und interessiert. Gespräche mit selbstorganisierten Initiativen von Geflüchteten hat es zu der Thematik unseres Wissens aber bislang nicht gegeben. Um praktische Probleme und Bedürfnisse im Lebensalltag der Menschen zu erfahren, fordern wir, auch auf selbstorganisierte Gruppen Geflüchteter und anderer Migrantinnen zuzugehen und Menschen einzubeziehen, die selbst Fluchterfahrungen oder Erfahrung mit unsicherem Aufenthaltsstatus haben.

Verändert die neue politische Konstellation auch eure Arbeit und eure Strategie als Initiative?

Prinzipiell hat sich die Arbeit des Medibüros dadurch nicht verändert. Unsere Strategie verbindet ja die praktische Unterstützungsarbeit mit politischer Arbeit, die Regierungsstellen und Öffentlichkeit adressiert. Das ist leider auch weiterhin notwendig. Die sachbezogene Gremien- und Lobbyarbeit führen wir fort. Voraussichtlich werden zunächst mühsame Kompromisse erzielt werden, die nicht unseren Anspruch einlösen werden, allen hier lebenden Menschen einen gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Wir werden dies also auch weiterhin fordern und an den Senat bzw. die Öffentlichkeit herantragen. Bis unsere Arbeit nicht mehr nötig sein wird, braucht es noch viele weitere Schritte.

 

Das Medibüro Berlin (Netzwerk für das Recht auf Gesundheitsversorgung aller Migrantinnen) existiert seit 1996 als selbstorganisiertes Projekt, das Menschen ohne Aufenthaltsstatus und ohne Krankenversicherung anonyme und kostenlose medizinische Behandlung vermittelt. Seit der Gründung verfolgt die antirassistische Initiative das Ziel, die Gesundheitsversorgung von illegalisierten Geflüchteten und Migrant_innnen auf politischem und pragmatischem Wege zu verbessern.

Hanna Schuh ist Psychologin und wirkt seit 2011 im Medibüro Berlin – Netzwerk für das Recht auf Gesundheitsversorgung aller Migrantinnen mit.

Burkhard Bartholome ist Arzt und seit 2001 beim Medibüro Berlin

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/medibuero-viele-weitere-schritte/

Foto: Foto: Medibüro Berlin / facebook.com/medibuero.berlin.kampagne

#Anti-Rassismus #Migration #Alternativen #Organisierung

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Interview mit Hanna Schuh und Burkhard Bartholome vom Medibüro Berlin über die Realität und die politischen Forderungen beim Zugang zu medizinischer Versorgung für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Berlin.

Foto: Medibüro Berlin / facebook.com/medibuero.berlin.kampagne

  • #Anti-Rassismus
  • #Migration
  • #Alternativen
  • #Organisierung

»Meine ›Heimat‹ ist dort, wo ich bleiben will«

Palermo als »Willkommensstadt«

Mai 2017 • Leoluca Orlando

Foto: Cristina Gottardi / Unsplash

Foto: Cristina Gottardi / Unsplash

Migration, Mobilität, Alternativen, Anti-Rassismus#Migration #Mobilität #Alternativen #Anti-Rassismus

Wenn wir über das epochale Phänomen der Migration sprechen: Lohnt es, mit Palermo anzufangen?

Ja. Palermo ist eigentlich keine europäische Stadt, sondern eine Metropole des Nahen Ostens in Europa. Es ist als »Stadt der Migrant*innen« entstanden. Kürzlich hat die UNESCO Palermo wegen seiner arabisch-normannischen Traditionen zum Weltkulturerbe erklärt. Die Araber und die Normannen haben sich bis aufs Messer bekriegt – hier jedoch sind ihre Kulturen miteinander verschmolzen. Außerdem ist die hiesige Geschichte eng mit dem Jahr 1492 verbunden. Es markiert die Eroberung Amerikas, die Vertreibung der Jüd*innen und Muslim*innen aus Spanien, den Tod des florentiner Stadtherrn Lorenzo il Magnificos und das Ende der Renaissance. Aus dem ›Weltmeer‹ Mittelmeer wurde ein Binnensee mit Randlage. All das spiegelt sich in unserer Architektur und unserem Lebensstil wider.Zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert sind viele Palermitaner*innen nach Amerika oder Nordeuropa ausgewandert, und in den letzten hundert Jahren hat die Mafia verhindert, dass wir zum Anlaufpunkt für die Migration von anderen werden konnten. Lange Zeit hat die Mafia Sizilien und Palermo direkt regiert. Als 1980 der Politiker Mattarella von einer Clique aus Mafia und Teilen der Christdemokratischen Partei Italiens ermordet wurde, haben einige von uns den Kampf aufgenommen. Damals galt es als subversiv, die Gültigkeit des Gesetzes gegen die herrschende Macht starkzumachen, und so erklärten wir Palermo zur »Stadt des Rechts«. Klar, die Mafia ist nicht gänzlich verschwunden, aber im Gegensatz zu damals sitzt sie nicht mehr in der Regierung.Heute, angesichts der epochalen Herausforderung der Migration, wäre es subversiv, die geltenden Gesetze zu unterlaufen. Nun sind wir die »Stadt der Rechte«. Wir streiten für die konkrete Verwirklichung von Rechten. Wir organisieren die größte Gay Pride Parade Südeuropas: 300 000 Leute, Familien und Kinder nehmen daran teil und von den Balkonen applaudieren die Anwohner*innen. Letztlich verdanken wir es den Migrant*innen, dass wir an unsere Geschichte anknüpfen können und wieder »eine nahöstliche Stadt in Europa« sind.

Was ist die »Charta von Palermo«, die du im März 2015 lanciert hast?

Mein Leben und meine Haltung haben sich verändert, als ich die Migrant*innen persönlich kennengelernt habe. In der aktuellen Situation müsste man die Staaten Europas eigentlich rechtlich zur Verantwortung ziehen. Sie sind dabei, einen Völkermord loszutreten, der nicht gegen die Gesetze begangen, sondern von diesen verursacht wird. Die Wanderung von Millionen von Menschen lässt sich nicht verhindern, sie hat etwas mit der Globalisierung sowie mit langjährigen politischen und wirtschaftlichen Krisen zu tun. Was es zu verhindern gilt, ist, dass der Ausnahmezustand zum Dauerzustand wird. Eine veränderte Herangehensweise muss damit beginnen, die Migrant*innen als Menschen zu sehen. Dazu müssen wir zwei gängige Sichtweisen revidieren, die Migration nur unter dem Aspekt des »Leidens« oder des »Schutzes« begreifen. Stattdessen gilt es »Bewegungsfreiheit« als neues unveräußerliches Menschenrecht anzuerkennen. Kein Mensch hat sich ausgesucht, wo er geboren wird. Für alle muss aber das Recht anerkannt werden, selber zu entscheiden, wo sie leben, besser leben oder nicht sterben wollen.Ein zentrales Problem ist derzeit die Logik der Aufenthaltsgenehmigung. Sie ist ein Stück Papier, das Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt. Die Unterscheidung zwischen »Asylbewerber*in« und »Wirtschaftsflüchtling«, auf der die Politik der europäischen Staaten beruht, lässt mich schaudern: Welchen Unterschied macht es, ob das Leben eines Menschen bedroht ist, weil sich sein Land im Krieg befindet, oder weil er Gefahr läuft, zu verhungern? Aber selbst wenn wir dieser kriminellen Logik folgen: Wenn ich ein Recht auf Asyl besitze, wieso kann ich mir dann nicht ein Flugticket kaufen, regulär nach Europa einreisen und einen Antrag stellen? Es ist völlig inakzeptabel, diese Verfahren in afrikanische Länder oder die Türkei auszulagern und dort Auffanglager zu errichten. Stattdessen müssen sichere Zugangswege geschaffen werden. Mit der Charta von Palermo treten wir für eine grundsätzliche Bewegungsfreiheit ein, für die Abschaffung von Einreisebestimmungen und Aufenthaltsgenehmigungen. Es kann nicht sein, dass der einzige, der noch über eine solide internationalistische Vision verfügt, der Papst ist, nur weil es darum geht, hier eine kulturelle und zivilisatorische Grundsatzentscheidung zu treffen.

Wie versucht Palermo diese Prinzipien in der Lokalpolitik umzusetzen? Oder geht es eher um symbolische Gesten?

Immer wenn ein Schiff mit Flüchtlingen im Hafen von Palermo anlegt, bin ich vor Ort, um sie zu empfangen. Der Hafen wird dann zu einem Ort der gesellschaftlichen Organisierung, Initiativen und Behörden arbeiten Hand in Hand. Ich habe beim Polizeipräsidenten die Entmilitarisierung der Ankunftszone durchgesetzt, damit die Geflüchteten im Moment ihrer Ausschiffung keine Uniform sehen müssen. Die Schwierigkeiten fangen aber danach an: Alle brauchen Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum und Arbeit. Migrant*innen und einheimische Palermitaner*innen befinden sich oft in einer ähnlich prekären Lage. Mit dieser Situation umzugehen ist nur möglich dank der engen Zusammenarbeit mit dem lokalen Netz von Initiativen und Vereinen. Wir verfolgen die Idee einer neuen Bürgerschaft, in der das Recht auf aktive politische Teilhabe und kultureller Vielfalt zentral ist. Wir haben einen Rat der Kulturen ins Leben gerufen, der ein solches Modell ausarbeiten soll, bei dem die Bürgerechte allein an den Wohnsitz und nicht an die Nationalität gebunden sind.

Kürzlich hast du an einem Treffen von Bürgermeister*innen aus ganz Europa teilgenommen, das auf Initiative von Papst Franziskus organisiert wurde. Zu welchen Schlussfolgerungen seid ihr gelangt?

Es war ein wichtiges Treffen, und die Rolle, die dieser Papst spielt, ist herausragend. Für uns war es sehr wichtig, uns mit anderen Kommunalverwaltungen aus ganz Europa auszutauschen, vor allem mit Madrid und Barcelona, die sich wie wir darum bemühen, sich als »Zufluchtsstädte« zu qualifizieren (vgl. Heuser in diesem Heft). Sie sind dabei mit dem Widerstand und der Abschottungspolitik ihrer nationalen Regierungen konfrontiert, die nicht einmal die im EU-Rat eingegangenen Verpflichtungen zur Verteilung der Flüchtlinge einhalten. Deshalb setzen wir uns dafür ein, ein Netzwerk von »Rebel Cities« zu gründen, das in der Lage ist, eine andere Aufnahmepolitik gegen die Politik der Nationalstaaten und der Europäischen Union auszuarbeiten und umzusetzen. Diesem Netzwerk sollten auch Städte und Bürgermeister*innen aus den Ländern Afrikas und des Nahen Ostens angehören, jenseits der formalen Grenzen der EU.EU-Verordnungen wie die Frontex- und die Dublin-Verordnung müssen grundlegend verändert werden: Das Recht auf Bewegungsfreiheit muss auch für diejenigen garantiert werden, die nicht aus der EU stammen. Auch das Aufnahmesystem muss umgestaltet werden: Das bestehende System hat eine eigene Ökonomie hervorgebracht, von der manche massiv profitieren. Außerdem stellt die hohe Konzentration von Flüchtlingen an einzelnen Orten ein Problem dar, und zwar sowohl für die Migrant*innen als auch für die Gemeinden.Deshalb müssen wir vor Ort, in den Städten anfangen. Unsere zentralen Werte erhalten hier ihre praktische Bedeutung. Für die jüngere Generation existieren eigentlich nur das Wohnviertel und die Welt. Die Europäische Union funktioniert auch deshalb nicht, weil sie zu einem Ort der Legitimation nationaler Egoismen geworden ist. Die Migrant*innen können uns helfen, den Nationalstaat als ersten und einzigen Bezugspunkt zu relativieren. Als Schüler von Hans-Georg Gadamer denke ich, dass die Wahl der eigenen Identität die größte Freiheitsbekundung ist. Meine ›Heimat‹ ist dort, wo ich entscheide, dass sie sein soll.Wir müssen die Angst vieler Bürgermeister*innen überwinden, die teils stärker an ihre Parteien gebunden sind als ich. Wir müssen uns von politischen und materiellen Hindernissen befreien. Vor vier Jahren war der Haushalt der Stadt Palermo wegen der nationalen Sparpolitik und wegen schlechter Haushaltsführung dem Bankrott nahe. Wir haben ihn ohne eine einzige Entlassung saniert und dabei die volle Kontrolle über zentrale Dienstleistungen und Infrastrukturen behalten. Direkte Beziehungen zwischen den Städten und ihre Fähigkeit, Allianzen zu bilden, kann Brüche mit dem herrschenden System befördern und konkrete Alternativen aufzeigen.

Aus dem Italienischen von Andreas Förster

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/meine-heimat-ist-dort-wo-ich-bleiben-will

#Migration #Mobilität #Alternativen #Anti-Rassismus

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Leoluca Orlando war von 1985 bis 2000 Bürgermeister von Palermo, der Hauptstadt Siziliens. Über die Landesgrenzen hinweg bekannt wurde er, als er mit der Gründung der Reformpartei »La Rete« 1991 der Mafia den Kampf ansagte. Inzwischen führt er eine neue Auseinandersetzung: Inmitten der wachsenden Lager- und Abschiebeökonomie sowie des hochgerüsteten Grenzregimes der EU versucht Leoluca Orlando, Palermo als »Willkommensstadt« zu etablieren – als Ort einer solidarischen Flüchtlingspolitik und gelebten Transkulturalität. 2015 hat er die „Charta von Palermo“ auf den Weg gebracht, die unter anderem die Bewegungsfreiheit zu einem Menschenrecht erklärt und die Abschaffung der Aufenthaltserlaubnis vorschlägt. Beppe Caccia sprach mit ihm über Stadtbürgerschaft und inklusive Flüchtlingspolitik in Palermo.

Foto: Cristina Gottardi / Unsplash

  • #Migration
  • #Mobilität
  • #Alternativen
  • #Anti-Rassismus

»So funktioniert das hier nun mal« – Gespräch über Rassismus und Segregation an Berliner Schulen

Mai 2017 • Gespräch mit Juliane Karakayali und Birgit Zur Nieden

Foto: Neonbrand / Unsplash

Foto: Neonbrand / Unsplash

Migration, Anti-Rassismus, Berlin#Migration #Anti-Rassismus #Berlin

Im Sommer 2012 löste eine Meldung im Tagesspiegel heftige Diskussionen in Berlin aus. Türkische Eltern hatten an einer Berliner Grundschule gegen die Trennung der Kinder nach Herkunft protestiert. Euer Forschungsprojekt setzt an diesen Protesten an. Was sind die zentralen Ergebnisse?

Juliane Karakayali: Es gibt Berliner Schulen, an denen Kinder nach Herkunft getrennt unterrichtet werden. Meistens berichten uns Eltern davon. An den Schulen ihrer Kinder seien so gut wie keine herkunftsdeutschen Kinder, obwohl viele im Einzugsgebiet wohnten. Andere beobachten, wie sich in ihrer Schule ›Deutschenklassen‹ bilden.

Wir fragen in unserer Forschung, wie solche Trennungen institutionell verankert sind, wie sie von den Schulen vorgenommen und legitimiert werden. In diesen Prozessen spielen verschiedene Akteure und Faktoren eine Rolle: Lehrer*innen, Eltern, Schulleitung und Verwaltung sowie Einzugsgebiete und Finanzierungsfragen. Allerdings gibt es in den Schulen ein allgemeines Deutungswissen, das Kinder nach bestimmten Kriterien, eben auch Herkunftskriterien, unterscheidet. Es beinhaltet Einschätzungen etwa darüber, welche Kinder von ihren Eltern unterstützt werden, welche gute Performer und welche mögliche Störenfriede sind. Uns interessiert, ob und wie sich dieses Deutungswissen bei der Anmeldung in der Schule und der Einteilung der Klassen auswirkt. Die Berliner Schulstatistik unterteilt Schüler*innen in solche »nicht deutscher Herkunftssprache« (ndH) und nicht kategorisierte, also Kinder deutscher Herkunftssprache.

Birgit zur Nieden: In einigen Bezirken war es bis Mitte der 1990er Jahre üblich, Kinder in sogenannten Ausländerregelklassen zu beschulen. Das aktuelle Berliner Schulgesetz schreibt vor, dass nicht nach Herkunft(ssprache) getrennt unterrichtet werden soll. Eine Ausnahme gilt für Kinder, die kein oder sehr wenig Deutsch sprechen. Für sie kann eine spezielle Lerngruppe eingerichtet werden.

Mit der Abschaffung der Ausländerregelklassen wurde das Merkmal ›ndH‹ eingeführt. Wie aber die Kategorie ›ndH‹ genau definiert wird, ist oft unklar und wird von Schule zu Schule unterschiedlich gehandhabt. Zumeist werden die Eltern bei der Anmeldung ihrer Kinder an einer Grundschule aufgefordert anzugeben, ob in der Familie noch eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wird. Viele Eltern haben uns gegenüber geäußert, dass sie den Begriff ›ndH‹ gar nicht kennen – da stellt sich die Frage, wie dieses Merkmal in der jeweiligen Schule vergeben wurde. Wir versuchen gerade herauszufinden, nach welchen Kriterien dies erfolgt. Je nach ndH-Anteil erhalten die Schulen spezifische Gelder für die Sprachförderung. Die Schulen haben also möglicherweise ein Interesse, den Anteil hoch zu halten. Andererseits wird dieser auf den Internetseiten der Senatsverwaltung für Bildung veröffentlicht. Eine Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) von 2012 stellt fest, dass diese Information am häufigsten abgerufen wird. Auch andere Studien sowie die Interviews, die wir mit Eltern geführt haben, legen nahe, dass der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund entscheidend für den guten oder schlechten Ruf einer Schule ist.

Gibt es Unterschiede, wie die Schulen mit dieser Situation umgehen?

JK: Ja, einige stehen offenbar unter dem Druck, die ›Mischung‹ der Kinder mit und ohne ndH an ihrer Einrichtung zu kontrollieren, etwa dann, wenn ihre ursprüngliche Klientel durch Gentrifizierung verdrängt wird und sie auch für die neu Hinzugezogenen und diejenigen, die sich die Miete noch leisten können, attraktiv sein müssen. Es gibt auch Schulen, die diesem Druck nicht ausgesetzt sind und einfach Unterricht mit den Schüler*innen machen, die da sind. Da gibt es dann sehr gute und weniger gute Beispiele. Andere wiederum arbeiten am Profil und an den Angeboten, um eine heterogene Eltern- und Schülerschaft anzuziehen. Wieder andere schließlich reagieren mit spezifischen Angeboten für bestimmte Kinder oder eher Eltern. Hier kommt es dann häufiger zu Trennungen nach Herkunft, gegen die sich die Eltern allerdings mehr und mehr zur Wehr setzen. Die Schulen versuchen, auf die Wünsche bestimmter Eltern einzugehen, die ihre Kinder in Gruppen anmelden und zusammen in einer Klasse sehen wollen. Manchmal darf sich eine solche Gruppe sogar noch die Lehrperson aussuchen. Die Schule argumentiert, dass diese Eltern beziehungsweise deren Kinder die Mischung an der Schule positiv verändern. Die Schulen versuchen also gewissermaßen der Segregation auf Ebene der Schulen mit einer Segregation auf der Ebene von Klassen zu begegnen.

Und was sagen die Eltern dazu?

BN: Es gibt viele, die diese Segregation aufgrund ihrer Herkunft – ihres ›Ausländerseins‹, wie sie es ausdrücken – erleben, obwohl sie selbst schon in Deutschland zur Schule gegangen sind. Sie sind irritiert und fühlen sich stigmatisiert. Eine Mutter schilderte uns beispielsweise, dass eine von ihr als deutsch wahrgenommene Familie, die ihr Kind an der Schule anmelden wollte, auf die auch ihre Kinder gehen, von der Schulleiterin mehrmals gewarnt wurde: Sie sollten das lieber nicht tun, denn in diese Schule gingen nur türkische und arabische Kinder. Auch andere Eltern bestätigten ähnliche Einschätzungen. Sie beobachteten etwa bei der Einschulungsfeier eine eindeutige Verteilung der Kinder auf die Klassen nach Herkunft. Solche Erlebnisse reihen sich oft in eine ganze Serie von diskriminierenden Erfahrungen ein, die sie in Institutionen in Deutschland gemacht haben. Alle befragten Eltern schilderten uns auch, dass sie das Leistungsniveau ihrer Kinder im Gegensatz zu anderen Schulen oder sogar anderen Klassen der gleichen Schule als deutlich niedriger wahrnehmen.

Können wir bei alldem von institutionellem Rassismus sprechen? Und wenn ja, in welchen Bereichen der schulischen Bildung wird Rassismus über die räumliche Segregation hinaus sichtbar?

BN: Wir verstehen unter Rassismus die Unterscheidung von Menschen entlang von (zugeschriebener) Herkunft, körperlichen Merkmalen oder Religion und eine daraus folgende diskriminierende Ungleichbehandlung. Das Bildungssystem in Deutschland ist nach wie vor sehr stark an der Vorstellung eines oder einer ›Normalschüler*in‹ ausgerichtet, welche*r der Mittelschicht angehört, in deutschen Bildungseinrichtungen sozialisiert ist und Deutsch auf einem hochsprachlichen Niveau beherrscht. Allein die Bezeichnung ›ndH‹ betont das Defizit – im Unterschied etwa zu ›mehrsprachig‹. Außerdem stellt sich die Frage, wie sinnvoll diese Unterscheidung überhaupt ist. Heterogenität wird zumeist als Herausforderung, wenn nicht sogar als etwas Störendes betrachtet. Der seit Jahrzehnten nachgewiesene geringere Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund hat etwas mit diesen Strukturen zu tun und ja, diese Strukturen können wir mit dem Begriff des institutionellen Rassismus beschreiben.

Zwar haben einzelne Schulen gute Konzepte und Umgangsweisen entwickelt. Auch die Berliner Schulpolitik hat immer wieder Maßnahmen gegen Segregation und für Inklusion angestoßen, aber das hat an den grundsätzlichen Verhältnissen bisher nichts geändert.

JK: In unserer Forschung wurden solche ausschließenden Strukturen immer wieder sichtbar und auch, wie sie in Institutionen und Organisationen produziert und reproduziert werden. Die Eltern, die wir interviewt haben, berichten auch davon, dass ihre Kinder vielfältige Erfahrungen mit Kulturalisierungen machen. Wenn Kinder oder Familien Bedürfnisse oder Interessen formulieren, dann werden diese teils abgewehrt mit der Begründung, das störe sonst den Regelablauf, nach dem Motto »so funktioniert das hier nun mal«. Schüler*innen werden oft gar nicht als Individuen wahr und ernst genommen, sondern nur als Teil einer Gruppe, beispielsweise der Muslim*innen oder der Ausländer*innen. Konflikte, die aus dem Verhältnis von Lehrer*innen und Schüler*innen resultieren, werden als Kulturkonflikte interpretiert. Viele Eltern nehmen das so wahr, dass ihre Kinder vor allem diszipliniert werden, statt guten Unterricht zu erhalten. Eigentlich aber sollten Schulen migrationspädagogisch wirken, statt Spaltungen selbst hervorzurufen oder zu zementieren.

In einer jüngeren Forschung habt ihr auch sogenannte Willkommensklassen untersucht. Zu welchen Ergebnissen seid ihr hier gekommen?

JK: Der Unterricht für die neu zugewanderten Kinder ist sehr unterschiedlich. Die Form reicht von integrativ bis parallel, auch die Unterrichtsinhalte unterscheiden sich von Schule zu Schule. Ein Grund liegt darin, dass unzureichend ausgearbeitet ist, worin Ziele und Maßstäbe für die Beschulung der Neuzugewanderten eigentlich liegen. Dies zeigt sich auch in uneinheitlichen Zugangsbedingungen zu den Klassen: Hier gibt es verschiedene Wege der Zuweisung, je nach Bezirk, sowie unterschiedliche Feststellungsverfahren des Sprachstandards. Es existieren keine festgelegten Lehrmaterialien, die Praktiken der Leistungsdokumentation sind nicht geregelt und die Verfahren zum Übergang in die Regelklassen sind unklar.

Oftmals wird den Lehrkräften der Willkommensklassen die alleinige Verantwortung für diese zentralen Fragen überlassen. Eine transparente und schulübergreifende Planung und Absprache aller Lehrkräfte mit Schulleitungen, Erzieher*innen und gegebenenfalls den Eltern findet kaum statt. Häufig sind die Lehrkräfte der Willkommensklassen Quereinsteiger*innen und gehören nicht zum regulären Lehrkörper der jeweiligen Schule.

Zudem erhalten die Willkommensklassen oft nur einen Raum in einem abgelegenen Teil des Schulgebäudes oder gar in Horträumen. So entsteht an vielen der Schulen eine Art Parallelstruktur. Sie werden auch bei Planungen, Strukturabläufen oder besonderen Veranstaltungen und Ereignissen häufiger einfach ›vergessen‹. Die von uns Befragten sehen es als problematisch an, wenn die Kinder der Willkommensklassen weitgehend ohne Kontakt zu den anderen Schüler*innen der Schule bleiben: Ihnen fehle die Möglichkeit zu Austausch und gemeinsamen Aktivitäten. Nicht zuletzt werden die Kinder durch die gesonderten Klassen stärker als vermeintlich homogene und besondere Gruppe in der Schule sichtbar. Teilweise werden sie deshalb auch stigmatisiert und ihr Verhalten wird häufig kulturalisiert. Die Lehrkräfte bemühen sich oft sehr, diese Mängel auszugleichen und einen guten Unterricht zu machen. Sie scheitern aber häufig an den strukturellen Bedingungen.

BN: Unsere Untersuchung zeigt aber auch alternative Praxen. So haben sich einige Schulen entschlossen, die neu zugewanderten Kinder in Regelklassen unterzubringen und ihnen zusätzlich täglich Deutschunterricht anzubieten. An einer dieser integrativen Schulen werden die Lehrkräfte der Deutschlerngruppen zusätzlich im Regelunterricht eingesetzt. Sie unterstützen damit zum einen die neuen Schüler*innen bei Verständnis- und Verständigungsproblemen. Zum anderen gibt es dadurch eine zusätzliche Lehrkraft, von der die gesamte Klasse profitiert. Die integrativ arbeitenden Schulen haben deutlich weniger organisatorische Probleme. Die Kinder werden hier zumeist von ausgebildeten Grundschullehrer*innen unterrichtet, die gesamte Regelklasse erhält Unterstützung durch Lehrkräfte, die eine Zusatzausbildung in Deutsch als Zweitsprache haben. Die direkte Eingliederung der neu eingewanderten Kinder und Jugendlichen in die Regelklassen macht diese zudem weniger als gesonderte Gruppe sichtbar. Dies wirkt Stigmatisierungen und Kulturalisierungen entgegen.

Inwiefern lassen sich die Ergebnisse auf die gesamtdeutsche Situation übertragen?

JK: Insgesamt kann man sagen, dass die Beschulung neu zugewanderter Kinder kurzfristig und kurzsichtig geplant ist – das ist nicht nur in Berlin so. Ein historischer Blick auf den Umgang mit migrantischen Kindern im deutschen Schulsystem zeigt, dass dieser immer wieder von Vorläufigkeit, Konzeptlosigkeit und Separation geprägt war. So kann das Regelschulsystem in der bestehenden Form erhalten und vor Veränderung ›geschützt‹ werden. Anstatt die Realität der Migration und einer heterogenen Schüler- und Elternschaft in eine Gesamtstrategie der Bildungsplanung einzubeziehen, hat die deutsche Bildungspolitik immer wieder mit administrativ-organisatorischen Ad-hoc-Lösungen reagiert. Diese Ad-hoc-Lösungen bestanden meist darin, Ressourcen für die Beschulung migrantischer Kinder nur vorübergehend zu gewähren oder eben Sonderklassen einzurichten. Auch in Berlin sind diese Praktiken seit den 1970er Jahren nicht durchgehend abgeschafft worden, wie sich heute noch zeigt. Das deutsche Bildungssystem ist offenbar nicht in der Lage, Kinder flexibel zu integrieren und gemäß ihrer spezifischen Bedarfe zu fördern.

Wie würdet ihr Ansätze einer inklusiveren Beschulungspolitik skizzieren, die der post-migrantischen Realität in diesem Land gerecht würde?

BN: Es gibt inklusive Modelle und sehr gute Ideen. Migrationspädagogische Ansätze gehen von einer heterogenen, mehrsprachigen Schüler- und Elternschaft aus – wie sie in der postmigrantischen Gesellschaft real sind. In dieser Perspektive würden Kinder nicht mehr ›besondert‹, die den Normalitätsannahmen nicht entsprechen.

JK: Generell braucht es mehr Offenheit und Sensibilität gegenüber unterschiedlichen Lebenswelten und ein dynamisches Verständnis von Lernprozessen und institutionellen Gefügen. Organisatorisch bedeutet dies, dass unterschiedliche Kinder, auch Kinder mit Kriegs- und Fluchterfahrungen nicht als defizitäre Wesen wahrgenommen und kategorisiert werden, weil sie bestimmte Dinge nicht können. Vielmehr sollten sie mit ihren Potenzialen und Fähigkeiten ins Schulgeschehen eingebunden und gezielt gefördert werden.

Das sind aber letztlich Fragen, die weit über bildungs- oder schulpolitische Debatten hinausgehen und im Zentrum einer öffentlichen Debatte darum stehen müssten, wie wir eine solidarische und demokratische Migrationsgesellschaft gestalten wollen. Schule ist ja schließlich ein Ort, an dem sich übergreifende gesellschaftliche Entscheidungen niederschlagen.

Das Interview führte Stefanie Kron.

Juliane Karakayali ist Soziologin und arbeitet als Professorin an der Evangelischen Hochschule Berlin.

Birgit Zur Nieden ist Soziologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für empirische Integrations-¬ und Migrationsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin.

⋯⋯⋯

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/so-funktioniert-das-hier-nun-mal

#Migration #Anti-Rassismus #Berlin

Twitter Facebook Whatsapp Telegram Tumblr Reddit Correo Fediverso

Im Interview erklären die Soziologinnen Juliane Karakayali und Birgit Zur Nieden anhand ihrer Forschung, dass die Beschulung neu zugewanderter Kinder kurzfristig und kurzsichtig geplant ist. Ein historischer Blick auf den Umgang mit migrantischen Kindern im deutschen Schulsystem zeigt, dass dieser immer wieder von Vorläufigkeit, Konzeptlosigkeit und Separation geprägt war. So kann das Regelschulsystem in der bestehenden Form erhalten werden. Anstatt die Realität der Migration und einer heterogenen Schüler- und Elternschaft in eine Gesamtstrategie der Bildungsplanung einzubeziehen, hat die deutsche Bildungspolitik immer wieder mit administrativ-organisatorischen Ad-hoc-Lösungen reagiert. Diese Ad-hoc-Lösungen bestanden meist darin, Ressourcen für die Beschulung migrantischer Kinder nur vorübergehend zu gewähren oder eben Sonderklassen einzurichten. Auch in Berlin sind diese Praktiken seit den 1970er Jahren nicht durchgehend abgeschafft worden, wie sich heute noch zeigt.

Foto: Neonbrand / Unsplash

  • #Migration
  • #Anti-Rassismus
  • #Berlin
  • #Pflege
  • #Hausarbeiterinnen
  • #Organisierung
  • #Gewerkschaft
  • #Migration
  • #Alternativen
  • #Krankenhaus
  • #Selbstverwaltung
  • #Berlin
  • #Krise
  • #Feminismus
  • #Anti-Rassismus
  • #Mobilität
  • #Rekommunalisierung
  • #Wohnen
  • #Bremen
  • #SorgendeStadt