Über Rassismus sprechen
Das Wichtigste vorneweg: Die gesellschaftliche Ausgangslage ist entscheidend für die Frage, was eine LINKE in Regierung (und außerhalb) durchsetzen kann. Diese steht aktuell für progressive und antirassistische Projekte nicht schlecht. Zwar haben wir es mit einer zunehmend aggressiven rassistischen Stimmungsmache und Mobilisierung eines Teils der Gesellschaft zu tun, doch zugleich wurde im letzten Jahr in Deutschland erstmals monatelang umfassend über Rassismus diskutiert und zwar auch in seinen strukturellen Dimensionen. Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland fasst diese Verschiebung in der gesellschaftlichen Debatte so zusammen: „Nach dem Attentat von Hanau wurde zum ersten Mal sehr schnell von Rassismus gesprochen. Zuvor wurde das oft mit Begriffen wie „fremdenfeindlich“ oder „ausländerfeindlich“ verharmlost. Rassismus ist endlich kein Tabuthema mehr.“
In Berlin gibt es Mehrheiten für eine offene und solidarische Gesellschaft und sehr viele Menschen, die sich aktiv dafür engagieren und sich organisieren. Der rassistische Terroranschlag von Hanau, dem neun junge als „fremd“ markierte Menschen zum Opfer fielen, war für viele junge Menschen und gerade Menschen mit Migrationsgeschichte eine Zäsur. Weite Teile der jungen Generation haben sich politisiert. Bundesweit gründeten sich etliche Initiativen, antirassistische Bündnisse und Migrantifa-Gruppen. Dieser Prozess wurde verstärkt durch die Black Lives Matter Proteste, deren Initialzündung die Ermordung George Flyods durch einen weißen Polizisten in Minneapolis war. Ausgehend von den USA fanden sie global Widerhall und brachten im Juni 2020 in Berlin Zehntausende auf den Alexanderplatz. Sie rückten Polizeigewalt und Rassismus in staatlichen Institutionen auch hierzulande in den Fokus der Öffentlichkeit. Aber auch das Recht auf Teilhabe und Partizipation von migrantisierten Menschen wurde auf allen Ebenen stark gemacht. In Reaktion auf Hanau forderte beispielsweise die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen, die über 40 Selbstvertretungen vereint, eine „Migrationsquote“ für den öffentlichen Dienst.
Ein Gelegenheitsfenster
In dieser Situation stand laut Koalitionsvertrag die Novellierung des „Partizipations- und Integrationsgesetzes“ in Berlin an. Das Gesetz war 2010 auf Initiative des Landesbeirats für Integrations- und Migrationsfragen durch die damals von LINKEN und SPD geführte Landesregierung entstanden. Es sollte die Teilhabe von Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund[1] in der Verwaltung verbessern, vorhandene Zugangsbarrieren durch gezielte Förderung und die Einbindung migrantischer Organisationen in behördliche Entscheidungsprozesse abbauen.
Dem lag die Feststellung zugrunde, dass sehr wenig Menschen mit Migrationsgeschichte in den Behörden beschäftigt sind und ihre Perspektiven folglich in Entscheidungsprozessen kaum eine Rolle spielen. Berlin war mit dem Gesetz damals bundesweit Vorreiterin.[2]
Es hat im Laufe von 10 Jahren jedoch kaum zu Verbesserungen geführt. Schätzungen zufolge haben derzeit nur etwa 12 Prozent der Beschäftigten in der Verwaltung einen sogenannten Migrationshintergrund, obwohl dies auf 35 Prozent der Berliner Bevölkerung zutrifft. Laut einer Studie von Vielfalt entscheidet bezeichnen sich unter den Führungskräften in der Verwaltung sogar nur drei Prozent als „nicht weiß“. Der Evaluationsbericht zum Gesetz von 2019 macht deutlich, dass es kaum umgesetzt wurde. In einzelnen Verwaltungen gab es kleinere Maßnahmen, aber keine konkreten Förderpläne, keine Zielmarken und keine verbindlichen, mit Ressourcen ausgestatteten Instrumente. So gaben beispielsweise nur 60 Prozent der Verwaltungseinheiten an, bei Ausschreibungen den Beisatz „Bewerbungen von Menschen mit Migrationshintergrund sind besonders erwünscht“ tatsächlich zu verwenden. Die Integrationssenatorin Elke Breitenbach spricht von einem der am wenigsten umgesetzten Gesetze überhaupt.
Die notwendige Novellierung lag in LINKER Zuständigkeit und bot damit die Chance endlich effektive Umsetzungsinstrumente für Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung einzuführen und langjährige Forderungen von Migrant*innenorganisationen aufzunehmen. Dazu gehört die schon lange geforderte, rechtlich und politisch aber umstrittene Quote. Anders als die Frauenquote ist die Quote für Menschen mit Migrationsgeschichte rechtliches Neuland. Progressive Rechtsexpert*innen stützen jedoch die Verfassungsgemäßheit eines solchen Vorhabens.[3]
Die LINKE könnte – so die Einschätzung – hier den Unterschied machen und beweisen, dass sie nicht nur von Teilhabe fabuliert, sondern ernst macht und vorangeht, wenn es sich um neues und strittiges Terrain handelt. Bisher hat bundesweit niemand in Regierungsverantwortung eine so weitgehende Regelung angestrebt und auch die Beschlusslagen bei den Berliner Koalitionspartnern gaben das nicht her.
Im Vorstand der Berliner LINKEN fassten wir nach intensiver Debatte den Beschluss für eine Einstellungsquote zu kämpfen, obwohl abzusehen war, dass es von Seiten der SPD erhebliche Widerstände geben würde und unklar war, wo sich die Grünen in dem Konflikt verorten würden – von der Opposition und reaktionären gesellschaftlichen Kräften ganz zu schweigen. Dass der Beschluss so zustande kam, lag auch an der geschilderten gesellschaftlichen Ausgangslage. Uns war bewusst, dass wir die Quote innerhalb der Koalition möglicherweise nicht durchsetzen würden. Die historische Chance, erstmalig durch einen Gesetzesvorschlag aus einer Senatsverwaltung die politische und rechtliche Machbarkeit einer Quote für Menschen mit „Migrationshintergrund“[4] zu beweisen, wollten wir aber nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Das Terrain der Auseinandersetzung
Für dieses Vorhaben war der frühzeitige und
regelmäßige Austausch von Mitgliedern des Parteivorstands der LINKEN mit
migrantischen Selbstvertretungen, zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und
Gewerkschafter*innen maßgeblich, aber auch der Kontakt zwischen Parteivorstand
und Elke Breitenbach als zuständiger Integrationssenatorin.
In der mündlichen und schriftlichen Verbändeanhörung
sprachen sich zahlreiche migrantische Selbstvertretungen und Verbände für die
Erweiterung der Zielgruppe des Gesetzes und für effektive Instrumente wie eine
flächendeckende Datenerhebung, Dokumentationspflichten, fördernde Bewerbungs-
und Einstellungsverfahren sowie für die Einstellungsquote für Menschen mit
Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung aus. Auch ein von der
Integrationsverwaltung in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten, dass die von der
SPD und anderen angezweifelte Verfassungsgemäßheit einer Quote bescheinigte,
war von Bedeutung. Gegen Widerstände auch innerhalb der Fachebenen der
Verwaltung setzte Elke Breitenbach die Quote in einer zweiten Fassung des
Referentenentwurfs durch. Wichtig war dabei auch, dass innerhalb der verschiedenen
Senatshäuser Verwaltungsmitarbeiter*innen unser Anliegen politisch teilten und
gegen anders lautende Fachauffassungen argumentierten. Gleiches gilt für die
Berliner Integrationsbeauftragte.
Als sich im senatsinternen Mitzeichnungsverfahren
abzeichnete, dass zwar die Grünen den Vorschlag mittrugen, die SPD sich jedoch
als vehemente Gegnerin der Quote darstellte und drohte das gesamte Vorhaben zu
blockieren, bezog Elke Breitenbach vielfach öffentlich Stellung für die Quote.
Damit wurde der Konflikt öffentlich geführt und
ermöglicht, dass sich die Zivilgesellschaft an der Debatte beteiligt. Die SPD
schäumte, weil sie unter Druck geriet und sich öffentlich positionieren musste.
Der Tagesspiegel
titelte „Streit über Berliner Migrantenquote, SPD wertet Breitenbachs Vorstoß
als ‚grobes Foul’“. Es folgte eine intensive Presseberichterstattung.[5]
Auch die Parteiführung der Grünen bezog öffentlich
Stellung für das Gesetz und für die Quote. Die zahlreichen Wortmeldungen aus
der Stadtgesellschaft gaben Rückenwind für den Quotenvorschlag und es konnte zumindest
kurzzeitig eine intensive Debatte in der Stadt entfacht werden. Viele Verbände
wiesen die Kritik der SPD zurück und unterstützen den Gesetzesvorschlag von
Elke Breitenbach. Dazu gehörten die Neuen
Deutschen Organisationen, die Bundeskonferenz
der Migrantenorganisationen, der Berliner
Migrationsrat, in dem sich über 70 Selbstvertretungen organisieren, auch
wenn sie noch weitergehende Forderungen hatten. Letzterer startete sogar eine
Social-Media-Kampagne #35%Quote. Gewerkschafter*innen of Color appellierten in
einem offenen
Brief an die SPD ihren Widerstand gegen die Quote aufzugeben und sich für
die Beschäftigten mit Migrationsgeschichte einzusetzen. Die Berliner Integrationsbeauftragte
Katarina Niewiedzial setze sich vielfach öffentlich für die Gesetzesnovelle
und die Quotenregelung ein. Auch Rechtsexpert*innen
widerlegten die seitens der SPD und anderer vorgetragenen Bedenken gegen die
Verfassungsgemäßheit einer Quote. In verschiedenen Diskussionsveranstaltungen
wurde kontrovers debattiert. Es fand eine breite gesellschaftliche
Mobilisierung statt.
Diese Debatte rief natürlich auch die Gegner*innen von
Teilhabepolitik auf den Plan. Neben Hassmails an die Integrationssenatorin und
zahllosen rassistischen und rechtsextremen Kommentaren und Hetze im Internet
wurde auch von bürgerlicher Seite gegen die Quote angeschrieben. Die CDU
stellte einen Antrag zur Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus mit dem Titel „Migrantenquote
im Öffentlichen Dienst: unnötig, unsinnig, schädlich, verfassungswidrig“.
Die Debatte verlief turbulent
und die üblichen Ressentiments
und Rassismen gegen migrantisierte Menschen kamen auch hier wieder einmal
zum Ausdruck.[6]
Viele Vorbehalte, wie eine Quote bedeute einen
Generalverdacht gegen Einstellende, reduziere Menschen auf ein bestimmtes
Merkmal oder sei eine ungerechte Bevorzugung kennen wir aus den Debatten und
Widerständen gegen die Frauenquote. In dieser Diskussion kamen sie leider auch
von deren Vorkämpferinnen. So positionierte sich die Berliner SPD-Vorsitzende und
Bundesfamilienministerin
Franziska Giffey gegen die „Migrationsquote“, obwohl sie selbst wenig
vorher zur Verteidigung der Frauenquote anführte, dass „der eine Thomas den
anderen Thomas, der eine Michael den anderen Michael“ fördere und „Kontakte,
Beziehungen und Sympathien in festgefügten Netzwerken von Männern“ dazu
führten, dass ein Kreislauf entstünde, in den Frauen nicht eindringen könnten.
Diese Förderung von Personen, die einem ähnlich erscheinen, nennt die
Journalistin und Teilhabe-Expertin
Ferda Ataman „similar-to-me“ Effekt und weist daraufhin, dass das gleiche
Phänomen auch Menschen mit Migrationsgeschichte betreffe. In der SPD war die
Bereitschaft für ein weiteres umstrittenes antirassistisches Projekt wohl auch
deswegen gering, weil sie sich kurz zuvor durch das Mittragen des
Landesantidiskriminierungsgesetzes viel Kritik
in ihrer Wählerschaft eingehandelt hatte.
Raus aus der Defensive
Trotz des Gegenwinds wirkte die Debatte auch stärkend,
weil sich migrantisierte sowie sich antirassistisch positionierende Menschen
über die verschiedensten Zusammenhänge und Communities hinweg zu Wort meldeten,
Diskriminierung anprangerten und Teilhabe einforderten. Es entstand eine Art
Wettbewerb zwischen den sich als
offen verstehenden Parteien und Politiker*innen, wer mehr Menschen mit
Migrationsgeschichte in den eigenen Reihen habe. Dass es einen solchen
Wettbewerb gibt ist gut und zeigt, dass inzwischen auch
Entscheidungsträger*innen erkannt haben, dass sie sich anstrengen müssen, um
ihre Strukturen durchlässiger zu machen. Denn ohne Vielfalt und Teilhabe Aller
werden wir es weiter mit einem erheblichen Demokratiedefizit zu tun haben.
Als LINKE haben wir, wie auch einige Verbände,
versucht die hinter der Quotenforderung stehende Klassenfrage in der
Debatte stark zu machen. Schließlich sind Menschen mit Migrationsgeschichte
besonders häufig von prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen betroffen, haben
schlechtere Bildungs- und Aufstiegschancen als andere. Insofern sollte das
Gesetz mit seinen vielen Förderelementen auch einen sozialen Nachteislausgleich
darstellen und dazu beitragen Chancengleichheit herzustellen.
Die Debatte hat sich sehr stark auf die Quote
fokussiert. Andere wichtige Teilhabeaspekte des Gesetzes und gesellschaftliche
Schieflagen, die einen Nachteilsausgleich erforderlich machen, haben weniger eine
Rolle gespielt. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass vor allem
Zuspitzungen und Themen mit einem hohen Konfliktpotential medial durchdringen.
Für uns barg das die Gefahr, Erwartungen zu enttäuschen, falls wir uns nicht
durchsetzen.
Scheitern und Erfolg
Letztlich ist eine verbindliche Einstellungsquote am
Widerstand der SPD gescheitert. Dennoch sind wichtige Fortschritte erzielt
worden, die ohne die weitgehenden Vorschläge von Elke Breitenbach und der
Berliner LINKEN nicht möglich gewesen wären. Ähnlich zentral waren jedoch die
politische Bereitschaft auch öffentlich in den Konflikt zu gehen sowie der
Rückenwind und das Zusammenspiel mit der Berliner Stadtgesellschaft.
Statt einer einklagbaren Quotenregelung ist lediglich
eine Zielvereinbarung beschlossen worden, diese steht aber immerhin im Gesetz
statt bloß in Förderplänen. Dies ist insofern als Erfolg zu werden, als sie
sowohl für Einstellungen als auch bei der Ausbildungsplatzvergabe vorsieht, auf
allen Ebenen mindestens den Anteil von Personen mit „Migrationshintergrund“
abzubilden, der dem Berliner Bevölkerungsanteil entspricht. Außerdem wird eine
Dokumentationspflicht für Einstellungsverfahren eingeführt, welche die Defizite
transparent machen wird. Besonders wichtig für die Kontrolle der Umsetzung des
Gesetzes ist, dass endlich eine Rechtsgrundlage zur flächendeckenden auf
freiwilligen Angaben beruhenden Datenerhebung geschaffen wird, die transparent
machen wird, in welcher Besoldungsgruppe wie viele Menschen mit
„Migrationshintergrund“ beschäftigt sind. So können zielgenaue Maßnahmen
ergriffen und Förderpläne geschrieben werden. Schließlich wurde die Zielgruppe
des Gesetzes erweitert und erstmals die Begriffe „Menschen mit
Migrationsgeschichte“ und „rassistisch Diskriminierte“ in einem Partizipationsgesetz
eingeführt, die die zu fördernde Gruppe besser beschreiben.[7]
Verwaltungsbeschäftigte mit Migrationsgeschichte
werden regelmäßig anonym zu ihrer Situation und zu Diskriminierungserfahrungen
befragt, um Maßnahmen für eine diskriminierungsfreie Organisationskultur zu
entwickeln. Bei der Auswahl der Bewerber*innen wird nun sichergestellt, dass
mindestens so viele Menschen mit „Migrationshintergrund“ zu
Bewerbungsgesprächen eingeladen werden, wie es ihrem Bevölkerungsanteil
entspricht. Außerdem soll gezielt angeworben werden. Zur Umsetzung des Gesetzes
ist zusätzliches Personal vorgesehen und Berlin erfüllt eine langjährige
Forderung der Rom*nja und Sinti*zze Organisationen und bekommt einen „Beirat
für die Angelegenheiten der Roma und Sinti“. Der positive Begriff der
Partizipation wurde im Gesetz gestärkt, auch wenn es, wegen des Widerstands der
SPD, leider nicht gelungen ist, den Begriff „Integration“ vollständig aus dem
Gesetz zu streichen.[8]
Der Gesetzestitel lautet nun aber immerhin: „Gesetz
zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin
(Partizipationsgesetz – PartMigG)“ statt „Integrations- und
Partizipationsgesetz“.
Das Partizipationsgesetz
ist inzwischen im Senat beschlossen worden und derzeit stehen die Beratungen
dazu im Abgeordnetenhaus an, wo es erneut die Chance gibt unsere weitergehenden
Forderungen stark zu machen.
Aber schon jetzt ist viel erreicht worden und die
geführte Debatte kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wir sind bei der
Forderung nach mehr Teilhabe und Repräsentanz von Menschen mit
Migrationsgeschichte, von Schwarzen Menschen und Menschen of Color auch
diskursiv einen großen Schritt weitergekommen. Der Geländegewinn muss durch
Kämpfe der Selbstvertretungen, der progressiven Kräfte in Parteien und der
Gesellschaft weiter ausgebaut werden!
Fußnoten:
[1] Ein solcher besteht, wenn die betroffene Person selbst oder mindestens ein
Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht schon bei Geburt besaß (vgl.
§ 6 Mikrozensusgesetz).
[2] Später haben andere Bundesländer, wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg
und Bayern ähnliche Gesetze erlassen und auch in anderen Bundesländern wurde
darüber diskutiert.
[3] Neben dem von der Integrationsverwaltung in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten
von Doris Liebscher, „Möglichkeiten
zur Verbesserung der Chancen für Menschen mit
Migrationshintergrund/Migrationsgeschichte durch eine Novellierung des PartIntG
Berlin“ gehen auch Verfassungsrichterin Professorin Susanne Baer und
Professorin Nora Markard von der Verfassunsgemäßheit positiver Maßnahmen wie
der Einstellungsquote aus (vgl. Baer/Markard, Grundgesetz Kommentar Mangoldt
u.w., 2. Aufl., 2018, Art. 3, Rn. 422 ff.). Vgl. außerdem Dr. Ibrahim Kanalan, Weder
revolutionär noch eine Besonderheit – Verfassungsblog.
[4] Richtiger wäre es, die Quote und andere Fördermaßnahmen an dem Umstand der
gesellschaftlichen Diskriminierung festzumachen und entsprechend eher an
Kriterien wie „rassistisch diskriminierte Person“ oder zumindest „Person mit
Migrationsgeschichte“. So können etwa weiße Nordeuropäer*innen nach der
genannten Definition einen „Migrationshintergrund“ haben, sie sind aber deshalb
meist nicht von Diskriminierung betroffen. Für Schwarze Menschen, deren
Familien seit vielen Generationen in Deutschland leben und keinen
„Migrationshintergrund“ mehr haben, sind jedoch Rassismus und Diskriminierung
feste Größen in ihrem Alltag. Um Fördermaßnahmen wie eine Quote umsetzbar zu machen,
bedarf es aber einer statistischen Bezugsgröße. Repräsentatives Datenmaterial
liegt in Berlin und bundesweit bisher nur zum sogenannten Migrationshintergrund
vor, der daher der Quote als Anknüpfungspunkt dient (vgl. dazu auch Liebscher
2019).
[5] Siehe dazu in den folgenden Fußnoten sowie in DER
SPIEGEL, 26.1.2021; Tagesspiegel,
2.2.2021; ND,
18.1.2021; Verfassungsblog,
29.1.2021; BR
Podcast, 19.1.2021; Tagesspiegel,
24.1.2021; SZ.de, 5.2.2021; ZEIT
ONLINE, 26.1.2021; BZ,
23.1.2021;
ARD, 19.1.2021.
[6] Vgl. Abgeordnetenhaus, Plenarprotokoll 18/71 v. 28. Januar 2021, Seite 8452
ff., Plenum
- Protokoll (parlament-berlin.de); Elke
Breitenbach fasste die gesellschaftliche Debatte, die sich auch im
Parlament widerspiegelte, gut zusammen, indem sie auf den Reflex hinwies, „dass
Menschen mit Einwanderungsgeschichte per se ihre Eignung abgesprochen wird, in
den öffentlichen Dienst zu gehen – und zwar bis tief hinein in
Funktionärskreise von Parteien und Gewerkschaften“ und darauf, dass „ein
zutiefst rassistisches Denken in dieser Gesellschaft verankert“ sei (siehe: https://m.tagesspiegel.de/berlin/berliner-senatorin-verteidigt-migrantenquote-rassistisches-denken-ist-tief-in-unserer-gesellschaft-verankert/26840408.html).
[7] Der Begriff der „Menschen mit Migrationsgeschichte“ wird im Gesetz überall dort
verwandt, wo es nicht zwingend einer statistischen Bezugsgröße bedarf. Bei
Fördermaßnahmen die auf eine statistische Bezugsgröße angewiesen sind, wird der
Begriff der „Menschen mit Migrationshintergrund“ verwandt, zu dem
Vergleichsdaten im Hinblick auf den Bevölkerungsanteil vorliegen, siehe auch
Fußnote 4.
[8] Der Begriff „Integration“ suggeriert, dass es eine heterogene vorzufindende
Gesellschaft gäbe, in die sich (vermeintlich) Hinzugekommene integrieren
müssten, dabei muss es um die gemeinsame Gestaltung der vielfältigen
Gesellschaft gehen. Das Konzept der „Integration“ gilt in der
Diskriminierungsforschung daher auch weitgehend als überholt (vgl. z.B. Ein
Gesetz für die Berliner Stadtgesellschaft – Bericht der Evaluation des
Partizipations- und Integrationsgesetzes ist öffentlich - Berlin.de).
Elif Eralp ist Juristin und Mitglied im Landesvorstand der Berliner LINKEN. Sie war am Entwurf des im März 2021 auf den Weg gebrachten „Gesetzes zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin“ massgeblich beteiligt.
Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/teilhabe-fuer-alle