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#Selbstverwaltung #Feminismus
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Im Stadtteil Pikine Est der senegalischen Hauptstadt Dakar konnten Frauen mit Unterstützung des kommunalen Bürgermeisters ein Haus der Frauen gründen. In einer Stadt, wo es nur wenig Wohnraum gibt, bleibt für Frauen kaum Platz. Das bedeutet auch, dass Frauen keinen Ort haben, um Seifen herzustellen, zu schneidern oder andere Jobs zu verrichten, die sie brauchen, um ihr täglich Brot zu finanzieren. Das „Maison de femme“ bietet den Frauen des Stadtteils genau so einen Ort. Schnell wurden weitere Bedarfe erkannt und so kamen mit der Zeit eine Kita, Rechtsberatung und eine selbstorganisierte Gesundheitsversicherung hinzu. Auch wenn es an Geld und Material mangelt, ist das Haus der Frauen doch ein wichtiger Ort, wo Frauen sich organisieren und ihren Bedürfnissen nachgehen können.

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Die linke Stadtregierung von Barcelona en Comú hat 2017 ein Programm für eine „Sorgende Stadt“ aufgelegt. In dieser Studie werden Hintergründe und praktische Erfahrungen dargestellt. Die Autorinnen zeigen, dass es möglich ist, Erkenntnisse einer feministischen Ökonomiekritik auf kommunaler Ebene in konkrete Politiken zu übersetzen. Sie werten die in Barcelona gemachten Erfahrungen aus und stellen Werkzeuge und Überlegungen vor, die die Entwicklung ähnlicher Strategien in anderen Kontexten erleichtern können.

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Die vorliegende Studie zum Nationalen Integralen Care-Systems Uruguays (SNIC) blickt auf die konzeptionellen Grundlagen des Programms, die darin entworfenen Ziele, der institutionelle Aufbau und die angebotenen Dienstleistungen. Sie analysiert den Entstehungsprozess des SNIC mit Fokus auf die beteiligten Akteure – insbesondere aus der feministischen Bewegung – und diejenigen Elemente, die sich in der Umsetzung als innovativ und/oder als Herausforderungen erwiesen haben. Dabei stellt sich als eine zentrale Frage, ob und wie weit das SNIC dazu beigetragen hat, Geschlechterungleichheiten zu beseitigen.

Anhand abschließender Empfehlungen soll versucht werden, erste Schritte bei der Schaffung politischer Maßnahmen zur Care-Arbeit zu skizzieren und die Notwendigkeit darzulegen, diese mit anderen Politikbereichen zu verknüpfen, um eine feministische Ökonomie erreichen zu können.

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«Jedes Stadtviertel muss eine Einheit der Fürsorge bilden»

Die Kraft der vielen Frauen ermöglicht, bahnbrechende Projekte anzuschieben

März 2022 • Laura Pérez Castaño

8M in Barcelona / Foto:  Fotomovimiento via flickr

8M in Barcelona / Foto: Fotomovimiento via flickr

Feminismus, Rekommunalisierung, SorgendeStadt#Feminismus #Rekommunalisierung #SorgendeStadt

Laura Pérez Castaño ist stellvertretende Bürgermeisterin von Barcelona und Stadträtin für soziale Rechte, globale Gerechtigkeit, Feminismus und LGBTI. Sie hat viele verschiedene Initiativen gestartet, um neue Wege politischen Handelns zu gehen und transformative feministische Ansätze in allen politischen Bereichen zu implementieren. María del Vigo sprach mit ihr über Erfolge, Gelerntes und Herausforderungen auf diesem Weg.

Bei den jüngsten Wahlumfragen in Barcelona im Dezember 2021 lag Barcelona en Comú zum ersten Mal vor der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC). Was hat zu dieser Unterstützung geführt und wie lässt sich dieser Erfolg aufrechterhalten?

Die Umfragen müssen mit einer gewissen Distanz betrachtet werden, aber eine positive Tendenz ist weiterhin erkennbar. Die politischen Ziele von Barcelona en Comú scheinen bis zu einem gewissen Grad mit den Bedürfnissen der Menschen vor Ort übereinzustimmen.

Ich glaube, dass es uns im Stadtrat gelungen ist, Forderungen der Bevölkerung Barcelonas aufzugreifen, etwa beim Thema Mobilität. Wir haben uns klar fürs Fahrrad, für Fußgänger*innen sowie für verkehrsberuhigte Bereiche im Umfeld von Schulen ausgesprochen. Das sind zum Teil kontroverse Themensetzungen, die zu Ablehnung hätten führen können. Die Wahlumfragen bestätigen jedoch, dass die Mehrheit und wir den gleichen Weg verfolgen.

In ökonomischer Hinsicht geht es Barcelona etwas besser als anderen großen Städten. Und ich glaube, dass das soziale Engagement des Stadtrats von den Bürger*innen sehr geschätzt wird.

Sie haben Initiativen gestartet, die städtische Politik betreffen, aber auch solche, mit denen die Präsenz von Frauen in den internen Strukturen von Barcelona en Comú gestärkt werden soll. Was von beidem hat Ihnen mehr Kopfzerbrechen bereitet?

Ohne Zweifel die städtische Politik. Ich möchte nicht behaupten, dass die interne Stärkung der Position von Frauen nicht schwierig ist. Aber Barcelona en Comú ist eine Organisation, in der es sehr viele aktive und engagierte Bündnisse gibt, die dafür sorgen, dass Feminismus in den Grundfesten der Politik verankert ist.

Die Ausgangslage bei der Verwaltung städtischer Belange ist eine ganz andere. Du magst über Bündnisse innerhalb und außerhalb des Stadtrates verfügen, aber der Apparat an sich ist schwerfällig, patriarchal und unglaublich hierarchisch aufgestellt. Gegen diese Dynamiken anzukämpfen, ist sehr viel komplexer.

Ich muss auch gestehen, dass es bei unserem Amtsantritt 2015 für andere nicht einfach war, sich gegen eine feministische Politik zu stellen. Wenn du auf den Rathausplatz hinausgegangen bist, hast du den enormen gesellschaftlichen Druck und die Kraft der vielen Frauen gespürt. Die haben klar gemacht, dass dies deine Priorität sein muss. Wir haben bahnbrechende Projekte angeschoben, und es gab schon Leute, die nicht mitgemacht haben oder wenig Interesse daran hatten. Aber wir mussten keine verschlossenen Türen aufbrechen.

Ciudad Cuidadora (Fürsorgliche Stadt) ist eine sehr ambitionierte Initiative, angeleitet von Ihrem Stadtratsamt. Was ist das für ein Projekt?

Eine der großen Herausforderungen für den Feminismus liegt heute im Bereich der Wirtschaft, denn das herrschende Wirtschaftsmodell basiert maßgeblich auf strukturellen Geschlechterunterschieden, die wir beseitigen müssen. Im Zentrum des Projekts «Barcelona Cuidadora» steht die CareArbeit, einer der Bereiche mit dem größten Anteil an Frauen und mit sehr prekären Arbeitsbedingungen.

Das Projekt verfolgt zwei Ansätze: Zum einen geht es darum, Frauen zu entlasten, die unbezahlte Pflegearbeit leisten. Zum anderen werden Frauen unterstützt, die einer bezahlten Pflegearbeit nachgehen. Das sind meist Migrantinnen, die es anderen Frauen ermöglichen, beruflich voranzukommen – auf Kosten ihrer eigenen Arbeitsbedingungen.

Das Projekt startete 2017. Wie hat sich die Pandemie auf Ciudad Cuidadora ausgewirkt? Gibt es größeren Bedarf an Care-Arbeit oder haben wir bloß verstanden, was es heißt, sie zu leisten, weil wir zu Hause geblieben sind und damit konfrontiert waren?

Die Lehren, die wir daraus ziehen, sind nachhaltig. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Sobald strikte Ausgangssperren aufgehoben werden, geben die, die es können, Care-Arbeit wieder an andere ab. Das ist so, weil Pflegearbeit kaum gesellschaftlichen oder ökonomischen Wert hat. Wir müssen Lehren aus der Pandemie ziehen und darüber nachdenken, wie wir der Pflegearbeit auf politischem Wege zu mehr Wertschätzung verhelfen.

Neben der Ausweitung der Online-Betreuung und der Anpassung unserer Angebote an die Bedürfnisse der Bevölkerung – berücksichtigend, dass nicht alle auf gleiche Weise von der Pandemie betroffen sind – haben wir dieses Jahr ein weiteres Projekt gestartet: die «Supermanzanas» (Quartiersfürsorgesysteme). Ziel des Projektes ist es, dass jegliche Pflegedienstleistungen innerhalb von zehn Minuten erreichbar sind. Deine häusliche Pflegekraft sollte beispielsweise nicht morgens am einen Ende der Stadt und abends am anderen arbeiten, sondern immer in deinem Viertel, also auch immer dieselbe sein. Dank der Lehren, die wir aus der Pandemie gezogen haben, als benachbarte Stadtviertel nicht besucht werden konnten, organisieren wir die Pflegearbeit heute ganz neu. Die unmittelbare räumliche Nähe von Pflegekräften ist sehr wichtig und jedes Viertel muss eine Einheit der Fürsorge bilden.

Ein weiterer großer Kampf der europäischen Linken ist der Zugang zu Wohnraum. Dieses Recht zu gewährleisten, ist nach wie vor eines der Ziele des Stadtrates. Wo überschneiden sich Wohnungs- und Geschlechterpolitik?

Es gibt keine feministische Politik, wenn wir nicht über die Wohnungspolitik sprechen. Das Recht auf Stadt geht Hand in Hand mit dem Recht auf Wohnen. Leider ist das heute in Barcelona nicht der Fall. Wenn wir den Etat im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gesichtspunkte analysieren, zeigt sich allerdings, dass Wohnraumpolitik mit am besten abschneidet.

Zurzeit baut Barcelona 2.300 Wohnungen. Zudem haben wir Wohnraum erworben, saniert und auf den Markt gebracht. Außerdem haben wir im Rahmen eines Programms für zeitlich begrenztes Wohnen in unmittelbarer Nähe eine ganze Reihe von APROPs errichtet. Das sind modulare Gebäude, die in acht Monaten aus Schiffscontainern hergestellt werden können. Von den nächsten beispielsweise wird die Hälfte an alleinerziehende Mütter gehen, weil die Mieten für sie zu teuer sind. Momentan betragen die Ausgaben für Wohnraum in Barcelona im Schnitt 23 Prozent des Einkommens, bei alleinerziehenden Müttern sind es 64 Prozent. Wohnungspolitik muss insbesondere die Situation von Frauen berücksichtigen und entsprechende Unterstützung bereitstellen.

Feministische Bewegungen und recht viele Institutionen reden von der Notwendigkeit, eine feministische Perspektive in allen Bereichen der Politik mitzudenken. Das ist ja eines Ihrer Hauptanliegen. Wie weit sind Sie gekommen?

Wenn wir über Jugend, Gesundheit oder Sport sprechen, sollten geschlechtsspezifische Fragen nicht losgelöst davon behandelt werden. Abgesehen davon gibt es viele interne Instrumente, die sich bewährt haben, um feministische Werte in den Institutionen zu verankern. Sie sind nicht besonders sichtbar, wie die Steuerberichte, die wir anfertigen lassen, aber sie helfen uns sehr. Die Berichte über Einkommensunterschiede im Stadtrat von Barcelona haben uns zum Beispiel geholfen, viele Verbesserungen zu erreichen, die sonst nicht möglich gewesen wären. Es ist richtig, dass ich mich mit diesem Bericht selbst stark unter Druck gesetzt habe, weil ich der Opposition damit ein Werkzeug an die Hand gegeben habe, aber ich habe auch erreicht, dass sich die Arbeitsbedingungen von Frauen verbessert haben.

Was die Struktur betrifft, so arbeiten 12 Personen im Gender-Mainstreaming-Team. Wir haben außerdem Gender-Referate in allen Abteilungen des Stadtrats. Und es wird sie in allen Bezirken geben. Solche Maßnahmen sind kaum sichtbar, aber sie sind unbedingt erforderlich, um Gender-Mainstreaming wirksam zu machen.

Foto:  Fotomovimiento via flickr

#Feminismus #Rekommunalisierung #SorgendeStadt

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Laura Pérez Castaño ist stellvertretende Bürgermeisterin von Barcelona und Stadträtin für soziale Rechte, globale Gerechtigkeit, Feminismus und LGBTI. Sie hat viele verschiedene Initiativen gestartet, um neue Wege politischen Handelns zu gehen und transformative feministische Ansätze in allen politischen Bereichen zu implementieren. María del Vigo sprach mit ihr über Erfolge, Gelerntes und Herausforderungen auf diesem Weg.

8M in Barcelona / Foto: Fotomovimiento via flickr

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Im Sommer und Herbst 2021 hat es die von ver.di initiierte Berliner Krankenhausbewegung geschafft, mit ihren Streiks in den beiden größten landeseigenen Krankenhäusern Charité und Vivantes und bei den Tochterunternehmen von Vivantes für Schlagzeilen zu sorgen. Sie hat damit die Berliner Gesundheitsversorgung in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die Beschäftigten forderten Entlastung in den Krankenhäusern und die Bezahlung nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Diensts (TVöD) für die ausgegliederten Bereiche. Sie prangerten damit auch die Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern an, den Personalmangel in der Pflege, Zeitdruck und Arbeitsverdichtungen sowie die damit einhergehende Gefährdung der Patient*innen.

Innerhalb dieser Debatte bleiben die Auswirkungen auf die inhaltliche Ausgestaltung der Arbeit dabei mitunter außen vor. Mit der vorliegenden Broschüre wollen wir den Blick darauf lenken, warum es immer zuerst menschliche Bedürfnisse nach emotionalem Beistand, nach Betreuung von der ersten bis zur letzten Wehe oder einem Händedruck in Zeiten der Not sind, für die die Kapazitäten nicht reichen.

  • #Pflege
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#Feminismus #Gewerkschaft
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«Mehr braucht mehr!» - Unter diesem Motto geht die Gewerkschaft ver.di in diesem Frühjahr in die Auseinandersetzung für die Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten. Ihre Forderungen liegen auf dem Tisch - und mit ihnen die Hoffnung, zusammen mit feministischen Bewegungen für eine Aufwertung von Sorgarbeit zu streiten. Denn 83% der Beschäftigten in diesem Bereich sind weiblich. Sie stemmen unter oft schwierigen Bedingungen einen Löwenanteil der Arbeit in den Kitas und Horten, in der sozialen Arbeit und den Behinderteneinrichtungen. «Mehr braucht mehr» heißt für die Beschäftigten: mehr Verantwortung braucht mehr Personal, mehr Bildung braucht mehr Fachkräfte, mehr Verantwortung braucht mehr Gehalt!

Der Kampf um eine Aufwertung und Umverteilung von Sorgearbeit wird von feministischen Bewegungen schon lange geführt. Er ist nicht zu trennen vom Kampf für ausreichende und gute Kitas, soziale und Behinderteneinrichtungen und damit auch für mehr Freiheit vor allem für jene, denen Care-Arbeit wegen ihres Geschlechts ‚zugeschoben’ wird. Die Tarifauseinandersetzung, in der ver.di das Bündnis sucht, verspricht ein spannendes Möglichkeitsfenster zur Verschränkung gewerkschaftlicher und feministischer Kämpfe in einem Bereich feminisierter Arbeit.

Wie kann eine produktive Verbindung von Arbeitskampf und feministischer Bewegungen am 8. März und darüber hinaus gelingen? Eröffnet die Tarifrunde die Möglichkeit eines feminist turn der Gewerkschaften und eines union turn feministischer Bewegungen? Wie kann eine Unterstützung des Arbeitskampfes konkret aussehen – und wie können auch feministische Bewegungen davon profitieren?

Diese Fragen diskutieren Christine Behle, stellv. ver.di-Vorsitzende, als Stimme aus der Gewerkschafts- und Carolin Wiedemann als Stimme aus der queer-feministischen Bewegung.

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Sorgende Städte

Ein Plädoyer für eine kommunale Sorgepolitik.

Februar 2022 • Barbara Fried • Alex Wischnewski

Phil Hearing / unsplash

Phil Hearing / unsplash

Rekommunalisierung, Feminismus, SorgendeStadt#Rekommunalisierung #Feminismus #SorgendeStadt

Die erfolgreiche Kampagne von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« strahlt über Berlin hinaus. An vielen Orten formieren sich Bündnisse, um wichtige Teile der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand zurückzuholen. Denn nach Jahren zerstörerischer Privatisierungspolitik ist offensichtlich, dass diese nicht länger dem Markt überlassen werden können. Nicht zufällig finden viele dieser Kämpfe im Bereich sozialer Reproduktion statt. Geht es bei Wohnraum, Krankenhäusern, Energieversorgung oder Nahverkehr doch um Infrastrukturen, die zum einen unverzichtbar sind und zum anderen nur lokal genutzt werden können. Das sich dort verwertende Kapital kann den Standort nicht einfach verlagern – entsprechend sind die Bedingungen für Kämpfe um Rekommunalisierung oder Vergesellschaftung tendenziell günstiger (vgl. Hoffrogge 2021).

Gleichzeitig hat die Pandemie einmal mehr ins Bewusstsein gerufen, welche gesellschaftlichen Arbeiten im engen Sinne »systemrelevant« sind und folglich als »sozialisierungsreif« gelten müssen. Neben den genannten sind das vor allem Pflege, Erziehung, Ernährung, Reinigung und Betreuung, all jene Tätigkeiten also, die typischerweise von Frauen und zu großen Teilen im privaten Haushalt erledigt werden.

Das gesamte Feld der Sorgearbeiten zu vergesellschaften, steht jedoch bisher nicht auf der Agenda von Anti-Privatisierungs-Bündnissen. Warum ist das so? Warum wäre es nötig? Und wie könnten Projekte oder Kampagnen für eine »Sorgende Stadt« entstehen, die eine Vergesellschaftung aller Care-Arbeiten vorantreiben?

 

Sorgen mit der Sorge

Care-Arbeit gilt unter kapitalistischen Verhältnissen als privat und als »Frauensache«. Historische Kämpfe für eine Professionalisierung waren zwar durchaus erfolgreich, dennoch liegt der riesige Bereich unentlohnter, häuslicher Sorge-Arbeiten weiterhin in der Verantwortung der Einzelnen.[1] Hinzu kommt, dass mit den neoliberalen Politiken die Löhne, Arbeits- und Reproduktionsbedingungen der Haushalte unter Druck geraten sind. Professionelle Angebote können den Bedarf, der dadurch entsteht, dass Frauen inzwischen mehrheitlich erwerbstätig sein müssen, kaum mehr decken. Denn auch hier haben Marktsteuerung und Ökonomisierung die Bedingungen verschlechtert: Es fehlt eigentlich in allen Bereichen sozialer Dienstleistungen an qualifiziertem Personal und an bedarfsdeckenden Angeboten. In der Konsequenz wird Sorge erneut und zwar doppelt ins Private verschoben. Manche Lücken können dadurch gestopft werden, dass Babysitting, Nachhilfe, Reinigungsdienste oder 24-Stunden-Pflege formell oder informell und häufig zu schlechten Bedingungen eingekauft werden. Wer sich das nicht leisten kann, muss sich auf Familienangehörige oder soziale Netzwerke verlassen. Die finanziellen und die emotionalen Kosten werden in beiden Fällen individualisiert. Während der Corona-Krise war dies täglich zu beobachten: Alleinerziehende verloren ihre Jobs, alte Menschen vereinsamten und vor allem Frauen erledigten Bildung, Erziehung und Erwerbsarbeit vom heimischen Küchentisch aus. Die Krise im Bereich sozialer Reproduktion spitzt sich zu und sie betrifft wachsende Bevölkerungsteile (Winker 2015). Bisherige Notlösungen kommen an ihre Grenzen.

 

Das Private ist (noch nicht) politisch

Die Tatsache, dass Care-Arbeit in privater Verantwortung liegt und in der scheinbar natürlichen Zuständigkeit von Frauen, macht Veränderungen in diesem Bereich seit jeher kompliziert. Räumliche Vereinzelung, mangelnde Organisierungserfahrung und fehlende Produktionsmacht machen es denen, die unbezahlt oder prekär Sorgearbeit leisten, oft schwer, sich zu wehren und bessere Bedingungen einzufordern – sei es mehr Geld oder eine Umverteilung der Arbeit.

Hinzu kommt, dass der Gegner in diesem Kampf weniger leicht auszumachen ist als etwa in der Mietenpolitik, wo finanzialisierte Wohnungsunternehmen eine klarere politische Angriffsfläche bieten. Vielmehr verläuft eine Spaltungslinie durch die Klasse hindurch. Die herrschenden Geschlechterverhältnisse sowie Unterschiede im Aufenthaltsstatus und beim Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren die Bildung eines handlungsfähigen Kollektivsubjekts. Denn Teile der Klasse profitieren durchaus von den aktuellen Arrangements oder haben zumindest ein weniger dringliches Veränderungsinteresse: Die schlecht bezahlte oder unbezahlte Care-Arbeit von anderen macht es ihnen im bestehenden System leichter, ihre eigene Reproduktion zu organisieren.

Dabei läge eine echte Chance darin, Anti-Privatisierungskämpfe auf das gesamte Feld der Sorge auszuweiten und dies als strategischen Ansatzpunkt verbindender Klassenpolitiken zu entwickeln. Auseinandersetzungen in der professionellen Sorge-Arbeit – vor allem in der Pflege – konnten in den letzten Jahren beachtliche Erfolge erzielen. Warum nicht hier gemeinsam nächste Schritte gehen? Feministische und antirassistische Anliegen sowie Kämpfe um gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit können sich dabei gegenseitig verstärken – und zwar mit einer klaren Transformationsperspektive: Ein Infrastruktursozialismus (vgl. Candeias u. a. 2020), der nicht nur professionelle, sondern auch private Sorge in gesellschaftliche Verantwortung nimmt, entzieht dem profitgetriebenen und heteronormativ-patriarchalen System die Grundlage. Er stellt ihm die Orientierung auf ein gutes Leben für alle entgegen.

Eigentumsordnung stürzen – Geschlechterverhältnisse aufheben

Eine Sozialisierung des Care-Bereichs wirkt in einem doppelten Sinne: Vergesellschaftung zielt darauf, wichtige gesellschaftliche Sektoren gemeinwirtschaftlich zu organisieren und die Eigentumsordnung als ein zentrales Moment von Klassenverhältnissen umzuwälzen. Im Fall der Sorgearbeit bedeutet es, nicht nur das Privateigentum an Krankenhäusern etc. und die marktförmige Organisation von Altenpflege, Kinderbetreuung oder haushaltsnahen Dienstleistungen aufzuheben, sondern auch und insbesondere Care-Arbeit aus der privaten Regulierung innerhalb der Haushalte sowie aus der damit historisch eng verschränkten geschlechtlichen Zuweisung zu befreien.

Die Vergesellschaftung von Sorge zielt also auch darauf, eine geschlechtliche Arbeitsteilung hinter sich zu lassen, die eine binäre Anordnung von Geschlecht erst nach sich zieht und damit eine wesentliche Grundlage hierarchischer und heteronormativer Geschlechterverhältnisse bildet. Der Sorgebereich muss also auch in diesem Sinne sozialisiert werden: Care-Tätigkeiten können nicht länger Frauen (unentloht und im Privaten) überantwortet werden, da ihnen dadurch häufig (ökonomische) Unabhängigkeit und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten genommen werden. Was ansteht, ist in Anlehnung an Janine Brodie also eine »doppelte Ent-Privatisierung«.

 

Care in gesellschaftlicher Verantwortung

Aber was genau würde es heißen, Sorge in gesellschaftliche Verantwortung zu nehmen und sie damit demokratisch zu reorganisieren? Zunächst muss es darum gehen, neue öffentliche Infrastrukturen auf- und auszubauen. Wir brauchen mehr Kitas, Stadttteil-, Familien- und Gesundheitszentren, Pflegestützpunkte, Großküchen, Jugend- und Obdachlosentreffs. Diese sind so einzurichten, dass sie ganz unterschiedliche und sich über den Lebenslauf verändernde Bedürfnislagen berücksichtigen. Eine One-Fits-All-Sozialpolitik war gestern. Wir brauchen Arrangements, die auch auf besondere Bedürfnisse und lokale Bedingungen eingehen und die einen Zugang für bislang häufig vergessene Bevölkerungsgruppen ermöglichen. Das betrifft etwa queere oder Mehr-Eltern-Familien oder Care-Communities sowie eine umfassende Krankenversorgung für Menschen ohne Papiere oder für Transpersonen. Entsprechend ist es zentral, auch Selbstorganisierung und kollektive Lösungen mit öffentlichen Geldern praktisch zu unterstützen, ohne sie – wie aktuell durch die Förderung von »Ehrenamt« – als Lückenfüller für mangelhafte öffentliche Angebote zu instrumentalisieren (Haubner 2017).

Die Vergesellschaftung von Sorge bedeutet also längst nicht nur einen Eigentumswechsel von privat zu öffentlich, nicht »Verstaatlichung« allein (vgl. Candeias u. a. in diesem Heft). Vielmehr geht es um die gesellschaftliche Verfügung der Vielen über die Bedingungen sozialer Reproduktion. Das setzt voraus, dass der tatsächliche gesellschaftliche Bedarf ermittelt wird – zum Beispiel in Form einer demokratischen Planung unter Beteiligung aller, die davon betroffen sind. Geeignete Beratungs- und Entscheidungsstrukturen etwa in Form lokaler Care-Räte, in denen diejenigen sitzen, die mitentscheiden sollen, müssten erst entwickelt werden (vgl. Buckmiller in diesem Heft). All das kann schließlich nur gelingen, wenn es auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung insgesamt gibt. Nur durch eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeit kann Sorgearbeit geleistet werden, ohne Erschöpfung zu produzieren.

 

»Sorgende Stadt« – Warum nicht?

Gute Sorgestrukturen müssen vor Ort verfügbar sein. Auch wenn sie kollektiv oder gemeinwirtschaftlich organisiert werden, sollen sie im sozialen Nahraum bleiben. Für all jene, die sich gegen Privatisierungen auf lokaler Ebene einsetzen, kann die »Sorgende Stadt« eine Vision, ein produktives Leitbild sein, das verschiedene Ansätze, Ansprüche und Akteur*innen zusammenbringt. Es ist zu klären: Wie können kommunale und freigemeinnützige Träger, Beschäftigte, Nachbar*innen und lokale Politik zusammenarbeiten und wohnortnahe Sorgestrukturen entwickeln? Wie können die vorhandenen Infrastrukturen demokratisch umgebaut und unter kollektive Kontrolle gebracht werden? Wie muss eine Stadt konkret aussehen, die sich an den Bedürfnissen aller ihrer Bewohner*innen ausrichtet? Wie können wir vor Ort ansetzen, um die Logik der Privatisierung zu brechen und Einstiege in ein feministisches und sozialistisches Transformationsprojekt zu finden?

 

Vorkämpfer*innen aus der ganzen Welt

Die gute Nachricht ist: Es gibt bereits Ansätze und Erfahrungen, von denen sich lernen lässt und die für hiesige Projekte fruchtbar gemacht werden können. Die interessantesten Beispiele stammen aus den munizipalistischen Bewegungen im spanischen Staat.

 

Barcelona

Die linke Stadtregierung von Barcelona en Comú legte 2017 als eine wesentliche Säule ihres »rebellischen Regierens« ein »Maßnahmenpaket für eine Demokratisierung der Sorge in der Stadt Barcelona« vor.[2] Es stützt sich auf Erkenntnisse eines marxistischen Feminismus, der auch die ökonomische Bedeutung von Care-Arbeit für Volkswirtschaften betont. Entsprechend zielt das Maßnahmenpaket darauf, Sorgearbeit ins Zentrum einer kommunalen Wirtschaftspolitik zu stellen, statt sie entweder als Privatangelegenheit oder lediglich als Aspekt einer paternalistischen und tendenziell passivierenden Sozialpolitik zu behandeln. Wirtschaftspolische Maßnahmen sollten entsprechend über Fragen der Unternehmens- und Arbeitsmarktpolitik hinausgehen, auf den gesamten (auch unentlohnten) Care-Sektor ausgeweitet werden und Ansätze einer solidarischen Ökonomie, der Selbstorganisierung und von Genossenschaften privilegieren. So lasse sich auch einer zunehmenden Feminisierung von Armut entgegentreten.

Um einen echten Paradigmenwechsel auch mit Blick auf das Verwaltungshandeln zu ermöglichen, siedelte Bürgermeisterin Ada Colau die Ausarbeitung des Maßnahmenpakets strategisch nicht im Bereich Feminismus an, sondern übertrug sie dem Dezernat für »Gemein-, Sozial- und Solidarwirtschaft«, das eng mit dem Bereich »Arbeit- und Wirschaftspolitik« kooperierte. Unter Beteilung aller anderen betroffenen Ressorts sollte ein »Präzedenzfall für eine öffentliche Sorgepolitik« (Ezquerra/Keller 2022, 4) geschaffen werden, die alle Care-Bereiche einschließt und vorsieht, sie auf die verschiedenen Akteure – also Staat, Markt, Privathaushalte und gemeinwirtschaftliche Strukturen – neu zu verteilen. Im Kern ging es darum, konkrete Verbesserungen im Alltag mit dem Fernziel einer geschlechtergerechten Sorgeökonomie zu verbinden.

Die meisten Projekte des 68 Einzelmaßnahmen umfassenden Plans betreffen eine »Sozialisierung der Sorgearbeit« (ebd., 16) und sind darauf gerichtet, neue öffentliche Infrastrukturen wie Familienzentren und Krippen zu schaffen, bestehende auszubauen und den Zugang für vulnerable Gruppen zu erweitern. Eine neu eingeführte »Care-Karte« (tarjeta cuidadora) entlastet beispielsweise Menschen mit besonderer häuslicher Sorgeverantwortung durch einen privilegierten Zugang zu städtischen Sorge-Infrastrukturen und sozialen Diensten. Ein weiteres Maßnahmenbündel zielt darauf ab, gemeinwirtschaftliche Projekte sowie Initiativen der Selbstorganisierung logistisch und finanziell zu unterstützen, etwa Mehrgenerationenhäuser. Schließlich soll über veränderte Vergaberichtlinien auch auf private Träger insbesondere in der Altenpflege eingewirkt werden, um die dortige Qualität der Pflege und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Um diesen Umbau konkret anzuleiten und entsprechend durch Öffentlichkeitsarbeit zu begleiten, wurde in jedem Stadtbezirk eine Stelle für eine*n Fachreferent*in für Care-Ökonomie geschaffen.

Als Manko wird betrachtet, dass keine der Maßnahmen explizit eine Rekommunalisierung der derzeit profitwirtschaftlich organisierten Unternehmen, insbesondere in der Altenpflege, vorsah.

 

Madrid

Ähnliche Ansätze verfolgten andere munizipalistische Stadtregierungen im spanischen Staat. So verabschiedete in Madrid die von dem Parteienbündnis Ahora Madrid angeführte Linksregierung in ihrer Amtszeit (2015 bis 2019) einen ähnlichen Aktionsplan mit dem Titel »Stadt der Sorge« (»Ciudad del Cuidado« 2015).[3] Mit dem Ziel, Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, setzte er ebenfalls darauf, die gesellschaftliche und kommunale Verantwortung für Sorgearbeit zu stärken. Neben einer Umverteilung von Sorgearbeit und einer Verbesserung der Angebote fokussierte der Plan insbesondere auf Fragen demokratischer Teilhabe und in diesem Sinne auch auf die Unterstützung lokaler Selbstorganisierung. Bereits bestehende soziale Praxen und Initiativen geteilter Sorgearbeit erhielten praktische Hilfe, um ihre Arbeit weiterzuentwickeln. Beispielhaft steht dafür ein Modellprojekt gegen »nicht selbst gewählte Einsamkeit«. Um die soziale Isolation von Menschen zu überwinden, wurden gezielt nachbarschaftliche Beziehungen und soziale Netzwerke im Stadtteil gefördert. Damit soll das gesamte soziale Gefüge gestärkt werden, ausgehend von der Annahme, dass (basis-)demokratische Entscheidungsprozesse und eine partizipative Bedarfsplanung als Momente einer »Sorgenden Stadt« ohne ein solches nicht funktionieren können.

Der Madrider Aktionsplan umfasste außerdem verschiedene Projekte und Initiativen einer feministischen Stadtplanung. Eine geschlechter- und sorgesensible Gestaltung der Stadt transformiert auch die Nutzung des öffentlichen Raums, was wiederum Veränderungen im Alltag der Menschen und in ihren sozialen Beziehungen ermöglicht: Eltern lernen sich etwa auf dem Spielplatz kennen. Wenn dieser nicht in einem abgegrenzten Eck versteckt ist, sondern integraler Teil eines Stadtplatzes oder Parks, in dem es auch Angebote für andere Generationen und Gruppen gibt, kommen die Eltern auch mit Nachbar*innen und älteren Menschen in Kontakt. Breite und ausgeleuchtete Wege mit einsehbarer Begrünung geben insbesondere Frauen und queeren Menschen ein besseres Sicherheitsgefühl. So können sie sich freier bewegen und den öffentlichen Raum für sich nutzen. Eine feministische Stadt- und Verkehrsplanung (vgl. Alljets 2020) kann nicht nur die Lebensqualität von marginalisierten oder vulnerablen Gruppen verbessern, sondern auch andere soziale Beziehungen möglich machen. Sie kann eine Basis sowohl für geteilte Sorgearbeit jenseits öffentlicher Infrastruktur als auch für direktdemokratische Mitbestimmung und Planung bilden.

 

Lateinamerika

Auch in Lateinamerika finden im Anschluss an die feministischen Mobilisierungen der letzten Jahre verstärkt Debatten um Sorgeverhältnisse und die Bedingungen sozialer Reproduktion statt – zuletzt auch unter dem Begriff »Sorgende Städte«. Sie schlagen sich teils in kommunalen, teils in bundesstaatlichen Politiken nieder. So haben sich Initiativen mit unterschiedlichen Schwerpunkten gegründet, die auf eine Wiederaneignung der zum Leben notwendigen sozialen Infrastrukturen zielen: In Valparaíso wie auch in anderen Städten Chiles konnten durch die Selbstorganisierung von Nachbar*innen in Zusammenarbeit mit der linken Stadtverwaltung Apotheken eingerichtet werden, in denen wichtige Medikamente weit unterhalb des Marktwerts angeboten werden.[4] In einem ähnlichen Zusammenspiel von Initiativen von unten und linker Politik wird im argentinischen Rosario derzeit eine ehemals informelle und von Räumung bedrohte Siedlung zu einem voll angebundenen Stadtteil mit Wasseranschluss, Kanalisation und Internet sowie sozialer Infrastruktur (wie Schulen, Parks und Sportplätzen) ausgebaut. Finanziert wird dies aus Mitteln des Bundes, die aus einer einmaligen Abgabe auf große Vermögen stammen, die die neue Mitte-links-Regierung erhoben hat. Entworfen, geplant und begleitet wird das Projekt von den Bewohner*innen in Kooperation mit der dezidiert feministischen Bewegungspartei Ciudad Futura (Stadt der Zukunft), die im Stadt- und Landesparlament vertreten ist.

An vielen Orten entsteht ein Zusammenwirken von Selbstermächtigung, Organisierung, Mitbestimmung, Infrastrukturen und staatlichen Programmen, die die Inititaiven unterstützen und finanzieren. Es geht darum, Ressourcen umzuverteilen statt Selbstverwaltung, wie so oft, lediglich mit dem Ziel zu initiieren, staatliches Versagen oder Lücken über kostengünstige Alternativen zu kompensieren. So können auch andere Ebenen staatlicher Politik einbezogen werden, sei es bei Initiativen zur Verkürzung von Erwerbsarbeitszeit oder bei Transfer- oder Rentenleistungen, die auf unterschiedliche Art die Möglichkeiten für Sorgetätigkeiten beeinflussen.

In Ländern wie Uruguay oder Argentinien wurde und wird daher von den Mitte-links-Regierungen auch auf Bundesebene an »integrierten Sorgestrukturen« (Sistemas integrales de Cuidados) gearbeitet. Bestehende Angebote werden ausgebaut und besser verzahnt. Indem unbezahlte Sorgearbeit mitberücksichtigt wird, können einerseits die Angebote passgenauer gestaltet und andererseits Defizite ausgeglichen werden. In Uruguay wurden in diesem Zusammenhang etwa eine Zeitverwendungsstudie in Auftrag gegeben, die häusliche Care-Arbeit einschließt, eine Kampagne zur geschlechtlichen Arbeitsteilung initiiert und die unbezahlte Sorgearbeit in ein erweitertes Bruttoinlandsprodukt eingerechnet, um zunächst öffentliche Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, wie wichtig Sorgearbeit für die Gesellschaft und wie sehr diese als »Frauenarbeit« abgewertet ist. In beiden Ländern sind staatliche Pläne in enger Kooperation mit lokalen Akteur*innen entstanden und mit entsprechenden Bedarfsermittlungen verbunden.

 

Ist das Gras woanders grüner?

Erste Erfahrungen mit kollektiver Mitbestimmung im Bereich der Daseinsvorsorge gibt es auch in Deutschland. Ansätze für Care-Räte stecken zwar noch in den Kinderschuhen, entwickeln aber – wie beispielsweise in Freiburg[5] – ausbaufähige Ideen, wie sich Organisierungsansätze und demokratische Bedarfsplanung verbinden lassen. Im Unterschied dazu haben zivilgesellschaftliche Ernährungs- und Klimaräte in einigen Städten und Gemeinden bereits eine institutionalisierte Kooperation mit Politik und Verwaltung in Form eines Beirats erreicht. Eine Orientierung für die Demokratisierung von Sorgestrukturen bietet das IniForum in Berlin[6] – ein unabhängiger Zusammenschluss von mietenpolitischen Initiativen, der von der Senatsverwaltung finanziell gefördert wurde.[7] Ziel war es, unabhängige Strukturen aufzubauen, die dennoch institutionalisierten Einfluss auf parlamentarische Politik nehmen können, etwa im Rahmen von regelmäßigen Hearings.

Alle diese Strukturen verfügen jedoch nicht über verbriefte Entscheidungskompetenzen. Wie der erfolgreiche, aber immer noch folgenlose Berliner Volksentscheid »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« erst jüngst in Erinnerung gerufen hat, muss die Verbindlichkeit direktdemokratischer Elemente gestärkt werden. 

 

Aktionsplan

Politisch trifft das Projekt einer »Sorgenden Stadt« in Deutschland also nicht auf unbeackertes Terrain. Seit einigen Jahren mehren sich Proteste und Selbstorganisierungen rund um das Care-Thema: von gewerkschaftlichen Streiks in der Pflege oder Sozial- und Erziehungsdiensten über Aktionsbündnisse für bessere Bedingungen in der Altenpflege bis zu Medi-Büros, die Illegalisierten Zugang zu medizinischer Versorgung verschaffen, von Stadtteil-Gesundheitszentren (Polikliniken), die auch die sozialen Faktoren von Gesundheit berüchsichtigen, bis hin zum feministischen Streik, der auch Privathaushalte einschließt. Viele von ihnen hatten sich bereits 2014 zur Aktionskonferenz »Care Revolution« zusammengefunden und ein Netzwerk gegründet, in dem lokale Aktionen verbunden und überregionale Kampagnen angestoßen werden.[8]

Auch hierzulande können konkrete Ansätze und Ideen zu einer Vergesellschaftung der Daseinsvorsorge jeweils lokal in einem Aktionsplan »Sorgende Stadt« gebündelt werden: ein Maßnahmenpaket, das kurz- wie langfristig umzusetzende Projekte umfasst, und solche, die gesellschaftsverändernden Charakter haben. Dazu gehören als »Einstiegsprojekte« etwa die Forderung nach einer Rekommunalisierung privater Dienstleister in der Altenpflege oder der Ausbau von Gesundheits- und Nachbarschaftszentren. Diese könnten Unterstützungsangebote etwa für ältere Menschen und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche bieten, ebenso wie Räume für geteilte Sorgearbeit in Elterngruppen oder Gemeinschaftsküchen. Dazu gehören Maßnahmen, die eine Stadt für alle zugänglich machen, wie etwa ein kostenfreier öffentlicher Personennahverkehr oder ein Krankenschein, der auch Menschen ohne Papiere einen Zugang zur Krankenversicherung ermöglicht. Es geht aber auch um eine Stadt, in der sich alle wohlfühlen, mit Grünflächen und breiten Wegen, mit Beleuchtungen in der Nacht und weiteren Maßnahmen gegen sexualisierte Belästigung im öffentlichen Raum und dem Verbot anlassloser Polizeikontrollen. Und dazu gehört der Anspruch, die öffentliche Verwaltung so umzubauen, dass Geschlechtergerechtigkeit und die Gewährleistung guter Sorgeverhältnisse zu zentralen Kriterien ihres Handelns werden und kontinuierlich überprüft wird, ob öffentliche Angebote tatsächlich auch für alle zugänglich sind.

Welche Ideen für die jeweilige »Sorgende Stadt« im Vordergrund stehen, muss vor Ort diskutiert und entschieden werden. Mag dies zu Beginn gänzlich selbstorganisiert passieren, zeigt die Erfahrung, dass mittelfristig eine institutionelle und finanzielle Absicherung notwendig ist. Sie ermöglicht, einen gemeinsamen Wirkungsraum für unterschiedliche Interessens- und Anspruchsgruppen der Sorgearbeit zu schaffen – für Care-Beschäftigte, privat Sorgende und Care-Empfänger*innen. Hier liegt eine Aufgabe, aber auch Chance für die LINKE in Stadt- und Landesparlamenten, insbesondere dort, wo sie Teil der Regierung ist. Sie könnte nicht nur Infrastrukturen und materielle Ressourcen bereitstellen, sondern für die Durchsetzung der Forderungen streiten und Projekte mit transformatorischer Strahlkraft entwickeln, die überregional sichtbare Akzente in Regierungsbeteiligungen setzen, wie etwa der Mietendeckel in Berlin.

Perspektivisch müsste es um die Gründung eines Care-Rates gehen, der die gemeinsame Ermittlung von Bedarfen und das Aushandeln von Interessen dauerhaft absichert. Er müsste organisierten Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, also auch eine demokratische Vermittlung zwischen Bewegungen und Parlamenten herstellen.

 

Der Sozialismus ist feministisch, oder ... 

Für eine »Sorgende Stadt« könnten also nicht nur Initiativen aus dem Care-Bereich zusammen mit stadtpolitischen und antirassistischen Akteur*innen streiten. Mit der »Sorgenden Stadt« würde außerdem eine intersektionale Perspektive in die aktuellen Vergesellschaftungsdebatten und Anti-Privatisierungskämpfe einziehen. Feministischen Bewegungen wiederum fehlte in den letzten Jahren ein »Projekt«, anhand dessen sich konkrete Verbesserungen mit dem Anspruch auf grundlegende Gesellschaftsveränderung verbinden ließen. Kommunale Sorgepolitiken könnten ein solcher Einstieg in die schrittweise Vergesellschaftung von Sorgeverhältnissen sein. So würde ein klassenpolitischer Feminismus praktische Gestalt annehmen, für den sich – unterstützt von der LINKEN in Parlamenten und Regierungen – breite Mehrheiten organisieren ließen.

 

Literatur

Alljets, Janna, 2020: Raum nehmen! Warum wir eine feministische Verkehrsplanung brauchen, in: LuXemburg 1/2020

Candeias, Mario/Fried, Barbara/Schurian, Hannah/Völpel, Eva/Warnke, Moritz, 2020: Reichtum des Öffentlichen. Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht, in: LuXemburg-Online, August 2020

Ezquerra, Sandra/Keller, Christel, 2022: Die Regierungsstrategie zur Demokratisierung der Sorgearbeit der Stadtverwaltung von Barcelona: Erfahrungen mit einer feministisch inspirierten lokalen Care-Politik.

Haubner, Tine, 2017: Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft, Frankfurt a. M./New York

Hoffrogge, Ralf, 2021: Stahlwerk jetzt!, in: analyse & kritik, 674, 21.9.2021

Jiménez, Sofía/Moreno, Esther, 2022: Das Projekt »Saragossa als Sorgende Stadt«. Eine umfassende feministische Vision (im Erscheinen)

Salobral, Nieves, 2022: Madrid als Sorgende Stadt. Eine feministische Bilanz, (im Erscheinen)

Statistisches Bundesamt, 2015: Wie die Zeit vergeht. Analysen zur Zeitverwendung in Deutschland 2012/2013, Wiesbaden

Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld

Fußnoten:

[1] Gemäß der letzten Zeitverwendungsstudie der Bundesregierung von 2012/13 sind das bei Frauen in Deutschland rund 30 Stunden und bei Männern 20 Stunden pro Woche.[2] Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat eine evaluierende Studie zu diesem Projekt in Auftrag gegeben, die im März 2022 erscheinen wird (Ezquerra/Keller 2022). [3] Auch zu diesem Projekt, wie zu vergleichbaren Initiativen in Saragossa, wurden evaluierende Studien erstellt: Salobral 2022 sowie Jiménez/Moreno 2022 (beide im Erscheinen).[4] Vgl. https://www.latercera.com/nacional/noticia/valparaiso-se-convierte-la-primera-comuna-chile-constituir-una-red-farmacias-populares/744238/ https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3821885[5] Vgl. https://careratfr.wordpress.com/[6] Vgl. https://iniforum-berlin.de/struktur/konzept/[7] Leider ist derzeit unklar, ob das IniForum unter der neuen Berliner Landesregierung weitergeführt werden kann.[8] Vgl. https://care-revolution.org/kampagne-platz-fuer-sorge/

Foto: Phil Hearing / unsplash

#Rekommunalisierung #Feminismus #SorgendeStadt

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Die erfolgreiche Kampagne von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« strahlt über Berlin hinaus. An vielen Orten formieren sich Bündnisse, um wichtige Teile der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand zurückzuholen. Während die zerstörerische Privatisierungspolitik der letzten Jahre die Krise der sozialen Reproduktion immer weiter zugespitzt hat, hat die Pandemie einmal mehr ins Bewusstsein gerufen, welche gesellschaftlichen Arbeiten im engen Sinne »systemrelevant« sind und folglich als »sozialisierungsreif« gelten müssen.

Das gesamte Feld der Sorgearbeiten zu vergesellschaften, steht jedoch bisher nicht auf der Agenda von Anti-Privatisierungs-Bündnissen. Warum ist das so? Warum wäre es nötig? Und wie könnten Projekte oder Kampagnen für eine »Sorgende Stadt« entstehen, die eine Vergesellschaftung aller Care-Arbeiten vorantreiben?

Phil Hearing / unsplash

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Recht auf Stadt queer aneignen

Wie können wir uns gegen Gentrifizierung, Verdrängung und Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt organisieren?

März 2019 • GLADT e.V • Jutta Brambach (RuT e.V.)

Liebigstraße 34 in Berlin nach der polizeilichen Räumung. Foto: Mark König / Unsplash

Liebigstraße 34 in Berlin nach der polizeilichen Räumung. Foto: Mark König / Unsplash

Wohnen, Feminismus#Wohnen #Feminismus

Auf dem Berliner Wohnungsmarkt ist es eng. Immobilienfonds und private Eigentümer profitieren. Steigende Mieten und Verdrängung machen vielen das Leben schwerer. Für manche LGBTIQs war es nie leicht: wegen Rassismus und zahlreicher anderer Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, geringer Einkommen oder weil Wohnungen nicht barrierefrei sind. Andere waren Teil von Gentrifizierungsprozessen, sind nun zunehmend selbst von Verdrängung bedroht. Konkurrenz um Wohnraum findet aber auch innerhalb von LGBTTIQ-communities statt. Derzeit fehlen Räume für kollektives, solidarisches Wohnen – gerade im Alter, für ältere Lesben und trans*-Menschen, für QPOCs und (geflüchtete) Neuberliner_innen. Was brauchen wir vom und zum Wohnen – ob jung oder alt, cis oder trans?

Längst organisiert sich in Berlin breit getragener Widerstand  gegen steigende Mieten und Verdrängung. Was könnte es bedeuten, miteinander für das Recht auf Stadt aus queerer und solidarischer Perspektive zu kämpfen?

Mit dieser Frage beschäftigte sich die Veranstaltung «Recht auf Stadt queer aneignen» mit Jutta Brambach (RuT e.V.); GLADT e.V., TRIQ.

Die Audioaufzeichnung ist auf der Soundcloud-Seite der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu hören:

#Wohnen #Feminismus

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Auf dem Berliner Wohnungsmarkt ist es eng. Immobilienfonds und private Eigentümer profitieren. Steigende Mieten und Verdrängung machen vielen das Leben schwerer.

Längst organisiert sich in Berlin breit getragener Widerstand gegen steigende Mieten und Verdrängung. Was könnte es bedeuten, miteinander für das Recht auf Stadt aus queerer und solidarischer Perspektive zu kämpfen?

Liebigstraße 34 in Berlin nach der polizeilichen Räumung. Foto: Mark König / Unsplash

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App «WhoCares»

Wie viel ist meine unbezahlte Care-Arbeit wert?

Februar 2021

Pflege, Feminismus#Pflege #Feminismus

«Das bisschen Haushalt macht sich von allein, sagt mein Mann» – mit dieser Liedzeile ist eigentlich alles darüber gesagt, was unsere Gesellschaft von Sorge- und Pflegearbeit hält. Putzen und Kochen, Kinder erziehen oder Angehörige pflegen – das ist doch keine Arbeit, das passiert so nebenbei, aus Liebe, weil sich Frauen nun mal von Natur aus gerne kümmern.

Männer werden laut einer Oxfam–Studie von Januar 2020 im weltweiten Durchschnitt für 80 Prozent ihrer Arbeit bezahlt, Frauen nur für ca. 41 Prozent. Macht sich also Sorge- und Pflegearbeit mal so nebenbei? Natürlich nicht. Sie erfordert Zeit, die dann für Lohnarbeit und Freizeit fehlt.

Stellen wir uns mal vor, du kannst diese Zeit messen: Wieviel Stunden bist du «mal so nebenbei» mit Care-Arbeit beschäftigt? Ist Pflege- und Sorgearbeit nichts wert? Doch natürlich, sogar sehr viel. Ohne Care-Arbeit würden wir im Dreck leben und nur Stulle mit Brot essen. Stellen wir uns mal vor, es gäbe einen Stundenlohn für's Kochen, Kinder betreuen, Haushalt organisieren oder emotionales Unterstützen – wie viel würdest du verdienen?

Mit der App «WhoCares» kannst du genau das machen: Sorge- und Pflegearbeit zeitlich erfassen und in Gehalt umrechnen. In übersichtlichen Statistiken kannst du dir angucken, für welche Aufgaben du am meisten Zeit aufwendest und wann du besonders viel Hausarbeit leistest. So kannst du deine Ergebnisse auch mit anderen Personen in deinem Haushalt vergleichen.

Außerdem erfährst du in der App ganz viel zum Thema Care-Arbeit, unter anderem zu möglichen potentiellen Lösungsansätzen, wie sich diese Arbeit in Zukunft besser organisieren lässt. Denn unbezahlte Sorgearbeit ist nichts Privates, sondern das Fundament unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems.

Mehr Infos gibt es auf der Projekt-Website whocares-app.de.

Die Entwicklung der App wurde gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Ihr findet sie in den App Stores von Google und Apple.

#Pflege #Feminismus

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Noch immer verwenden Frauen deutlich mehr Zeit für unbezahlte Arbeit auf als Männer. Diese Stunden fehlen ihnen unter anderem für bezahlte Lohnarbeit – was sich später in der geringeren Rente und Altersvorsorge niederschlägt.

Zur unbezahlten Arbeit, die im Gegensatz zur Erwerbsarbeit auch als Care-Arbeit oder reproduktive Arbeit bezeichnet wird, zählen Tätigkeiten wie Putzen, Einkaufen, Rasenmähen, Kinderbetreuung, Ehrenamt oder die Pflege von Familienmitgliedern.

Den unterschiedlichen Zeitaufwand, den Frauen und Männer für unbezahlte Care-Arbeit aufbringen, beschreibt der Gender Care Gap. Im Jahr 2019 lag der durchschnittliche Gender Care Gap in Deutschland bei 52,4 %. Das heißt, im Gesamtdurchschnitt leisteten Frauen 52,4 % mehr Care-Arbeit als Männer, ohne dass der Wert dieser Arbeit gesellschaftlich und ökonomisch anerkannt wird.

Stellen wir uns vor, es gäbe einen Stundenlohn für Care-Arbeit – wie viel würdest du verdienen? Das lässt sich mit der App «WhoCares» ermitteln.

  • #Pflege
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Wie geht Sozialstaat feministisch?

August 2020 • Sabine Skubsch

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

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Krise, Feminismus, Hausarbeiterinnen, Migration, Alternativen, Pflege#Krise #Feminismus #Hausarbeiterinnen #Migration #Alternativen #Pflege

Feministischen Bewegungen ist es über viele Jahrzehnte hinweg gelungen, die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit gesellschaftlich zum Thema zu machen. Spätestens mit der Coronakrise ist diese Frage auch im medialen Mainstream angelangt. Wie eine solche Umverteilung von Care-Arbeit zu erreichen wäre, dazu werden in linken Debatten unterschiedliche Ansätze diskutiert – vom bedingungslosen Grundeinkommen über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Arbeitszeitverkürzung, sozial- und familienpolitische Maßnahmen oder einen Ausbau sozialer Infrastrukturen. Was ist aus feministischer Sicht zentral? Und was muss verändert werden, damit Sorgearbeit genauso wertgeschätzt wird, wie die Güterproduktion und der Erwerbsarbeit nicht länger nachgeordnet wird?

„Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ kreist um die Erwerbsarbeit

Das Konzept „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ wird nach wie vor von allen Parteien (mit Ausnahme der AfD) propagiert. Es deckt sich mit dem Wunsch der meisten jungen Paare, die - zumindest in der Theorie – weniger Erwerbsarbeit machen und sich die Kindererziehung teilen wollen. Bei sozialstaatlichen Maßnahmen zur „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ steht insbesondere die Sorge der Arbeitgeberverbände um das zukünftige Arbeitskräftepotenzial im Vordergrund. Der auf Wachstum basierende Kapitalismus ist heute mehr denn je auf gut ausgebildete Arbeitskräfte angewiesen. Die Wirtschaft braucht Frauen, die arbeiten, und sie braucht Menschen, die eine gut ausgebildete nächste Generation heranziehen, was historisch den Frauen zugewiesen wurde. Ziel der staatlichen Familienpolitik ist es daher, die Geburtenrate zu steigern, qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen und die „stille Reserve“, also Frauen mit kleinen Kindern, für die Wirtschaft zu mobilisieren. Ganz in diesem Sinne wirkt das von der ehemaligen Familienministerin Ursula von der Leyen eingeführte Elternzeitgesetz[1] als eine bevölkerungspolitische Maßnahme (vgl. Schultz 2012).

Gut ausgebildeten Frauen gibt es einen Anreiz, Kinder zu bekommen und vollzeitnah zu arbeiten. Gleichzeitig haben die sogenannten „Vätermonate“[2] einen enormen kulturellen Wandel in Bezug auf die geschlechtliche Rollenverteilung bewirkt.

Vor 20 Jahren war es in vielen Branchen noch undenkbar, dass Männer in Teilzeit arbeiten oder Elternmonate nehmen. Der Neoliberalismus ersetzte das „Mann-als-Ernährer-der-Familie-Ideal“ durch das „Alle-Erwachsenen-müssen-arbeiten-Modell“[3] .

Frauen wurden zwar von der Abhängigkeit vom Ehemann befreit, aber an die Stelle der abhängigen Hausfrau wurde die rund um die Uhr aktive Familienmanagerin gesetzt. In der Coronakrise hat sich die Widersprüchlichkeit neuer Arbeitsformen, wie Homeoffice, gezeigt. Durch ständige Erreichbarkeit und Multitasking werden vor allem Mütter dauerhaft überfordert. Unter dem Motto „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ werden Maßnahmen auf den Weg gebracht, die die Zumutung der Mehrfachbelastung abschwächen sollen.

Grundsätzlich infrage gestellt wird diese Politik jedoch nicht, schließlich bleibt sie orientiert an den Erfordernissen der Erwerbsarbeit. Bei der Kinderbetreuung beispielsweise geht es stets darum, dass die Mütter zur Arbeit gehen können. Die Kita-Öffnungszeiten erlauben nicht, zu einer politischen Versammlung oder zum Tanzen zu gehen. Völlig unglaubwürdig klingt das Versprechen von „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ für Frauen in schlecht bezahlten Jobs, bei denen es, obwohl sie ständig hin- und herhasten, einfach nicht zum Leben reicht. Wenig verwunderlich ist es dann, wenn diese Frauen Parteien, die ihnen nicht mehr zu bieten haben, den Rücken kehren.

Inwieweit ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) zu einer gerechten Verteilung der Sorgearbeit beitragen kann, ist in feministischen Diskussionen umstritten. So würde es zwar finanziellen Spielraum für Eltern schaffen, die Arbeit untereinander anders verteilen wollen. Einen Anreiz genau das zu tun, bietet es aber nicht. Da das BGE-Konzept vom Aspekt der sozialen Absicherung ausgeht und die Frage der Verteilung der Arbeit ausklammert, könnte es genauso gut dazu genutzt werden, die traditionelle Rollenverteilung zu stabilisieren.

Verkürzung der Arbeitszeit geht in die richtige Richtung

Die Forderung nach einer Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ist in vielen feministischen Debatten (zu Recht) ein realpolitischer Favorit. Verbündete finden sich in den Gewerkschaften und bei Politiker*innen und Parteien, die das Soziale und die Arbeit in den Vordergrund stellen. Einen Ansatz dazu entwirft Bernd Riexinger in seinem Buch „Neue Klassenpolitik“. Riexinger unternimmt dabei den Versuch einer Abkehr von einer Definition der Arbeiterklasse, die den männlichen Vollzeit-Industriearbeiter als das Normale konstruiert. Die heutigen Lohnabhängigen sind weiblicher, migrantischer und häufig im Dienstleistungsbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu finden, so seine Klassenanalyse. Als realpolitisches Ziel formuliert Riexinger ein „neues Normalarbeitsverhältnis“ von 28 bis 35 Stunden.

Diese Forderung geht in die richtige Richtung, aber sie spricht vor allem Beschäftigte mit einem auskömmlich bezahlten, unbefristeten Vollzeit-Arbeitsverhältnis an. Für die Mehrheit der Frauen sind aber prekäre, schlecht bezahlte oder Teilzeitarbeitsverhältnisse seit langem die Realität. Wie Menschen, die anderthalb Jobs brauchen, um mit dem unzureichenden Lohn über die Runden kommen, die sich mit Minijobs und Teilzeit rumschlagen und sich nichts mehr wünschen als einen unbefristeten Vollzeit-Job, für diese Forderung mobilisiert werden sollen, bleibt eine Herausforderung.

Es klafft noch eine weitere politische Lücke zwischen Bernd Riexingers eindringlicher Beschreibung der heterogenen prekären Arbeitswelt und der Forderung nach einer „neuen Normalarbeitszeit“. Weder eine Kassiererin mit Minijob, noch eine befristet beschäftigte Sozialarbeiterin oder eine Beschäftigte in einer Großküche fühlt sich angesprochen, wenn sie am „atypischen Rand“ verortet wird. Auch bleibt letztlich für sie unklar, wie eine Umverteilung von Arbeit so aussehen kann, dass eine „Normalarbeit“ im Sinne des „neuen Normalarbeitsverhältnis“ für sie in erreichbare Zukunft rückt.

Eine feministische Erzählung muss deshalb die gesellschaftlich notwendige „systemrelevante“ Arbeit aufwerten. Diese muss sich an dem ungeheuren Produzentenstolz messen, der früher im Bergbau vorherrschte und den man heute in der Automobilindustrie findet. Der ver.di-Tarif-Slogan „Wir sind es wert“ geht in diese Richtung. Im Pflegebereich empfinden die Beschäftigten beispielsweise ein hohes Maß an Gebrauchswertstolz und sind sich der Lebensnotwendigkeit ihrer Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes voll bewusst – nur so erklären sich die endlosen Überstunden, die unter den gegenwärtigen Bedingungen nötig sind, um ihren Job den eigenen Ansprüchen gemäß auszufüllen. Statt diesen Produzentenstolz neoliberal ausbeuten zu lassen, gilt es ihn in kämpferisches Selbstbewusstsein zu wenden, wie es den Aktiven in den Auseinandersetzungen der Berliner Charité gelungen ist.

Um offensive Kämpfe führen zu können, muss sich linke Politik auch für Rahmenbedingungen einsetzen, die dies ermöglichen. Wie soll sich sonst eine wachsende Anzahl von prekären (insbesondere weiblichen) Arbeitnehmer*innen von einer linken Politik angesprochen fühlen, die an Regularien anknüpft, die für sie noch nie gegolten haben. Die Forderung nach einer Stärkung der Betriebsräte verfängt bei vielen auch deshalb nicht, weil das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) so gestrickt ist, dass Betriebsräte im Wesentlichen die Interessen der Stammbelegschaft vertreten. Klassenbewusste Politik muss dafür eintreten, dass der Betriebsbegriff im BetrVG so geändert wird, dass alle abhängig Beschäftigten in Betriebsräten vertreten sein können. Eine feministische Klassenpolitik muss auch in solchen Fragen in die Offensive kommen.

Nicht nur Lebensrisiken absichern, sondern das ganze Leben in den Mittelpunkt stellen

Anfang 2020 hat die LINKE ein „Konzept für einen demokratischen Sozialstaat der Zukunft“ vorgestellt, in dem die feministische Forderung nach einer Neuverteilung der Sorgearbeit aber leider nicht Gegenstand ist. Das LINKE Sozialstaatkonzept zielt auf einen „aktiven Sozialstaat, der die Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Pflegebedürftigkeit und Behinderung sowie Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit solidarisch absichert“. Schwangerschaft, Geburt, Kindererziehung und Alter sind aber keine „Lebensrisiken“, es sind Phasen unseres Lebens, in denen wir (mehr als sonst) auf die Sorge anderer angewiesen sind. Wenn Krankheit und Alter „Lebensrisiken“ sind, was ist dann der Normalzustand? Der fitte, gesunde, nichtbehinderte, eher männliche Arbeitnehmer zwischen 18 und 60? Aus feministischer Perspektive braucht es einen Paradigmenwechsel: Alle Menschen sind – mal mehr, mal weniger – auf die Sorge anderer angewiesen. Kriterium für gutes Leben ist, in einer Situation der Hilfsbedürftigkeit versorgt zu werden und ebenso für andere Sorge zu leisten, ohne unangemessene Opfer bringen zu müssen (vgl. Winker 2015).

In die Strategiedebatte der LINKEN Anfang 2020 mischte sich ein im Zuge feministischer Vernetzung in der Partei entstandenes „Feministisches Autor*innenkollektiv“ ein. In ihrem Papier wird eine sozialpolitische Richtung angedeutet, die das ganze Leben in den Mittelpunkt rückt. Dabei geht um viel mehr, als nur ein paar feministische Korrekturen. Nämlich um „eine Gesellschaft, deren Ökonomie sich an den gemeinsam ermittelten Bedürfnissen orientiert, nicht an Wachstum und Profit. Eine Gesellschaft, in der Kinder, Alte und Kranke nicht wegorganisiert werden müssen. ... Statt von der Erwerbsarbeit ausgehend zu überlegen, wie diese zum Leben passt, schlagen wir vor, von der Frage auszugehen, wie wir leben wollen, und daraus abzuleiten, wie wir folglich produzieren und arbeiten müssen und welche Arbeiten wir brauchen.“ Nur, wenn wir einen echten Perspektivwechsel vollziehen und ganz anders auf die zu regelnden Dinge blicken, kommen auch neue Lösungen in den Blick. Lösungen, die „das ganze Leben“ (Frigga Haug) zum Gegenstand auch sozialpolitischer Überlegungen haben.

Feministische Positionen in der Sozialstaatsdiskussion

Erwerbs- und Sorgearbeit müssen dann nicht „vereinbart“, sondern beide müssen verändert und umverteilt werden. Schritte in diese Richtung sind: Erhöhung der bisherigen zwei auf zwölf „Vätermonate“ wie es die LINKE fordert[4] und ein vom Einkommen unabhängiges Elterngeld. Das von der SPD geforderte Familiengeld[5] geht schon in diese Richtung.

Gleichzeitig müssen sozialstaatliche Anreize zur Beibehaltung der traditionellen Rollenverteilung beseitigt werden: Kein Ehegattensplitting, das Familien, in denen einer viel und der andere wenig oder gar nichts verdient, steuerlich bevorzugt; dafür ein stärkere Gewichtung der Sorgearbeit bei den Rentenansprüchen; keine beitragsfreie Mitversicherung bei der Krankenversicherung; stattdessen eine Bürgerversicherung für alle und eine Pflegeversicherung, die die gesamten Pflegekosten abdeckt. Familien stehen oft vor dem Dilemma, dass entweder die hohen Zuzahlungen für Pflegeheime alle Ersparnisse aufbrauchen oder meist die Frauen die Pflege zu Hause übernehmen müssen – häufig unterstützt durch Migrantinnen, die in einer tolerierten Informalität einen relevanten Teil der häuslichen Pflege leisten.

Eine weitere wichtige Säule ist die Stärkung der öffentlichen sozialen Infrastruktur. Bildung (Kitas und Schulen), Gesundheit und Pflege gehören zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Ein entscheidender Kampf um die Zukunft des Sozialstaats wird gegen die profitorientierte Privatisierung von Krankenhäusern, Kitas und Pflegeheimen geführt werden müssen. Die Daseinsvorsorge muss in Kommunales oder anderes Gemeinschaftseigentum zurückgeführt werden und allen kostenlos oder gegen geringes Entgelt zur Verfügung gestellt werden.

Sozialstaat, Solidarität und Demokratie am Beispiel von Senior*innenbetreuung und Pflege

Eine feministische Sozialstaatsdiskussion kann sich nicht auf die paternalistische Vorstellung beschränken, dass der Staat alles - möglichst zum Wohle der Bürger*innen - regeln soll. Sozialstaatliche Maßnahmen dürfen die Menschen nicht auf Objekte der Fürsorge reduzieren, sondern müssen zur Beteiligung anregen, mit dem Ziel ein solidarisches Miteinander zu fördern. Beispiele dafür sind die Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen Wohn-, Produktions- und Verteilungsgenossenschaften, die auf Selbsthilfe und Kooperation beruhen. In den 1960er und 1970er Jahren bildeten sich überall selbstverwaltete Kitas, selbstinitiierte Stadtteilhilfen, Arbeitskollektive, die leider oft die neoliberalen Reformen nicht überlebten.

Eine feministische Sozialstaatsdebatte muss mit der Diskussion um solidarische Praxen verbunden werden. Es geht nicht nur um soziale Absicherung, sondern um Mitgestaltung und Partizipation in allen Lebensabschnitten: Selbstbestimmung in der Geburtshilfe, altersgemäße Beteiligung von Schüler*innen an der Strukturierung des Schulalltags, selbstverwaltete genossenschaftliche Wohnprojekte und schließlich auch ein gutes selbstbestimmtes Leben im Alter. Die Kampagne der LINKEN zu Gesundheit und Pflege stößt bei den Beschäftigten auf viel Anerkennung. Aber linke Pflege-Politik kann sich nicht auf die Ansprache der bezahlten Beschäftigten in der Pflege beschränken. Sie muss auch die Alten und Kranken und diejenigen, die zu Hause pflegen (fast ausschließlich Frauen) adressieren. Wie selbstbestimmte Behindertenpolitik schon lange fordert, müssen Menschen, die stark auf die Sorge anderer angewiesen sind, als Subjekte ernst genommen werden. Für viele ältere und behinderte Menschen war es in der Coronazeit unbefriedigend, dass sie zwar durch Isolationsmaßnahmen geschützt, aber nicht nach ihren Wünschen gefragt wurden. Wochenlanger Lockdown in Pflegeeinrichtungen ohne Kontakt zu den Angehörigen haben viele Bewohner*innen als „eingesperrt sein“ empfunden.

Um in solchen Fällen angemessene Lösungen zu finden, muss die soziale Infrastruktur demokratisiert werden. Carenehmer*innen und deren Angehörige genauso wie Caregeber*innen müssen an Entscheidungen sozialer Institutionen beteiligt werden. Gabriele Winker schlägt hierfür den Aufbau von „Care-Räten“ vor, in denen Personen, die bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit leisten und empfangen, vertreten sind. Sie sollen Öffentlichkeit für Missstände in Pflege, Erziehung und Sozialem schaffen und politische Vorschläge für gute Pflege, Betreuung und Erziehung aus Sicht der Betroffenen erarbeiten. Perspektivisch sollen diese Care-Räte in alle kommunalen Entscheidungen, die die Daseinsvorsorge betreffen, eingebunden werden. Statt kommerzieller Pflegeheime müssen Kommunen (finanziert vom Bund) eine wohnortnahe stadtteil- oder dorfbezogene Versorgung für Senior*innen schaffen. Dazu gehören selbstorganisierte Projekte wie Mehrgenerationen-Wohnen, Alters-WGs oder genossenschaftlich organisierte Pflegedienste.

Der Wunsch nach solchen Projekten ist allerorten vorhanden. Oft scheitern sie aber an der Finanzierung und an fehlender Planungskompetenz. Zur Unterstützung muss die öffentliche Hand eine Struktur von Projektmanager*innen, Betriebswirt*innen und Sozialarbeiter*innen zur Verfügung stellen. Ein gutes Beispiel für eine wohnortnahe Infrastruktur hat die Bürgergemeinschaft Eichstetten in einer ländlichen Region am Kaiserstuhl geschaffen. Das Motto lautet: „Wenn die Menschen nicht mehr zum Leben gehen können, muss das Leben eben zu den Menschen kommen.“ Ziel ist, den Bewohner*innen alle Dienste anzubieten, die es ermöglichen bis ins hohe Alter ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben im Ort zu führen.

Herausforderungen einer feministischen Sozialstaatsdiskussionen

Der Feminismus hierzulande ist weitgehend weiß, mittelständisch und akademisch geprägt. Es fehlen Repräsentantinnen der migrantischen und autochthonen Arbeiterinnen, die abends die Büros putzen oder morgens die Brötchen verkaufen. Um dies zu ändern, ist es nötig, allen in Deutschland lebenden Menschen – Geflüchtete und Illegalisierte eingeschlossen – einen Zugang zum sozialstaatlichen Netz zu verschaffen. Dies nicht zu tun, ist nicht nur unsozial, sondern reproduziert dauerhaft ethnische Abwertungen und belässt migrantische Frauen in ihren vielfältigen Abhängigkeiten zwischen Ehemann und prekärer oder nicht-legaler Beschäftigung. Der Kapitalismus, der alles zur Ware macht, kommodifiziert zunehmend die Haus- und Sorgearbeit.

Die Coronakrise hat zumindest dazu geführt, dass die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte wahrgenommen werden. Dass in den Küchen und im Reinigungsdienst der profitorientierten Krankenhäuser und Pflegeheime sowie in Privathaushalten meist weibliche und migrantische Arbeitskräfte oft unter Mindestlohn und ohne die geltende rechtliche Absicherung beschäftigt werden, wird aber verdrängt. Feministinnen fordern mehr Repräsentation von Frauen, was richtig ist. Mehr Frauen sollen verantwortliche Positionen und die Hälfte der Abgeordnetenplätze (Paritégesetz) besetzen. Feministisches Ziel kann aber nicht sein, dass während mehr Frauen in die Parlamente einziehen, andere weiterhin schlecht entlohnt und mit kaum Teilhabemöglichkeiten putzen, kochen und pflegen. Forderungen nach stärkerer Vertretung von Frauen drohen neoliberal abzudriften, wenn nicht gleichzeitig die Frage der ungleichen Verteilung der Sorgearbeit, der sozialen und der rechtlichen Ungleichheit angegangen wird.

Fußnoten

[1] Elterngeld bekommen Mütter und Väter, wenn sie nach der Geburt des Kindes nicht oder nur noch wenig arbeiten wollen. Die staatliche Unterstützung beträgt 300 Euro bis 1.800 Euro im Monat, abhängig vom Netto-Verdienst, das der zu Hause bleibende Elternteil vor der Geburt des Kindes hatte.

[2] Das Elterngeld wird maximal 14 Monate lang gezahlt, wenn sich beide an der Betreuung beteiligen. Jedes Elternteil muss dafür mindestens zwei Monate zu Hause bleiben.

[3] In zweifacher Hinsicht ist der vielfach genutzte Ausdruck „Doppelverdiener-Familie“ irreführend: erstens, weil er auf das Ideal der Familie mit dem Mann als Ernährer Bezug nimmt und zweitens, weil er suggeriert, ein Haushalt hätte nun das Doppelte des zum Leben benötigten Einkommens.

[4] „Zwölf Monate Elterngeldanspruch pro Elternteil (bzw. 24 Monate für Alleinerziehende), der individuell und nicht übertragbar ist.“(Sozialstaatsprogramm DIE LINKEN)

[5] Familienarbeitszeit-Modell: nach dem Elterngeldbezug soll es drei Jahre lang eine Subvention geben, wenn beide Eltern ihre Arbeitszeiten angleichen (bei Alleinerziehenden sind partnerunabhängig 80 Prozent die Richtschnur).  

Literatur

Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution, Bielefeld

Sabine Skubsch lebt in Karlsruhe und ist Diplompädagogin und Lehrerin. Sie ist Betriebsrätin bei einem freien sozialen Träger und aktiv im Landesvorstand der LINKEN in Baden Württemberg. Außerdem ist sie Mitglied in der Frauenredaktion von Das Argument und in der Redaktion der Zeitschrift LuXemburg.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wie-geht-sozialstaat-feministisch

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

#Krise #Feminismus #Hausarbeiterinnen #Migration #Alternativen #Pflege

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Feministischen Bewegungen ist es über viele Jahrzehnte hinweg gelungen, die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit gesellschaftlich zum Thema zu machen. Spätestens mit der Coronakrise ist diese Frage auch im medialen Mainstream angelangt. Wie eine solche Umverteilung von Care-Arbeit zu erreichen wäre, dazu werden in linken Debatten unterschiedliche Ansätze diskutiert – vom bedingungslosen Grundeinkommen über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Arbeitszeitverkürzung, sozial- und familienpolitische Maßnahmen oder einen Ausbau sozialer Infrastrukturen. Was ist aus feministischer Sicht zentral? Und was muss verändert werden, damit Sorgearbeit genauso wertgeschätzt wird, wie die Güterproduktion und der Erwerbsarbeit nicht länger nachgeordnet wird?

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

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Reichtum des Öffentlichen

Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht

August 2020

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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Rekommunalisierung, Krise, Wohnen, Krankenhaus, Mobilität, Migration, Pflege, Feminismus, Alternativen, Selbstverwaltung, Organisierung#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen beinharte Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor. Die Unternehmen versuchen, ihre Verluste zu sozialisieren. Nach den öffentlichen Schulden drohen eine Neuauflage von Austeritätspolitiken ebenso wie neue Angriffe der Arbeitgeberseite.

Die Verteidigung des Sozialstaats geht also in eine neue Runde. Doch sie sollte nicht als Abwehrkampf geführt werden, als ein Versuch, das Bedrohte zu konservieren. Stattdessen ist es Zeit, den Sozialstaat gründlich zu erneuern und seine alten Fehler zu beheben. Doch wie sieht ein Sozialstaat aus, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist? Wie lässt sich verhindern, dass sich die Spaltung der Subalternen weiter vertieft? In Krisen drohen die Kapitalfraktionen ihre Spielräume auf Kosten der Lohnabhängigen zu erweitern. Wie kann eine Alternative dazu aussehen? Und wo wird jetzt schon dafür gekämpft?

Krise an zwei Fronten

Bisher war die Finanzierung des Sozialstaates an wirtschaftliches Wachstum gebunden. In einem hart erkämpften historischen Klassenkompromiss wurden Sozialleistungen auf der Grundlage stetigen Wachstums finanziert und schrittweise ausgebaut. Dies war ein Kompromiss, der lange nicht zulasten der Profite ging. Als die Profitrate zu fallen begann, wurde er mit der neoliberalen Offensive seit Beginn der 1980er Jahre einseitig aufgekündigt. Der Sozialstaat geriet mehr und mehr unter Druck. Angesichts von Globalisierung und Transnationalisierung galt ein starker Sozialstaat als Negativfaktor im internationalen Wettbewerb (auch wenn inzwischen im Sinne des „social investment state“ eine produktivistische Neuorientierung erfolgt ist; vgl. Dowling 2016). Die Begründung: Unter dem Kostendruck der Konkurrenz könnten eben nicht alle Wohltaten finanziert werden. Nach und nach wurden die Systeme sozialer Sicherung ausgehebelt und neoliberal umgebaut. Mit dem sogenannten New Public Management gerieten betriebswirtschaftliche Kriterien zum Maßstab des Handelns auf sämtlichen Feldern des Sozialsystems (vgl. Wohlfahrt 2015).

Seitdem kriselt der Sozialstaat an zwei Fronten: Einerseits haben Jahrzehnte der neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik den Bereich sozialer Infrastrukturen und öffentlicher Dienste finanziell und personell ausgezehrt – vom Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Bereich über die Wohnraumversorgung bis hin zu Kultur und Mobilität. Es fehlt an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, aber auch an Verwaltungspersonal, Steuerprüfer*innen oder Planer*innen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beziffert die Lücke schon jetzt auf über eine Millionen Arbeitskräfte und bei weiter dynamisch wachsendem Bedarf auf bis zu vier Millionen (Ötsch u.a. 2020).

Andererseits führte die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu einem längst überwunden geglaubten Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut.[1] Die Ursachen sind vielfältig und hängen doch zusammen: Deregulierung der Arbeitsmärkte und endemische Ausbreitung von Niedriglöhnen und unfreiwilliger Teilzeit, Privatisierung und Ausdünnung der sozialen Infrastrukturen, steigende Mieten sowie eine ungerechte Besteuerungspolitik, die hohe Einkommen sowie große Vermögen begünstigt. In der Folge sehen sich Millionen Menschen mit unsicheren Zukunftsaussichten konfrontiert: Aufgrund von Arbeitslosigkeit, aufgrund von Soloselbständigkeit oder Mini- und Midi-Jobs erwerben immer weniger Menschen ausreichende Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen – unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen. Aber selbst dann, wenn Ansprüche bestehen, reicht das Leistungsniveau oftmals nicht länger für ein Leben ohne Armut. Mit Niedriglöhnen oder erzwungener Teilzeit lässt sich keine vernünftige Rente erwirtschaften oder gar privat vorsorgen. Für große Teile der Bevölkerung bieten die bestehenden Sicherungssysteme keine Perspektive mehr – das Sicherungsversprechen des Sozialstaates verliert an Glaubwürdigkeit und muss grundlegend erneuert werden.

Kein Zurück zum „alten“ Sozialstaat

Wer den Sozialstaat erhalten will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sich seine Gestalt wandeln muss. Um für die neu zusammengesetzte Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts attraktiv zu sein, muss das Konzept von Sozialstaatlichkeit erweitert und verändert werden. Dazu gilt es, linke Kritiken an seiner bisherigen Verfasstheit aufzunehmen.

Der Sozialstaat war immer gekoppelt an spezifische Produktions- und Lebensweisen, an ein bestimmtes Geschlechterregime und an das damit verbundene Modell von Erwerbsarbeit und Reproduktion. Feminist*innen haben die Norm des männlichen Alleinverdieners im fordistischen Wohlfahrtsstaat kritisiert. Soziale Absicherung ist darin an (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit und an eine weitgehend lückenlose Erwerbsbiografie gebunden. Gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, die historisch an Frauen delegiert und in den Verantwortungsbereich der privaten Haushalte verlagert wurde, erfährt weder Anerkennung noch soziale Absicherung. Damit ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit systematisch in das fordistische Wohlfahrtssystem eingeschrieben. Es verstärkt zudem mit seinem patriarchalen Familienmodell die Abhängigkeit von Frauen und benachteiligt queere Menschen. Obgleich sich die Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse inzwischen deutlich gewandelt haben, bleiben die Verkopplung von sozialer Absicherung und Erwerbstätigkeit sowie die Privilegierung eines heteronormativen Ehe- und Familienmodells bestehen. Deswegen: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Erneuerung des Sozialstaates.

Die meisten Leistungen des Sozialstaates sind außerdem an nationale Zugehörigkeit gebunden. Es profitieren von ihnen nur diejenigen, die über eine bestimmte Staatsbürgerschaft verfügen oder über die offizielle Lohnarbeit sozialversichert sind. Geflüchtete, Personen im Asylverfahren und insbesondere Illegalisierte haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, obwohl Letztere in Sektoren wie Hausarbeit, Pflege, Bau, Landwirtschaft, Sexarbeit, Hotellerie, Gastgewerbe oder Reinigungsgewerbe einen elementaren Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung leisten (vgl. Behr 2010). Über das Aufenthaltsrecht wird migrantische Arbeit abgewertet, viele sind gezwungen, besonders schlechte Löhne und unsichere Bedingungen zu akzeptieren, was sich nicht nur in geminderten Leistungsansprüchen niederschlägt, sondern außerdem eine gesellschaftliche Aufwertung der genannten Arbeiten (Hausarbeit, Pflege etc.) erschwert. Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse werden dadurch verschärft.

Aber auch auf Migrant*innen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wirkt sich der bestehende Sozialstaat diskriminierend aus. Sie leiden besonders häufig unter unterbrochenen Erwerbsbiografien und Phasen informeller, schlechter bezahlter oder generell prekärer Beschäftigung, was geringere Anwartschaften zur Folge hat. Nicht erst angesichts wachsender Migrationsbewegungen muss diese Selektivität des Sozialstaats in Bezug auf die nationale Herkunft überwunden werden. Es bedarf hier einer grundlegenden Erneuerung, um ihn für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Eine große Aufgabe.

Die linke Kritik am fordistischen Sozialstaat hat schließlich deutlich gemacht, dass er – trotz seiner zweifellos positiven Funktion der Absicherung und Umverteilung – auch paternalistische Züge trägt und zur Passivität anhält. Das bürokratische, starre und auf Kontrolle orientierte Hilfesystem ist nicht nur an bestimmte Erwerbsmodelle und Lebensformen gebunden, sondern wirkt an vielen Stellen entmündigend. Der Ausschluss vieler Leistungsempfänger*innen von gesellschaftlicher Teilhabe wird so – trotz sozialer Abfederung – letztlich fortgeschrieben.

Zwar sind etliche, von Luc Boltanksi und Ève Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnete Einwände der neuen Linken später vonseiten neoliberaler Gegner*innen des Sozialstaats aufgenommen und entsprechend enteignet worden. Dennoch steckt hier ein für linke Zukunftsentwürfe unhintergehbarer Impuls: Ein Zurück zu den korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats des 20. Jahrhunderts ist keine Alternative, nicht nur wegen gewandelter Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse, sondern auch wegen seines ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Mit einer Erneuerung sozialer Sicherungssysteme ist darum auch die Aufgabe ihrer grundlegenden Demokratisierung verbunden.

Wo die Herausforderungen liegen

Die sozialen Sicherungssysteme stehen vor mehreren neuen Herausforderungen, die mit alten Konzepten nicht gelöst werden können.Sozial "abgehängte" Räume: Die Folgen der Erosion des Sozialstaates zeigen sich besonders prägnant auf der sozialräumlichen Ebene. Soziale Ungleichheit verschärft sich und dokumentiert sich zunehmend in Postleitzahlen, teils entstehen „abgehängte" Räume mit extrem lückenhafter Infrastruktur in benachteiligten Vierteln der Städte und in peripheren Zonen jenseits der Städte. Das trifft am stärksten marginalisierte Gruppen und erzeugt Konkurrenz um bereits knappe Ressourcen. Rechte Sicherheits- und Ordnungsdiskurse, die die Bedrohung einer vermeintlich homogenen Lebensweise der Einheimischen heraufbeschwören, können hieran anschließen. Da ein Großteil der Sozialleistungen von den Kommunen erbracht wird, wachsen zudem die sozialräumlichen Disparitäten zwischen Städten und Regionen.

Krise der Reproduktion: Das fordistische Geschlechter-, Reproduktions- und Familienmodell hat sich stark verändert – ohne dass jedoch Geschlechteregalität oder soziale Rechte für alle erreicht wurden. Heute dominiert nicht länger das Alleinernährer-, sondern das sogenannten Adult-Worker-Modell. Der Zwang, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, trifft nun alle gleichermaßen und verändert auch das Sorgeregime. Zwar werden immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die früher fast ausschließlich privat und unentgeltlich geleistet wurden, heute auch als Erwerbsarbeit erbracht – dies gilt etwa für Pflege und Erziehungsarbeit. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge werden die öffentlichen Angebote jedoch massiv ausgedünnt, was Überlastung, Stress und Erschöpfung zur Folge hat. Care-Arbeit ist auch als Lohnarbeit immer noch mehrheitlich eine Domäne von Frauen und Migrant*innen und wird somit deutlich schlechter bezahlt als andere Tätigkeiten. Ohne Geschlechtergerechtigkeit und ohne ein Ende der Abwertung von migrantischer Arbeit kann es also keine Erneuerung des Sozialstaates geben.

Die Zunahme bezahlter Sorgearbeit und ihre zunehmend privatwirtschaftliche Organisierung wirft auch die Frage neu auf, wo die Grenzen einer kapitalistischen Inwertsetzung von Fürsorge liegen. Ausgehend hiervon ist auch zu klären, ob nicht wichtige gesellschaftliche Aufgaben dem Markt gänzlich entzogen werden müssen, ob und inwieweit also eine Vergesellschaftung oder auch Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge notwendig ist.

Migration: Mit der Zunahme weltweiter Migration stellt sich die alte Frage nach dem Zugang zu bis dato vor allem nationalstaatlich organisierten Sicherungssystemen neu. Die Gesellschaften des Nordens sind noch stärker als bisher zu Einwanderungsgesellschaften geworden. Eine Abschottung gelingt nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche wie dem Anspruch nach Solidarität und Antirassismus. Ein in erster Linie als Versicherungssystem konzipierter Sozialstaat setzt allerdings jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anwartschaften voraus, die mit einer gestiegenen Bewegungsfreiheit und globaler Migration kaum kompatibel sind. Der Ausschluss vieler migrantischer Arbeitskräfte von sozialen Sicherungsleistungen ermöglicht die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sozialstaatliche Rechte müssen deswegen neu gedacht und von einem restriktiv regulierten Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht sukzessive gelöst werden.

Globale Ungleichheit: Das Einkommensgefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern hat zwar über die letzten Jahrzehnte abgenommen. Dies liegt aber vor allem am Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren wie China oder Südkorea oder von sogenannten Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Indien. Andere Länder sind im Prozess neoliberaler Globalisierung weiter zurückgefallen. Krieg und Zerstörung, Ressourcenausbeutung, unfaire Handelsabkommen, ungerechte weltwirtschaftliche Beziehungen und eine Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung in globalen Produktionsketten zerstören die Lebensperspektiven von Millionen. Die dadurch verursachte Ausbeutungsdynamik zwischen Nord und Süd wirft die Frage nach der Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen in den reichen Ländern mit besonderer Schärfe auf. Gleichzeitig hat die Schere zwischen Arm und Reich auch in den wohlhabenderen Gesellschaften ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung selbst. Die wachsende Ungleich unterminiert damit die Fundamente des sozialen Gewebes.

Klimakrise: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme klassenspezifischer Ungleichheiten und einem drastisch steigenden CO2-Ausstoß. Der Anteil, den die Reichen an den weltweiten Emissionen haben, wächst überproportional stark, während der Anteil der Ärmsten rückläufig ist. Dieses Missverhältnis gilt generell auch für die einzelnen Gesellschaften (Kleinhückelkotten u.a. 2016). Mehr Gleichheit ist also nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen notwendig.Die Folgen kapitalistischen Wachstums haben zu einer planetarischen ökologischen Krise geführt, die weitere soziale Verwerfungen sowie eine Zuspitzung der Reproduktionskrise und zunehmende Migrationsbewegungen nach sich zieht und immer mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Damit sind diese Entwicklungen zu nicht mehr hintergehbaren Herausforderungen auch für unser Verständnis von Sozialstaat geworden. Zugleich wird deutlich: „Der Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet“ (Urban). Wenn solidarische Formen der Krisenbearbeitung nicht durchgesetzt werden können und es nicht zu einer Umverteilung von Ressourcen sowie zu einer Verallgemeinerung sozialer Rechte kommt, sind eine Zunahme von Verteilungskonflikten und eine Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse absehbar.

Damit geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Sie betrifft die kommunale, nationale und transnationale Ebene. Doch um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss der Sozialstaat auch finanziert werden. Angesichts der ökologischen Krise kann dabei nicht umstandslos an die Tradition des sozialstaatlichen Kompromisses auf Basis von noch mehr Wachstum angeknüpft werden. Einerseits müssen Unternehmen und Vermögende deutlich stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Andererseits muss das Verhältnis von Steuern und Beiträgen neu austariert werden, um die Abhängigkeit einer sozialen Absicherung von der Erwerbsarbeit zu überwinden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden.

Soziale Infrastrukturen: kostenfrei und demokratisch

Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können. Das zeigt sich auch in den Diskussionen um die Zukunft sozialer Absicherung und die Perspektiven des Sozialstaats im 21. Jahrhundert. Was also wären positive Entwürfe, die die Anliegen der vielfältigen Bewegungen des Protests bündeln könnten? Von den zunehmenden Arbeitskämpfen insbesondere im Bereich Pflege und Erziehung über die Mietenproteste, die Anti-Privatisierungs-Bündnisse bis hin zu den neuen antirassistischen Protesten und der Klimabewegung: Wie könnten gemeinsame Forderungen aussehen, die die unterschiedlichen Anliegen einer pluralen Linken und verschiedenen Teilen der Subalternen aufnehmen und sinnvoll miteinander verbinden?Seit einigen Jahren dreht sich die Debatte – angestoßen von einem Diskussionszusammenhang rund um Joachim Hirsch (2003) und das Frankfurter links-netz (2012) – verstärkt um die Bedeutung sozialer Infrastrukturen als Teil einer postneoliberalen Sozialpolitik. Der Ansatz stellt die sozialen Dienstleistungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Transformation. Nach vielen Jahren neoliberaler Politiken ist hier zum einen der Mangel besonders offensichtlich, zum anderen ist dies der einzige Sektor, der in den Industrieländern ein beträchtliches (klima- und ressourcenneutrales) Beschäftigungspotenzial verspricht.

Statt also Sozialleistungen wie bisher nur über einen Mix aus Versicherungsmodellen und steuerfinanzierten Ansprüchen jeweils individuell abzusichern, besteht die Idee, „soziale Infrastrukturen“ zum Kern eines neuen Sozialstaats zu machen darin, soziale Dienstleistungen konsequent auszubauen und für alle frei – also auch entgeltfrei – zugänglich zu machen. Das betrifft die Gesundheitsversorgung genauso wie den Bereich der (Weiter-)Bildung, der Erziehung und Betreuung, das Recht auf bezahlbares Wohnen und auf Mobilität genauso wie den Zugang zu Energie, Trinkwasser oder zum Internet. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt also – anders als etwa bei einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht primär auf der monetären Absicherung des individuellen Konsums, sondern auf dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, also auf dem kollektiven Konsum.[2]

Alles entgeltfrei? Ja und nein. Vorstellbar wäre beispielsweise, auf allen genannten Feldern eine entgeltfreie Grundversorgung zu ermöglichen und für die Befriedigung darüber hinaus gehender individueller Bedürfnisse, Vorlieben oder Leidenschaften die Menschen ganz oder teilweise bezahlen zu lassen. Für den Bereich der Energieversorgung, die ein modernes menschliches Grundbedürfnis darstellt, würde das Folgendes bedeuten: Die Grundversorgung ist im Rahmen sozialer Infrastrukturen abgedeckt. Wer mehr Energie verbraucht, zahlt dafür, und Vielverbraucher zahlen deutlich mehr, der Preis steigt also progressiv an. Dieses Prinzip ist auf unterschiedliche Bereiche anwendbar (vgl. Schachtschneider/Candeias 2013): Zur Kasse gebeten wird, wer viel verbraucht. Das hieße ein entgeltfreies Pro-Kopf-Trinkwasserkontingent, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen und Luxusautos; entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, die Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle gebührenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, (dauerhaftem) sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums, Vergesellschaftung großen Immobilienbesitzes und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.

Ein solches Konzept wäre nicht nur ein Beitrag zum Abbau von sozialen Ungleichheiten, sondern auch ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise. Investitionen in soziale Dienstleistungen sind ökologisch sinnvoll, da die Arbeit mit Menschen kaum Umweltzerstörung mit sich bringt und deren Ausweitung neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet auch als Ausgleich für die Jobs, die in den rückzubauenden Bereichen klimaschädlicher Industrien verloren gehen werden. Dieser Ansatz hilft nicht nur bei der Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit, sondern auch bei der der (unbezahlten) Reproduktion. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen wird professionelle Care-Arbeit aufgewertet und erhält zusätzliche Ressourcen. Zugleich lässt der Erwerbsdruck nach, da die Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse garantiert ist. Damit steht mehr Zeit für Sorge und Selbstsorge sowie für die Arbeit am Gemeinwesen und politisches Engagement bereit. Nicht zuletzt bietet sich hier auch eine Chance, die für die emanzipative Gestaltung von Geschlechterverhältnissen genutzt werden kann: Der Blick wird stärker auf die reproduktiven Funktionen und Tätigkeiten gerichtet: Was erhält und sichert unser gemeinsames Leben? Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die stärkere Entkopplung der sozialen Teilhabe vom Erwerbsstatus und von der Lebens- oder Familienform – also individuelle Ansprüche für jede und jeden, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft.

Der Ausbau sozialer Infrastrukturen stärkt auch eine solidarische und demokratische Gesellschaft, denn Angst und Unsicherheit vor den notwendigen gesellschaftlichen Umbrüchen werden gemindert. Zugleich erscheinen die diskriminierenden Sozialstaatskonzepte der Rechten weniger attraktiv, wenn Marginalisierung, Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit bekämpft werden. Das Konzept sozialer Infrastrukturen erlaubt es also nicht nur, linke Sozialpolitik jenseits des fordistischen Wohlfahrtstaates neu zu denken. Die Forderung nach einer entgeltfreien, sozialökologischen Grundversorgung für alle, die hier leben (unabhängig von Pass, Geschlecht, Postleitzahl oder sonstigem Status), kann als verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe und eines gesellschaftlichen linken, sozialökologischen solidarischen Pols in der Gesellschaft dienen.

Soziale Infrastrukturen zielen darauf, weite Teile der Daseinsvorsorge dem Markt (wieder) zu entziehen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das bedeutet konkret, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen. Mit der Rekommunalisierung beispielsweise von privatisierten Krankenhäusern, Altenheimen, Kindertagesstätten, Wohnraum oder privaten Mobilitätsdienstleistungen ist nicht zuletzt die Frage der Eigentumsform gestellt – wie insbesondere die Kampagnen gegen überhöhte Mieten zuletzt deutlich gemacht haben. Hier können Umverteilung und soziale Gerechtigkeit mit Forderungen nach Demokratisierung und Emanzipation verbunden werden. Denn jenseits der Eigentumsfrage gilt es, neue Formen der Beteiligung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Soziale Infrastrukturen in öffentlicher Hand bedeutet auch, diese umfassend zu demokratisieren, sie in die Hände der Produzent*innen und Nutzer*innen zu legen. An vielen Stellen wird bereits über Gesundheits- oder Care-Räte diskutiert. Auch regionale Mobilitäts- und Transformationsräte stehen auf der Tagesordnung. Wir könnten so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen und erste Schritt in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus gehen (vgl. Redaktion prager frühling 2009).

Ein strategischer Vorschlag zur richtigen Zeit

Wie lässt sich so ein Umbau öffentlicher Dienstleistungen durchsetzen? Fest steht, das Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn unterschiedliche Akteure darin ihre Interessen wiederfinden. Die Idee kostenfreier, demokratischer Infrastrukturen kann unserer Ansicht nach Spielräume für linke Politik eröffnen: Soziale Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, Spaltungen zu überwinden und solidarisch zu bearbeiten, weil sie egalitäre Zugänge für unterschiedliche Teile der Subalternen bieten. In funktionierenden sozialen Infrastrukturen kommt die Idee eines anderen kollektiven Wohlstands zum Ausdruck, die imstande ist, gemeinsame Interessen an einem öffentlichen Reichtum überhaupt erst zu artikulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. Candeias 2019, 6). Außerdem bietet sich die Chance, aus fruchtlosen, von Gegensätzen geprägten linken Debatten herauszukommen, und zwar hinsichtlich mehrerer Streitfragen:

Das bedingungslose Grundeinkommen: Von diesem Grundeinkommen erhoffen sich beispielsweise Erwerbslose, Soloselbstständige und prekär Beschäftigte mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten dagegen weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Die Idee „sozialer Infrastrukturen“, verbunden mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, kann hier neue Perspektiven aufzeigen und neue Bündnisse ermöglichen.

Die Wachstumsfrage: Auch an diesem Punkt steckt die linke Debatte fest: zwischen Positionen von Degrowth-Anhänger*innen und denen keynesianisch inspirierter Vertreter*innen qualitativen Wachstums. Dabei streitet niemand ab, dass bestimmte Bereiche schrumpfen müssen, etwa die mit hohem Stoffumsatz verbundene industrielle Produktion, und andere zunächst wachsen müssen, wie die gesamte Care-Ökonomie und eben die sozialen Infrastrukturen, bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Ein solches qualitatives Wachstum ist übergangsweise notwendig, nicht zuletzt aufgrund der Lücken in vielen Bereichen der Reproduktion. Auch alternative industrielle Produktion ist notwendig – dies gilt vor allem für Länder des globalen Südens, aber auch hier für ressourcen- und klimaschonende Innovationen. Ein simpler Gegensatz von Wachstums- versus Postwachstumspositionen ist daher kontraproduktiv. Es muss um ein Einschwenken auf einen mittelfristigen Kurs einer „Reproduktionsökonomie“ (Candeias 2011) gehen, in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr stofflich wachsen. Soziale Infrastrukturen stünden im Zentrum einer solchen Reproduktionsökonomie.

Sie wären damit auch die wichtigste Säule für eine neue öffentliche Ökonomie, ohne die eine sozialökologische Transformation kaum möglich sein wird. Es gibt nur wenig Ansätze, die einer öffentlichen Produktionsweise eine eigene ökonomische Qualität zugestehen. Ausnahmen sind zum Beispiel die Ansätze eines "Public Value" (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder einer "Sozialwirtschaft" (Müller 2005 u. 2010). Dafür notwendig wäre eine andere gesellschaftliche Buchführung, die vorhandene wie benötigte Ressourcen gebrauchs- und bedarfsorientiert ins Verhältnis setzt und die die Frage ins Zentrum stellt, zu welchem Zweck und wie wir diese Ressourcen eigentlich einsetzen wollen. Eine solche gesellschaftliche Buchführung könnte eine von kapitalistischen Werttransfers unabhängige Grundlage für eine öffentliche Produktionsweise bieten. Der Sozialstaat wäre dann nicht nur kompensatorisch für den Ausgleich sozialer Verwerfungen und als Stabilisator in Zeiten von Krise zu denken, sondern wäre selbst Element einer solchen öffentlichen Ökonomie. Er wäre die Grundlage einer anderen Form des Produzierens und Reproduzierens, die mit dem Begriff grüner Infrastruktursozialismus umschrieben werden kann.

Verbindende Klassenpolitik für den grünen Infrastruktursozialismus…

Für anstehende sozialökologische Transformationskonflikte ist eine ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur ein Sicherheitsversprechen, das notwendig gewordenen Veränderungen das Bedrohliche nimmt und eine positive Zukunft denkbar werden lässt. Viele Bewegungen und die LINKE haben sich in den letzten Jahren bereits am Konzept der sozialen Infrastrukturen orientiert und es zu einem verbindenden Projekt werden lassen. Hier treffen sich Fragen der Umverteilung mit denen nach Freiheitsrechten und Demokratie, Fragen der Klassenpolitik mit Fragen der Anerkennung und Ermöglichung von Diversität und verschiedenen Lebensweisen.

Auch von anderer Seite wird der Frage sozialer Infrastrukturen (endlich) neue Bedeutung zugemessen: Eine neue "Fundamentalökonomie", wie Wolfgang Streeck es im Anschluss an eine englische Autorengruppe nennt (Foundational Economy Collective 2019), ist ein Bezugspunkt auch für sozialdemokratische Intellektuelle (vgl. u.a. SPW 2019), für Gewerkschaften wie die IG Metall, ver.di, die Eisenbahn- & Verkehrsgewerkschaft oder die GEW, aber auch für Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch für die Umweltbewegung und -verbände.

Die Bedingungen für große progressive Entwürfe sind gerade nicht gut, es stehen beinharte Auseinandersetzungen um die immensen Kosten der Krise bevor. Zugleich hat die Corona-Krise viele vermeintlich feststehende Wahrheiten infrage gestellt und aufgezeigt, dass politische Reaktionsmuster ins Wanken geraten können. Innerhalb kürzester Zeit war es nicht nur möglich, im Sinne der Pandemieprävention die Wirtschafts- und Konsumkreisläufe ganzer Gesellschaften herunterzufahren und damit – zumindest vorübergehend – das Primat der Politik vor das der Ökonomie zu setzen. Es ist im Zuge der Krisenbekämpfung auch möglich geworden, große staatliche Finanzvolumina zur Stützung von Unternehmen, Erwerbstätigen und öffentlichen Infrastrukturen sowie zur Ankurbelung der Konjunktur zu mobilisieren und dafür die "schwarze Null" von heute auf morgen über Bord zu werfen. Auf der Ebene der europäischen Regierungen wurde zudem das Verbot der gemeinsamen Verschuldung geschliffen. Das alles bedeutet für den weiteren Fortgang der Krise noch gar nichts, wie erwähnt stehen beinharte Verteilungskämpfe bevor. Es zeigt aber doch, dass das bisher scheinbar so fest verankerte marktliberale TINA-Prinzip[3] in einer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung aufgeweicht wurde. Unter der Wucht der Pandemie gewannen nicht nur eine andere Finanz- und Schuldenpolitik, sondern allgemein eine vorausschauendere, staatliche Steuerung und Intervention an Attraktivität. An solchen Tabubrüchen gilt es anzusetzen. Es sind kleine erweiterte Spielräume für eine gesellschaftliche Linke, die es zu nutzen gilt, um neue, um andere Pfade denkbar zu machen und zu erkämpfen (vgl. IfG & Friends 2020).

…und wo sie heute schon stattfindet

Um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen wird von vielen Akteuren bereits konkret gekämpft. Am sichtbarsten ist dies momentan wohl im Gesundheitswesen der Fall. In der ab September anlaufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (ÖD) wird es um eine Aufwertung der Pflege gehen. Bund und Länder haben angekündigt, dass es angesichts der Krise nichts zu verteilen gibt. Trotz des größten Rettungspakets der Geschichte soll es für die „systemrelevanten“ Berufe also bei einer symbolischen Anerkennung bleiben. Für höhere Löhne in der Pflege, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Personalquoten wird schon seit Langem gestreikt und gekämpft. Die Forderung nach einer bedarfsorientierten Finanzierung und nach mehr Personal in diesem wichtigen Bereich des Gesundheitswesens könnte zu einem Kristallisationspunkt von Kämpfen sowohl von Beschäftigten als auch von Nutzer*innen sozialer Infrastrukturen werden. Im Sinne eines Infrastruktursozialismus geht es außerdem darum, diese wichtigen Funktionen in gesellschaftliche Verantwortung zurückzuholen – also um eine Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Ähnlich steht es um Bildung und Erziehung, auch hier wird im Rahmen der Tarifrunde ÖD für eine Aufwertung und für bessere Angebote gestritten. Und auch hier hat die Pandemie schonungslos offengelegt, wie schlecht dieser elementare Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausgestattet ist – und zwar sowohl was das qualifizierte Personal angeht als auch die physische und digitale Hardware. Um in den Bereichen Bildung, Erziehung und soziale Arbeit verlässliche soziale Infrastrukturen für alle durchzusetzen, bedarf es neben einer besseren tariflichen Entlohnung des Personals des Ausbaus von Kitaplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten. Zudem wird vonseiten der Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, der Partei DIE LINKE und anderen schon seit Längerem für die bundesweite Abschaffung von Kitagebühren gestritten. Mit diesen Maßnahmen könnte die in Deutschland besonders dramatisch ausgeprägte Bildungsungleichheit verringert und mehr Teilhabe und Demokratie möglich werden.

Parallel zur Tarifrunde im ÖD werden erstmals bundesweit die Tarife im öffentlichen Nahverkehr verhandelt. Neben einer Entlastung durch mehr Personal geht es um einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Angesichts der zugespitzten Klimakrise ist das Letztere ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Fridays for Future, ver.di, die LINKE und andere wollen diese Auseinandersetzungen als gemeinsames Projekt angehen. Konkrete Schritte, um „Mobilität für alle“ als soziale Infrastruktur zu entwickeln, gibt es in einigen Städten schon: Der Einstieg in einen generellen Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist ein kostenloses Jahresabo für Schüler*innen, Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, kombiniert mit der Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle anderen. Dies soll den notwendigen Umstieg vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel erleichtern. Damit der steigende Bedarf an öffentlichen Nah- und Fernverkehrsmitteln überhaupt gedeckt werden kann, muss das Schienennetz ausgebaut und muss eine alternative Produktion von Straßenbahnen, E-Bussen, Zügen, U-Bahnwaggons etc. angeschoben werden. Zumindest Teile davon könnten in öffentlichen Unternehmen realisiert werden und wären damit ein weiterer Baustein der oben skizzierten öffentlichen Ökonomie.

Im Bereich Wohnen & Miete ist die Auseinandersetzung schon weiter. Hier geht es um die Verteidigung eines gesetzlichen Mietendeckels, wie er bisher in Berlin beschlossen wurde, und darum, ihn auf andere Bundesländer auszuweiten. Auch hier wird konkret über Vergesellschaftung diskutiert. Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co hat dies zum Ziel. Um die Menge an bezahlbarem Wohnraum zu erhöhen, wird der Bau von Sozialwohnungen in großer Zahl über eine „neue Gemeinnützigkeit“ ins Auge gefasst. Auch die Gründung einer öffentlichen Bauhütte, also eines Verbunds von Gewerken in öffentlicher Hand, wäre nützlich, um sich von der Bauindustrie unabhängig zu machen.

Auch in feministischen Debatten und Kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit spielt der Ausbau sozialer Infrastrukturen seit Jahren eine wichtige Rolle. Die internationale Bewegung für einen feministischen Streik und Debatten um eine feministische Klassenpolitik stellen die Aufwertung und Entlastung entlohnter wie unbezahlter Sorgearbeit ins Zentrum. Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit zielt auf eine Ausweitung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen, genauso wie hierzulande das queer-feministische Netzwerk Care Revolution. Dort organisieren sich unentlohnt Sorgende zusammen mit professionellen Care-Arbeiter*innen und denjenigen, die als Patient*innen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Gute Arbeitsbedingungen und Ausstattung in Kitas, Ganztagsschulen, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz reduzieren die Überlastung insbesondere von Frauen und ermöglichen eine Aufwertung wie eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit (vgl. Fried/Schurian 2016).

Kämpfe um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren in der weltweiten Bewegung für solidarische Städte gebündelt (vgl. Christoph/Kron 2019). Städte und Kommunen werden hier als Terrain gesehen, um eine demokratische Teilhabe und den Zugang zu lebenswichtigen Leistungen und Infrastrukturen für Geflüchtete und Illegalisierte lokal zu ermöglichen. New York City hat als erste Stadt eine “City Card” eingeführt, eine Art kommunales Personaldokument, das den Zugang zu städtischen Leistungen wie Gesundheit und Bildung ermöglicht sowie den Besuch von Bibliotheken und Museen, aber auch die Eröffnung eines Bankkontos und Abschluss eines Mietvertrags. Darüber hinaus bietet die "City Card" Schutz vor racial profiling, Polizeigewalt und Abschiebung – sie wird von der lokalen Polizeibehörde anerkannt und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Papiere. Auch in Europa wird an vielen Orten über eine "City Card" diskutiert. Zürich und Bern gehen hier voran,[4] aber auch in Berlin denkt die LINKE über die Einführung eines solchen Ausweisdokumentes nach (vgl. Frank 2019).

In Sachen Finanzierung braucht es Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen. Absehbar ist bereits jetzt, dass die Argumente und Konzepte der Austerität spätestens nach der nächsten Bundestagswahl mit Wucht durchschlagen werden. Spätestens dann wird genauer darüber verhandelt werden, wie und von wem die zur Pandemiebekämpfung aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden sollen. Das alles findet unter anderem vor dem Hintergrund der weiterhin ungelösten Altschuldenproblematik der Kommunen in Höhe von derzeit geschätzt rund 45 Milliarden Euro statt.Die Kommunen aber sind die Orte, an denen die Menschen ganz maßgeblich ihre Alltagserfahrungen sammeln und ihre Leben gestalten. Weitere Einschränkungen in weiten Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge werden der Entdemokratisierung, dem Frust und der Akzeptanz destruktiver Konzepte der Rechten sowie weiteren Klassenspaltungen Vorschub leisten. Umgekehrt kann der Ausbau sozialer Infrastrukturen, wie beschrieben, nicht nur Ungleichheiten bekämpfen, sondern eben auch mehr Demokratie und Teilhabe (auch vormals in der Öffentlichkeit unterrepräsentierter Gruppen) ermöglichen.

Für all das braucht es starke Initiativen von unten, die für eine solche Perspektive weitere kampagnenfähige und öffentlichkeitswirksame Kristallisationspunkte identifizieren, an denen es sich lohnt, auf verschiedenen Ebenen (kommunal, national, europäisch etc.) gleichzeitig produktive Konflikte aufzumachen und voranzutreiben. Dafür müssen auch und vor allem diejenigen gewonnen werden, die unter den derzeitigen Mängeln der sozialen Infrastrukturen am stärksten leiden.

Es wird entscheidend sein, ob es bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr gelingen wird, einen sozialökologischen Block zu formen, der Aufwertung und Ausbau sozialer Infrastrukturen zum Fluchtpunkt eines gemeinsamen Projekts macht (das auch nach der Wahl noch Bestand hat). Denn nur mit massivem gesellschaftlichen Druck und einer Bündelung von Kräften lassen sich konsequente Schritte in diese Richtung durchsetzen – Schritte in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus.

Fußnoten

[1] Die soziale Ungleichheit fällt nach neuesten Zahlen noch drastischer aus, als bislang angenommen: Demnach besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland rund 35 Prozent statt, wie bislang angenommen, 22 Prozent des Nettovermögens, die oberen zehn Prozent 67,3 statt 58,9 Prozent (Bartels u.a. 2020).

[2] Dies bedeutet nicht, die Bedeutung und Errungenschaft des klassischen Sozialversicherungsmodells zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Eine demokratischere, solidarischere Gesellschaft muss auch das Sozialversicherungswesen in den Blick nehmen, ausbauen und universalisieren, um die individuellen Risiken und Brüche im Lebenslauf besser abzusichern. Das heißt unter anderem, dass Elemente einer Mindestsicherung (etwa eine Mindestrente, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, oder eine Kindergrundsicherung etc.) gegenüber leistungsbezogenen Anwartschaften verstärkt werden und die Versicherungspflichten ausgeweitet werden müssen. Denkbar wären hier eine umfassende Erwerbstätigenversicherung (unter Einbeziehung auch von Beamt*innen, Freiberufler*innen, Selbstständigen etc.) im Rentensystem sowie eine Bürgerversicherung aller im Gesundheitswesen und eine solidarische Pflegevollversicherung.

[3] TINA: There Is No Alternative.

[4] Vgl. www.zuericitycard.ch/ und https://wirallesindbern.ch/city-card/.

Literatur

AG links-netz, 2012: Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur, http://wp.links-netz.de/?p=23

Bartels, Charlotte/Göbler, Konstantin/Grabka, Markus/König, Johannes/Schröder, Carsten, 2020: MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, DIW-Wochenbericht 29/2020

Behr, Dieter A., 2010: Crossing Borders, in: Kulturrisse, März 2010

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

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Schachtschneider, Ulrich/Candeias, Mario, 2013: Kontrovers: Ökologisches Grundeinkommen vs. soziale Infrastruktur und kollektiver Konsum, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/kontrovers-oekologisches-grundeinkommen-2/

SPW – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 2019: Von der Kapitallogik zur gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie, Heft 235, www.spw.de/xd/public/content/index.html?sid=heftarchiv&year=2019&bookletid=176

Streeck, Wolfgang, 2019: Vorwort, in: Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M., 7–32

Wohlfahrt, Norbert, 2015: Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen – Die Ökonomisierung sozialer Dienste, in: LuXemburg 1/2015, www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-geschaeft-mit-grundbeduerfnissen/

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.

Moritz Warnke ist Referent für Soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur dieser Zeitschrift. Er ist im Landesvorstand der Berliner LINKEN und vertritt den Landesverband in der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«.

Eva Völpel arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für Wirtschaftspolitik.

Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist im Netzwerk Care Revolution aktiv und arbeitet zu Fragen von Sorgearbeit und Feminismus.

Hannah Schurian ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg. Sie ist Redakteurin dieser Zeitschrift.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/reichtum-des-oeffentlichen

#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor, so dass weitere Einschränkungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu befürchten sind. Zeit, den Sozialstaat und seine Finanzierung gründlich zu erneuern, schreiben die Autor:innen. Dabei geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Der Artikel zeigt, vor welchen Herausforderungen die sozialen Sicherungssysteme stehen, wie ein Sozialstaat aussehen kann, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist und wo schon jetzt ganz konkret um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen gekämpft wird.

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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Der feministische Streik betrifft bezahlte wie unbezahlte Arbeiten von Frauen und Queers und stellt zur Debatte, inwiefern sie sich gegenseitig bedingen. Im feministischen Streik kommen so zwei Bereiche zusammen, die meist nur getrennt voneinander gedacht und getrennt voneinander organisiert werden. Feministisch Streiken birgt daher ein enormes Potenzial, aber auch Spannungen.

Welche Unterschiede bestehen in den Herangehensweisen, Logiken und Kulturen von Bewegungen und Gewerkschaften? Wie kann für die Aktivist*innen erfolgreiche Bündnisarbeit aussehen?

Ein Streik am Universitätskrankenhaus Jena hat es vorgemacht, Interviews mit den beteiligten Akteur*innen zeichnen es nach.

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Raum nehmen! Warum wir eine feministische Verkehrsplanung brauchen

Mai 2020 • Janna Aljets

Foto: Ma Ti / Unsplash

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Mobilität, Feminismus, Alternativen#Mobilität #Feminismus #Alternativen

Straßenschluchten und Gehwege, U-Bahn-Stationen und Spielplätze scheinen allen Menschen der Stadt offenzustehen und universal zugänglich und verfügbar zu sein. Ein Fahrstuhl kann ebenso von allen genutzt werden wie der vierspurige Innenstadtring – oder etwa nicht? So unterschiedlich die Städte der Welt sind, so sehr ähneln sie sich in einer Sache: In ihnen materialisieren sich auch der männliche* Blick, die patriarchalen Verhältnisse und eine auf den männlichen* und weißen* »Normalbürger« zugeschnittene Produktions- und Lebensweise. Damit privilegieren sie wenige und negieren die Bedürfnisse vieler anderer.

Betrachtet man die heutige kapitalistische Stadt, ihren Verkehr und die (Im-)Mobilität ihrer Bewohner*innen aus einer feministischen intersektionalen Perspektive, so fällt eines auf: die Dominanz des Autos. Es ist der »Autozentrismus«, die Fokussierung und Privilegierung des Automobils, der die Mobilitätsbedarfe von Frauen*, aber auch von marginalisierten Gruppen systematisch vernachlässigt, zugunsten eines überholten Geschlechter- und Städtemodells. Anders ausgedrückt: In der Dominanz des Autos kulminieren die patriarchalen, rassistischen und klassistischen Herrschaftsverhältnisse, die unsere Städte und ihre Verkehrssysteme prägen. Eine intersektionale und nachhaltige Städte- und Verkehrsplanung muss diesen Zusammenhang in den Blick nehmen.

Das Auto als Ausdruck hegemonialer Männlichkeit

Es ist unstrittig, dass unser heutiges Verkehrssystem um das Auto als wichtigstem Verkehrsmittel herum aufgebaut ist. Dieser Autozentrismus geht aber weit über die Ausrichtung der Infrastruktur auf das Auto und die Dominanz des Industriezweigs hinaus. Er ist auch eine Geschlechterfrage. Wie kein anderes Konsumgut ist das Auto emotional aufgeladen und wird erfolgreich als das Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit, aber eben auch für Stärke, Dominanz, Kraft und Technik vermarktet – alles Begriffe, die Männlichkeit konstruieren und aufrechterhalten.

Bis heute wirkt das Bild nach, dass Pkw-Fahrer männlich und Beifahrer*innen weiblich sind und dass das Schrauben und Polieren den stolzen Vätern und »echten Männern« vorbehalten ist, die sich auf Technik verstehen. Oder, wie Dan Albert (2019) es formuliert: »Driver’s ID made teenagers into citizens; auto repair made boys into men.« Ein rücksichtsloses Verhalten von Männern im Verkehr spiegelt sich auch in den Unfallstatistiken wider: So sind Männer deutlich häufiger Verursacher von schweren und tödlichen Unfällen. Das trifft ebenso auf »Kavaliersdelikte« wie Trunkenheit, Raserei oder Falschparken zu (Statistisches Bundesamt 2018). Margarete Stokowski (2019) analysiert brillant, was die aufgeheizte Diskussion um Tempolimits in Deutschland mit angekratzter Männlichkeit zu tun hat: »Überall, wo es um Einschränkungen vermeintlich besonders männlicher Tätigkeiten geht, egal ob Fleischessen, Böllern oder schnelles Autofahren, stehen jedes Mal Bataillone von Politikern oder Journalisten bereit, die erklären, dass hier eine vermeintlich gottgegebene menschliche Freiheit mit völlig unvernünftigen, lustfeindlichen Beweggründen wegkastriert werden soll.«  Es ist fast lustig, wenn es nicht so traurig wäre.

In diesem Sinne müssen Motoren laut und schmutzig sein oder wenigstens in ihrer E-Variante ordentlich PS aufweisen. Autos werden zunehmend so gebaut, dass sie wie kleine Panzer die Straßen dominieren. Fahrräder und Fußgänger*innen müssen sich entschuldigend an ihnen vorbeizwängen, denn Straßen werden für Autos gebaut – und zwar ausschließlich für sie. Der für die Autobauer sehr lukrative SUV-Trend treibt diese Dominanz auf die Spitze. In gewisser Hinsicht erscheint er wie das Pendant zu »Manspreading« (Männer sitzen an öffentlichen Orten mit gespreizter Beinhaltung) und »Mansplaining« (herablassende Erklärung eines Mannes, der überzeugt ist, er wisse mehr als sein weibliches Gegenüber).

Der Raum wird sich genommen, ohne Rücksicht auf Verluste, auf andere Mitmenschen, auf Schwächere, Benachteiligte oder die Umwelt. Das Recht des Stärkeren wird hier bedingungslos ausgelebt, propagiert und gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Oder, wie es die Werbung für den Ford Mustang ausdrückt: »Denken Sie einmal nicht an Ihre Kinder.« Dieser katastrophale Trend, der die Unfallstatistiken und die Rendite von Autobauern in die Höhe treibt, zieht zudem eine Art Wettrüsten nach sich. Wenn immer mehr Zwei-Tonnen-Panzer auf den Straßen unterwegs sind, erscheint das Fahren normal großer Autos gegenüber den SUV nicht mehr sicher zu sein. Es braucht ein größeres Auto für das maximale Sicherheitsbedürfnis, was wiederum die Unsicherheit aller anderen verstärkt.

Dass auch immer mehr Frauen* große und umweltverschmutzende Autos fahren und dass gerade marginalisierte Männer oft darauf hinarbeiten, sich das dicke Auto als Statussymbol anzueignen, zeigt die Widersprüche auf, aber widerlegt das Argument in seiner Essenz nicht. Denn bei der Zurschaustellung hegemonialer Männlichkeit geht es nicht darum, »natürliche«, biologisch gegebene Eigenschaften auszuleben, sondern um gesellschaftliche Verhaltenserwartungen, um soziale Dominanz und symbolische Macht, die Weiblichkeit, aber auch andere Männlichkeiten abwertet – und zugleich einen Anpassungs- und Konkurrenzdruck erzeugt.

Verkehr wird von »echten Männern« gelenkt

Doch nicht nur der emotional aufgeladene Fetisch Auto macht den Verkehrssektor zu einer männlich dominierten Branche. So scheint der Verkehrssektor eine Bastion zu sein, auf deren Chefetagen weiße Männer noch unter sich sein können (die 1. Klasse in Flugzeugen und Bahnen mal ausgenommen) und wo andere Perspektiven kaum sichtbar sind und berücksichtigt werden. Die Dominanz dieser privilegierten weiß-männlichen Perspektive beginnt beim deutschen Verkehrsministerium, das seit seinem Bestehen keine einzige Ministerin hervorbrachte und auch sonst in den höhergestellten Positionen fast durchgehend männlich und weiß ist (Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2020).

Der Gender-Gap in der produzierenden Industrie ist auffällig und mit Zahlen belegt: In der Autoindustrie machen Frauen* schätzungsweise gerade einmal 14 Prozent der Belegschaft aus, was weit unter dem Durchschnitt anderer industrieller Branchen liegt. Der Frauen*anteil fällt zudem, je weiter die Besoldungsstufe bzw. Qualifikation steigt, in den Vorständen sucht man sie fast vergeblich.

Die Frauen*anteile variieren zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen: Bei den Automobilherstellern betrug der Frauen*anteil im Jahr 2008 lediglich zwölf Prozent, bei der Zuliefererindustrie zwischen 12,2 und 18 Prozent aller Beschäftigten (IG Metall 2010). Bis in die 1980er Jahre waren Frauen- bzw. Leichtlohngruppen vorhanden, die eine gesonderte (d. h. schlechtere) Bezahlung vorsahen (Deutscher Gewerkschaftsbund 2013).

Diese heute fast schon seltene männliche Exklusivität setzt sich in anderen Bereichen fort. So fällt die Verkehrs- und Stadtplanung in den Kommunen und Verwaltungen zum größten Teil in die Zuständigkeit von Männern und auch in den politischen Parteien finden sich wenige Frauen*, die zu diesem Thema sprechen. Sogenannte Verkehrsexperten sind fast immer Männer*, auf Fachkonferenzen nicken sich die wenigen anwesenden Frauen* bestärkend zu. So wundert es kaum, dass Verkehr weiterhin das Männerthema zu sein scheint.

Wohin führt die hegemoniale Männlichkeit im Verkehrssektor?

Mehr Frauen* und Vertreter*innen marginalisierter Gruppen in Machtpositionen garantieren noch keine geschlechtersensible Stadt- und Verkehrsplanung. Doch wenn diese Perspektiven in Gremien und Expertenrunden gar nicht vertreten sind, dominieren in der Verkehrsplanung zwangsweise die Transport- und Mobilitätsbedürfnisse vollzeiterwerbstätiger Männer*. Die moderne Stadtplanung bleibt damit ihrem fordistischen bias verhaftet: Sie entwirft und verwaltet Städte, die sich am männlichen Alleinverdiener und dessen Konsum- und Produktionsmustern orientieren. Damit werden Geschlechterbilder und Lebensweisen reproduziert und verfestigt, die eigentlich schon längst im Umbruch sind.

So gehen etwa die Straßenführungen zahlreicher Städte von langen Pendlerwegen zwischen Wohnort und Lohnarbeit aus, die einmal täglich vom implizit männlichen Erwerbstätigen zurückgelegt werden. Idealerweise im privaten Pkw auf der städtischen Autobahn. Zugeschnitten auf das Familien- und Mobilitätsideal der 1950er Jahre, das Städte nach dem Prinzip der »autogerechten Stadt« und der »freien Fahrt für freie Bürger« konzipierte. Straßen führen hin zur Arbeit, dem vermeintlichen Zentrum der produktiven Wirtschaft, und durchschneiden rücksichtslos Wohn- und Lebensbereiche.

Die Arbeiten, die in diesem Modell von Frauen* ausgeführt und als »weiblich« konstruiert werden, und die dazugehörigen Wege verlaufen weniger linear und noch weniger planbar. Care-Arbeit wie das Versorgen von Kindern und Älteren, das Einkaufen, das Abholen und Bringen umfassen sehr viel mehr Wegstrecken innerhalb eines Tages, die oft deutlich komplexer sind und idealerweise im direkten Wohnumfeld (Schule, Kita, Arzt, Supermarkt) stattfinden. Sorgearbeitende sind somit viel stärker auf kurze und sichere Fuß- und Radwege und auch auf einen gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) angewiesen. Und auch hier haben sie spezifische Bedürfnisse, etwa beim Transport: Eltern sind oft mit Kinderwägen unterwegs, die breitere Gehwege, flache Bordsteinkanten und leichte Ein- und Ausstiege beim ÖPNV erfordern – ebenso wie Menschen mit Behinderung (Murray 2018). All diese Bedürfnisse werden in einem rein männlichen Blick auf Städte- und Verkehrsplanung übersehen.Die Priorität wird dann auf schnelle Autostraßen gelegt anstatt auf eine gute Verzahnung und Erreichbarkeit verschiedener Verkehrsangebote im unmittelbaren Wohnumfeld.

Bewegung feministisch gedacht

Wie würden nun aber Verkehr und Mobilität aus feministischer und intersektionaler Perspektive umgestaltet werden? Während die toxische und hegemoniale Männlichkeit auf dem Prinzip des Stärkeren und damit auf Exklusivität basiert, muss es um Inklusivität und die Rücksichtnahme auf Schwächere und gesellschaftlich Benachteiligte gehen. Mobilität bedeutet die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Schon aus einem demokratischen Anspruch heraus muss sie allen zugänglich sein und ist Teil einer sozialen Daseinsvorsorge. Daraus ergeben sich vier Leitlinien einer radikalen Wende im Verkehrssektor:

1 // Mobilität für alle: Während Städte bisher für Autos und damit für die stärksten (und meist auch einkommensstärksten) Verkehrsteilnehmer*innen (um-)gebaut werden, müssten sie zugänglich für alle Menschen sein. Die Bewegungsfreiheit einiger darf nicht länger die Mobilität vieler anderer beschneiden. Mobilität muss unabhängig von Geschlecht, Einkommen oder Hautfarbe sicher, bezahlbar, barrierefrei sowie umweltfreundlich sein.Diese Ansprüche weisen deutlich auf kollektive Verkehrsmittel sowie auf Fahrrad- und Fußverkehr hin. Diese Transportmittel verbrauchen deutlich weniger Platz und Ressourcen, produzieren weniger Lärm und Luftverschmutzung. Zudem können sie in der Regel deutlich günstiger Mobilität für viele ermöglichen. Das allein schließt schon die bisher übliche Normalbewegungsform in einem Privat-Pkw mit Verbrennungsmotor aus.

2 // Sicherheit für alle: Bislang ist das Verkehrssystem auf die jungen und fitten sowie die Wohlhabenden zugeschnitten. Doch alte Menschen, Kinder und Menschen mit körperlichen Einschränkungen haben andere Bedürfnisse nach sicherer Mobilität. Nicht umsonst ist die Fahrrad-Infrastruktur ein Schlüsselindikator für eine gerechtere und inklusivere Mobilität. Je besser und sicherer diese ist, desto mehr Frauen*, Kinder und alte Menschen fahren Rad (El País 2019).  Zudem müssen insbesondere Frauen und People of Color im öffentlichen Raum mit der Angst vor Übergriffen oder Belästigung leben. Dunkle Tiefgaragen, schlecht beleuchtete Bahneingänge und Unterführungen können für sie zu Schreckensorten werden. Auch der ÖPNV bedeutet in dieser Hinsicht oft Stress – um das eigene Auto nicht zum einzig sicheren Rückzugsort werden zu lassen, den man sich leisten können muss, braucht es Konzepte, wie solche Räume für alle sicher werden können.

3 // Fokus auf Beziehungsarbeit: Nicht zuletzt müssen die Wege, die Sorgearbeit erfordern, stärker in den Blick kommen. Die »Mobility of Care« ist eine kompliziertere, kleinteiligere und multifunktionale Mobilität. Mobilität bedeutet hier auch Beziehungsarbeit, der Kontakt mit und zwischen Menschen ist essenziell. Es ist daher nicht erstaunlich, dass sich viele Frauen* wie auch ältere Menschen mehr öffentliche Räume für Begegnungen in den Städten wünschen (BBC 2019). Einfache und einladende Sitzgelegenheiten und Parks können Sorge- und Beziehungsarbeiten erleichtern und ermöglichen – und sie zugleich aus der Abschottung des »Privaten« holen. Wenn der städtische Raum von kommerziellen Flächen und Parkplätzen aufgefressen wird, werden diese Begegnungen unmöglich.

4 // Fehlerfreundlichkeit: Ein inklusiver Ansatz erfordert es, dass Verkehr fehlerfreundlicher wird. Fehlerfreundlich für Menschen, die nicht, noch nicht oder nicht mehr schnell laufen können oder nicht gut sehen oder hören oder sich schlichtweg nicht gut auskennen. Das kann längere Ampelschaltungen, breitere Radwege, barrierefreie Kennzeichnungen, Fahrstühle und vieles mehr mit sich bringen. Das bedeutet aber auch, das vermeintliche Recht der Schnelleren und Stärkeren aktiv und gezielt einzuschränken.

Voranbringen müsste eine feministische und intersektionale Verkehrswende diejenigen, die vom dominanten Autozentrismus am meisten betroffen sind und/oder schon jetzt an Alternativen arbeiten: Eltern, Fahrradaktivist*innen, Umweltschützer*innen, alte Menschen und Kinder. Es braucht hier noch stärker gemeinsamen organisierten Druck von unten, neue Allianzen sind hier denkbar und wünschenswert. Doch auch innerhalb etablierter Institutionen in Parteien, NGOs und Ministerien sowie in der Kommunalpolitik braucht es radikale Veränderungen. Ohne die Repräsentanz und die Stimmen von zum Beispiel Frauen und marginalisierten Communities ist keine geschlechtersensible und intersektionale Planung möglich.

Die (männliche) Dominanz der Autos in unseren Städten müsste zurückgedrängt werden. Zugleich wird das in jeder Stadt anders aussehen, denn Planung und Umsetzung des Wandels müssen mit den Menschen erarbeitet werden. Am Ende könnten von diesen Leitlinien tatsächlich alle profitieren: Eine andere Verkehrsplanung bedeutet mehr Zugang, Gerechtigkeit, Ruhe, Platz, frische Luft, Sicherheit und (Begegnungs-)Raum für alle.

Literatur

Albert, Dan (2019): Are We There Yet? The American Automobile Past, Present, and Driverless, New York.

BBC (2019): What would a city designed by women be like?

Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2020): Organigramm.

Deutscher Gewerkschaftsbund (2013): Gleiches Geld für gleichwertige Arbeit.

El País (2019): Las mujeres necesitan más los carriles bici que los hombres para pedalear.

Murray, Christine (2018): What would cities look like if they were designed by mothers?, in: The Guardian, 27.8.2018.

Statistisches Bundesamt (2018): Verkehrsunfälle. Unfälle von Frauen und Männern im Straßenverkehr.

IG Metall (2010): Frauenbeschäftigung in der Automobilbranche. Entwicklung und aktuelle Situation.

Vgl. https://twitter.com/M_arvinR_oss/status/1002102147843051521.

Janna Aljets ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung gegen Kohle, Autos und Macker aktiv und hat im Brüsseler Büro der RLS den Themenbereich zur Transformation der Automobilindustrie und der Verkehrswende aufgebaut.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/raum-nehmen-warum-wir-eine-feministische-verkehrsplanung-brauchen

#Mobilität #Feminismus #Alternativen

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Mobilität bedeutet die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Schon aus einem demokratischen Anspruch heraus muss sie allen zugänglich sein und ist Teil einer sozialen Daseinsvorsorge. Betrachtet man jedoch die heutige Stadt- und Verkehrsplanung, so fällt eines auf: die Dominanz des Autos. Aus einer feministischen und intersektionalen Perspektive zeigt der Beitrag, wie die autogerechte Stadt die Mobilitätsbedarfe von Frauen* und marginalisierten Gruppen vernachlässigt, zugunsten eines überholten Geschlechter- und Städtemodells. Vier Leitlinien zeigen den Weg für eine radikale Wende, von der letztlich alle profitieren: Eine andere Verkehrsplanung bedeutet mehr Zugang, Gerechtigkeit, Ruhe, Platz, frische Luft, Sicherheit und (Begegnungs-)Raum für alle.

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Wie können wir unsere Organisationen demokratischer machen? Wie können wir Inklusion in der Praxis stärker in unserem Aktivismus verankern? Wie können wir als Aktivist*innen, Multiplikator*innen, politische Bildner*innen, Bürger*innen, Mitglieder von Bewegungen und Organisationen feministische Werte in unsere Arbeit und in unseren Alltag einbringen und umsetzen? Die munizipalistische Bewegung hat diese Fragen eingehend diskutiert und politische Vorschläge und Praxen entwickelt, um die Politik zu demokratisieren und dabei den Feminismus ins Zentrum zu rücken. Ergebnis dieser politischen Arbeit ist das vorliegende Toolkit, das als Inspiration, Diskussionsgegenstand und Praxishilfe dienen soll. Die Publikation bietet Einblicke in die Prozesse, Erfahrungen und Diskussionen der Bewegung und stellt zahlreiche praxiserprobte Werkzeuge vor, die in verschiedenen Städten aus der spezifischen munizipalistischen Erfahrung gewonnen wurden.

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Wenn der Gürtel nicht mehr enger geht

Austeritätspolitik in Europa und ihr Einfluss auf das Leben von Frauen

Juni 2018

Feminismus, Krise, Krankenhaus, Pflege#Feminismus #Krise #Krankenhaus #Pflege

«Ohne uns steht die Welt still.» Das war der Slogan, unter dem mehrere Millionen Frauen am 8. März 2018 in Spanien in den Generalstreik traten. Der Streik gab Ihnen die Möglichkeit, verschiedene Themen zu diskutieren und sich zu organisieren: Arbeit, Pflege, Konsum.

Keine andere soziale Bewegung von links hat in den letzten Jahren weltweit so erfolgreich protestiert und sich gegen patriarchale Strukturen gestemmt wie die feministische Bewegung.

Die Gründe sind vielfältig und von Land zu Land verschieden. Dennoch gibt es eine europäische Gemeinsamkeit: Mit Beginn der Finanzkrise im Jahr 2007, die sich später zur Eurokrise ausweitete, verschrieben sich viele Länder einer absoluten Austeritätspolitik.

In Südeuropa und Irland waren es hauptsächlich die Europäische Union und der internationale Währungsfonds, die das Sparen diktierten. In Osteuropa war es der Erfolgsdruck der neuen Mitgliedsländer gegenüber der EU und eine gewünschte schnelle Integration in den europäischen Wirtschaftsmarkt, die die Regierungen Sparhaushalte aushandeln ließ.

EU-Beitrittskandidaten wie Serbien und EU-Nachbarländer wie die Ukraine unterwarfen sich in vorauseilendem Gehorsam der EU und ihren Forderungen, um den Beitrittsfortschritt und die Annäherung nicht zu gefährden.

Wie auch immer — das Mantra des Sparens zu Gunsten eines ausgeglichenen Haushaltes, besserer Wettbewerbsfähigkeit und der Schuldenvermeidung hat verheerende Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen sowie auch generell auf die Geschlechterbeziehungen.

In den von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gegebenen Länderstudien zu den Auswirkungen der Austeritätspolitik auf Frauen wird genau dies auch untersucht.

Unter dem Titel «Austerity, Gender Inequality and Feminism after the Crisis» haben die Autorinnen nicht nur Daten zur Beschäftigung und zum Einkommen von Frauen  ausgewertet, sondern auch insbesondere Sparmaßnahmen, die direkt die Gleichstellung betrafen, unter die Lupe genommen, sowie Gesetzesänderungen und Neuregelungen  dahingehend untersucht.  

Wie wirkt sich Sparpolitik auf Geschlechterrollen in der Familie aus? Wer übernimmt Erziehung und Pflege von jung und alt, wenn der Staat keine Unterstützung mehr bietet? Was heißt es, wenn Gleichstellungsbeauftragte gleichzeitig mit dazugehörigen  Förderprogrammen weggespart werden? Wo bleiben Frauen, wenn es keine Zufluchtsstätten für Opfer häuslicher Gewalt gibt? Wer bringt die ungewollten Kinder durchs Leben, wenn Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr erlaubt sind?

Die Studien zeigen eine Topografie dessen, welche Auswirkungen das Spardiktat in Europa auf Geschlechterverhältnisse hat und formulieren Forderungen einer linken feministischen Politik, die auf sozialer Gerechtigkeit und einer Gleichstellung der Geschlechter basiert. 

Lesen Sie dazu den Hintergrundartikel von Elsa Koester in «der Freitag», Ausgabe 26/2018: «Küche, Kinder, Krise»

In der selben Ausgabe findet sich ein Interview mit der Autorin der Studie zu Deutschland, Alex Wischnewski: «Die Sehnsucht nach dem Kümmern»

Neben einer deutschen Studie liegen weitere Studien in englischer Sprache aus Griechenland, Spanien, Irland, der Ukraine vor. Studien zu Kroatien, Russland, Polen und Litauen folgen in Kürze.

  • Griechenland: The gendered aspects of the austerity regime in Greece: 2010 – 2017 Aliki Kosyfologou
  • Spanien: Economic Boom, Recession and Recovery in Spain: The Permanent Care Crisis and its Effects on Gender Equality. The Search for Feminist Alternatives. Inés Campillo Poza
  • Ukraine: Crisis, War and Austerity: Devaluation of Female Labor and Retreating of the State. Oksana Dutchak
  • Deutschland: Wer ist hier «Krisengewinner»? Auswirkungen von neoliberalem Staatsumbau und politischem Rechtsruck auf das Leben von Frauen in Deutschland. Alex Wischnewski
  • Irland: Irish Feminist Approaches against Austerity Regimes Mary P. Murphy and Pauline Cullen
  • Russland: «Should women have more rights?» Traditional Values and Austerity in Russia Marianna Muravyeva
  • Kroatien: «Death by a Thousand Cuts» - Impact of Austerity Measures on Women in Croatia Marija Ćaćić and Dora Levačić
  • Litauen: Austerity Policies in Lithuania - Austerity, Gender Inequality and Feminism after the Crisis in Lithuania Severija Bielskytė and Jolanta Bielskienė
  • Polen: Unsatisfactory Success and Hidden Austerity Policies. Feminist Approaches to the Austerity Paradigm. Agata Czarnacka

#Feminismus #Krise #Krankenhaus #Pflege

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Wie wirkt sich Sparpolitik auf Geschlechterrollen in der Familie aus? Wer übernimmt Erziehung und Pflege von jung und alt, wenn der Staat keine Unterstützung mehr bietet? Was heißt es, wenn Gleichstellungsbeauftragte gleichzeitig mit dazugehörigen Förderprogrammen weggespart werden? Wo bleiben Frauen, wenn es keine Zufluchtsstätten für Opfer häuslicher Gewalt gibt? Wer bringt die ungewollten Kinder durchs Leben, wenn Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr erlaubt sind?

Eine Reihe an Studien zeigen eine Topografie dessen, welche Auswirkungen das Spardiktat in Europa auf Geschlechterverhältnisse hat und formulieren Forderungen einer linken feministischen Politik, die auf sozialer Gerechtigkeit und einer Gleichstellung der Geschlechter basiert.

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Austerität in Folge der Weltwirtschaftskrise fand in Deutschland nicht als Schocktherapie statt wie in anderen europäischen Ländern. Vielmehr führte sie die Neoliberalisierung des (Sozial-)Staates, die erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die soziale Infrastruktur hat, weiter. Die sich dadurch verfestigende soziale Ungleichheit geht überwiegend auf Kosten von Frauen. Sie besiedeln den Niedriglohnsektor und stecken in der Teilzeitfalle, sie fangen die Folgen der Care-Krise auf und sind Angriffspunkt einer in dieser Situation erstarkenden Rechten. Feministische Bewegungen nehmen dies zunehmend in den Blick und können damit auch im «Herzen der Bestie» Solidarität mit Frauen in ganz Europa beweisen.

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Die Reproduktionskrise feministisch politisieren

Zwischen neoliberaler Humankapitalproduktion und rechter Refamilialisierung

August 2017 • Katharina Hajek

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Pflege, Hausarbeiterinnen, Krise, Feminismus#Pflege #Hausarbeiterinnen #Krise #Feminismus

Das Insistieren darauf, dass wir es gegenwärtig mit einer Krise der sozialen Reproduktion zu tun haben, stellt eine der wichtigsten Interventionen der progressiven, queer-feministischen Linken in herrschende Krisendeutungen dar. egen eine Individualisierung sollen die strukturellen Ursachen von Erfahrungen aufgezeigt werden, die viele im Füreinanderdasein in seiner unterschiedlichsten Form erleben: Erschöpfung, Überforderung, Frust oder das Gefühl der Unzulänglichkeit. Staatliche Austeritätspolitik, Privatisierungen und der markteffiziente Umbau des Wohlfahrtsstaates werden so als Ursachen einer Prekarisierung von Arbeit im öffentlichen Dienst wie auch der flächendeckenden Aushöhlung der öffentlichen Daseinsvorsorge benannt. Die Familie – meist der Verantwortungsbereich von Frauen – kann dies nicht zur Gänze kompensieren, da die gestiegene Frauenerwerbstätigkeit sowie der Druck in vielen Arbeitsverhältnissen schlicht nicht die Zeit und Energie dafür lassen, Pflegeverantwortungen im vollen Ausmaß nachzukommen. Das reibt einerseits den Alltag zwischen Lohnarbeit und Sorgeverantwortungen auf und führt andererseits – dort wo das Familieneinkommen hoch genug ist – zur Auslagerung dieser reproduktiven Arbeiten an meist migrantische, schlecht bezahlte Hausarbeiterinnen in halblegalen Arbeitsarrangements. Zur queer-feministischen Politisierung der Krise der Reproduktion gehört jedoch auch das Aufzeigen der Kämpfe, die dadurch angestoßen wurden. Die Initiative der Care Revolution, die Arbeitskämpfe an der Berliner Charité oder jüngste Initiativen gegen Gentrifizierung und Vertreibung zeigen, dass diese Krise auch mobilisierendes Potenzial hat. Neue Bündnispolitiken, die sich auf das gegenseitige Angewiesensein von Sorgenden und Umsorgten beziehen, werden ebenso diskutiert wie das transformatorische Potenzial von Kämpfen, die an den alltäglichen, reproduktiven Beziehungen ansetzen, in die wir alle eingebunden sind: für den Kampf um neue Verhältnisse und für eine andere Art, sich ins Verhältnis zu setzen (vgl. Dück/Fried 2015).

Doch nicht nur die progressive Linke redet von der Krise der sozialen Reproduktion. Im Gegenteil wird diese Krisendimension gegenwärtig – eher noch als die Wirtschafts- oder ökologische Krise – sowohl von den herrschenden Kapitalfraktionen als auch von der aufstrebenden Neuen Rechten als solche erkannt, benannt und versucht zu bearbeiten. Wie auch bei den progressiven Kräften geht es dabei stets in der einen oder anderen Form um die Krise der Reproduktion der Arbeitskraft wie auch der Bevölkerung. Die Krise der sozialen Reproduktion ist somit ein umkämpftes Terrain und ein Interventionspunkt für unterschiedlichste Interessen.

Neoliberale Humankapitalproduktion

So forcieren die Arbeitgeberverbände in Deutschland seit nunmehr einigen Jahrzehnten einen Krisendiskurs um die Frage der Reproduktion der Arbeitskraft und der Bevölkerung. Der „demografische Wandel“ ist dabei die zentrale Chiffre. Bereits in der Rentendiskussion wurde ab den 1990er Jahren vor einer „Überalterung der Gesellschaft“ gewarnt, wonach immer weniger Beitragszahler*innen eine immer Größere Gruppe an Leistungsbezieher*innen finanzieren müssen. Der sogenannte PISA-Schock im Jahr 2000, das im internationalen Vergleich schlechte Abschneiden deutscher Schüler*innen, fügte der Diskussion um die Reproduktion des Humankapitals eine qualitative Dimension hinzu und ließ keine rosigen Aussichten für das zukünftige Arbeitskräftepotenzial der ‚Wissensökonomie Deutschland’ zu. Gerahmt wurden diese Diskurse vor allem in den 1990er und 2000er Jahren von medial vermittelten Bildern von „menschenleeren Landstrichen“, „schrumpfenden Städten“ und „leeren Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen, die nach und nach in Alten- und Pflegeheime umgewandelt werden“ (vgl. Auth/Holland-Cunz 2007). 

Ab 2002 setzt das Kabinett Schröder II diesen Entwicklungen eine „nachhaltige“ und „bevölkerungsorientierte Familienpolitik“ entgegen, die später auch von der CDU übernommen wurde und die Familienpolitik in Grundzügen bis heute prägt. Damit erfolgte die Hinwendung zu einer aktiven Bevölkerungspolitik, die neben einer forcierten Erwerbsintegration von Müttern vor allem auf eine Geburtensteigerung setzt. Wirft man einen Blick auf die ihr zugrundeliegenden Expertisen, die vom Familienministerium gemeinsam mit familienpolitisch früher eher wenig engagierten Akteuren wie der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) oder dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) erstellt wurden, so wird die Reproduktionskrise so explizit wie nie zuvor reflektiert. Das diagnostizierte Geburtendefizit stellt sich vor allem als Problem des fehlenden "Humanvermögens" für den deutschen Wirtschaftsstandort dar. Die schrumpfende Bevölkerung führe nicht nur zu einer Reduzierung, sondern auch zu einer „Überalterung“ des Arbeitskräftepotenzials. Der fehlende „Bildungshunger“ und die nachlassende „Innovationsfähigkeit“ einer ‚alten’ Bevölkerung zeigten auch betriebswirtschaftliche Folgen, da ältere Arbeitnehmer*innen vermeintlich weniger flexibel, weiterbildungsfreundlich und damit weniger produktiv sind. Gesellschaft wird hier zur Belegschaft, die Reproduktion des Humankapitals zur Frage nach der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. 

Diese Politik ist dabei „selektiv pronatalistisch“ (Schultz 2012): Nicht nur einfach mehr Geburten sollen es sein, sondern vor allem gut ausgebildete Frauen sollen Kinder kriegen. Sie sind es, die ihr Humankapital an ihre Kinder weitergeben sollen. Die einkommensabhängige Gestaltung des Elterngeldes ab 2007 sollte die Elternzeit insbesondere für Gutverdienende attraktiver machen, während dieselbe Leistung Hartz-IV-Empfänger*innen seit 2010 de facto gestrichen wurde. Auch beim Ausbau der Kinderbetreuung greift diese Rationalität, die über die Hartz-IV-Reformen gegenfinanziert werden sollte. Während das erweiterte Angebot an Kleinkindbetreuung der erfolgreichen Karrierefrau eine baldige Rückkehr ins Erwerbsleben ermöglichen sollte, wird in Bezug auf „bildungsferne Eltern“ gerade umgekehrt argumentiert: Die Tagesbetreuung bietet die Möglichkeit, die Kinder aus diesen Familien ‚herauszuholen’ und das Humankapital früh in einem professionalisierten Umfeld zu fördern.

Rechte Bevölkerungspolitik und die heteronormative Familie

Auch die aufstrebende Neue Rechte geht von einer Krise der Reproduktion aus, verknüpft dies jedoch mit einer anderen Problematik. Weniger die quantitative und qualitative Reproduktion der Arbeitskraft als die Sorge um die Reproduktion der ‚deutschen’ Bevölkerung und Gesellschaft stehen hier im Zentrum (vgl. Hentschel in dieser Online -Sonderausgabe). Die AfD greift den herrschenden Diskurs um den demografischen Wandel dabei dankbar auf, übersetzt ihn jedoch in eine vermeintliche „Selbstabschaffung“ Deutschlands (AfD 2017, 37). Nicht der internationale Standortwettbewerb, sondern der ‚demografische Druck’ und die Migrationsbewegungen aus dem globalen Süden machen die negative Geburtenbilanz hier zu einer „Bedrohung Europas“ (ebd., 30). 

Die Krise der Reproduktion ist hier eng mit der Krisenerzählung der heterosexuellen Familie verbunden, die rassistische Dimension in den Biopolitiken der Rechten ist also nicht zu trennen von ihrer heteronormativen. Die rechtskonservative Rede von der Familie als „Keimzelle“ ist hier im doppelten Sinne zu verstehen, da – wie es die Vorsitzende der Initiative Christen in der AfD, formuliert – „in diesen sich ergänzenden Geschlechtern [die] biologische und soziale Zukunftsfähigkeit jeder Gesellschaft“ liegt (Schultner 2014). Die geschlechterhierarchische Familie sorgt in diesem Gesellschaftsbild nicht nur für die physische Reproduktion, indem sie Kinder ‚produziert’. Sie ist auch Dreh- und Angelpunkt für die kulturelle und soziale Reproduktion von Gesellschaft: „Stabile Familien sind die Mitte und Grundlage jeder sich selbst erhaltenden Gesellschaft, in der Wohlstand und sozialer Frieden herrschen und Werte weitergegeben werden.“ (AfD 2017, 37). Will heißen: Nur die heteronormative, privatisierte Konstellation von Vater und Mutter garantiert hier die Ausbildung von ‚normalen’ Identitäten und die Weitergabe der damit verbundenen Werte und normativen Orientierungen. Ehe und Familie gelten folglich auch als „staatstragende Institut [...], weil nur dieses das Staatsvolk als Träger der Souveränität hervorbringen kann“ (ebd., 40). Kommen Zweigeschlechtlichkeit und Familie ins Wanken – wie von der Neuen Rechten befürchtet – gerät also nicht nur die quantitative Reproduktion der (‚deutschen’) Bevölkerung in Gefahr, sondern die Gesellschaft als solche. 

Die rechten Bearbeitungsformen, um dieser Reproduktionskrise beizukommen, haben ebenso eine quantitative wie qualitative Seite. Die AfD fordert einerseits die Schließung der Grenzen, die Verhinderung der Zuwanderung sowie eine Beendigung der Abwanderung. Die Rede von der Wiederherstellung der „nationalen Souveränität“ (ebd., 30) steht hier für eine starke Exekutive, die diese Biopolitik in Form von Grenzsicherung und Abschiebungen auch umsetzt. Andererseits wird auch hier – sozusagen als Steigerungsstufe zur neoliberalen Familienpolitik – eine „aktivierende Familienpolitik“ und „nationale Bevölkerungspolitik“ (ebd., 37) gefordert. Ehe und Familie sollen hier ebenso gefördert werden (ebd.) wie die „familiennahe“, sprich häusliche Betreuung von Kindern (ebd., 39) und der „Schutz des ungeborenen Lebens“ (ebd.).

Neoliberale und rechte Biopolitiken als Hegemoniepolitiken

Beide Krisenerzählungen, die des „progressiven Neoliberalismus“ (Fraser 2017) wie auch die der Rechten, ‚greifen’, weil sie jeweils mit spezifischen Geschlechterpolitiken verbunden werden. Sie knüpfen jeweils an alltägliche Erfahrungen an, artikulieren spezifische Vorstellungen über die Gestaltung des Gemeinwesens und bieten Identifikationsangebote. Kurz: Sie können als Hegemoniepolitiken verstanden werden (vgl. Nowak 2010). 

So ist die „nachhaltige Familienpolitik“ auch als Wahltaktik der CDU zu verstehen, um für urbane und gut ausgebildeten Wähler*innen attraktiv zu sein. Diese neoliberale Biopolitik greift dabei durchaus alte feministische Forderungen nach dem Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung, der Erwerbsintegration von Frauen und der Förderung ihrer (finanziellen) Unabhängigkeit auf, reartikuliert sie jedoch in einer Weise, die im letzten Wahlkampf mit Bezug auf Hillary Clinton als business feminism bezeichnet wurden. Anstatt Emanzipation als gesamtgesellschaftliches Projekt zu begreifen, wird diese über den individualisierten Aufstieg einzelner Frauen redefiniert, Fortschritt auf das Durchbrechen ‚gläserner Decken’ reduziert (vgl. Fraser 2017). Im Kontext der Diskussion um Quoten, Work-Life-balance und Diversity-Management kommt es so zu einer Aufwertung einer spezifischen ‚Karriere-Weiblichkeit’. Diese ist zwar eine attraktive Anrufung für eine spezifische Gruppe von Frauen, kann aber nicht als umfassende Subjektivierungsweise fungieren. Gerade die eingangs aufgeworfenen Fragen der materiellen, physischen wie psychischen Reproduktion im Alltag vieler Menschen werden hier ausgespart. Die damit verbundenen Hierarchien und Arbeitsteilungen gerade unter Frauen lässt dieser Ansatz unangetastet. 

Während dieser corporate feminism die Defamilialisierung und Erwerbsarbeit von Frauen fördert, werden der Stress und Leistungsdruck, die schlechten Arbeitsverhältnisse und die Tatsache, dass immer mehr Menschen immer weniger Zeit für sich selbst und ihre Liebsten haben, nicht thematisiert. Genau dies wird von rechtskonservativen Akteuren wie der AfD aufgegriffen. Anstatt diese Kritik jedoch in die Forderung nach einer Umstrukturierung von Arbeitszeitmodellen, der Abschaffung des weiblichen Niedriglohnsektors und der Ausfinanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge zu übersetzen, wird eine erneute Familialisierung von Frauen und eine Reaktivierung des traditionellen Familien-Ernährer-Modells propagiert. Diese Geschlechterpolitiken nutzen dabei oft den Begriff der Wahlfreiheit, der in Deutschland konservativ bis rechts besetzt ist. Damit wird eine Politik angeboten, die es Frauen ermöglichen soll, sich den Zumutungen prekärer ‚Mac Jobs’ ebenso zu entziehen wie den damit verbundenen 60-stündigen Arbeitswochen. Sie können ‚zu Hause’ bleiben, ganz in ‚ihren’ reproduktiven Verantwortungen aufgehen und somit nicht zuletzt auch klaffende Reproduktionslücken schließen. Diese Geschlechterpolitik stellt eine Ankerkennung von Reproduktionsarbeit dar, wenn auch nur in der privatisierten, heteronormativen Form. 

Das fehlt dem neoliberalen Feminismus. Dabei darf man rechtskonservative Geschlechterpolitiken auch nicht dahingehend missverstehen, dass es hier einfach um eine weibliche Unterordnung und Zurückdrängung von Frauen aus der Öffentlichkeit geht. Mit Ausnahme vielleicht spezifischer Strömungen ist es eben nicht einfach ein bloßes „Frauen zurück an den Herd!“. Als Lebensform wäre das heute auch nur für eine verschwindend kleine Minderheit der Frauen interessant. Wenn man sich jedoch beispielsweise auf den von einer AfD-Vorfeldorganisation organisierten "Demos für Alle" umsieht, wo gegen die "Frühsexualisierung von Kindern" und "für die Familie" marschiert wird, bemerkt man, dass Mütterlichkeit als starkes Identifikationsangebot für Frauen fungiert. Hier wird ein neuer Maternalismus artikuliert, der Frauen gerade aufgrund ihrer vermeintlichen Fähigkeit zur Sorge, Pflege und familialen Rolle Präsenz und Mitsprache in der öffentlichen Diskussion zuspricht. Im Kontext einer nationalkonservativen Ideologie wird so eine ‚fürsorgende’, wiewohl ‚starke Weiblichkeit’ propagiert. Das ist eventuell bedeutend anschlussfähiger an viele Lebenserfahrungen, als man sich das auf den ersten Blick denken mag. 

Die Auseinandersetzung um die soziale Reproduktion findet also in einem umfassenden Sinne statt. Die feministische Linke begibt sich damit auf ein ‚beackertes Feld’. Was bedeutet dies nun für die Frage, wie die Reproduktionskrise feministisch zu repolitisieren ist? Im Anschluss an die oben dargelegte Konstellation können drei Punkte in diese Diskussion eingebracht werden.

Die Reproduktionskrise feministisch politisieren 

Erstens müsste es darum gehen, eine alternative Erzählung anzubieten, ohne Biopolitik zu betreiben. Genau diese Art von Politik ist mit den unterschiedlichen rechten wie neoliberalen Versuchen, die Krise der sozialen Reproduktion zu bearbeiten, immer auch verbunden: Sie umfassen bestimmte Vorstellungen, wie soziale Reproduktion von wem und unter welchen Umständen geleistet werden soll, wie Gesellschaft und Gemeinwesen gestaltet werden sollen. Damit werden notwendigerweise immer auch bestimmte vergeschlechtlichte Identifikationsangebote gemacht. Diese sind deshalb relativ erfolgreich, da damit auch jeweils an bestimmte Alltagserfahrungen angeknüpft wird und Zumutungen politisiert werden. Was wäre dem gegenüber eine emanzipatorische, queer-feministische Erzählung, die diesen neoliberalen und rechten Identifikationsangeboten und Gesellschaftsentwürfen entgegengehalten werden könnte? 

Dabei kann es nicht darum gehen, neue ‚Leitbilder’ oder Ähnliches zu formulieren, sehr wohl jedoch darum, ein Projekt und eine konkrete Vision davon anzubieten, wie Gesellschaft und die Organisation reproduktiver Zuständigkeiten aussehen können. Diese Erzählung müsste sowohl die Zumutungen immer prekärer werdender Arbeitsverhältnisse und die fehlende Zeit für sich und andere thematisieren als auch die Refamiliarisierung und Privatisierung von reproduktiven Verantwortungen sowie den damit verbundenen Sexismus kritisieren. Die Entwicklung dieser Erzählung kann nur im Zuge konkreter Aushandlungen und Kämpfe geschehen. Sie muss jedoch auch darüber hinaus weisen. 

Eine solche Erzählung erfordert zweitens, intersektional zu reflektieren, um sich so klar gegenüber neoliberalen oder rechten Biopolitiken abzugrenzen. Gegenüber dem nationalkonservativen Projekt erscheint dies noch relativ einfach. Gegenüber einer Familienpolitik, die Kindergärten ausbaut und reproduktive Leistungen etwa mit dem Elterngeld – im europäischen Vergleich – relativ hoch vergütet, sowie einem Feminismus, der Diversity und Empowerment von Frauen propagiert, ist das schon schwieriger. Eine queer-feministische Position muss hier die rassistischen und klassistischen Ausschlüsse, die mit dieser Politik verbunden sind, explizit benennen – und aktiv politisieren (vgl. Fried in dieser Ausgabe). Wer profitiert von diesem Feminismus? Und wer – und das sind schlicht viele mehr – profitiert davon nicht? 

Drittens würde es bedeuten, aktiv Familienpolitik zu betreiben. Es muss darum gehen, den Begriff der Familie von linksprogressiver Seite wieder zu besetzen. Die feministische Linke tut sich aufgrund der Rolle von Familie in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften wenig überraschend schwer mit einem positiven Bezug auf diesen Begriff. Trotzdem hat der Begriff das Potenzial, eine Reihe von queer-feministischen Forderungen und Positionen zu artikulieren, wie es schon mit Konzepten wie der Lebensformenpolitik oder Sorgegemeinschaften versucht wird. Zugleich umgeht der Begriff Familie aber die Gefahr, mit diesen Ideen in subkulturellen Diskussionen verhaftet zu verbleiben – er genießt nicht zuletzt eine ähnliche Popularität wie der Begriff der Demokratie. 

Will eine progressiv-feministische Position Reproduktionsverhältnisse repolitisieren, so muss sie in diesem Kontext dabei Familie als caring communities (und vice versa) fassen und sich dabei darauf beziehen, was Kath Weston bereits Anfang der 1990er Jahre im weitesten Sinne als „families we choose“ gefasst hat. Es müsse darum gehen, der Vielfalt bereits jetzt gelebter Familienformen Ausdruck zu verleihen und zugleich für die materiellen Bedingungen zu kämpfen, damit diese auch gelebt werden können. Um dabei der neoliberalen Privatisierung von reproduktiven Verantwortungen nicht noch mehr in die Hände zu spielen, ginge es darum, sich für den Ausbau, den freien Zugang und die Demokratisierung von reproduktiven Infrastrukturen wie etwa Kinderbetreuungs- oder Pflegeeinrichtungen stark zu machen. In diesem Kontext fordert eine queer-feministische Familienpolitik eine Reform des Eherechts, mehr Unterstützung für Alleinerziehende und die Anerkennung aller Formen des Füreinanderdaseins. Es würde mithin heißen, die Care Revolution auch von ihrer familiären, vielleicht – noch – privaten Seite in Angriff zu nehmen.

Literatur

Alternative für Deutschland, 2017: Programm für Deutschland. Wahlprogramm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum Deutschen Bundestag am 24. September 2017.

Butler, Judith, 2009: Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell?, in: dies., Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main, 167–213 .

Fraser, Nancy, 2017: Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2017, 71–76.

Fried, Barbara/Dück, Julia, 2015: Caring for Strategy. Transformation aus Kämpfen um soziale Reproduktion entwickeln, in: LuXemburg 1/2015, 84–93.

Hentschel, Susanne, 2017: Reproduktion der Klasse, Luxemburg-Online-Sonderausgabe 2017.

Holland-Cunz, Barbara, 2007: Alarmismus. Die Struktur der öffentlichen Debatte über den demographischen Wandel in Deutschland, in: Auth, Diana/Holland-Cunz, Barbara (Hg.), Grenzen der Bevölkerungspolitik. Strategien und Diskurse demographischer Steuerung, Opladen, 63–80.

Lang, Juliane, 2015: Familie und Vaterland in der Krise. Der extrem rechte Diskurs um Gender, in: Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (Hg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld, 167–182.

Nowak, Jörg, 2010: Familienpolitik als Kampfplatz um Hegemonie. Bemerkungen zur Leerstelle eines linken Feminismus, in: Auth, Diana/Buchholz, Eva/Janczyk, Stefanie (Hg.), Selektive Emanzipation. Analyse zur Gleichstellungs- und Familienpolitik, Opladen, 129–150.

Schultner, Anette, 22.11.2014, https://demofueralle/wordpress.com/service/demo-22-nov-14/videos/

Schultz, Susanne, 2012: Demografischer Sachzwang und politisiertes Gebären, in: LuXemburg 4/2012, 58–63.

Katharina Hajek promoviert zu den Themen Familien- und Biopolitik an der Universität Wien und ist Redaktionsmitglied der PROKLA.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: Die Reproduktionskrise feministisch politisieren | Zeitschrift Luxemburg (zeitschrift-luxemburg.de)

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Wir befinden uns in einer Krise der sozialen Reproduktion: Die Privatisierung sozialer Infrastrukturen, sowie der Rückbau des Sozialstaates haben zu einer weitreichenden Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen im Care-Sektor geführt. Daneben lastet die Sorgearbeit auf den Privathaushalten und somit auf dem Rücken von Frauen und Queers. Aus diesen Gründen muss eine queer-feministische Linke die Deutung der aktuellen Krise in die Hand nehmen und eine Bündnispolitik anstreben, die die Notwendigkeit des füreinander Sorgens in den Mittelpunkt stellt.

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»We care« – Aber wer sind ›wir‹?

April 2016 • Michael Zander

Foto: RLS / flickr /  CC BY 2.0 / Fotografin: Nate Pischner

Foto: RLS / flickr / CC BY 2.0 / Fotografin: Nate Pischner

Feminismus, Pflege, Organisierung#Feminismus #Pflege #Organisierung

Wenn in der Linken heute wieder verstärkt über Reproduktionsarbeit diskutiert wird, dann geschieht dies in der Regel unter Rückgriff auf Debatten aus den 1970er Jahren. Damals stellten marxistische FeministInnen Haus-, Familienarbeit und gesellschaftliche Reproduktionsarbeit in den Mittelpunkt ihrer Analysen (vgl. Haug 1999).

Unter anderem ging es darum, bisher nicht berücksichtigte, selbstverständlich vorausgesetzte, also ›unsichtbare‹ Arbeit kenntlich zu machen, ihre Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion herauszuarbeiten und ihr auf diese Weise moralische und vor allem auch finanzielle Anerkennung zu verschaffen. Seit zwei Jahren versucht das Netzwerk Care Revolution aus diesen Analysen Schlussfolgerungen für eine aktuelle politische Praxis zu ziehen. Es ist hier insbesondere das Verdienst von Gabriele Winker, in der Bundesrepublik das Netzwerk Care Revolution tatkräftig mit angeschoben und ihm eine theoretische Grundlage geliefert zu haben (vgl. Winkler 2015). Mit dem angestrebten Theorie-PraxisTransfer ergeben sich allerdings neue Probleme. Soweit das Netzwerk darauf gerichtet ist, ein politisches Bündnis zu schaffen, stellt sich die Frage, wie breit dieses Bündnis sein kann und welche Rolle insbesondere diejenigen spielen, die im Lichte der ›Care-Theorien‹ als diejenigen gelten, die ›Sorgearbeit‹ empfangen, also zum Beispiel behinderte, chronisch kranke oder alte Menschen. Dazu sollen hier einige kritische Thesen formuliert werden.

1 | Der ursprüngliche Zweck des ›Care-Ansatzes‹ bestand darin, ›Sorgearbeit‹ als solche kenntlich zu machen und zu problematisieren, dass diese Arbeit vielfach unentgeltlich oder schlecht bezahlt und meist von Frauen verrichtet wird. Abstrahiert man von diesem Zweck, indem man versucht, auf Basis dieses Ansatzes ein breites politisches Bündnis zu entwickeln, dann erweist sich die auf ›Sorgearbeit‹ gerichtete Perspektive allerdings als unzulänglich und zu eng. Im Zentrum stehen die Arbeitenden, diejenigen, mit denen sie zusammenarbeiten, bleiben im Hintergrund und können höchstens ›mitgedacht‹ werden. Spontan identifizieren sich viele Linke leicht mit abhängig Beschäftigten und ihren Forderungen. Das ist verständlich und begrüßenswert, macht aber erforderlich, immer wieder an diejenigen zu erinnern, mit denen gearbeitet wird.

2 | Das ›Care-Modell‹ impliziert eine problematische Rollenaufteilung, um nicht zu sagen: ein hierarchisches Verhältnis. Die einen leisten ›Sorgearbeit‹, die anderen empfangen sie. In Wirklichkeit hat man es stets mit Beziehungen der Zusammenarbeit zu tun. Ob es sich um Erziehung, Pflege oder Therapie handelt, diese Arbeiten kommen nur als Koproduktion zustande. Dies festzuhalten ist wichtig, weil in den Theorien der ›helfenden Berufe‹ − Pädagogik, Pflegewissenschaft und Psychologie – traditionell der helfenden Seite der aktive Part und der Expertenstatus zugeschrieben wird. Generell vermisst man in den aktuellen ›Care-Debatten‹, dass darin die eigentlich bekannte Ambivalenz des Helfens, nämlich die Ambivalenz von Unterstützung und Kontrolle, thematisiert würde.

3 | Viele emanzipatorische Ansätze haben sich historisch als Kritik an konventioneller ›Sorgearbeit‹ herausgebildet. Gegenstand der Kritik waren Familienbeziehungen, Kindergärten, Schulen, Psychiatrien oder Pflegeeinrichtungen. Die Behindertenbewegung hat das Modell der persönlichen Assistenz als Alternative zu herkömmlicher Pflege entwickelt. Das Ziel bestand gerade darin, das hierarchische ›Sorgeverhältnis‹ aufzuheben. Behinderte Menschen sollen, so der Kerngedanke des Modells, selbst entscheiden, wer ihnen wie, wann, wobei und auf welche Weise hilft. Sie leiten die Tätigkeiten ihrer Assistenzkräfte an. Gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen sowie ein respektvoller Umgang miteinander sind notwendige Rahmenbedingungen, damit dieses Modell funktionieren kann (s.u. und vgl. Zander 2007).

4 | Das Netzwerk hat sich eine »Kultur der Fürsorglichkeit« auf die Fahnen geschrieben. An sich ist gegen Fürsorglichkeit als emotionale Praxis in nahen Beziehungen selbstverständlich nichts einzuwenden. Aber Fürsorge ist für ›Care-Arbeit‹ nicht notwendigerweise konstitutiv. Die Formulierung macht auch deutlich, dass ›Sorgearbeit‹ leicht moralisiert und idealisiert wird. Weder ist jede ›Sorgearbeit‹ gut, noch sind es alle Menschen, die solche Tätigkeiten verrichten. Die Realität sieht etwa in der Pflege nicht selten anders aus, es kann zu Vernachlässigung, Geringschätzung oder gar Gewalt kommen. Mangelnde Ressourcen sind oft, aber nicht immer der Grund dafür. Die Idealisierung von ›Care‹ ist möglicherweise ein ideologisches Moment, das die traditionelle (geschlechtstypische) Arbeitsteilung absichert, indem es die Belastungen dieser Tätigkeiten gleichsam moralisch entlohnt. Die karitative Konnotation dürfte auch der Grund dafür sein, warum man zögern würde, Flüchtlingshilfe als ›Sorgearbeit‹ zu bezeichnen, droht dieser Begriff doch, den politischen Kontext zu verdecken.

5 | Insgesamt stellt sich die Frage, welche Tätigkeiten als ›Care-Work‹ zu bezeichnen sind. Das Netzwerk hat sich für einen sehr breiten Ansatz entschieden, der unter anderem Sexarbeit mit einbezieht. Wenn generell Dienstleistungen gemeint sind, dann ist nicht einsehbar, warum nicht auch zum Beispiel Physiotherapie oder das Friseurhandwerk dazugehören. Nun weisen gerade in der Sexarbeit die Arbeitsbedingungen eine große Bandbreite auf. Zudem ist ein Freier nicht in gleicher Weise auf eine Sexarbeiterin angewiesen wie Kranke auf medizinisches Personal oder Behinderte auf Assistenzkräfte. Dies alles muss nicht dagegen sprechen, dass Sexarbeit ein wichtiges Thema für das Netzwerk ist und Sexarbeiterinnen dort aktiv sind. Nur muss man sich klarmachen, dass man es bei einem sehr breiten ›Care-Begriff‹ mit sehr heterogenen Erfahrungen und Problemlagen zu tun hat.

6 | Wer Bündnisse schaffen will und Gemeinsamkeiten sucht, sollte über Konflikte und Interessen sprechen. Im Flyer zur »UmCareKonferenz« vom Oktober 2015 heißt es: »Auf der Konferenz wollen wir mit Angehörigen und Menschen mit Pflegebedarf, mit Beschäftigten, Gewerkschaften und Sozialverbänden diskutieren und Strategien entwickeln.«[1] Zwischen all diesen Akteuren kann es Gegensätze geben. Sozialverbände mögen im Einzelfall durchaus vernünftige politische Positionen vertreten, aber einige von ihnen betreiben Einrichtungen wie Behindertenwerkstätten, die von Organisationen der Behindertenbewegung scharf kritisiert werden, weil sie exkludieren und ihren Beschäftigten nicht einmal den Mindestlohn zahlen. Ein Beispiel für einen solchen Dissens war der sogenannte Scheißstreik in Berlin 2010. Die im Bereich Persönliche Assistenz Beschäftigten unterstrichen damals ihre Forderung nach besserer Entlohnung damit, dass sie angebliche Exkremente (vermutlich meist Schokocreme) an politische Akteure verschickten, offensichtlich um zu verdeutlichen, welche ›Scheiße‹ sie täglich wegmachen müssen. Strittig war die Frage, ob es sich um eine berechtigte Aktionsform handelt oder um eine Herabwürdigung von Behinderten, deren Ausscheidungen zum öffentlichen Thema gemacht wurden (vgl. Nowak 2010 u. Zander 2010). Trotz dieser Problematik haben damals Beschäftigte und Behinderte gemeinsam und erfolgreich für höhere Assistenzvergütungen in Berlin gestritten. Doch das Beispiel zeigt auch, dass eine Gemeinsamkeit zwischen den diversen Adressaten des Netzwerks nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann, sondern oft erst das Ergebnis von Zusammenarbeit sein kann.

7 | Zusammenarbeit trotz Differenzen gelingt bekanntlich dann, wenn es einen Anlass gibt, der Einigkeit schafft. Dieser kann etwa ein Gesetzentwurf sein, zum Beispiel der voraussichtlich miserable Entwurf des Bundesteilhabegesetzes.[2] Eine solche Zuspitzung fehlt dem Netzwerk bislang. Es steht möglicherweise vor einem ähnlichen Dilemma wie die Sozialforumsbewegung der 2000er Jahre. Diese hatte sich dafür entschieden, Foren zum Austausch und zur Meinungsbildung in einem breiten linken Spektrum zu schaffen. Dafür büßte sie aber an Handlungsfähigkeit ein, entwickelte keinen gemeinsamen Fokus. Verbindende Ziele und Aktionen zu entwerfen blieb weniger komplexen Organisationen überlassen.

8 | Wie könnte ein Fazit lauten? Der ›Care-Begriff‹ gehört noch einmal auf den Prüfstand. ›Care‹ ist nicht das, was ›Care-Worker‹ tun, es ist vielmehr eine Koproduktion aller, die an einer ›Care-Beziehung‹ beteiligt sind. Diese ist in den heutigen Institutionen – aller Inklusionsrhetorik zum Trotz – oft hierarchisch und bevormundend. Deshalb geht es nicht nur um eine besser ausgestattete Unterstützung, sondern um eine ganz andere, emanzipatorische Art, bestimmte Tätigkeiten zu organisieren. Möglicherweise muss man den ›Care-Begriff‹ aufgeben und stattdessen über konkrete gesellschaftliche Bereiche verhandeln – etwa Assistenz, Pflege oder Erziehung –, um einen karitativen Zungenschlag zu vermeiden und zugleich die verschiedenen Akteure an einen Tisch zu bringen.

Anmerkungen

[1] Vgl. www.rosalux.de/documentation/53751 

[2] Vgl. www.bmas.de/DE/Gebaerdensprache/ Bundesteilhabegesetz/bundesteilhabegesetz.html

Literatur

Haug, Frigga, 1999: Familienarbeit/Hausarbeit, in: Haug, Wolfgang Fritz (Hg.), HKWM, Bd. 4, 118−129.

Nowak, Iris, 2010: Organisierung in Pflege- und Sorge- und Hausarbeit, in: LuXemburg 4/2010, 146–150.

Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution, Bielefeld.

Zander, Michael, 2007: Selbstbestimmung, Behinderung und Persönliche Assistenz – politische und psychologische Fragen, in: Forum Kritische Psychologie 51, 38–52.

Ders., 2010: Konflikte um Persönliche Assistenz, in: LuXemburg 4/2010, 151–153.

Michael Zander ist seit vielen Jahren behindertenpolitisch aktiv und Mitglied der bundesweiten AG Disability Studies. Als Kritischer Psychologe lehrt er derzeit im Fach Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/we-care-aber-wer-sind-wir

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Wenn in der Linken heute wieder verstärkt über Reproduktionsarbeit diskutiert wird, dann geschieht dies in der Regel unter Rückgriff auf Debatten aus den 1970er Jahren. Unter anderem ging es darum, bisher nicht berücksichtigte, selbstverständlich vorausgesetzte, also ›unsichtbare‹ Arbeit kenntlich zu machen, ihre Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion herauszuarbeiten und ihr auf diese Weise moralische und vor allem auch finanzielle Anerkennung zu verschaffen. Das Netzwerk Care Revolution versucht aus diesen Analysen Schlussfolgerungen für eine aktuelle politische Praxis zu ziehen. Soweit das Netzwerk darauf gerichtet ist, ein politisches Bündnis zu schaffen, stellt sich die Frage, wie breit dieses sein kann und welche Rolle insbesondere diejenigen spielen, die im Lichte der ›Care-Theorien‹ als diejenigen gelten, die ›Sorgearbeit‹ empfangen, also zum Beispiel behinderte, chronisch kranke oder alte Menschen. Dazu werden hier einige kritische Thesen formuliert werden.

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Care-Arbeit: Vom bürgerlichen Liebesdienst zur »Freiwilligenarbeit« für alle

April 2016 • Gisela Notz

Foto: RLS

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Die Diskussion um Care-Arbeit ist nicht neu. Von der soziologischen Frauenforschung wurde schon lange kritisiert, dass den sogenannten »Reproduktionsarbeiten« zu wenig Bedeutung beigemessen wird. Mit dem Slogan „das Private ist politisch“ verlangten schon die Frauenbewegungen der 1970er Jahre eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Position der Frauen darin (vgl. Notz 2006). Dazu gehörte auch die Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung.Es gab viele Versuche, die „abgespaltenen Tätigkeiten“ (Scholz 2000, 18) theoretisch zu erklären und Strategien zu entwickeln, wie die mit der Trennung zwischen „privat“ und „öffentlich“ verbundenen geschlechts- und schichtspezifischen Arbeitsteilung sowie damit einhergehenden Diskriminierungen überwunden werden können: Von der Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“ (Dalla Costa/James 1973) bis zur Vergesellschaftung dieser Arbeitsform (Notz 2006, 46).

In diesem Text soll zunächst der Begriff der „Care-Ökonomie“ erläutert und seine gesellschaftliche Bewertung aufgezeigt werden, um anschließend an Hand der bis jetzt in der Care-Diskussion wenig beachteten „ehrenamtlichen“ Arbeit die Funktion von Care-Arbeit für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft zu verdeutlichen. Staat, Wohlfahrtsverbände und Kirchen weigern sich, notwendige Care-Arbeiten nach tarifvertraglichen Regeln zu bezahlen. Das führt zu einer weiteren Prekarisierung vor allem von Frauenarbeiten.

Zum Begriff der „Care-Ökonomie“

Seit einiger Zeit erlebt die Debatte unter dem Begriff „Care-Ökonomie“ eine Renaissance. Die Verwendung des Begriffs ist dabei vieldeutig. Care-Arbeit wird als Lohnarbeit, als selbständige Sorgearbeit, als „ehrenamtliche“ Gratisarbeit oder im eigenen Haushalt verrichtet. Die „ehrenamtliche“ Gratisarbeit (Notz 2012) wird in theoretischen Analysen der Care-Arbeit oft vernachlässigt. Die Frage, ob Prostitution (Sexarbeit) zur Care-Arbeit gehört, ist innerhalb der Genderforschung heiß umstritten. Auch Care-Arbeit als Assistenz für Menschen mit Behinderung ist noch zu wenig beleuchtet. Meiner Meinung nach gehört auch Widerstand gegen krankmachende Arbeits- und Lebensbedingungen, gegen Krieg und Umweltzerstörung zu Care-Arbeit. Die Unklarheiten machen den Umgang mit dem Begriff schwierig.

Fest steht, dass ohne Care-Arbeit das gesamte System der gesellschaftlichen Arbeit zusammenbrechen würde. Denn Care-Arbeit ist in einer kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft ebenso notwendig wie Produktionsarbeit. Sie ist die Kehrseite und die Voraussetzung der in Produktion, Landwirtschaft und Verwaltung geleisteten Arbeit. Care-Arbeit findet nicht, wie oft behauptet, ‚außerhalb‘ der kapitalistischen Produktionsverhältnisse statt, sondern ist Teil derselben. Sie ist auch keine andere ‚befreite Ökonomie‘, die nach Gesetzen und Handlungsrationalitäten jenseits des Wachstumszwangs und der Profitorientierung funktioniert (Chorus 2013).

In den bestehenden Geschlechterverhältnissen macht die in der Familie sowie sozialen Organisationen geleistete unbezahlte Care-Arbeit (meist Frauenarbeit) Marktaktivitäten (vorwiegend Männerarbeit) überhaupt erst möglich. Andererseits sind die bezahlt geleisteten Marktaktivitäten Voraussetzung für die angebliche Unbezahlbarkeit der Haus-, Sorge- und Fürsorgearbeiten. Um zu verstehen, warum Berufe, die Care-Tätigkeiten erfordert, nach wie vor niedriger bewertet werden als andere, „männlich“ konnotierte Erwerbsarbeiten, hilft ein Blick zurück in die Geschichte.

Bürgerlicher Liebesdienst

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war bürgerlichen Frauen der Zugang zu vielen Berufen und zu den Universitäten weitgehend versperrt, während Frauen und Kinder der arbeitenden Klasse bereits zu großer Zahl in den Fabriken arbeiten mussten, zu Hungerlöhnen und unter gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen. Für andere sorgen und andere pflegen war zunächst kein bezahlter Beruf, sondern wurde von bürgerlichen Frauen als soziale und karitative Dienste ehrenamtlich übernommen (vgl. Notz 1989). Dazu gehörte das Kochen der Armensuppe, das Versorgen von Verwundeten in den Lazaretten, die Versorgung von Kindern, deren Mütter in den Fabriken arbeiteten, Alten und anderen, die sich nicht selbst helfen konnten.

Die Frauen taten dies aus ‚christlicher Nächstenliebe‘. Eine Bezahlung wurde ihnen dafür nicht zuteil; meist verlangten sie diese auch nicht. Aufgrund ihrer Herkunft konnten sie es sich leisten, ohne Geld für ‚Gottes Lohn‘ zu arbeiten. Der Platz im Himmel schien ihnen dafür sicher; besagt doch schon das Matthäus-Evangelium: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Auch andere Bibelstellen verweisen darauf, dass die Versorgung der Hilfsbedürftigen als ein gottwohlgefälliges Werk zu betrachten sei, als ein Weg zur Sündenvergebung (Notz 1989, 44). So wurden die Menschen der Arbeiterklasse als Bedürftige zum Objekt der subjektiven Seelenrettung. Geholfen wurde aus Furcht vor der Hölle, um für begangene eigene Sünden zu büßen oder zumindest, um die eigenen sozialen Privilegien zu rechtfertigen.

Kritik der sozialistischen Frauenbewegung

Vertreterinnen der sozialistischen Frauenbewegung wandten sich gegen den weit verbreiteten Glauben der bürgerlichen Schwestern, „dass Wohltätigkeit, Armenpflege und allseitiger guter Wille die Mittel sind, das soziale Elend aus der Welt zu schaffen“ (Braun 1976, 64). Mit diesem Glauben verlören sowohl Wohltäter als auch Schützlinge die Empfindung für Gerechtigkeit und das Verständnis dafür, dass „jeder arbeitende Mensch ein Recht auf eine gesicherte Existenz hat“ (ebd.). Es sei nicht nur eine schreiende Ungerechtigkeit, sondern auch eine Kränkung, Menschen mit Almosen abzuspeisen. Die Proletarierinnen wollten das kapitalistische System radikal verändern und es nicht durch karitative Maßnahmen erträglicher gestalten. Vom Staat forderten sie die Schaffung von Lebensbedingungen, die Wohlfahrtspflege und Fürsorge überflüssig machen. Das Image der karitativen Arbeit bleibt bestehen...

Die Hoffnung der „ersten“ bürgerlichen Frauenbewegung, dass mit der Professionalisierung und der qualifizierten Ausbildung auch eine höhere Bewertung von Care-Arbeit einhergehen würde (Salomon 1902, 37), hat sich bis heute nicht erfüllt. Auch als die „wohltätigen“ Frauen durch die ersten Sozialen Frauenschulen formal qualifiziert waren, wurde weitestgehend davon ausgegangen, dass sie durch ihre Eltern, ihren späteren Ehemann oder eigenes Vermögen ‚versorgt‘ waren und weiter ohne Bezahlung arbeiten konnten.

Die „ehrenamtlichen“ Frauen begannen jedoch, Einfluss auf die Verwaltung und Gesetzgebung zu reklamieren und Bezahlung für ihre Arbeit zu verlangen. Dieses politische Engagement ging den (meist männlichen) Persönlichkeiten, die in der kommunalen Armenpflege arbeiteten, zu weit; sie standen den neuen Ausbildungsmöglichkeiten eher feindlich gegenüber: die öffentliche Armenpflege sei nicht geeignet sei, um aus der Hilfe und Sorge einen Lebensinhalt oder gar einen Beruf zu machen (vgl. Notz 2012, 32f). Die Professionalisierung schritt mit zunehmender Not der IndustriearbeiterInnen dennoch voran, vor allem während der Kriegsjahre wurde deutlich, dass ehrenamtliche Arbeit alleine nicht reicht.

Auch wenn es in den folgenden Jahrzehnten zu einem Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge, zu einer Verberuflichung und Professionalisierung vieler Care-Berufe und zu einer Veränderung von Geschlechterverhältnissen kam, wird in Kindergärten, in der Altenarbeit, in der Schule, in Jugendeinrichtungen und auch in der Gesundheitsversorgung noch immer viel un- und unterbezahlte Care-Arbeit geleistet. Das Image der karitativen Arbeit haftet den Berufen bis heute an. Es wird von den Kirchen und ihren Wohlfahrtseinrichtungen fleißig gepflegt. Auch wenn durchaus nicht mehr nur Frauen aus den bürgerlichen Schichten in den Einrichtungen arbeiten, scheinen die Care-Tätigkeiten Berufe für „opferfreudige Idealisten“ zu sein.

Ein Nebeneinander unterschiedlicher Arbeitsformen

Obwohl dieses Image eigentlich alle Care-ArbeiterInnen trifft, unterscheiden sich die Bedingungen zwischen einzelnen Bereichen extrem. Der Arbeitsmarkt im Care-Bereich besteht aus einem Nebeneinander unterschiedlichster Arbeitsformen. Die berufliche Vielfalt reicht von der gut bezahlten GeschäftsführerIn, über Beamte, Angestellte in unterschiedlichen Funktionen, Aushilfs- und Honorartätigkeiten, freie Mitarbeit, (oft) prekären Selbständigen, im Nebenberuf tätigen, in Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen Beschäftigte, geringfügig Beschäftigte, Mini-JobberInnen, Ein-Euro-JobberInnen und undokumentierte Beschäftigte bis hin zu GratisarbeiterInnen. Viele Vereine und vor allem Selbsthilfeorganisationen arbeiten schon lange „rein ehrenamtlich“ (Notz 1989, 108 f.).

Die Vielzahl der unterschiedlichen Arbeitsverhältnisse macht die Arbeitenden gegeneinander ausspielbar. Es entstehen Unterschichtungen zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen und „Ehrenamtlichen“. Aus Berichten geht hervor, dass durch die „neue Unübersichtlichkeit im Freiwilligensektor die Solidarität in vielen Einrichtungen zum Fremdwort geworden“ ist (TNS Infratest 2005, 11). Die Unterscheidung zwischen bezahlt und unbezahlt Arbeitenden wird so immer schwerer.

Das gilt auch für andere Care-Berufe: So arbeiten etwa 60 (Ost 75) Prozent der Erzieherinnen – oft ungewollt - in einer Teilzeitstelle, die meist nicht existenzsichernd ist. Jede fünfte Beschäftigte in Ost und West hat einen befristeten Vertrag. Zugleich hat der Erzieherberuf nach wie vor einen Männeranteil von um die vier Prozent (Groll 2015). Die Zahl der Mütter und Bezugspersonen, die „ehrenamtliche“ Care-Arbeit bei der Kinderbetreuung leisten, wächst. Das hängt mit einer neuen In-Dienst-Nahme von unter- bzw. schlechtbezahlter Care-Arbeit im Neoliberalismus zusammen. Denn für das unbezahlte Arbeitsvolumen wird mit dem Ruf nach Familien- und Gemeinsinn geworben, das Bezahlte fällt mehr und mehr dem Sozialabbau zum Opfer oder wird zur prekären Beschäftigung, von deren Ertrag vor allem Frauen ihre Existenz nicht eigenständig sichern können.

Die unbezahlten Care-Arbeiten nehmen in dem Maße zu, wie sie im bezahlten Bereich abgebaut werden (Notz 2012, 57ff.) Aus diesem Grunde verweisen PolitikerInnen immer wieder darauf, dass soziale Kontakte und Teilhabe, die die Gratisarbeit bietet, wichtiger seien als Geld. ‚Freiwilliges‘ Engagement soll glücklich, gesund und zufrieden machen, ja sogar für ein langes Leben sorgen, weil man aktiv das eigene Lebensumfeld mitgestalten kann (vgl. Wehner/Güntert 2015). Die Rhetorik kann nicht darüber hinwegtauschen, dass es um die Einsparung von Kosten geht.

Care-Arbeit als monetarisierte „Freiwilligenarbeit“

Im Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitswesen und besonders in der Altenhilfe und -pflege besteht eklatanter Personalmangel. „Wer pflegt uns, wenn wir alt sind?“, ist eine der großen Zukunftsfragen. Sie ist nach wie vor überwiegend Frauensache, egal ob in der professionellen Altenpflege, in der Familie oder in der ehrenamtlichen Gratisarbeit. Überall liegt der Frauenanteil zwischen 80 und 90 Prozent. Auf männlichen Nachwuchs kann nicht gehofft werden, denn nur 5 Prozent der AltenpflegeschülerInnen sind männlich (Pflegeagenten 2015).

Staat und Wohlfahrtsverbände suchen nach Lösungen, um den zunehmenden Bedarf an AltenpflegerInnen kostensparend zu decken. Arbeitsdienste im Sinne von sozialen Pflichtjahren werden immer wieder diskutiert - solche „Zwangsdienste“ wären aber ohne Verfassungsänderung schwer durchzusetzen. Wie also mit den „neuen“ Problemen fertig werden?

Freiwilligendienste für alle

Schon vor der Aussetzung des Zivildienstes wurde in der Bundesrepublik darüber diskutiert, wie die „Freiwilligendienste“ in verbindlichere und verlässlichere Strukturen gebracht und engagierte BürgerInnen auf personell unterversorgte Arbeitsbereiche konzentriert werden können, ohne dass sie dann dem Vorwurf eines Pflichtdienstes ausgesetzt sind. Mit dem „Gesetz zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes“ (BFD) hat die Bundesfamilienministerin ab April 2011 – zeitgleich mit dem Aussetzen des Zivildienstes – für Menschen aller Generationen ein völlig neues Arbeitsverhältnis geschaffen.

Die ‚freiwillige‘ Verpflichtung, für die alle Männer und Frauen aller Altersklassen nach Ableistung ihrer Schulpflicht angeworben werden – unabhängig von der deutschen Staatsangehörigkeit. Er dauert mindestens sechs und höchstens 18 Monate, umfasst 40 Stunden in der Woche für unter 27-Jährige und mindestens 20 Stunden für Ältere. Die „neue Freiwilligenarbeit“ wird in soziale und ökologische Bereiche, Sport, Integration und Kultur vermittelt. Schwerpunkte sind jedoch Care-Arbeiten wie Kinder- und Jugendbetreuung sowie Altenbetreuung und -pflege.

Die ArbeiterInnen sind während des Dienstes sozialversichert. Sie erhalten ein Taschengeld, das monatlich maximal 336 Euro bei einer Vollzeitbeschäftigung betragen darf. Alle großen Wohlfahrtsverbände sind an diesem Modell beteiligt und bekommen ca. 200 € Zuschuss, wenn sie eine Stelle einrichten. Fast 160.000 Männer und Frauen haben sich seit der Einführung 2011 beteiligt und sich in einem sozialen Projekt engagiert. Das spart nicht nur tariflich bezahlte Arbeitsplätze, sondern wertet die ohnehin schon geringschätzig behandelten Care-Berufe weiter ab.

Mit einer Erwerbsarbeit ist der „Freiwilligendienst“ nicht vereinbar. Auch bei reduzierter Stundenzahl müssen Nebentätigkeiten von der Einsatzstelle genehmigt werden Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-BezieherInnen dürfen 200 Euro von ihrem Taschengeld behalten und müssen in dieser Zeit keine andere Arbeit annehmen. Das macht den Dienst auch für Langzeiterwerbslose und für arme RentnerInnen interessant.

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD), hat zum 1. Dezember 2015 10.000 neue ‚Stellen‘ für den BFD geschaffen. Der Bundesfreiwilligendienst mit Flüchtlingsbezug soll sowohl einheimischen Freiwilligen als auch Asylberechtigten und AsylbewerberInnen mit guter Bleibeperspektive offenstehen. Flüchtlinge haben zudem die Möglichkeit, einen BFD auch in den regulären Bereichen abzuleisten – zum Beispiel in einem Seniorenheim. „Ich halte es für sehr wichtig, dass sich auch Flüchtlinge als Freiwillige engagieren – das stärkt den sozialen Zusammenhalt, hilft auch bei der Integration und auch beim Erlernen unserer Sprache“, so Manuela Schwesig (BMFSFJ 2016). Ein Schelm, der Böses dabei denkt? Der bereits verabschiedete und gesetzlich geregelte Mindestlohn kann so locker umgangen werden.

WohlfahrtsexpertInnen verwiesen schon lange darauf, dass es um die Zukunft der Pflege älterer Menschen in Deutschland nicht gut bestellt ist. Im Sozial- und Gesundheitsbereich und vor allem in der Altenpflege müssten mehr qualifizierte sozialversicherungspflichtige „reguläre Arbeitsplätze“ geschaffen werden. „Auf gute Pflege haben alle ein Recht, sie darf nicht arm machen“, sagt das Bündnis für Pflege, indem sich verschiedene Verbände, darunter auch die großen Wohlfahrtsverbände und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sowie der Deutsche Frauenrat zusammengeschlossen haben. Sie fordern maßgeschneiderte Leistungen für Pflegebedürftige, Unterstützung und Anerkennung für Angehörige, bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen und gerechte Finanzierung.

Mit der Förderung des BFD fährt der Zug in die entgegengesetzte Richtung. Zwar gebietet das Gesetz eine arbeitsmarktneutrale Ausgestaltung – das heißt, die Freiwilligen sollen lediglich „unterstützende, zusätzliche Tätigkeiten verrichten“ und keinesfalls hauptamtliche Kräfte ersetzen. Eine Abgrenzung ist aber kaum möglich. Arbeitsplatzbeschreibungen gibt es nicht. Sieht man sich die Stellenausschreibungen im Internet an, werden die Zweifel bestätigt. Auch der erste Evaluationsbericht, der ansonsten vor Lob strotzt, kann es nicht bestreiten: er stellt fest, dass „Tätigkeitsprofile, die stark an Erwerbsarbeit erinnern“, zu finden sind (Anheier u.a. 2012, 21). Der DGB Vorsitzende Michael Sommer kritisierte während seiner Amtszeit, dass durch den BFD „bestehende Arbeitsplätze verdrängt und neue Arbeitsplätze verhindert werden“ (Sommer 2012). Selbst die Beschränkung auf „unterstützende Tätigkeiten“ ist nicht unproblematisch. Denn wenn damit zwischenmenschliche emotionale Zuwendung für Kranke, Kinder, Alte oder andere der Hilfe Bedürftige gemeint ist, so sind das Tätigkeiten, die früher integraler Bestandteil der Berufe von Altenpflegerinnen, Krankenschwestern, Erzieherinnen oder Sozialarbeiterinnen waren.

Es besteht die Gefahr, dass die hauptberufliche soziale Grundversorgung wesentlich durch eine zu Niedrigstlöhnen beschäftigte Randbelegschaft aus Freiwilligen unterstützt wird, deren sozialer und emotionaler Einsatz nicht mehr „unbezahlbar“, sondern ganz wenig Wert ist.

Perspektiven

Der Bedarf an freiwilligen Care-Arbeiten wird in der Zukunft noch weiter zunehmen. Grund dafür ist nicht nur der demografische Wandel und die „zunehmende Erwerbsbeteiligung“ der Frauen, auf die nicht unbegrenzt als Hausfrauen zurückgegriffen werden kann. Auch die Zahl derjenigen, die auf Hilfe angewiesen sind, wird angesichts der globalen Krisen zunehmen.

Freiwillige Arbeit sollte neben einer existenzsichernden Erwerbsarbeit geleistet werden können und nicht als Ersatz für diese. Das heißt, dass die Freiwilligen über ein ausreichendes Einkommen oder Rente abgesichert sein müssen. Und: Freiwillige Arbeit kann erst dann effektiv eingesetzt werden, wenn die professionelle Versorgung von Hilfe-, Versorgungs- und Betreuungsbedürftigen sichergestellt ist.

Für eine politisch verstandene Freiwilligenarbeit gilt, dass sie nicht nur gesellschaftlich organisierte Hilfe für Menschen leistet, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht selbst helfen können. Sie sollte sich auch nicht nur mit der Linderung oder Bearbeitung sozialer, kulturpolitischer oder umweltbezogener Probleme beschäftigen, sondern auch mit der Verhinderung und mit der langfristigen Lösung.

Freiwilligenarbeit hat in der vielzitierten Zivilgesellschaft somit auch einen politischen Auftrag, nämlich Ungleichheit und Ausgrenzung anzuprangern und dabei einzufordern, dass Handlungsstrategien entwickelt werden, die der Exklusion entgegenwirken. Eine allein mildtätige, karitativer Motivation – deren Notwendigkeit angesichts der aktuellen Problemlagen nicht bezweifelt werden soll – kann lediglich die Symptome der Übel bearbeiten. Es gilt stattdessen, politisch auf Veränderung zu dringen und die Missstände auf die Agenda zu setzen.

Literatur

Anheier, Helmut K. u.a., 2012: Ein Jahr Bundesfreiwilligendienst, Erste Erkenntnisse einer Begleitenden Untersuchung, Heidelberg.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – BMFSFJ (Hg.), 2006: Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Siebter Familienbericht, Berlin.

BMFSFJ (Hg.), 2011: Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht, Berlin.

BMFSFJ, 2016: Manuela Schwesig begrüßt die ersten „bufdis“ in der Flüchtlingshilfe, 7.1.2016, www.bmfsfj.de 

Chorus, Silke, 2013: Care-Ökonomie im Postfordismus, Münster.

Dalla Costa, Maria und Selma James, 1973: Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft, Berlin.

DAK Gesundheit (Hg.), 2015: Pflegereport 2015. So pflegt Deutschland, Hamburg.

Groll, Tina, 2015: Schlecht bezahlt in der Kita, in: Zeitmagazin, 6.1.2015.

Lenz, Ilse (Hg.), 2008: Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden.

Notz, Gisela, 1989: Frauen im sozialen Ehrenamt. Ausgewählte Handlungsfelder: Rahmenbedingungen und Optionen, Freiburg.

Dies., 2006: Warum flog die Tomate? Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre, Neu Ulm.

Dies., 2011: Theorien alternativen Wirtschaftens. Fenster in eine andere Welt, Stuttgart Dies., 2012: „Freiwilligendienste“ für alle. Von der ehrenamtlichen Tätigkeit zur Prekarisierung der „freiwilligen“ Arbeit, Neu-Ulm.

Dies., 2013: Gesellschaftliches Potenzial der Haus- und Betreuungsarbeit. Umverteilung statt Abwälzung auf Freiwillige und Dienstbotinnen, in: Widerspruch, 105-119.

Pflegeagenten: Pflege ist weiblich? Umdenken bitte!, www.pflegeagenten.de/Pflege-ist-weiblich-Umdenken-bitte--13287.aspx

Scholz, Roswitha, 2000: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorie und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef.

TNS Infratest Sozialforschung/Dr. Thomas Gensicke, 2005: Freiwilliges Engagement in Niedersachsen (1999 – 2004 im Trend), München.

Weeks, Kathi, 2011: Affektive Arbeit, feministische Kritik und postfordistische Politik, in: Grundrisse 38, 13-27.

Wehner, Theo und Stefan T. Güntert (Hg.), 2015: Psychologie der Freiwilligenarbeit. Motivation, Gestaltung und Organisation, Berlin/Heidelberg.

Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin und hat an verschiedenen Forschungsprojekten zu Geschlechterverhältnissen, Prekarisierung des Arbeitslebens sowie zur historischen Frauenforschung gearbeitet.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/vom-buergerlichen-liebesdienst-zur-freiwilligenarbeit-fuer-alle

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Die Diskussion um Care-Arbeit ist nicht neu. Mit dem Slogan „das Private ist politisch“ verlangten beispielsweise die Frauenbewegungen der 1970er Jahre eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dazu gehörte auch die Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und die Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“. Auch wenn es zu einem Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge, zu einer Professionalisierung vieler Care-Berufe und zu einer Veränderung von Geschlechterverhältnissen kam, wird in Kindergärten, in der Altenarbeit, in der Schule, in Jugendeinrichtungen und auch in der Gesundheitsversorgung noch immer viel un- und unterbezahlte Care-Arbeit geleistet.

Der Text erklärt, welche Bedeutung Care-Arbeit für die Wirtschaft hat und warum diese trotzdem niedriger bewertet / entlohnt wird als andere, „männlich“ konnotierte Tätigkeiten. Anhand der „ehrenamtlichen“ Arbeit wird die Funktion von Care-Arbeit für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft und die Folgen verdeutlicht.

Foto: RLS

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