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Die neue Kultur des Helfens

Februar 2022 • Tine Haubner

Foto: Mat Napo / Unsplash

Foto: Mat Napo / Unsplash

Pflege, Krise, Migration#Pflege #Krise #Migration

»Seit Jahren fehlen Altenpfleger – bei den Löhnen kein Wunder! Die müssen rauf, klar. Um den Notstand aber abzuwenden, sollten diejenigen helfen, die sonst nur warten« (Heine 2015). Dieser Zeitungskommentar ist nur eine von vielen Stimmen, die aktuell den Einsatz von Flüchtlingen in der Altenpflege fordern.

Er bildet einen Ausschnitt der sozialpolitischen Suchbewegung nach neuen Arbeitskraftpotenzialen in der Care-Krise, die sich durch pflegepolitischen Handlungsdruck intensiviert. Ob ein solches Krisenmanagement tatsächlich zumindest übergangsweise eine ›Win-win-Situation‹ für Flüchtlinge und den Pflegesektor darstellen kann oder ob mit den Flüchtlingen eine sozial verwundbare Gruppe an der Schwelle zum Niedriglohnsektor für den Social-Investment-State[1]  mobilisiert werden soll, ist angesichts laufender Informalisierungs- und Deprofessionalisierungstendenzen in der Pflege durchaus fraglich. Eine andere, schon länger verfolgte Strategie ist der staatlich geförderte Einsatz freiwillig Engagierter in der Pflege.

Ein Blick auf die vergangenen Jahrzehnte zeigt: Sowohl Renaissance als auch Krise des Freiwilligen Engagements werden regelmäßig ausgerufen. Diagnostizieren ForscherInnen noch Mitte der 1980er Jahre eine Rekrutierungskrise »helfender Hände«, wird zur Jahrtausendwende mit »Freiwillige vor!« (Schlagzeile eines ZEIT-Artikels) das neu entfachte Interesse für das Ehrenamt in eine Parole gegossen (Heuser/v. Randow 2000). Die Konjunkturzyklen der Aufmerksamkeit für das freiwillige Engagement folgen dabei ökonomischen und politischen Krisenrhythmen – ein Aspekt, der in der öffentlichen Debatte häufig von moralischen Appellen an den Bürger- und Gemeinsinn überlagert wird.

Das neue Ehrenamt im Kontext wohlfahrtsstaatlichen Wandels

Die Renaissance des Ehrenamts in der Pflege, deren Ausläufer wir gegenwärtig miterleben, beginnt daher nicht zufällig in den 1990er Jahren, als die Krise von Arbeitsgesellschaft, Wohlfahrtsstaat und Demokratie im Kontext des neoliberalen Siegeszuges die Gemüter erregte. Auch die soziale Reproduktion geriet in eine Krise: Die Bevölkerung altert, traditionelle Haushalts- und Familienstrukturen wandeln sich, die weibliche Erwerbsbeteiligung steigt global, die räumliche und zeitliche Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse nimmt zu und das Ernährermodell – mitsamt der alimentierten informellen Pflege durch Hausfrauen – erodiert. Daneben führten die seit den 1980er Jahren steigende Sockelarbeitslosigkeit und der Abbau gut bezahlter Industriearbeitsplätze zu sinkenden Beitrags- und Steuereinnahmen (bei gleichzeitig steigenden Sozialhilfeempfängerzahlen) und belasteten so die kommunalen Haushalte.

Galt der Sozialstaat in der Nachkriegszeit noch als Garant sozialen Friedens und wirtschaftlicher Prosperität, geriet er nun zunehmend in den Verdacht, den Standort Deutschland durch mangelnde Flexibilität, Reformstau und zu hohe Lohnnebenkosten im globalen Wettbewerb zu benachteiligen (vgl. Lessenich 2008).

Neben den vielbeschworenen demokratisierenden Potenzialen und haushaltspolitischen Vorzügen kam dem neuen Ehrenamt im deutschen Diskurs der 1980er und 1990er Jahre deshalb vor allem eine arbeitsmarktpolitische Bedeutung zu. Der zwischen Markt und Staat befindliche Dritte Sektor mit staatlich kofinanzierten und auch unentgoltenen Sozialdienstleistungen wurde zunehmend als Hoffnungsträger des gesellschaftlichen Zusammenhalts gehandelt. Die staatliche Förderung des Ehrenamts galt immer häufiger als probate Arbeitsmarktstrategie vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Spaltungstendenzen.

In dieser Übergangsphase, in welcher der Wohlfahrtsstaat ›alter Prägung‹ durch verschiedene Wandlungsprozesse unter Druck geriet, stellte sich die Frage, wie die vielbeklagten ›leeren Staatskassen‹ geschont werden sollten, wenn zugleich der Bedarf an pflegerischer Versorgung wächst. Das Rekrutierungsproblem von sowohl bezahlten als auch unbezahlten Pflegekräften treibt die Sozial- und Pflegepolitik in Deutschland seither um: Wer füllt die Lücke, die überforderte Familien, erwerbstätige Frauen, erschöpfte Pflegefachkräfte und ein sich »aktiv selbst zurücknehmender Staat« hinterlassen (Kommission für Zukunftsfragen 1997, 169)? Die Wahl sollte, soviel ist sicher, auf eine möglichst kostengünstige Gruppe fallen.

Die neue Konjunktur des ›Bürgersinns‹

Die politisch-philosophische Strömung des Kommunitarismus lieferte der »neuen Kultur des Helfens« (Fink 1990) zu Beginn der 1990er Jahre auch außerhalb akademischer Fachdebatten medienwirksame Schlagworte. Mit Appellen an Gemeinschaft und Gemeinsinn sowie mit der Betonung von ›Aktivierung‹ und Werteorientierung hebt sie unermüdlich die Bedeutung sozialen Zusammenhalts in Zeiten neoliberaler Vereinzelung hervor.

Mit einer Studie zu Entwicklungspfaden italienischer Gemeinden zeigte der kommunitaristische Soziologe Robert Putnam (1993), dass die Effizienz lokaler partizipativer Entscheidungsprozesse mit der Anzahl der bürgerschaftlichen Vereine und dem ehrenamtlichen Engagement korreliert. Sein daraus entwickeltes Konzept des Sozialkapitals avancierte zu einem vielzitierten Gradmesser gesellschaftlicher Integration. Es soll helfen, den sozialen, kulturellen und ökonomischen Nutzen politischer Beteiligung und sozialer Netzwerkbildung zu vermessen – und zu akkumulieren. Entsprechend begann die Bundesregierung in den 1990er Jahren damit, großflächig Modellprojekte zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements zu finanzieren.

Forschungsberichte über vorhandene »Humankapitalressourcen« (wie das erste Freiwilligen-Survey oder der erste Engagement-Bericht) wurden veröffentlicht, 1999 wurde die Enquete-Kommission »Zukunft des ehrenamtlichen Engagements« eingesetzt, die EU-Kommission erklärte 2011 zum »Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit«, es folgten die Gründung des Bundesfreiwilligendiensts und 2013 ein Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts. Der Nonprofit-Sektor wächst seither weltweit rasant: 1995 erreichte die Zahl der darin Beschäftigten allein in Deutschland mit 1,4 Millionen Vollzeitäquivalenten einen Anteil von fast 5 Prozent an der Gesamtbeschäftigung – jeder fünfte Erwachsene war zu dieser Zeit unentgeltlich aktiv (Priller/Zimmer 2001). Im Jahr 2009 erzeugten Freiwillige einen geschätzten Arbeitswert von 35 Milliarden Euro (Pinl 2013).

Das neue Ehrenamt in der Pflege

Das Ehrenamt in der Pflege ist jedoch kein neues Phänomen. Bevor der Beruf der Altenpflege in den 1960er Jahren offiziell eingeführt wurde, waren zumeist bürgerliche Frauen als sogenannte Diakonissen und Ordensschwestern unentgeltlich in der Alten- und Krankenpflege tätig. Das Normalarbeitsverhältnis war für den Pflegebereich, historisch betrachtet, nie maßgeblich prägend, die Abgrenzung zwischen professioneller Fach- und Laienpflege immer prekär und umkämpft.

Diese Diffusität von beruflichen Tätigkeitsprofilen und qualifikationsbasierten Zuständigkeiten spielt auch heute eine zentrale Rolle, wenn Freiwillige für pflegerische Betreuungsleistungen mobilisiert werden. So erfasste die Wiederentdeckung des bürgerschaftlichen Engagements ab den 1990er Jahren auch den Pflegebereich, wo freiwillige Gratisarbeit durch die Professionalisierung der Sozial- und Gesundheitsberufe zwischenzeitlich an den Rand gedrängt worden war.

Der Einsatz von Freiwilligen wird seither vor allem durch die Sozialgesetzgebung gestärkt und ausgeweitet. Das Pflegeleistungsergänzungsgesetz von 2001 zielte mit der finanziellen Förderung niedrigschwelliger Betreuungsangebote auf die Stärkung häuslicher Betreuung auch durch Ehrenamtliche ab. In diesem Jahr erhielt bereits jeder zehnte Pflegehaushalt Unterstützung durch Freiwillige (ZQP 2013). Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz ergänzte sieben Jahre später Fördermöglichkeiten für Selbsthilfe und Ehrenamt auch für körperlich Kranke. In dieser Zeit wurde auch der Spitzenverband der Pflegekassen dazu verpflichtet, niedrigschwellige Betreuungsangebote und ehrenamtlich Pflegende mit 25 Millionen Euro jährlich zu unterstützen. Das Pflege-Neuausrichtungsgesetz von 2012 gestattete stationären Einrichtungen, Aufwandsentschädigungen an Ehrenamtliche zu zahlen.

Diese Förderung des bürgerschaftlichen Engagements gewann mit der Verschärfung der Pflegekrise sukzessive an Fahrt und ist darüber hinaus schon länger Teil der »Demografie-Strategie der Bundesregierung« sowie der »Nationalen Engagement-Strategie«. Für die nächsten Jahre wird mit der Versorgung von Flüchtlingen eine weitere Etappe des neuen Engagement-Diskurses prophezeit, wobei »die Entwicklung hin zu einer Tätigkeitsgesellschaft« die Abgrenzung zwischen beruflicher- und unentgeltlicher Arbeit ohnehin zunehmend erschwert (Evers u.a. 2015). Die Engpässe in der professionellen Pflege sowie die Tatsache, dass die Pflegeversicherung auch in Zukunft eine Teilkaskoversicherung[2]  bleiben soll, legen nahe, dass sich dieser Trend fortsetzen wird.

Professionalisiertes ›weibliches‹ Engagement an der Schnittstelle zum Niedriglohn

Mit nur 2 Prozent der insgesamt ehrenamtlich Tätigen, gehört Engagement in der Pflege nicht zu den beliebtesten Bereichen freiwilliger Arbeit. Ein Blick auf die dort Engagierten ist dennoch aufschlussreich: Laut Freiwilligen-Survey engagieren sich dort häufig ältere, zu 80 Prozent weibliche, gut qualifizierte, materiell durchschnittlich abgesicherte Personen. Pflegende Angehörige sind in dieser Gruppe überdurchschnittlich oft vertreten (ZQP 2013). Von einer qualitativ neuen und geschlechtergerechten Arbeitsverteilung kann hier also offensichtlich nicht die Rede sein – das Engagement in Pflege und Gesundheit bleibt überwiegend ›weiblich‹.

Weil das Ehrenamt jedoch weder eine konstante und verbindliche (geschweige denn professionelle) Versorgung von Pflegebedürftigen gewährleisten kann, wird es zunehmend als soziale Dienstleistung professionalisiert und über materielle Anreize gesteuert – etwa mittels pauschaler Entschädigungen und Versicherungsleistungen. Häufig wird der ehrenamtliche Pflegeeinsatz über Leistungen der Pflegeversicherung für sogenannte niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsleistungen finanziert. Denn mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz haben Pflegebedürftige und Personen mit »eingeschränkter Alltagskompetenz« erhöhten Anspruch auf zusätzliche Betreuung. Mit dieser ›Betreuungspauschale‹ stehen ihnen seit 2015 monatlich zusätzlich zum Pflegegeld zwischen 104 und 208 Euro an zweckgebundenen Beträgen für die Inanspruchnahme freiwilliger Helferinnen zur Verfügung.

Auf diese Weise avanciert das Ehrenamt zu einer nebenberuflichen Beschäftigung mit Stundensätzen zwischen fünf und zehn Euro, die zum Teil weit unter dem gesetzlichen Pflegemindestlohn liegen und vor allem für diejenigen attraktiv werden, die von geringen Rentenleistungen und Altersarmut betroffen sind.

Das Ehrenamt als kostengünstiger Pflegedienstleister

Dass sich das Ehrenamt dabei mitunter zu einem konkurrierenden Anbieter pflegerischer Dienste mausert, zeigt das Beispiel einer ehemaligen Pflegehilfskraft. Die erwerbsunfähige Rentnerin engagiert sich nach einem erlittenen Burn-out ehrenamtlich als Demenzhelferin für fünf Euro die Stunde, um ihre dürftige Rente aufzubessern. In einem 2014 geführten Interview[3]  berichtete sie stolz, ihr Verein sei wesentlich kostengünstiger als andere Anbieter. Und auch die Leiterin des Vereins hob hervor, dass sie aufgrund der geringeren Vergütung der freiwilligen Mitarbeiterinnen – im Vergleich zum Personal ambulanter Pflegedienste – mehr Zeit für die Pflegebedürftigen anbieten könne.

Sowohl aufseiten der caregiver wie aufseiten der care receiver ist die Altersarmut der zentrale Treiber dieses Unterbietungswettbewerbs. Die Konkurrenz von ambulanten Pflegediensten und Freiwilligenvereinen um die niedrigschwelligen Betreuungsleistungen nimmt zu. Wenn hier Ehrenamtliche nicht selten selbst grund- und sogar behandlungspflegerische Aufgaben (wie Injektionen oder Wundversorgung) übernehmen, werden damit nicht nur Prozesse der Entprofessionalisierung in der Pflege fortgeschrieben, die das traditionelle Negativimage des Berufes als einer ›Jederfrautätigkeit‹ festigen.

Auch die Engagierten selbst werden während ihrer Einsätze häufig überfordert. Ein anschauliches Beispiel solcher Überforderung schilderte die bereits genannte Demenzhelferin. Es geht um einen Zwischenfall im Haushalt einer hochaltrigen Pflegebedürftigen, die während des Einsatzes einen Atemstillstand erlitt. Da die Angehörigen entschieden, keinen Arzt zu konsultieren, wohnte die Demenzhelferin dem Geschehen als hilflose Zeugin bei: »Das ging mir ganz schön nah. Die hätte mir ja auch unter den Händen wegsterben können.«

Das Beispiel zeigt eindrücklich, mit welchen Anforderungen pflegende Angehörige und Ehrenamtliche in der Pflege alleingelassen werden – ein mehrwöchiger Crashkurs zum Thema Demenzbetreuung kann eine dreijährige Berufsausbildung zur Altenpflegekraft nicht ersetzen. Zugleich wird hier die essenzielle Bedeutung des Engagements in der maroden Pflegelandschaft deutlich, bieten doch freiwillige Demenzhelferinnen oftmals die einzige Betreuung neben den häufig überlasteten Angehörigen und den im engen Takt der Minutenpflege ächzenden Pflegediensten.

Lösungen jenseits von Staat und Markt?

Wurde die sozialpolitische Instrumentalisierung des Ehrenamts noch in den 1980er und 1990er Jahren von Arbeits-, Sozialwissenschaften und Gewerkschaften problematisiert, ist diese Kritik vielfach verstummt: Das Engagement wird mehr und mehr zu einer materiell entschädigten, mittels Passungsfähigkeit und Talentmanagement quasi personalpolitisch gemanagten und professionalisierten Sozialdienstleistung – eine Entwicklung, die selbst in Teilen der gesellschaftlichen Linken begrüßt wird. Die kollektiv-selbsttätige Organisation der Reproduktion »jenseits von Markt und Staat« wird vielerorts als Gegenstrategie zur privatwirtschaftlichen wie auch staatlichen Vereinnahmung begriffen (Lent/Trumann 2015, 105).

Indem allerdings auch die Care-Commons den Sozialstaat von Reproduktionskosten entlasten, gleichen sie weniger »Inseln« (trouble everyday collective 2014, 69) als vielmehr innerkapitalistischen Kolonien (vgl. Werlhof et al. 1988). Caring-Communities oder Bürgerkommunen genießen dennoch nicht selten den Ruf, Manifestationen realutopischer Entwürfe einer solidarischen Zukunftsgesellschaft zu sein. Dass sie jedoch mitunter auch zu einer Entprofessionalisierung in der Pflege beitragen und freimütig Niedriglohnbeschäftigung organisieren, zeigt das Zitat des Bürgermeisters einer Caring-Community, der in einer Forschungsstudie den Gestaltwandel des Ehrenamts wie folgt bewirbt:

»Die Engagierten, die wir vermitteln, unterstützen hilfe- und pflegebedürftige Mitbürger deutlich intensiver als in der traditionellen Nachbarschaftshilfe. Sie werden von uns geschult und nicht nur in der Alltagsbegleitung, sondern auch in der Grundpflege und in der Hauswirtschaft eingesetzt. Dafür erhalten sie eine Aufwandsentschädigung von sieben bis acht Euro netto pro Stunde« (ZQP 2013, 62).

Eine solche vorauseilende und kostengünstige Umsetzung des Subsidiaritätsgedankens[4]  kann ein konservativer Wohlfahrtsstaat wie der deutsche nur begrüßen – er bürdet traditionell den Großteil der pflegerischen Versorgung kleinen Netzwerken auf, mehrheitlich unbezahlt.

Der staatliche Appell an die Freiwilligen und deren beinah euphorische Würdigung als »Elite der Gesellschaft« sollten zudem Skepsis hervorrufen, wenn es heißt: »Die Ehrenamtlichen kümmern sich viel persönlicher, als dies die beste staatliche Jobagentur kann […]. Das ist nicht nur positiv, das ist wunderbar. Die Ehrenamtlichen haben Fantasie. Die Ehrenamtlichen sind die Unbezahlbaren dieser Gesellschaft, sie sorgen dafür, dass aus Demokratie nicht Dekadenz wird« (Prantl 2010).  Das Ehrenamt wird hier als ›unbezahlbare‹ Prävention gegen sozialstaatliche Generosität begrüßt, getragen von aktiven, für ihre Belange selbst verantwortlichen Bürgerinnen.

Ungehorsames Engagement

Aus einer kritischen Perspektive stellt sich die Frage, wie den bestehenden Versorgungslücken in der Pflege begegnet werden kann, ohne bereitwillig zu akzeptieren, dass die sozialstaatliche Daseinsfürsorge durch die Gratisarbeit sorgender Gemeinschaften substituiert wird. Die Losung »Es ist uns keine Ehre« des Berliner Medibüros (vgl. Schuh in diesem Heft), das eine unentgeltliche medizinische Versorgung für Flüchtlinge organisiert, stellt einen reflektierten Versuch dar, die eigene Tätigkeit als aus der Not geborene Hilfeleistung und die Gefahr der sozialpolitischen Instrumentalisierung öffentlich zu problematisieren. Darin artikuliert sich ein Selbstverständnis, das als »ungehorsames Engagement« bezeichnet werden könnte und das sich jenseits einer zynischen Generalabsage von linker Seite an praktische Unterstützung von Hilfebedürftigen verortet. Aber auch jenseits bürgerlicher Selbstaufopferung. Hier wird aufgezeigt, dass Care-Work unter den Bedingungen kapitalistischer Verwertung und sozialpolitischer Instrumentalisierung schlechterdings unmöglich ohne Ausbeutung zu haben ist (Van Dyk et al. 2016).

Eine andere Form, auf die Instrumentalisierung des freiwilligen Engagements hinzuweisen, bestünde hingegen in einer demonstrativen Verweigerung – die Hausfrauenstreiks der 1970er Jahre könnten dafür Pate stehen. Ein Streik von Freiwilligen könnte sowohl auf die essenzielle Bedeutung unsichtbarer Arbeit als auch auf ihre Instrumentalisierung hinweisen. Die Entwicklung solcher Protestformen gehört auf die Agenda einer emanzipatorischen Politik, die sich den Fragen sozialer Reproduktion zuwendet.

Anmerkungen

[1] Mit dem Begriff Social-Investment-State wird der Strukturwandel des deutschen Sozialstaates im Zuge der 1990er Jahre bezeichnet, in dessen Folge Aktivität, Eigentätigkeit und Selbststeuerung der BürgerInnen sozialpolitisch an Bedeutung gewinnen (vgl. Lessenich 2008). 

[2] Die 1995 eingeführte deutsche Pflegeversicherung ist eine »beitragsfinanzierte Teilkaskoversicherung« in Abgrenzung zu einer »bedarfsorientierten Vollkaskoversicherung«, das heißt, die budgetierten Versicherungsleistungen decken lediglich einen Teil der entstehenden Kosten ab und sollen die informelle Pflege durch Angehörige, Nachbarn oder Freunde nur »ergänzen« (§4 SGB XI). Sie setzt die Bereitschaft zur unbezahlten Übernahme pflegerischer Tätigkeiten durch soziale Netzwerke immer schon voraus. 

[3] Dieses und andere Interviews mit überwiegend ›informellen‹ Pflegekräften wie Angehörigen, Ehrenamtlichen und migrantischen Pflegekräften führte ich im Rahmen meiner Dissertation zur sozialpolitischen Regulierung der deutschen Pflegekrise 2014. 

[4] Der deutsche Sozialstaat zeichnet sich durch seine am Subsidiaritätsprinzip ausgerichtete »privatistischfamilialistische Pflegekultur« aus (Lessenich 2003). Die jeweils kleinere soziale Einheit wie etwa die Familie ist die bevorzugte ökonomische und soziale Unterstützungsinstanz.

Literatur

Evers, Adalbert et al., 2015: Die Vielfalt des Engagements. Eine Herausforderung an Gesellschaft und Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 30.3.2015, 3–9.

Fink, Ulf, 1990: Die neue Kultur des Helfens. Nicht Abbau, sondern Umbau des Sozialstaats, München/Zürich.

Heine, Hannes, 2015: Hilfe aus Syrien. Flüchtlinge als Altenpfleger, in: Der Tagesspiegel, 27.1.2015.

Heuser, Uwe Jean und Gero v. Randow, 2000: Freiwillige vor! Der Gemeinsinn wächst – trotz Geldfiebers und schwarzer Konten. Ehrlichkeit und Mitmenschlichkeit gehen nicht unter, in: ZEIT online, 16.3.2000.

Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, 1997: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Teil 3: Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage, Bonn.

Lent, Lilly und Andrea Trumann, 2015: Kritik des Staatsfeminismus. Oder: Kinder, Küche, Kapitalismus, Berlin.

Lessenich, Stephan, 2008: Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld.

Ders., 2003: Dynamischer Immobilismus. Kontinuität und Wandel im deutschen Sozialmodell, Frankfurt a.M./New York.

Pinl, Claudia, 2013: Freiwillig zu Diensten? Über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit, Frankfurt a.M.

Prantl, Heribert, 2010: Im Himmel sind wir dann alle gleich. Die Elite und die kleinen Leute – Politik und Verantwortung nach der großen Wirtschaftskrise. Festrede beim Neujahrsempfang der Stadt Friedrichshafen am 17. Januar 2010.

Priller, Eckhard und Annette Zimmer (Hg.), 2001: Der Dritte Sektor international. Mehr Markt – weniger Staat?, Berlin.

Putnam, Robert D., 1993: Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton.

trouble everyday collective, 2014: Die Krise der sozialen Reproduktion. Kritik, Perspektiven, Strategien und Utopien, Münster.

Van Dyk, Silke et al., 2016: Für ein rebellisches Engagement, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2016, 37–40.

Werlhof, Claudia v. et al., 1988: Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit, Reinbek.

Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP), 2013: Freiwilliges Engagement im pflegerischen Versorgungsmix. ZQP-Themenreport, Berlin, http://zqp.de/upload/content.000/ id00367/attachment00.pdf.

Tine Haubner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und beschäftigt sich mit der Soziologie der Arbeit, unter anderem mit Reproduktions- und Sorgearbeit, mit Prekarisierung und sozialer Ungleichheit.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/die-neue-kultur-des-helfens

#Pflege #Krise #Migration

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Wurde die sozialpolitische Instrumentalisierung des Ehrenamts noch in den 1980er und 1990er problematisiert, ist diese Kritik vielfach verstummt. Caring-Communities oder Bürgerkommunen genießen nicht selten den Ruf, Ausdruck realutopischer Entwürfe einer solidarischen Zukunftsgesellschaft zu sein. Für die nächsten Jahre wird mit der Versorgung von Geflüchteten eine weitere Etappe des neuen Engagement-Diskurses prophezeit.

Der Artikel beleuchtet, wie der staatlich geförderte Einsatz freiwillig Engagierter in der Pflege schon länger eine verfolgte Strategie ist, um dem Pflegenotstand beizukommen und wie dies zu einer Entprofessionalisierung in der Pflege beiträgt, das Image des Berufes als einer ›Jederfrautätigkeit‹ festigt und Niedriglohnbeschäftigung fördert. Schließlich wird aufgezeigt, wie den bestehenden Versorgungslücken begegnet werden kann, ohne bereitwillig zu akzeptieren, dass die sozialstaatliche Daseinsfürsorge durch die Gratisarbeit sorgender Gemeinschaften ersetzt wird.

Foto: Mat Napo / Unsplash

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Die Community als Ressource

Dezember 2021 • Tine Haubner und Silke Van Dyk

Foto: Ismael Paramo/Unsplash

Foto: Ismael Paramo/Unsplash

Krise, Alternativen#Krise #Alternativen

Der Gegenwartskapitalismus steckt nicht nur in einer ökonomischen, sondern längst auch in einer ökologischen, politischen und sozialen Funktionskrise, worauf Gegenwartsdiagnosen der „multiplen“ oder „Vielfachkrise“ hinweisen (z.B. Demirovic et al. 2011). Spätestens seit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008ff. besteht zudem wenig Zweifel an einer fundamentalen Hegemonie- und Legitimationskrise des Neoliberalismus. Die multiplen Krisendynamiken verdichten sich zudem zu einer fundamentalen Krise der sozialen Reproduktion: Jahrzehnte der Privatisierung, Deregulierung und Kommodifizierung haben private und öffentliche Sorgekapazitäten erodieren lassen, auf die der Kapitalismus mit seiner strukturellen „Sorglosigkeit“ (Aulenbacher et al. 2015) konstitutiv angewiesen ist. Die Krise der sozialen Reproduktion wird zusätzlich vom Wandel der Familien- und Geschlechterverhältnisse und der Alterung der Gesellschaft vorangetrieben und schlägt sich in Zeiten, da immer weniger Frauen ganztägig als „heimliche Ressource der Sozialpolitik“ (Beck-Gernsheim 1991: 66) zur Verfügung stehen, in wachsenden Sorgeengpässen nieder. Hat sich der neoliberale Kapitalismus also gewissermaßen selbst zu Tode gesiegt – wie manche Autor*innen im Lichte dieser Dynamiken mehr prognostizieren als diagnostizieren?

Nein, argumentieren wir in unserem gerade erschienenen Buch „Community Kapitalismus“. Der Kapitalismus stellt vielmehr aufs Neue seine enorme Wandlungsfähigkeit unter Beweis, nimmt vom radikalen Individualismus Abstand und treibt die Suche nach gemeinschaftsförmigen Krisenlösungen und gemeinschaftsbasierter Solidarität – als neuer Ressource der Sozialpolitik – voran. Der ‚Ego-Gesellschaft‘ scheint die Puste auszugehen und allenthalben ist von Gemeinschaft und Community die Rede: Die Bundesregierung bewirbt Konzepte „sorgender Gemeinschaften“ als neues Paradigma einer nachhaltigen Sozial- und Pflegepolitik, „Bürgerkommunen“ gelten als lokalpolitische Reformmodelle der Zukunft, freiwilliges Engagement, Gabentausch und kollektive Sharing Economy-Projekte florieren. In digitalen Netzwerken gilt die Devise „community is the brand” (Botsman/Rogers 2010: 199), Facebook-Gründer Mark Zuckerberg preist sein Netzwerk als Meta-Community und soziale Infrastruktur der Zukunft.

Unbezahlte Arbeit war und ist, so wird erneut deutlich, das Lebenselixier des Kapitalismus. Und je weniger selbstverständlich unbezahlte Arbeit im Privathaushalt – eingebettet in eine entsprechende Geschlechterordnung – erbracht wird, desto größer wird die Bedeutung informeller Sorgearbeit außerhalb der Familie, die in Zeiten der Krise der sozialen Reproduktion zum Gegenstand politischer Steuerung und Aktivierung avanciert: Vor diesem Hintergrund ist die Entstehung einer Konfiguration zu beobachten, die wir Community-Kapitalismus nennen, deren politische und moralische Ökonomie sich durch eine Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage und die Verknüpfung von nicht regulär entlohnter Arbeit (im Folgenden: Post-Erwerbsarbeit) und Gemeinschaftspolitik auszeichnet.

Natürlich sind nicht regulär entlohnte Arbeitstätigkeiten jenseits von Privathaushalten kein neues Phänomen und auch die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen wirft seit mehreren Jahrzehnten neue Fragen der Organisation von (Für-)Sorge auf. […] Und doch ist die aktuelle Situation von neuer Qualität. Einerseits verbindet sich die – unterschiedlichen Dynamiken geschuldete – Krise der sozialen Reproduktion mit der fundamentalen Legitimations- und Hegemoniekrise des Neoliberalismus, zugleich befördert die rasante technologische Entwicklung digital gestützte, neue Vergemeinschaftungen, durch die die Grenzen von Arbeit und Freizeit, von Öffentlichkeit und Privatheit in neuer Weise fluide werden. Im Lichte dieser heterogenen Entwicklungen hat der Community-Kapitalismus, so unsere These, das Potenzial hegemoniefähig zu werden, denn er bietet eine Antwort auf die multiplen (Krisen-)Dynamiken der Gegenwart. Er verbindet Lösungen für die Reproduktionskrise mit einer legitimationsstiftenden Antwort auf die Hegemoniekrise des Neoliberalismus und schafft einen Deutungsrahmen, der zentrale Muster der zunehmend einflussreichen digitalen Vergemeinschaftungen aufgreift. Zudem ist der Anti-Etatismus, der in der Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage steckt, anschlussfähig an Akteure sehr unterschiedlicher politischer Provenienz. Auf der Ebene der Subjekte antwortet die Anrufung von Gemeinschaft und Gemeinsinn auf ein reales Begehren nach Verbundenheit und Solidarität nach der jahrelangen Konjunktur des Hyper-Individualismus und Sozialabbaus. Das Regieren durch Community reizt etwas an, das vielen Menschen im Alltag wichtig ist. Es befördert ein aktives ‚Mittun‘, ohne dass damit eine dezidierte Bejahung der gesellschaftlichen Neuverhandlung des Sozialen als fürsorgliche Gemeinschaft verbunden sein muss.

Die wissenschaftliche Literatur ist ebenso wie der politische und mediale Diskurs reich an Lob für die Zivilgesellschaft und das Engagement von Freiwilligen und Umsonstarbeitenden; der Lobpreis von Gemeinschaft und Gemeinsinn ist allgegenwärtig. Unser Buch will diese breit verankerte Affirmation aufbrechen und stellt eine Kritik des Community-Kapitalismus dar. Es ist keine Kritik an Freiwilligen und Engagierten, keine Kritik an alltäglichen Formen der Solidarität unter Nachbar*innen und Freundinnen, keine Kritik an Selbstorganisation und Alternativökonomien. Es ist eine Kritik der politischen und moralischen Ökonomie des Community-Kapitalismus, die auf der Ausbeutung von Posterwerbsarbeit, der Informalisierung und De-Professionalisierung von Arbeit, der Umdeutung der sozialen Frage in eine Frage fürsorglicher Gemeinschaften und der Überführung sozialer Rechte in soziale Gaben beruht.

Die Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage

In unserem Buch betrachten wir [in den vorherigen Kapiteln] die empirischen Beispiele der Posterwerbsarbeit im Bürgerschaftlichen Engagement, in der Laienpflege, der Nachbarschaftshilfe, den digitalen Netzwerken und der Prosumer[i]-Aktivität. Sie alle zeigen, dass eine pauschale Charakterisierung des Gegenwartskapitalismus als grenzenlose Ökonomisierung des Sozialen zu kurz greift. Wir erleben vielmehr eine Neuausrichtung der sozialen Reproduktion, in der die Grenzen von Markt, Staat, Familie und Zivilgesellschaft mit ihren jeweiligen Steuerungslogiken neu vermessen werden, so dass nicht entlohnte Arbeit und Fürsorge – auch und besonders jenseits traditioneller Familienkonstellationen – an Bedeutung gewinnt.

Die Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage operiert, wie wir am Beispiel der Freiwilligenarbeit und des Pflegeengagements zeigen, mit zwei Ansatzpunkten: einmal im Sinne einer Verschiebung bzw. Neuakzentuierung der gesellschaftlichen Sektoren, das heißt der Auslagerung von Aufgaben, die vorher entweder in der Familie, in staatlicher und kommunaler Verantwortung oder durch den Markt organisiert waren, in die Zivilgesellschaft. Zum anderen stellt die Verzivilgesellschaftlichung eine Art „‘Fitnesstraining‘ der Zivilgesellschaft“ (Kocyba 2004: 20) dar. Sie zielt auf die Responsibilisierung und Aktivierung der Bürger*innen durch symbolische Würdigung, materielle Förderung und staatliches Unterlassen. Es findet damit ein doppelter – sektoren- wie subjektorientierter – Zugriff auf zivilgesellschaftliche Ressourcen statt. Zum einen durch die Stärkung des so genannten dritten Sektors, zum anderen durch die Re-Adressierung der Subjekte im Sinne einer neuen Verantwortungsteilung zwischen Staat und Bürger*innen. Dieser Zugriff auf die Zivilgesellschaft geht dabei in auffälliger Weise mit der De-Thematisierung ihrer politischen Dimension einher.

Die Abspaltung des Politischen schreibt zugleich ein wesentliches Moment des Neoliberalismus fort, der gerade darauf zielt(e), Bürger*innen nicht primär als Subjekte mit politischen und sozialen Rechten, sondern als ökonomische Akteure und Humankapital zu adressieren, wobei es nun verstärkt auch um das Sozialkapital der Gemeinschaft geht. Exemplarisch lässt sich dies am Beispiel der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe seit 2015 zeigen: Während Engagierte, die Geflüchtete mit Nahrungsmitteln und Schlafplätzen versorgen oder medizinische Hilfe und Übersetzungsdienste organisieren mit Würdigungen und Preisen geradezu überschüttet werden, ist parallel die zunehmende Kriminalisierung von politischen Aktivitäten gegen Abschiebungen wie auch der zivilgesellschaftlichen Seenotrettung zu beobachten. In dieser entpolitisierenden Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage oszilliert Gemeinschaft als Anwesend-Abwesendes. Es werden ihre Stärken beschworen, es wird ihr Verlust in der spätmodernen Gesellschaft beklagt und sie bleibt als Bezugsgröße auffällig unterbestimmt. Die Zivilgesellschaft wird in diesem Sinne sowohl als (H)Ort der Gemeinschaft(en) identifiziert, deren vorhandene Potenziale es stärker zu nutzen gelte, wie auch als (H)Ort der – noch ausstehenden – Gemeinschaftsbildung und damit als Akteur der Hervorbringung der avisierten Ressource. In beiden Fällen greift die positive Aufladung von Gemeinschaft und die Sakralisierung von Engagierten im Kontrast zur entfremdeten Gesellschaft und der Kälte politischer Rationalität: „In unserer gemeinsamen Vorstellung ist der Freiwillige wohlig warm, während der Aktivist entweder zu kühl intellektuell oder zu heißblütig agiert. In unserer gemeinsamen Vorstellung liest der nette, angenehme Freiwillige Vorschulkindern vor, während der Aktivist Streikposten aufstellt und schreit.“ (Eliasoph 2013: 43)

Quo Vadis Community – wie sehen Alternativen aus?

Der Community-Kapitalismus bietet mit seiner Kombination aus Post-Erwerbs- und Gemeinschaftspolitik eine Antwort auf die multiplen Krisen der Gegenwart. Die politische Ökonomie des Community-Kapitalismus beruht auf der doppelten (direkten, profitgenerierenden und indirekten, kostensparenden) Ausbeutung von Post-Erwerbsarbeit. Damit antwortet sie auf das grundsätzliche Dilemma von Sorge- und Reproduktionsarbeit, zugleich unverzichtbar und begrenzt profitabel zu sein. Post-Erwerbsarbeit ist dabei nicht einfach nur kostengünstig oder billig, sondern eingebettet in eine moralische Ökonomie der positiven ‚Aufladung‘ von Freiwilligkeit und Gemeinsinn. So werden die prekarisierenden, ausbeutenden, Unsicherheit und Abhängigkeit stiftenden Implikationen dieser Reproduktionsstrategie verschleiert. Durch die gemeinschaftliche Affizierung der Post-Erwerbsarbeit gelingt eine Umdeutung von Arbeit in Nicht-Arbeit, die nicht nur ihre Ausbeutung ermöglicht, sondern nach Jahren des Hyper-Individualismus, der Ökonomisierung und der Kultur der Eigenverantwortung zugleich auf eine verbreitete Sehnsucht nach Formen nicht entfremdeter Arbeit sowie der Kooperation und gemeinschaftlichen Sorge antwortet. Wir erleben gewissermaßen die gleichzeitige Ausbeutung von Verwundbarkeit und Verbundenheit.

Wie kann eine Alternative zum Community-Kapitalismus aussehen, die die wechselseitige Verbundenheit von Menschen stärkt, ohne ihre Autonomie einzuschränken? Eine, die den Fallstricken gemeinschaftsbasierter Fürsorge entgeht, ohne unkritisch den Sozialstaat mit seinen normierenden und exkludierenden Implikationen anzurufen und die – vor allem – eine solidarische Antwort auf die zerstörerischen Folgen von Privatisierung, Kommodifizierung und Deregulierung bietet? Und wie kann eine institutionelle Einbettung von Gegenseitigkeit und Solidarität im Alltag gelingen, ohne dass alternative Projekte als kostengünstige Ressource ausgebeutet werden oder die emanzipatorischen Potenziale von Selbstorganisierung durch Regulierung zunichte gemacht werden?

Die erste Antwort lautet: abhängige Arbeit zum Lebensunterhalt ist als Arbeit zu regulieren und zu entlohnen. Unbezahlte Tätigkeiten sollten nicht vorschnell, ohne Prüfung ihrer potenziell informalisierenden, prekarisierenden, de-professionalisierenden Implikationen als positive Alternativen zur Erwerbsarbeit aufgeladen oder aber als feminisierte Gratisressource abgewertet werden. Dafür gilt es die moralische Ökonomie des Community-Kapitalismus im Blick zu behalten und zu fragen, wo die Affirmation von Gemeinschaftlichkeit und Gemeinsinn zur Folge hat, dass ausgebeutete Post-Erwerbsarbeit der Gegenwart als Vorgriff auf eine nicht-monetarisierte Tätigkeitsgesellschaft der Zukunft erscheint. Wo ist Unterstützung im Alltag tatsächlich Arbeit, die nach Maßgaben des Arbeitsrechts und Mindestlohns zu beurteilen ist? Wo ersetzen Freiwillige fehlende Fach-Pflegekräfte oder den öffentlichen Nahverkehr? Wo leisten Prosumer die Arbeit von Produktentwickler*innen und Werbefachleuten? Wo organisieren Nachbarschaftsinitiativen die Grünpflege oder Langzeitarbeitslose im Bundesfreiwilligendienst die Ganztagsbetreuung an Schulen? Wo werden soziale Rechte und Sicherheiten unterlaufen, indem Arbeit in Hilfe, Freizeit, Freiwilligkeit, Gemeinsinn oder Liebe umdefiniert wird?

Die zweite Antwort betrifft die Organisation von sozialer Daseinsvorsorge und Infrastruktur: Hier ist es ein Ansatzpunkt, die etablierte Polarität von ‚privat(wirtschaftlich)‘ und ‚öffentlich‘ aufzubrechen und das Öffentliche dahingehend neu zu denken, dass die Rolle des Staates als bislang „tendenzieller Monopolist des Öffentlichen“ (Schultheiß 2012: 11) im Zusammenspiel mit zivilgesellschaftlichen Kräften neu bestimmt wird. Konkret bedeutet dies, die neoliberale Strategie der Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage, die auf Outsourcing, Ressourcennutzung und Entpolitisierung setzt, umzukehren. Dies würde bedeuten, im Sinne eines Insourcing, zivilgesellschaftliche Akteure als Miteigentümer*innen und handlungsmächtige Gestalter*innen in die Organisation der öffentlichen Daseinsvorsorge und Infrastruktur zu integrieren. Dafür gilt es, die historisch fest verankerte Entgegensetzung von (Sozial-)Staat und Zivilgesellschaft zu überwinden, ohne der neoliberalen Praxis ihrer Zusammenführung im Sinne einseitiger Staatsentlastung und neuer Subsidiarität zu folgen.

Derzeit sind verschiedene, erste Suchbewegungen nach einer neuen, solidarischen, partizipativen, öffentlichen Alltagsökonomie und Infrastruktur zu beobachten, die so unterschiedliche Namen tragen wie „Alltäglicher Kommunismus“ (Streeck 2019), „Fundamentalökonomie“ (Foundational Economy Collective 2019) oder „Infrastruktursozialismus“ – und die über die kleinen Netze lokaler Gemeinschaften hinausweisen. Was all den Ansätzen bisher fehlt, ist eine systematische Analyse der Konfiguration, die wir Community-Kapitalismus nennen. Erst wenn wir diese Struktur, ihre Treiber, Träger*innen und Dynamiken durchdringen – und wir hoffen, dazu einen Beitrag zu leisten–, sind wir davor gefeit, ausgebeutete Posterwerbsarbeit der Gegenwart als Vorgriff auf eine nicht-kapitalistische Tätigkeitsgesellschaft der Zukunft zu missdeuten. Und erst wenn wir konsequent die Eigentumsfrage stellen und nach der Verfügungs- und Gestaltungsmacht fragen, kann es gelingen, die instrumentelle Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage in das emanzipatorische Projekt der Vergesellschaftlichung des Öffentlichen zu überführen. Einen solchen Weg zu beschreiten, bedeutet nicht, informelle Hilfe und Unterstützung, freiwilliges Engagement und nachbarschaftliche Solidarität im Hier und Jetzt zu verweigern. Es ist vielmehr ein „rebellisches Engagement“ (van Dyk et al. 2016) gefragt, das nicht nur stillschweigend sorgt und unterstützt, sondern unbequem und laut seine eigenen Grenzen und die Vereinnahmung als Ressource des neoliberalen Staats problematisiert – um den Weg für eine selbst verwaltete, solidarische Infrastruktur und Daseinsvorsorge zu bereiten.

Fußnote

[i] Prosumer, zusammengesetzt aus „consumer“ und „producer“ beschreibt Konsument*innen, die die Güter, die sie nutzen, (mit)produzieren, etwa als Ko-Designer von personalisierten Produkten, aber auch im Bereich der Energieproduktion und Landwirtschaft.

Literatur

Aulenbacher, Brigitte/Bachinger, Almut/Décieux, Fabienne (2015): „Gelebte Sorglosigkeit. Kapitalismus, Sozialstaatlichkeit und soziale Reproduktion am Beispiel des österreichischen ‚migrant-in-a-family-care‘-Modells, in: Kurswechsel, 1/2015, S. 6-14.

Beck-Gernsheim, Elisabeth (1991): „Frauen – die heimliche Ressource der Sozialpolitik“, in: WSI-Mitteilungen 2/1991, S. 58–66.

Botsman, Rachel/Rogers, Roo (2010): What's mine is yours. How collaborative consumption is changing the way we live, London.

Demirovic, Alex/Dück, Julia/Becker, Florian/Bader, Pauline (Hg.) (2011): Vielfachkrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus, Hamburg.

van Dyk, Silke/Dowling, Emma/Haubner, Tine (2016): Rebellisches Engagement ist gefragt. In:Blätter für deutsche und internationale Politik. 62 (2), S. 37–40.

Eliasoph, Nina (2013): The politics of volunteering. Cambridge.

Foundational Economy Collective (2019): Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Berlin.

Kocyba, Hermann (2004): „Aktivierung“, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, S. 17-22

Schultheiß, Franz (2012): „Im Dienste öffentlicher Güter“, in: Mittelweg 36, 21, S. 9-21.

Streeck, Wolfgang (2019): „Der alltägliche Kommunismus“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 64 (6), S. 93-105.

Silke van Dyk und Tine Haubner haben gemeinsam das 2021 im Verlag Hamburger Edition erschienene Buch „Community-Kapitalismus“ verfasst, aus dem hier Auszüge zu lesen sind.

Tine Haubner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und beschäftigt sich mit der Soziologie der Arbeit, unter anderem mit Reproduktions- und Sorgearbeit, mit Prekarisierung und sozialer Ungleichheit.

Silke van Dyk ist Professorin für Politische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie forscht unter anderem zu sozialer Ungleichheit und Eigentumsverhältnissen, zu Alter und Demografie und zur Soziologie der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaats.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/die-community-als-ressource

#Krise #Alternativen

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Die Community gilt als warmer Ort in einer kalten Gesellschaft. Oft steckt in ihr aber unbezahlte Arbeit, die ein Lebenselixier des Kapitalismus ist. Der Community-Kapitalismus verschärft Ausbeutung und setzt Fürsorge und soziale Gaben an die Stelle von sozialen Rechten, kritisieren Silke van Dyk und Tine Haubner in ihrem neuen Buch „Community-Kapitalismus“ (erschienen 2021 im Verlag Hamburger Edition), aus dem hier Auszüge zu lesen sind.

Foto: Ismael Paramo/Unsplash

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Die Coronakrise erschüttert die Kulturbranche in ihrem Fundament. Es droht der Verlust kultureller Vielfalt und Infrastruktur sowie unzähliger beruflicher Existenzen vor allem von Soloselbständigen und Freiberufler:innen. Wir haben Bilanz gezogen und gefragt, was aus der Krise für den Kulturbereich zu lernen ist. Wie kann Kulturförderung im Hinblick auf Nachhaltigkeit, Diversität und soziale Sicherung verbessert werden, damit kontinuierliches Arbeiten ermöglicht und der Produktionsdruck verringert wird? Wie steht es um Organisationsformen der kreativen Klasse – und vor allem wie groß ist deren politische und gesellschaftliche Wirkmacht? Wie lassen sich Distinktions- und Ausgrenzungsmechanismen im Kulturbetrieb überwinden zugunsten von mehr Diversität?

Auftakt der Online-Diskussionsveranstaltung, 9. März 2021, veranstaltung Fraktion DIE LINKE im Bundestag mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Was ist die Kultur der Gesellschaft wert? Diese Frage stellen sich viele Kulturschaffende in Zeiten der Covid-19 Pandemie. Während die Lufthansa großzügig gerettet wird und Superstars wie Elton John, Beyoncé oder Lang Lang genug Geld haben, um durch die Krise zu kommen, sieht es bei der Mehrheit der meist selbständigen Arbeiter*innen in der Kultur- und Kreativwirtschaft deutlich anders aus. Sie kommen gerade so auf den Mindestlohn oder sind ohne jede Einnahme. Am Beispiel der Musikindustrie diskutieren wir mit Berthold Seliger über diese und viele weitere Fragen. Er ist Publizist und seit über dreißig Jahren Konzertagent und Tourneeveranstalter. Mit seinem Buch „Vom Imperiengeschäft“ legt er eine brillante Analyse des Musikgeschäfts vor. Monopole, Marktdominanz und Ausbeutung. Verhältnisse die sich in Zeiten der Pandemie nur verschärft haben.

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LUX.local: Rekommunalisierung

Podcast

Dezember 2021

Rekommunalisierung, Krankenhaus, Wohnen, Krise, Selbstverwaltung, Gewerkschaft#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

Auf der RLS-Webseite hören: rosalux.de/mediathek/media/element/1698

Auf Soundcloud hören: soundcloud.com/rosaluxstiftung/luxlocal-2-rekommunalisierung

Der Podcast beginnt zuerst mit einem Blick auf die politischen Entwicklungen in Österreich: Ende September 2021 wurde die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) die stärkste Partei bei den Gemeinderatswahlen in Graz und stellt nun mit Elke Kahr auch die Bürgermeisterin. Hanno Wisiak aus Graz berichtet über den Weg zu diesem Erfolg, die Themen der KPÖ vor Ort und über ihre Rolle in der Kommunalpolitik Österreichs. Im Anschluss dreht sich alles um Rekommunalisierung

Dr. Vera Weghmann verrät, ob sie insgesamt einen Trend zur Rekommunalisierung sieht und was die wichtigsten Erkenntnisse aus ihrer Arbeit an der neuen Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung» sind.

Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand von zwei ganz konkreten Beispielen: In den Kliniken in Nürnberg und Ingolstadt wurden Teile des Personals in privatrechtlich organisierte Servicegesellschaften (aber in öffentlicher Hand) ausgelagert und seitdem noch unterhalb der üblichen Pflegetarife in Krankenhäusern bezahlt. Die beiden Kommunalpolitiker*innen erzählen vom gemeinsamen Kampf von Personal und Gewerkschaften und davon, wie es gelingen kann, dass auch das Servicepersonal wieder tariflich bezahlt wird.

Die Gäste:

Hanno Wisiak arbeitet in der Öffentlichkeitsarbeit der KPÖ im Grazer Rathaus. Er ist Büroleiter des kommunistischen Gesundheitsstadtrats Robert Krotzer und ist derzeit stellv. Bezirksvorsteher des dritten Grazer Bezirks Geidorf. Er ist außerdem Mitglied des Landesvorstands und der Programmkommission der KPÖ Steiermark in Österreich.

Vera Weghmann ist die Autorin der neuen Broschüre „Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung“ der RLS. Sie arbeitet für Public Services International Research Unit (PSIRU) an der University of Greenwich in London. Die Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind öffentliche Dienstleistungen, Privatisierung und Rekommunalisierung sowie Arbeitspolitik und Gewerkschaften. Vera ist Co-Gründerin der unabhängigen Gewerkschaft United Voices of the World.

Kathrin Flach-Gomez ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Nürnberg und außerdem Landessprecherin der Partei DIE LINKE in Bayern.

Eva Bulling Schröter ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Ingolstadt und war zuvor Bundestagsabgeordnete für die PDS und DIE LINKE sowie bis 2020 Landessprecherin der Partei in Bayern.

Links und Hinweise zur Sendung:

Rekommunalisierung

Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung. Broschüre von Dr. Vera Weghmann

Rekommunalisierungen in Thüringen — Chancen und Risiken. Von Frank Kuschel für DIE THÜRINGENGESTALTER - Kommunalpolitisches Forum Thüringen e.V.

Klinikum zurück in die öffentliche Hand? Rechtsgutachten zu den rechtlichen Möglichkeiten einer Rücküberführung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg in öffentliches Eigentum. Von Joachim Wieland

Für starke Kommunen mit leistungsfähigen Betrieben in öffentlicher Hand. - Ein Leitfaden zur Rekommunalisierung  

Darüber hinaus

 Linke Akteure in den Städten und Gemeinden Zum Zustand der Demokratie und zur Rolle der Partei auf kommunaler Ebene. Von Katrin Nicke

Sammlung einführender Literatur und Websites zu Rekommunalisierung

Krise der Privatisierung – Rückkehr des Öffentlichen, Mario Candeias, Rainer Rilling, Katharina Weise (Hrsg.)

Von R wie Rettungspakete zu R wie Rekommunalisierung. Von Julia Dück

Es gibt viel zu tun – packen wir´s an - Der Erfolg von «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» ist erst der Anfang. Von Stefan Thimmel und Armin Kuhn

#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

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«Lux.local» ist der Kommunalpodcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Katharina Weise. In dieser Folge von «Lux.local» dreht sich alles um das Thema Rekommunalisierung. Dazu wird zuerst erklärt, was Rekommunalisierung, Daseinsvorsorge und Privatisierung bedeutet. Im Anschluss sind folgende Interviewgäste zu hören: Dr. Vera Weghmann, Autorin der Broschüre «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung», sowie Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter. Die beiden Stadträtinnen erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand konkreter Beispiele.

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Kay und Katharina unterhalten sich über Armutsviertel. Obwohl unsere Gesellschaften immer reicher werden, entstehen immer mehr Wohngebiete, in denen sich die Armut häuft. Geballte Armut zerstört Lebenschancen. Wer dort aufwächst, hat es mit Problemen zu tun, die andere Menschen nicht haben. Ein Leben in Armutsvierteln ist schwerer, schließt Menschen aus und führt zu vermeidbarem Leid. Armutsviertel können überwunden werden. Nötig sind höhere Löhne, gute Sozialsysteme und ein gutes Bildungssystem sowie mehr öffentliche Investitionen.

Diese Videoproduktion ist ein Gemeinschaftsprojekt der Rosa-Luxemburg-Stiftung Mecklenburg-Vorpommern (RLS MV) und dem Bund Deutscher Pfadfinder/innen Mecklenburg-Vorpommern (BDP MV)

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Von R wie Rettungspakete zu R wie Rekommunalisierung

Mai 2021 • Julia Dück

Foto: camilo jimenez / Unsplash

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Krankenhaus, Krise, Pflege, Rekommunalisierung#Krankenhaus #Krise #Pflege #Rekommunalisierung

Ein Jahr Corona-Pandemie, mitten in der dritten Welle, drei Rettungspakete: Die letzten Monate standen im Zeichen der Krisenfinanzierung. Nicht nur Gastronomie, Kultureinrichtungen oder die Reisebranche, auch Krankenhäuser bangen um ihr Überleben. Und dies mitten in der Pandemie, in der, so sollte man eigentlich meinen, alle Kapazitäten gebraucht würden. Für die Kliniken wurden daher Rettungspakete geschnürt – seit Beginn der Pandemie bisher drei. Alle drei Hilfspakete sollten die finanziellen Mehrbelastungen der Krankenhäuser durch die aktuelle Krise kompensieren. Ob dies tatsächlich gelungen ist, darum tobt derzeit ein Streit.

So moniert etwa die AOK, dass Milliardenbeträge in die Krankenhäuser flossen, obwohl die Fallzahlen im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr gesunken sind. Gleichzeitig schrieben die Wissenschaftsminister aller 16 Bundesländer einen Brandbrief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), in dem sie sich für finanzielle Nachbesserungen des letzten Corona-Hilfspakets aussprechen und auf die besondere Rolle der Uniklinika und anderer Maximalversorger in der aktuellen Pandemie aufmerksam machen. Zudem sind nicht nur große, sondern besonders kleine Kliniken in Gefahr, die finanziellen Mehrbelastungen wirtschaftlich nicht zu überstehen. Wie etwa die ARD berichtete, mussten vergangenes Jahr rund 20 Kliniken schließen – auch solche, die Covid 19-Patient*innen behandelt haben. Auf der anderen Seite konnten viele Krankenhäuser „dank der üppigen Corona-Hilfen ihre Erlöse kräftig steigern“, wie etwa der Focus kritisierte.  Allein von Januar bis Mai 2020 sind in privaten Kliniken die Nettoerlöse im Durchschnitt um 14,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen. Wie passt das zusammen?

Tatsächlich geschieht im Zuge der Hilfspakete beides gleichzeitig: Es kommt sowohl zu einer Verschwendung staatlicher Mittel als auch zu wirtschaftlichen Einbußen und Schließungen von Krankenhäusern. Die Rettungspakete helfen also weder den Krankenhäusern noch sichern sie eine gute Versorgung von Patient*innen. Sie produzieren vielmehr Krisengewinner und -verlierer unter den Kliniken und verschärfen so die schon vorher bestandene Polarisierung im Krankenhaussektor. Private Häuser profitieren, während öffentliche Kliniken rote Zahlen schreiben. Dies zeigt einmal mehr: Wir müssen weg von einer Finanzierung nach DRGs und einem ökonomisierten Gesundheitssystem hin zu einer bedarfsorientierten und öffentlichen Versorgung sowie kostendeckender Finanzierung.

Bilanz der Corona-Hilfspakete – Eine Geschichte des Scheiterns

Mit dem Beginn der Pandemie in Deutschland und der Sorge um ihre Bewältigung wurde im März 2020 das erste Hilfspaket für die Krankenhäuser beschlossen. Zuvor waren die Krankenhäuser politisch aufgefordert worden, alle planbaren Behandlungen (sogenannte elektive Eingriffe) soweit wie möglich zu reduzieren, um Bettenkapazitäten für die erwartete hohe Anzahl an Covid-19 Patient*innen frei zu halten. Da in einer erlösorientierten Finanzierung nach Pauschalen (den sogenannten DRGs) wirtschaftliche Verluste durch diese Reduzierungen drohten, wurde das erste Rettungspaket (Gesetz „Zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“) beschlossen. Dieses sollte die wirtschaftlichen Einbußen kompensieren. Es sah unter anderem eine Freihaltepauschale vor: Für jedes Bett, das pandemiebedingt im Zeitraum ab Mitte März 2020 nicht belegt wurde, bekamen Krankenhäuser eine Pauschale in Höhe von 560 Euro pro Tag. Durch diese Regelung wurde jedoch zugleich ein finanzieller Anreiz geschaffen, mit der Pauschale zu kalkulieren. So manche Klinikleitung fing an, zu berechnen, in welcher Fachrichtung und für welche Behandlungen es lohnt, Betten nicht zu belegen und stattdessen die Pauschale zu kassieren und wo stattdessen die Aufrechterhaltung geplanter Eingriffe lukrativer ist (vgl. Krankenhaus statt Fabrik). In der Folge führte die Pauschalregelung je nach Krankenhaus zu unterschiedlichen Effekten, wie ein vom Bundesgesundheitsministerium eingesetzter Expertenbeirat analysiert hat: Einerseits haben Kliniken profitiert, die teilstationäre Leistungen erbringen, oder Einrichtungen, die mit der Pandemie kaum etwas zu tun hatten (wie etwa psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen). Hier führte die einheitliche Pauschale zu einer Überkompensation der Erlösausfälle. Andererseits mussten größere Krankenhäuser, die Kapazitäten für Covid-19-Patient*innen freihalten sollten, in vielen Fällen herbe Einbußen erleiden. Dies betraf vor allem die großen Universitätskliniken und Krankenhäuser der Maximalversorgung. Denn diese müssen etwa auch Kapazitäten in der Notfallversorgung, auf Geburtshilfe- oder Kinderstationen vorhalten, die im Fallpauschalensystem nicht ausreichend vergütet werden und daher wenig gewinnträchtig sind. In seiner Begleitstudie kommt der Expertenbeirat zu dem Schluss: „Freigemeinnützige und private Krankenhäuser haben überdurchschnittliche Erlössteigerungen realisiert, während Universitätskliniken Erlösrückgänge von bis zu -6,0% aufweisen“(BMG 2020).

Mit dem zweiten Hilfspaket sollte auf diese Fehlentwicklungen reagiert werden, indem die Freihaltepauschale nunmehr differenziert wurde. So sollten die Kliniken fortan zwischen 360€ bis 760€ pro leergehaltenem Bett erhalten. Allerdings hat auch dieses Hilfspaket die Probleme nicht gelöst. Denn vereinfacht gesprochen wurden die durchschnittlichen Kosten für Behandlungen in einer Klinik zugrunde gelegt, um zu entscheiden, ob das jeweilige Krankenhaus eine höhere oder niedrigere Fallpauschale für das Freihalten von Betten bekommt. Wo also normalerweise teure Hüftgelenksoperationen stattfanden und somit hohe Fallpauschalen abgerechnet werden konnten, flossen die höchsten Ausgleichssummen für freigehaltene Kapazitäten. Sogenannte Maximalversorger, also Kliniken, die umfassende und auch weniger lukrative Leistungen anbieten, erhielten dagegen im Schnitt 200 Euro weniger Pauschale. Dies entspricht aber nicht unbedingt den tatsächlich entstandenen Erlösausfällen, welche die Krankenhäuser verzeichnen. Denn nicht berücksichtigt wurde etwa, welche Kosten durch das Freihalten von Betten und die Verschiebung von Behandlungen entstanden sind, und welche Ausgaben dadurch eingespart werden konnten. Kurzum: Auch mit diesem Paket konnten weder Mitnahmeeffekte noch wirtschaftliche Einbußen verhindert werden.

Mit dem „Dritten Bevölkerungsschutzgesetz“ wurde eine Vielzahl von Einschränkungen, Bedingungen und Kürzungen hinzugefügt, um wirtschaftliche Fehlanreize und Mitnahmeeffekte unter Kontrolle zu bekommen: So wurden die Freihaltepauschalen pauschal um je 10% gekürzt und der Kreis der Krankenhäuser begrenzt, der die Pauschale in Anspruch nehmen kann. Zudem werden die Pauschalen nur noch für Häuser in jenen Regionen gezahlt, die über hohe Inzidenzzahlen sowie über knappe Intensivkapazitäten verfügen. Auch dieses – nunmehr dritte – Paket löst die Probleme jedoch nicht und lässt zudem neue Schwierigkeiten entstehen. So führt die Neuregelung dazu, dass nun die Behandlungen in jenen Regionen wieder hochgefahren werden, wo (bislang) niedrige Inzidenzwerte und/oder (noch) freie Intensivbetten bestehen. Wie wir im Verlauf des letzten Jahres gelernt haben, kann sich das Pandemiegeschehen aber sehr schnell verändern. Den finanziellen Ausgleich von Erlösausfällen an Inzidenzwerte zu koppeln, ist für eine krisenfeste Gesundheitsversorgung also gefährlich. Darüber hinaus führt das Hochfahren von Behandlungen zu einer erneuten Überlastung von (Pflege-)Personal in den Krankenhäusern. Der wirtschaftliche Druck auf die Krankenhäuser und das finanzielle Risiko bleiben zudem bestehen, etwa wenn Patient*innen aus Angst vor Ansteckungen wegbleiben oder nach wie vor unklar ist, ob die Fördergelder des ‚Rettungspakets‘ die Erlösausfälle im jeweiligen Haus decken oder nicht.

Weil eine selbstkostendeckende Finanzierung der Krankenhäuser, wie sie die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) zu Beginn der Pandemie gefordert hat, für die Dauer der Krise vom Bundesgesundheitsministerium nicht umgesetzt wurde, sind Steuergelder also in den Kassen privater Kliniken verschwunden. Zugleich mussten im Corona-Jahr 2020 eine Reihe kleiner öffentlicher Häuser schließen.

So sehen Sieger aus, schalalalala? – Schlupflöcher und Personalkrise

Ein weiteres Schlupfloch ist mit der Entscheidung entstanden, die Kosten der Pandemie nicht über ein System der Selbstkostendeckung, sondern über wirtschaftliche Anreize bearbeiten zu wollen: Die Krankenhäuser sollten zur Schaffung neuer Intensivbetten angeregt werden und erhielten daher für jedes zusätzlich geschaffene Intensivbett im ersten Halbjahr 2020 einen Zuschuss in Höhe von 50.000 Euro. Auf dem Papier hat dies gut funktioniert. Doch laut Recherchen des ARD-Politikmagazins „Kontraste“ wurden im Frühsommer mehr Betten bezahlt als im DIVI-Register[1] gemeldet waren.So gab es Ende Juni 2020 nur rund 32.400 Intensivbetten; gezahlt wurden jedoch Gelder für mehr als 39.700 Betten – also für rund 7300 Betten mehr als gemeldet wurden. Medial wurde hier kritisiert, dass Fördergelder in Höhe von etwa 365 Millionen Euro verschwunden sind. Allerdings liegt das Problem bei den Zahlen eher darin, dass im DIVI-Register nur jene Betten gemeldet werden dürfen, die auch betrieben werden können. Wenn also Betten und Geräte zwar bestellt wurden, aber nicht genügend (Pflege-)Personal da ist, um die Intensivbetten ausreichend bereuen zu können, werden diese im Intensivbettenregister nicht gezählt. Das zentrale Problem der Gesundheitsversorgung im Krankenhaus bleibt also weiterhin der massive Personalmangel. Materielle Ressourcen zu schaffen und hierfür Pauschalen zu kassieren, führt nicht notwendigerweise zu einer realen Zunahme an Versorgungskapazitäten. Auch hier gab es offensichtlich Mitnahmeeffekte, Gewinner und Verlierer der Krankenhausfinanzierung und Rettungspakete.

Im Zusammenhang mit der Frage, wo wirklich neue Kapazitäten für Intensivpatient*innen geschaffen wurden, ist ein Verfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig bekannt geworden, die eine Ermittlung gegen das Asklepios-Klinikum Schildautal in Seesen wegen des Verdachts auf Subventionsbetrug eingeleitet hat.[2]

Der Hintergrund seien möglicherweise „zu Unrecht erhaltene Zahlungen für freigehaltene Corona-Betten“, wie ein Sprecher der Behörde berichtete. Damit steht ausgerechnet jenes Klinikum im Verdacht, Gelder veruntreut zu haben, das erst jüngst negative Schlagzeilen machte. Das Management von Asklepios in Seesen hat Ende des Jahres 2020 die renommierte Rehaklinik geschlossen und damit auf Tarifkonflikte um angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen reagiert, die seit über einem Jahr im Betrieb heiß liefen. Die Gewerkschaft ver.di hatte für das Unternehmen einen Tarifvertrag nach Vorbild des öffentlichen Dienstes gefordert. Der Konzern reagierte darauf mit Einschüchterungsversuchen, Ausgliederungen und Entlassungen – und letztlich mit der Schließung des Reha-Klinikums. Klarer konnte die Konzernspitze ihre Strategie der Profitmaximierung nicht demonstrieren. Dass dem gleichen Konzern nun das unberechtigte Abrufen von Hilfsgeldern vorgeworfen wird, unterstreicht, wo das Interesse des Unternehmens liegt: Es scheint nicht an einer guten Gesundheitsversorgung und guten Arbeitsbedingungen, sondern an Gewinnen ausgerichtet zu sein.

Ein anderer Sieger des letzten Jahres sieht ähnlich aus: Fresenius Helios, Europas führender privater Klinikbetreiber, konnte seinen Umsatz bei Helios Deutschland im 4. Quartal des Jahres 2020 um 11 Prozent (auf 1,64 Milliarden Euro) steigern. Der Umsatz liegt damit sogar noch höher als im Vergleichsquartal des Vorjahres. Auf das gesamte Geschäftsjahr 2020 bezogen, konnte Helios Deutschland Umsatzsteigerungen (um 7 Prozent auf 6,34 Milliarden Euro) verzeichnen. Für das Geschäftsjahr 2021 erwartet Fresenius Helios überdies ein organisches Umsatzwachstum im niedrigen bis mittleren einstelligen Prozentbereich – und dies trotz der Covid-19-Effekte, wie der Konzern berichtet. Zugleich aber geht das Unternehmen auf Konfrontation zu seinen Beschäftigten: So werden in einigen Helios-Kliniken Assistenzärzt* innen aufgefordert, »freiwillig« auf Gehalt zu verzichten, im Helios-Konzerntarifvertrag hat das Unternehmen die Vereinbarung zur Pflegezulage gekündigt und bei den kürzlich abgeschlossenen Verhandlungen zum Konzerntarifvertrag wollte Helios sich lange Zeit lediglich auf Entgeltsteigerungen einlassen, die Reallohnverluste bedeuten würden. Darüber hinaus scheint Helios nach Angaben der Gewerkschaft Marburger Bund auch bei den ärztlichen Stellen einen starken Abbau von Personal für das noch laufende Jahr zu planen. Dabei hat Fresenius für das Jahr 2020 trotz Pandemie ein Konzernergebnis von 1,8 Milliarden Euro eingefahren und darüber hinaus angekündigt, die Dividende für seine Aktionär*innen zum 28. Mal in Folge zu erhöhen.

Beide Beispiele machen deutlich: Private Klinikkonzerne haben in der Gesundheitsversorgung nichts verloren. Auf Forderungen ihrer Beschäftigten reagieren sie mit Drohungen, Kündigungen und Einschüchterungsversuchen. Das Lohnniveau liegt oftmals unter dem Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes. Und es finden sich zahlreiche Beispiele von Ausgliederungen von Krankenhausbereichen, in denen schließlich schlechter und/oder nicht tariflich bezahlt wird. In der Pandemie mehren sich zudem Berichte, die darauf hindeuten, dass vor allem kommunale oder öffentliche Kliniken die Versorgung von Covid-Patient*innen und damit auch das finanzielle Risiko der Versorgung übernehmen, während sich private Unternehmen teilweise wegducken, möglicherweise Steuergelder veruntreuen oder berechnen, welche Behandlungen und welche gesetzlichen Regelungen sich wirtschaftlich besser nutzen lassen. Diese Schlupflöcher werden zwar politisch geschaffen, schließlich aber auch betriebswirtschaftlich genutzt.

Den Privaten den Kampf ansagen – Die Eigentumsfrage stellen

Anstelle einer kostendeckenden Finanzierung, die Gewinne und Verluste und somit auch ökonomische Fehlanreize unterbinden würde, wurde durch die Rettungspakete Geld verschwendet. Zugleich hat dies die Polarisierung zwischen ‚profitablen‘ und ‚nicht profitablen‘ Krankenhäusern verstärkt. Zwei Lehren lassen sich daher aus dieser Bilanz ziehen: Die Finanzierung nach Fallpauschalen muss überwunden werden. Zudem ist eine Abkehr von privaten Krankenhausträgern nötig. Denn diese treiben die Profitmaximierung durch Outsourcing, Stellenabbau oder Lohnsenkungen nicht nur oft aggressiver voran, sie konzentrieren sich zudem meist auf lukrativere Behandlungen und setzen öffentliche Träger dadurch zusätzlich unter Druck. Selbst in der Pandemie ist ein Umdenken zugunsten einer möglichst guten Gesundheitsversorgung nicht zu erkennen. Vielmehr herrscht die Profitorientierung privater Gesundheitsunternehmen ungebrochen weiter.

Strategische Forderungen bewegungspolitischer Akteure im Gesundheitsbereich müssen also eine kostendeckende Finanzierung einerseits sowie die Rekommunalisierung privater Krankenhausträger andererseits adressieren. Eine Einschränkung von Profitinteressen sowie die Rückgewinnung und der Ausbau des Öffentlichen sind angesichts des wachsenden Einflusses privater Unternehmen und der fortgeführten marktförmigen Reorganisierung des öffentlichen Gesundheitswesens wichtiger denn je. Es ist daher zentral, neben den neuen Konzepten der Finanzierung auch die Eigentumsfrage auf die politische Agenda zu setzen: Die Planung und Ausgestaltung der Daseinsvorsorge darf nicht dem Markt überlassen werden – etwa die Entscheidung darüber, ob und wo eine Klinik wirtschaftlich noch zu halten ist oder geschlossen werden muss; oder wie viele (Betten-)Kapazitäten aus betriebswirtschaftlicher Perspektive für Notfälle vorgehalten werden sollen. Dies sind Entscheidungen, die entlang einer Bedarfsplanung getroffen werden müssen. Die Enteignung und Vergesellschaftung sozialer Infrastrukturen sind also wichtige Bausteine für eine bedarfsorientierte, demokratische und solidarische Gesundheitsversorgung. Dass die Eigentumsfrage folglich nicht nur im Feld des Wohnens zentral ist und dass sie offensiv gestellt werden muss, um eine gute Versorgung für alle zu ermöglichen – das lehrt uns die Pandemie erneut und verstärkt.

Fußnoten:

[1] Das Divi-Intensivregister liefert täglich Zahlen zu freien und belegten Intensivbetten von rund 1.300 Krankenhäusern in Deutschland. Es wurde während der ersten Corona-Welle im Frühjahr von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin gemeinsam mit dem Robert Koch-Institut aufgebaut. Für Kliniken mit Intensivkapazitäten gibt es eine Meldepflicht an das Register. Übermittelt werden Daten zu freien und belegten Intensivbetten insgesamt.

[2] Asklepios betreibt nach Angaben des Bundeskartellamtes deutschlandweit 160 Gesundheitseinrichtungen, darunter neben Krankenhäusern auch medizinische Versorgungszentren und Rehakliniken. Asklepios ist hinter der Fresenius-Tochter Helios der zweitgrößte private Klinikbetreiber in Deutschland.

Julia Dück ist Referentin für soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg-Stiftung. Ihr Schwerpunkt ist Gesundheits- und Pflegepolitik sowie Soziale Reproduktion und Care-Arbeit.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/von-r-wie-rettungspakete-zu-r-wie-rekommunalisierung

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Rettungspakete sollten die finanziellen Mehrbelastungen der Krankenhäuser durch die Corona-Pandemie kompensieren. Tatsächlich kam es sowohl zu einer Verschwendung staatlicher Mittel als auch zu wirtschaftlichen Einbußen und Schließungen von Krankenhäusern. Die Hilfspakete helfen also weder den Krankenhäusern noch sichern sie eine gute Versorgung von Patient*innen. Sie verschärfen die schon vorher bestandene Polarisierung von Krisengewinnern und Krisenverlierern im Krankenhaussektor: Private Häuser profitieren, während öffentliche Kliniken rote Zahlen schreiben. Dies zeigt einmal mehr, argumentiert die Autorin, dass es eine Abkehr braucht vom ökonomisierten Gesundheitssystem und von der Finanzierung nach diagnosebasierten Fallpauschalen („Diagnosis Related Groups“, DRG). Um eine gute Gesundheitsversorgung für alle zu ermöglichen, müssen eine kostendeckende Finanzierung einerseits sowie die Rekommunalisierung privater Krankenhausträger auf die politische Agenda.

Foto: camilo jimenez / Unsplash

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Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurden plötzlich jene in «systemrelevanten Berufen» – zum Beispiel Ärzt*innen, Reinigungskräfte, IT-Systemadministrator*innen und Kraftfahrer*innen, Lehrer*innen und Kranken- und Altenpfleger*innen, Kassierer*innen – viel beklatschte Held*innen. Seither wird darüber diskutiert, mit welchen Maßnahmen solche Tätigkeiten aufgewertet werden können – sowohl was die Bezahlung als auch die öffentliche Wertschätzung angeht.

Das Ergebnis dieser Studie: Eine zielgerichtete und nachhaltige Aufwertung systemrelevanter Arbeit kann am besten erreicht werden durch eine Kombination aus Sonderzahlungen und substanziellen Lohnerhöhungen, begleitet von einer Stärkung der Tarifbindung sowie Maßnahmen zur Zurückdrängung des Niedriglohnsektors. Ebenso wichtig sind Maßnahmen gegen Lohnungleichheiten zwischen Männern und Frauen, wozu eine Ausweitung der Partnermonate beim Elterngeld, ein Ausbau der Kinderbetreuung sowie die Förderung flexibler Arbeitszeitmodelle gehören.

Foto: Logan Weaver / Unsplash

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Der Kampf um das Recht auf Wohnen ist auch ein europäischer Kampf

Wie ist die Situation auf dem Mietwohnungsmarkt in Schweden, den Niederlanden und in Spanien?

Dezember 2021

Demonstration zum «Woonopstand» am 17. Oktober 2021 in Rotterdam. Foto: Sandra Fauconnier via flickr / Bildausschnitt / CC BY 2.0

Demonstration zum «Woonopstand» am 17. Oktober 2021 in Rotterdam. Foto: Sandra Fauconnier via flickr / Bildausschnitt / CC BY 2.0

Wohnen, Krise, Organisierung#Wohnen #Krise #Organisierung

Die Machtkonzentration der großen, profitorientierten Wohnungsunternehmen ist eines der bestimmenden Themen der aktuellen wohnungspolitischen Debatte. Seit Jahren werden die Player auf dem Markt immer weniger, dafür aber immer größer. Und die Bestände werden weiter ausgebaut. Ihre Kernbestände stammen zu großen Teilen aus Wohnungsbeständen, die in den 2000er Jahren zu einem sehr niedrigen Preis von städtischen und kommunalen Wohnungsunternehmen erworben wurden. Spekulativer Leerstand, die gezielte Vernachlässigung von Wohnungen, um danach notwendige Modernisierungskosten auf die Mieter:innen umzulegen, und die Ausreizung sämtlicher Möglichkeiten für Mieterhöhungen, sind in vielen deutschen Großstädten längst Realität.

Die Mieter:innen von Konzernen wie Vonovia, Deutsche Wohnen oder Akelius/Heimstaden nehmen diese Strategien als gezielte Angriffe auf ihr Recht auf Wohnen wahr. Nach einem Jahrzehnt der Wohnungskrise sind sie immer öfter gezwungen, im Mittel mehr als 30% ihres Einkommens für ihre Wohnung auszugeben. Und damit mehr, als sie sich leisten können. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung leben in 77 deutschen Großstädten 4.4 Millionen Haushalte in Wohnungen, die sie sich entweder gar nicht leisten können, oder die eigentlich zu klein für sie sind.

Die zunehmende Finanzialisierung von Wohnraum greift allerdings nicht nur Mieter:innen in Deutschland an. International wird Wohnraum immer mehr zur Ware. Viele der großen Wohnungskonzerne agieren global und organisieren ihre Geschäftsmodelle über Landesgrenzen hinweg. Demgegenüber sind die meisten Proteste gegen hohe Mieten und Wohnungsnot meist immer noch lokale, bestenfalls nationale Proteste. Das ist eine verpasste Chance. Die Notwendigkeit zur internationalen Vernetzung ist zwar keine neue Erkenntnis, sie bleibt allerdings auch heute noch eine dringende Forderung. Denn, vergleicht man die Kämpfe um leistbaren Wohnraum und ein Recht auf Stadt in verschiedenen europäischen Städten und die dortigen Geschäftspraktiken der großen Wohnungskonzerne, so lassen sich viele Parallelen erkennen.

Schweden – zwischen Mieter:innen-Gewerkschaft und Marktmieten

So ist Vonovia, das mit Abstand größte Wohnungsunternehmen in Deutschland, auch in Österreich und vor allem in Schweden aktiv, wo es mittlerweile ebenfalls zum größten privaten Wohnungsunternehmen aufgestiegen ist. In Schweden, einst Leuchtturm für einen regulierten Mietmarkt und Sozialstaat, hat die rechts-konservative Regierung zu Beginn der 1990er Jahre eine Liberalisierung und Privatisierung des Wohnungsmarktes eingeleitet. Nur noch knapp jede:r Dritte wohnt in Schweden zur Miete und heute nur noch etwa die Hälfte davon in Wohnungen der öffentlichen Hand.

Wie in Deutschland, fällt Vonovia auch hier durch strategische Renovierungen (sogenannte «concept renovations») auf, die in jeweils einzelnen Wohnungen durchgeführt werden, sobald ein kurzer Leerstand dies zulässt, wie Ilhan Kellecioglu von der Stockholmer Mieter:innen-Initiative «Ort till Ort» berichtet. In der Folge darf die Miete beim nächsten Vertragsabschluss erhöht werden. Dabei sind die Arbeiten oft von fragwürdiger Qualität und Nutzen, die darauffolgenden Mieterhöhungen betragen im Schnitt dennoch 50-60%. Eine gesetzliche Grenze für diese Erhöhungen gibt es nicht. Außerdem komme es so zu teils drastisch unterschiedlichen Miethöhen innerhalb eines Hauses, was eine Organisierung der Mieter:innen erschwert. Dabei sind Mieter:innen in Schweden momentan noch durch das so genannte «use-value»-System zur am «Nutzungswert» orientierten Ermittlung der Miethöhe geschützt. Demnach werden die Wohnungen nach Kriterien wie Größe, Lage und Ausstattung eingeteilt. Allerdings werden die Mieten dann nicht, wie in Deutschland, mithilfe von Mietspiegeln bestimmt, sondern von den Vermietervertreter:innen mit der tenant‘s unions (Mieter:innen-Gewerkschaft) ausgehandelt.

Dieses Konstrukt, als letztes Schild der schwedischen Mieter:innen gegen eine vollständige Liberalisierung des Mietmarktes, sieht sich jedoch ebenfalls starken Angriffen ausgesetzt. Im Juni 2021 drohte die schwedische Linkspartei die amtierende Mitte-links-Regierung platzen zu lassen, nachdem die Regierung einen Reformvorschlag zur Einführung reiner Marktmieten für alle Wohnungen, die nach dem ersten Juli 2022 fertig gestellt werden, vorlegte. Begleitet wurde dieser Vorstoß von Protesten unter dem Motto «Nein zur Marktmiete», bei denen Mieter:innen hunderte von Kundgebungen abhielten – schlussendlich mit Erfolg, wie die Aktivistin und Mitorganisatorin von «Nej till Markadshyra» Sandra Mandell berichtet. Die Mietmarktreform musste der zu dieser Zeit amtierende sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven zurückziehen.

«Woonopstand» in den Niederlanden

Ähnlich wie Schweden haben auch die Niederlande, historisch betrachtet, einen starken Sozialstaat entwickelt. Etwa 60 Prozent der Niederländer:innen leben allerdings im Wohneigentum. Viele der Mietenden jedoch (30 Prozent der Niederländer:innen) wohnen in Wohnraum der öffentlichen Hand. Dieser hohe Anteil des öffentlichen Wohnungsbaus steht aber, ähnlich wie in Schweden, unter starkem Beschuss, wie aus den Berichten von Kees Stad und Gwen van Eijk deutlich wurde. So wurde im Jahr 2013 eine Steuer auf Sozialwohnraum, die so genannte «Vermieterabgabe», eingeführt, ursprünglich als temporäre Maßnahme zur Aufstockung des Haushalts nach Rettung zweier großer, niederländischer Finanzinstitutionen. Diese Abgabe gilt, unabhängig von ihrer ursprünglichen Intention, nach wie vor und belastet ausschließlich Anbietende von Sozialwohnungen. Die Folgen sind fatal – Vermietende geben diese Last in der Regel an die Mieter:innen weiter. Hinzu kommt, dass der private Mietmarkt weitestgehend unreguliert ist. Die so genannte «Vermieterabgabe» schafft jedoch einen Anreiz, zum Beispiel für Wohnungsbaugesellschaften, weniger Geld in sozialen Neubau zu investieren oder sogar Sozialwohnungen zu verkaufen. Das Angebot an Sozialwohnungen geht so zu Lasten eines weitestgehend unregulierten Mietmarktes zurück.

Heute haben 800.000 Haushalte in den Niederlanden nach ihrer Mietzahlung zu wenig Geld für alltäglich notwendige Ausgaben übrig. Auch vor diesem Hintergrund hat sich landesweit eine starke Protestbewegung gebildet, die unter dem Namen «Woonopstand» für bezahlbaren Wohnraum und ein Recht auf Stadt auf die Straßen geht. Der Demonstration in Rotterdam, die von Gwen van Eijk mitorganisiert wurde, schlossen sich im Oktober 2021 zehntausend Menschen an. Sie forderten die Rückkehr zu einem starken sozialen Wohnungsbau sowie unbefristete Mietverträge für einen besseren Mieter:innenschutz. Viele Mietverträge sind heute auf zwei Jahre befristet, was Mieter:innen mit dauerhafter Unsicherheit belastet und regelmäßige Mieterhöhungen nach sich zieht. Dabei spielen die internationalen Akteure der finanzialisierten Wohnungswirtschaft in den Niederlanden noch eine untergeordnete Rolle, erklärte Kees Stadt vom kapitalismuskritischen Portal globalinfo. Die größten Akteure vor Ort sind bis dato der schwedische Konzern Heimstaden und der US-amerikanische Private-Equity-Fonds Blackstone, die hier durch ähnliche Praktiken wie beispielweise in Berlin auffallen. Insbesondere die Geschäftspraxis, Sozialwohnungen aufzukaufen und sie leer stehen zu lassen, bis die Mietpreisbindungen auslaufen, führt zu einem drastischen Anstieg der Mietpreise, während gleichzeitig undurchsichtige Steuervermeidungskonstrukte dafür sorgen, dass die öffentliche Hand um Einnahmen geprellt wird.

Spanien – Kataloniens Mietendeckel als gutes Vorbild?

Auch in Spanien spielten große Wohnungsunternehmen bisher eine relativ kleine Rolle, sagte Lorenz Vidal aus Barcelona. Doch seit der Finanzkrise 2008/2009 und des darauffolgenden Spardiktats, das die EU-Troika den Ländern Südeuropas aufoktroyiert hat, wurde auch in Spanien der Wohnungsmarkt weiter liberalisiert, um internationales Finanzkapital anzulocken. Gleichzeitig erschwert der geringe Anteil der Mieter:innen an der Bevölkerung  eine breite Organisierung. Viele Kämpfe müssen eher auf der Ebene der einzelnen Wohnung als des einzelnen Hauses gekämpft werden. In Spanien sind unbefristete Mietverträge heute ebenfalls noch eine Utopie. Die Mietenbewegung konnte jedoch bereits erkämpfen, dass Verträge mit einer Laufzeit von fünf Jahren mittlerweile sehr verbreitet sind.

Große Aufmerksamkeit konnte vor kurzem Katalonien auf sich ziehen, das einen Mietenstopp und eine Absenkung überhöhter Mieten nach dem Vorbild des Berliner Mietendeckels erlassen hat. Auch diesem Vorstoß ist es wohl mit zu verdanken, dass eine Mietpreisregulierung ähnlich der deutschen Mietpreisbremse im neuen Wohnraumgesetz Spaniens enthalten ist, welches am 26. Oktober 2021 beschlossen wurde. Das eine solche Bremse tatsächlich Wirkung entfaltet und nicht durch Ausnahmeregelungen entkernt wird, ist jedoch keinesfalls ausgemacht, wie das deutsche Beispiel zeigt. Die Angriffe von Seiten der Vermieterlobby und das Suchen nach Schlupflöchern hätten jedenfalls bereits begonnen, sagt Lorenz Vidal.

All dies zeigt: Obwohl die jeweils nationalen und lokalen Umstände der Mieter:innenbewegung in den betrachteten Ländern stellenweise große Unterschiede aufweisen, zum Beispiel in Bezug auf die Eigentümerstrukturen und den grundsätzlichen Ausbau des Sozialstaates, gibt es erhebliche Gemeinsamkeiten. Die Wohnungsnot greift in ganz Europa um sich, und immer größer und lauter werdende Bewegungen finden sich zusammen, um darauf Antworten zu finden und diese zu erkämpfen. Nach Jahrzehnten der neoliberalen Hegemonie werden allerorts die Rufe nach einer erneuten Regulierung des Wohnungswesens lauter – und insbesondere das Beispiel Schweden zeigt, dass Regierungen sich dem gegenüber nicht länger verschließen können.

Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Ausbreitung der großen, finanzgetriebenen Wohnungsunternehmen in immer mehr Städten und Ländern. Insbesondere die ähnlichen Vorgehensweisen, zum Beispiel im Rahmen des Leerstandsmodells oder bei Mietsteigerungen durch Sanierung/Modernisierung, sowie die überall existierenden Fragezeichen bezüglich der Eigentumsstrukturen und Steuervermeidung dieser Konzerne zeigen, dass eine europaweit vernetzte Mieter:innenbewegung gebraucht wird, um diesen Akteuren und ihren Profiten zulasten der Mietenden Einhalt zu gebieten. So können Ressourcen gebündelt und Wissen geteilt werden um gerade dort, wo Vonovia und Co gerade erst richtig loslegen, mit einem hohen Organisationsgrad von Anfang an Widerstand zu leisten.

Weitere Informationen zum Bündnis, den einzelnen Partner:innen und zur Vernetzung finden sich unter www.reclaiming-spaces.org/tenants-and-power

Um sich über die aktuellen Bedrohungen und Widerstände auszutauschen, hat das aktivistische Bündnis «Socialise Housing across Europe», gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Vertreter:innen europäischer mietenpolitischer Bewegungen, unter anderem aus Schweden, Spanien und den Niederlanden, zu einer Veranstaltungsreihe eingeladen. Die Veranstaltung «A New Cycle of Housing Struggles – Political impacts and challenges of the rising tenants’ movements» ist aufgezeichnet worden.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://www.rosalux.de/news/id/45508/der-kampf-um-das-recht-auf-wohnen-ist-auch-ein-europaeischer-kampf

#Wohnen #Krise #Organisierung

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Die Machtkonzentration der großen, profitorientierten Wohnungsunternehmen ist eines der bestimmenden Themen der aktuellen wohnungspolitischen Debatte. Die zunehmende Finanzialisierung von Wohnraum greift allerdings nicht nur Mieter:innen in Deutschland an. International wird Wohnraum immer mehr zur Ware. Viele der großen Wohnungskonzerne agieren global und organisieren ihre Geschäftsmodelle über Landesgrenzen hinweg. Demgegenüber sind die meisten Proteste gegen hohe Mieten und Wohnungsnot meist immer noch lokale, bestenfalls nationale Proteste. Das ist eine verpasste Chance. Die Notwendigkeit zur internationalen Vernetzung ist zwar keine neue Erkenntnis, sie bleibt allerdings auch heute noch eine dringende Forderung. Denn, vergleicht man die Kämpfe um leistbaren Wohnraum und ein Recht auf Stadt in verschiedenen europäischen Städten und die dortigen Geschäftspraktiken der großen Wohnungskonzerne, so lassen sich viele Parallelen erkennen.

Demonstration zum «Woonopstand» am 17. Oktober 2021 in Rotterdam. Foto: Sandra Fauconnier via flickr / Bildausschnitt / CC BY 2.0

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Wir fragen zwei Betreiber*innen der Kreuzberger Institution SO36, wie dieser Ort linker und queerer Subkultur durch die Corona-Krise kommt. Die Berliner Clubs waren die ersten, die aufgrund der Corona-Pandemie schließen mussten und werden vermutlich die letzten sein, die wieder aufmachen. Einige Clubs versuchen nun, mit neuen Konzepten wenigstens einen Teil der benötigten Einnahmen zu erlangen. Im SO36, das vor allem eine große Halle ist, ist dieses schwerer als an manch anderem Ort. Durch die derzeitige Schließung ist Berlin nicht nur um einen Ort, an dem Konzerte, Partys, das legendäre Kiezbingo sowie politische Diskussionen stattfinden, ärmer. Auch der Kreis der Macher*innen und des Umfelds des selbstverwalteten SO36 kommt nicht mehr zusammen, um im hier und jetzt anders zu sein. Neben der Vereinzelung durch das “Social Distancing” erfährt das SO36 aber auch viel Solidarität durch den Kreuzberger Kiez sowie die vielen Nutzer*innen dieses Ortes linker Subkulturen.

Allert Aalders / flickr / CC BY-NC-SA 2.0

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Pflegende Angehörige kompensieren durch persönlichen Einsatz die politischen Fehlentscheidungen für die Pflege. Sie brauchen Entlastung – körperlich, psychisch, finanziell. Welche politische Hilfe wünschen sich pflegende Angehörige, um diese Unterstützung durchzusetzen?

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Die durch das Corona-Virus verursachte Krise hat zugespitzt gezeigt, wie extrem mangelhaft das System der sozialen Infrastrukturen ist, sei es im Bereich der Gesundheitsämter oder sonstiger krisenrelevanter kommunaler Stellen, in der Pflege oder im Bildungsbereich. Wollen wir, dass unsere Gesellschaft für kommende Krisen besser gewappnet und insgesamt lebenswerter, (geschlechter-)gerechter und solidarischer ist, dann müssen soziale Infrastrukturen deutlich ausgebaut und verbessert werden. Dies muss Hand in Hand gehen mit den notwendigen Schritten einer sozial-ökologischen Wende. Das alles kostet viel Geld. Deshalb wird es entscheidend sein, signifikante Umverteilungsmaßnahmen und ein Ende der Schuldenbremse zusammen zu verfolgen. Gemeinsam mit anderen Akteuren muss es darum gehen, Strategien, Projekte und Aktionen zu entwickeln, um das Thema einer progressiven und solidarischen Finanz- und Umverteilungspolitik stärker auf die Agenda zu setzen.

Foto: Oliver Sand / Unsplash

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Wie geht Sozialstaat feministisch?

August 2020 • Sabine Skubsch

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

Krise, Feminismus, Hausarbeiterinnen, Migration, Alternativen, Pflege#Krise #Feminismus #Hausarbeiterinnen #Migration #Alternativen #Pflege

Feministischen Bewegungen ist es über viele Jahrzehnte hinweg gelungen, die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit gesellschaftlich zum Thema zu machen. Spätestens mit der Coronakrise ist diese Frage auch im medialen Mainstream angelangt. Wie eine solche Umverteilung von Care-Arbeit zu erreichen wäre, dazu werden in linken Debatten unterschiedliche Ansätze diskutiert – vom bedingungslosen Grundeinkommen über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Arbeitszeitverkürzung, sozial- und familienpolitische Maßnahmen oder einen Ausbau sozialer Infrastrukturen. Was ist aus feministischer Sicht zentral? Und was muss verändert werden, damit Sorgearbeit genauso wertgeschätzt wird, wie die Güterproduktion und der Erwerbsarbeit nicht länger nachgeordnet wird?

„Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ kreist um die Erwerbsarbeit

Das Konzept „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ wird nach wie vor von allen Parteien (mit Ausnahme der AfD) propagiert. Es deckt sich mit dem Wunsch der meisten jungen Paare, die - zumindest in der Theorie – weniger Erwerbsarbeit machen und sich die Kindererziehung teilen wollen. Bei sozialstaatlichen Maßnahmen zur „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ steht insbesondere die Sorge der Arbeitgeberverbände um das zukünftige Arbeitskräftepotenzial im Vordergrund. Der auf Wachstum basierende Kapitalismus ist heute mehr denn je auf gut ausgebildete Arbeitskräfte angewiesen. Die Wirtschaft braucht Frauen, die arbeiten, und sie braucht Menschen, die eine gut ausgebildete nächste Generation heranziehen, was historisch den Frauen zugewiesen wurde. Ziel der staatlichen Familienpolitik ist es daher, die Geburtenrate zu steigern, qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen und die „stille Reserve“, also Frauen mit kleinen Kindern, für die Wirtschaft zu mobilisieren. Ganz in diesem Sinne wirkt das von der ehemaligen Familienministerin Ursula von der Leyen eingeführte Elternzeitgesetz[1] als eine bevölkerungspolitische Maßnahme (vgl. Schultz 2012).

Gut ausgebildeten Frauen gibt es einen Anreiz, Kinder zu bekommen und vollzeitnah zu arbeiten. Gleichzeitig haben die sogenannten „Vätermonate“[2] einen enormen kulturellen Wandel in Bezug auf die geschlechtliche Rollenverteilung bewirkt.

Vor 20 Jahren war es in vielen Branchen noch undenkbar, dass Männer in Teilzeit arbeiten oder Elternmonate nehmen. Der Neoliberalismus ersetzte das „Mann-als-Ernährer-der-Familie-Ideal“ durch das „Alle-Erwachsenen-müssen-arbeiten-Modell“[3] .

Frauen wurden zwar von der Abhängigkeit vom Ehemann befreit, aber an die Stelle der abhängigen Hausfrau wurde die rund um die Uhr aktive Familienmanagerin gesetzt. In der Coronakrise hat sich die Widersprüchlichkeit neuer Arbeitsformen, wie Homeoffice, gezeigt. Durch ständige Erreichbarkeit und Multitasking werden vor allem Mütter dauerhaft überfordert. Unter dem Motto „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ werden Maßnahmen auf den Weg gebracht, die die Zumutung der Mehrfachbelastung abschwächen sollen.

Grundsätzlich infrage gestellt wird diese Politik jedoch nicht, schließlich bleibt sie orientiert an den Erfordernissen der Erwerbsarbeit. Bei der Kinderbetreuung beispielsweise geht es stets darum, dass die Mütter zur Arbeit gehen können. Die Kita-Öffnungszeiten erlauben nicht, zu einer politischen Versammlung oder zum Tanzen zu gehen. Völlig unglaubwürdig klingt das Versprechen von „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ für Frauen in schlecht bezahlten Jobs, bei denen es, obwohl sie ständig hin- und herhasten, einfach nicht zum Leben reicht. Wenig verwunderlich ist es dann, wenn diese Frauen Parteien, die ihnen nicht mehr zu bieten haben, den Rücken kehren.

Inwieweit ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) zu einer gerechten Verteilung der Sorgearbeit beitragen kann, ist in feministischen Diskussionen umstritten. So würde es zwar finanziellen Spielraum für Eltern schaffen, die Arbeit untereinander anders verteilen wollen. Einen Anreiz genau das zu tun, bietet es aber nicht. Da das BGE-Konzept vom Aspekt der sozialen Absicherung ausgeht und die Frage der Verteilung der Arbeit ausklammert, könnte es genauso gut dazu genutzt werden, die traditionelle Rollenverteilung zu stabilisieren.

Verkürzung der Arbeitszeit geht in die richtige Richtung

Die Forderung nach einer Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ist in vielen feministischen Debatten (zu Recht) ein realpolitischer Favorit. Verbündete finden sich in den Gewerkschaften und bei Politiker*innen und Parteien, die das Soziale und die Arbeit in den Vordergrund stellen. Einen Ansatz dazu entwirft Bernd Riexinger in seinem Buch „Neue Klassenpolitik“. Riexinger unternimmt dabei den Versuch einer Abkehr von einer Definition der Arbeiterklasse, die den männlichen Vollzeit-Industriearbeiter als das Normale konstruiert. Die heutigen Lohnabhängigen sind weiblicher, migrantischer und häufig im Dienstleistungsbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu finden, so seine Klassenanalyse. Als realpolitisches Ziel formuliert Riexinger ein „neues Normalarbeitsverhältnis“ von 28 bis 35 Stunden.

Diese Forderung geht in die richtige Richtung, aber sie spricht vor allem Beschäftigte mit einem auskömmlich bezahlten, unbefristeten Vollzeit-Arbeitsverhältnis an. Für die Mehrheit der Frauen sind aber prekäre, schlecht bezahlte oder Teilzeitarbeitsverhältnisse seit langem die Realität. Wie Menschen, die anderthalb Jobs brauchen, um mit dem unzureichenden Lohn über die Runden kommen, die sich mit Minijobs und Teilzeit rumschlagen und sich nichts mehr wünschen als einen unbefristeten Vollzeit-Job, für diese Forderung mobilisiert werden sollen, bleibt eine Herausforderung.

Es klafft noch eine weitere politische Lücke zwischen Bernd Riexingers eindringlicher Beschreibung der heterogenen prekären Arbeitswelt und der Forderung nach einer „neuen Normalarbeitszeit“. Weder eine Kassiererin mit Minijob, noch eine befristet beschäftigte Sozialarbeiterin oder eine Beschäftigte in einer Großküche fühlt sich angesprochen, wenn sie am „atypischen Rand“ verortet wird. Auch bleibt letztlich für sie unklar, wie eine Umverteilung von Arbeit so aussehen kann, dass eine „Normalarbeit“ im Sinne des „neuen Normalarbeitsverhältnis“ für sie in erreichbare Zukunft rückt.

Eine feministische Erzählung muss deshalb die gesellschaftlich notwendige „systemrelevante“ Arbeit aufwerten. Diese muss sich an dem ungeheuren Produzentenstolz messen, der früher im Bergbau vorherrschte und den man heute in der Automobilindustrie findet. Der ver.di-Tarif-Slogan „Wir sind es wert“ geht in diese Richtung. Im Pflegebereich empfinden die Beschäftigten beispielsweise ein hohes Maß an Gebrauchswertstolz und sind sich der Lebensnotwendigkeit ihrer Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes voll bewusst – nur so erklären sich die endlosen Überstunden, die unter den gegenwärtigen Bedingungen nötig sind, um ihren Job den eigenen Ansprüchen gemäß auszufüllen. Statt diesen Produzentenstolz neoliberal ausbeuten zu lassen, gilt es ihn in kämpferisches Selbstbewusstsein zu wenden, wie es den Aktiven in den Auseinandersetzungen der Berliner Charité gelungen ist.

Um offensive Kämpfe führen zu können, muss sich linke Politik auch für Rahmenbedingungen einsetzen, die dies ermöglichen. Wie soll sich sonst eine wachsende Anzahl von prekären (insbesondere weiblichen) Arbeitnehmer*innen von einer linken Politik angesprochen fühlen, die an Regularien anknüpft, die für sie noch nie gegolten haben. Die Forderung nach einer Stärkung der Betriebsräte verfängt bei vielen auch deshalb nicht, weil das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) so gestrickt ist, dass Betriebsräte im Wesentlichen die Interessen der Stammbelegschaft vertreten. Klassenbewusste Politik muss dafür eintreten, dass der Betriebsbegriff im BetrVG so geändert wird, dass alle abhängig Beschäftigten in Betriebsräten vertreten sein können. Eine feministische Klassenpolitik muss auch in solchen Fragen in die Offensive kommen.

Nicht nur Lebensrisiken absichern, sondern das ganze Leben in den Mittelpunkt stellen

Anfang 2020 hat die LINKE ein „Konzept für einen demokratischen Sozialstaat der Zukunft“ vorgestellt, in dem die feministische Forderung nach einer Neuverteilung der Sorgearbeit aber leider nicht Gegenstand ist. Das LINKE Sozialstaatkonzept zielt auf einen „aktiven Sozialstaat, der die Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Pflegebedürftigkeit und Behinderung sowie Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit solidarisch absichert“. Schwangerschaft, Geburt, Kindererziehung und Alter sind aber keine „Lebensrisiken“, es sind Phasen unseres Lebens, in denen wir (mehr als sonst) auf die Sorge anderer angewiesen sind. Wenn Krankheit und Alter „Lebensrisiken“ sind, was ist dann der Normalzustand? Der fitte, gesunde, nichtbehinderte, eher männliche Arbeitnehmer zwischen 18 und 60? Aus feministischer Perspektive braucht es einen Paradigmenwechsel: Alle Menschen sind – mal mehr, mal weniger – auf die Sorge anderer angewiesen. Kriterium für gutes Leben ist, in einer Situation der Hilfsbedürftigkeit versorgt zu werden und ebenso für andere Sorge zu leisten, ohne unangemessene Opfer bringen zu müssen (vgl. Winker 2015).

In die Strategiedebatte der LINKEN Anfang 2020 mischte sich ein im Zuge feministischer Vernetzung in der Partei entstandenes „Feministisches Autor*innenkollektiv“ ein. In ihrem Papier wird eine sozialpolitische Richtung angedeutet, die das ganze Leben in den Mittelpunkt rückt. Dabei geht um viel mehr, als nur ein paar feministische Korrekturen. Nämlich um „eine Gesellschaft, deren Ökonomie sich an den gemeinsam ermittelten Bedürfnissen orientiert, nicht an Wachstum und Profit. Eine Gesellschaft, in der Kinder, Alte und Kranke nicht wegorganisiert werden müssen. ... Statt von der Erwerbsarbeit ausgehend zu überlegen, wie diese zum Leben passt, schlagen wir vor, von der Frage auszugehen, wie wir leben wollen, und daraus abzuleiten, wie wir folglich produzieren und arbeiten müssen und welche Arbeiten wir brauchen.“ Nur, wenn wir einen echten Perspektivwechsel vollziehen und ganz anders auf die zu regelnden Dinge blicken, kommen auch neue Lösungen in den Blick. Lösungen, die „das ganze Leben“ (Frigga Haug) zum Gegenstand auch sozialpolitischer Überlegungen haben.

Feministische Positionen in der Sozialstaatsdiskussion

Erwerbs- und Sorgearbeit müssen dann nicht „vereinbart“, sondern beide müssen verändert und umverteilt werden. Schritte in diese Richtung sind: Erhöhung der bisherigen zwei auf zwölf „Vätermonate“ wie es die LINKE fordert[4] und ein vom Einkommen unabhängiges Elterngeld. Das von der SPD geforderte Familiengeld[5] geht schon in diese Richtung.

Gleichzeitig müssen sozialstaatliche Anreize zur Beibehaltung der traditionellen Rollenverteilung beseitigt werden: Kein Ehegattensplitting, das Familien, in denen einer viel und der andere wenig oder gar nichts verdient, steuerlich bevorzugt; dafür ein stärkere Gewichtung der Sorgearbeit bei den Rentenansprüchen; keine beitragsfreie Mitversicherung bei der Krankenversicherung; stattdessen eine Bürgerversicherung für alle und eine Pflegeversicherung, die die gesamten Pflegekosten abdeckt. Familien stehen oft vor dem Dilemma, dass entweder die hohen Zuzahlungen für Pflegeheime alle Ersparnisse aufbrauchen oder meist die Frauen die Pflege zu Hause übernehmen müssen – häufig unterstützt durch Migrantinnen, die in einer tolerierten Informalität einen relevanten Teil der häuslichen Pflege leisten.

Eine weitere wichtige Säule ist die Stärkung der öffentlichen sozialen Infrastruktur. Bildung (Kitas und Schulen), Gesundheit und Pflege gehören zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Ein entscheidender Kampf um die Zukunft des Sozialstaats wird gegen die profitorientierte Privatisierung von Krankenhäusern, Kitas und Pflegeheimen geführt werden müssen. Die Daseinsvorsorge muss in Kommunales oder anderes Gemeinschaftseigentum zurückgeführt werden und allen kostenlos oder gegen geringes Entgelt zur Verfügung gestellt werden.

Sozialstaat, Solidarität und Demokratie am Beispiel von Senior*innenbetreuung und Pflege

Eine feministische Sozialstaatsdiskussion kann sich nicht auf die paternalistische Vorstellung beschränken, dass der Staat alles - möglichst zum Wohle der Bürger*innen - regeln soll. Sozialstaatliche Maßnahmen dürfen die Menschen nicht auf Objekte der Fürsorge reduzieren, sondern müssen zur Beteiligung anregen, mit dem Ziel ein solidarisches Miteinander zu fördern. Beispiele dafür sind die Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen Wohn-, Produktions- und Verteilungsgenossenschaften, die auf Selbsthilfe und Kooperation beruhen. In den 1960er und 1970er Jahren bildeten sich überall selbstverwaltete Kitas, selbstinitiierte Stadtteilhilfen, Arbeitskollektive, die leider oft die neoliberalen Reformen nicht überlebten.

Eine feministische Sozialstaatsdebatte muss mit der Diskussion um solidarische Praxen verbunden werden. Es geht nicht nur um soziale Absicherung, sondern um Mitgestaltung und Partizipation in allen Lebensabschnitten: Selbstbestimmung in der Geburtshilfe, altersgemäße Beteiligung von Schüler*innen an der Strukturierung des Schulalltags, selbstverwaltete genossenschaftliche Wohnprojekte und schließlich auch ein gutes selbstbestimmtes Leben im Alter. Die Kampagne der LINKEN zu Gesundheit und Pflege stößt bei den Beschäftigten auf viel Anerkennung. Aber linke Pflege-Politik kann sich nicht auf die Ansprache der bezahlten Beschäftigten in der Pflege beschränken. Sie muss auch die Alten und Kranken und diejenigen, die zu Hause pflegen (fast ausschließlich Frauen) adressieren. Wie selbstbestimmte Behindertenpolitik schon lange fordert, müssen Menschen, die stark auf die Sorge anderer angewiesen sind, als Subjekte ernst genommen werden. Für viele ältere und behinderte Menschen war es in der Coronazeit unbefriedigend, dass sie zwar durch Isolationsmaßnahmen geschützt, aber nicht nach ihren Wünschen gefragt wurden. Wochenlanger Lockdown in Pflegeeinrichtungen ohne Kontakt zu den Angehörigen haben viele Bewohner*innen als „eingesperrt sein“ empfunden.

Um in solchen Fällen angemessene Lösungen zu finden, muss die soziale Infrastruktur demokratisiert werden. Carenehmer*innen und deren Angehörige genauso wie Caregeber*innen müssen an Entscheidungen sozialer Institutionen beteiligt werden. Gabriele Winker schlägt hierfür den Aufbau von „Care-Räten“ vor, in denen Personen, die bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit leisten und empfangen, vertreten sind. Sie sollen Öffentlichkeit für Missstände in Pflege, Erziehung und Sozialem schaffen und politische Vorschläge für gute Pflege, Betreuung und Erziehung aus Sicht der Betroffenen erarbeiten. Perspektivisch sollen diese Care-Räte in alle kommunalen Entscheidungen, die die Daseinsvorsorge betreffen, eingebunden werden. Statt kommerzieller Pflegeheime müssen Kommunen (finanziert vom Bund) eine wohnortnahe stadtteil- oder dorfbezogene Versorgung für Senior*innen schaffen. Dazu gehören selbstorganisierte Projekte wie Mehrgenerationen-Wohnen, Alters-WGs oder genossenschaftlich organisierte Pflegedienste.

Der Wunsch nach solchen Projekten ist allerorten vorhanden. Oft scheitern sie aber an der Finanzierung und an fehlender Planungskompetenz. Zur Unterstützung muss die öffentliche Hand eine Struktur von Projektmanager*innen, Betriebswirt*innen und Sozialarbeiter*innen zur Verfügung stellen. Ein gutes Beispiel für eine wohnortnahe Infrastruktur hat die Bürgergemeinschaft Eichstetten in einer ländlichen Region am Kaiserstuhl geschaffen. Das Motto lautet: „Wenn die Menschen nicht mehr zum Leben gehen können, muss das Leben eben zu den Menschen kommen.“ Ziel ist, den Bewohner*innen alle Dienste anzubieten, die es ermöglichen bis ins hohe Alter ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben im Ort zu führen.

Herausforderungen einer feministischen Sozialstaatsdiskussionen

Der Feminismus hierzulande ist weitgehend weiß, mittelständisch und akademisch geprägt. Es fehlen Repräsentantinnen der migrantischen und autochthonen Arbeiterinnen, die abends die Büros putzen oder morgens die Brötchen verkaufen. Um dies zu ändern, ist es nötig, allen in Deutschland lebenden Menschen – Geflüchtete und Illegalisierte eingeschlossen – einen Zugang zum sozialstaatlichen Netz zu verschaffen. Dies nicht zu tun, ist nicht nur unsozial, sondern reproduziert dauerhaft ethnische Abwertungen und belässt migrantische Frauen in ihren vielfältigen Abhängigkeiten zwischen Ehemann und prekärer oder nicht-legaler Beschäftigung. Der Kapitalismus, der alles zur Ware macht, kommodifiziert zunehmend die Haus- und Sorgearbeit.

Die Coronakrise hat zumindest dazu geführt, dass die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte wahrgenommen werden. Dass in den Küchen und im Reinigungsdienst der profitorientierten Krankenhäuser und Pflegeheime sowie in Privathaushalten meist weibliche und migrantische Arbeitskräfte oft unter Mindestlohn und ohne die geltende rechtliche Absicherung beschäftigt werden, wird aber verdrängt. Feministinnen fordern mehr Repräsentation von Frauen, was richtig ist. Mehr Frauen sollen verantwortliche Positionen und die Hälfte der Abgeordnetenplätze (Paritégesetz) besetzen. Feministisches Ziel kann aber nicht sein, dass während mehr Frauen in die Parlamente einziehen, andere weiterhin schlecht entlohnt und mit kaum Teilhabemöglichkeiten putzen, kochen und pflegen. Forderungen nach stärkerer Vertretung von Frauen drohen neoliberal abzudriften, wenn nicht gleichzeitig die Frage der ungleichen Verteilung der Sorgearbeit, der sozialen und der rechtlichen Ungleichheit angegangen wird.

Fußnoten

[1] Elterngeld bekommen Mütter und Väter, wenn sie nach der Geburt des Kindes nicht oder nur noch wenig arbeiten wollen. Die staatliche Unterstützung beträgt 300 Euro bis 1.800 Euro im Monat, abhängig vom Netto-Verdienst, das der zu Hause bleibende Elternteil vor der Geburt des Kindes hatte.

[2] Das Elterngeld wird maximal 14 Monate lang gezahlt, wenn sich beide an der Betreuung beteiligen. Jedes Elternteil muss dafür mindestens zwei Monate zu Hause bleiben.

[3] In zweifacher Hinsicht ist der vielfach genutzte Ausdruck „Doppelverdiener-Familie“ irreführend: erstens, weil er auf das Ideal der Familie mit dem Mann als Ernährer Bezug nimmt und zweitens, weil er suggeriert, ein Haushalt hätte nun das Doppelte des zum Leben benötigten Einkommens.

[4] „Zwölf Monate Elterngeldanspruch pro Elternteil (bzw. 24 Monate für Alleinerziehende), der individuell und nicht übertragbar ist.“(Sozialstaatsprogramm DIE LINKEN)

[5] Familienarbeitszeit-Modell: nach dem Elterngeldbezug soll es drei Jahre lang eine Subvention geben, wenn beide Eltern ihre Arbeitszeiten angleichen (bei Alleinerziehenden sind partnerunabhängig 80 Prozent die Richtschnur).  

Literatur

Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution, Bielefeld

Sabine Skubsch lebt in Karlsruhe und ist Diplompädagogin und Lehrerin. Sie ist Betriebsrätin bei einem freien sozialen Träger und aktiv im Landesvorstand der LINKEN in Baden Württemberg. Außerdem ist sie Mitglied in der Frauenredaktion von Das Argument und in der Redaktion der Zeitschrift LuXemburg.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wie-geht-sozialstaat-feministisch

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

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Feministischen Bewegungen ist es über viele Jahrzehnte hinweg gelungen, die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit gesellschaftlich zum Thema zu machen. Spätestens mit der Coronakrise ist diese Frage auch im medialen Mainstream angelangt. Wie eine solche Umverteilung von Care-Arbeit zu erreichen wäre, dazu werden in linken Debatten unterschiedliche Ansätze diskutiert – vom bedingungslosen Grundeinkommen über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Arbeitszeitverkürzung, sozial- und familienpolitische Maßnahmen oder einen Ausbau sozialer Infrastrukturen. Was ist aus feministischer Sicht zentral? Und was muss verändert werden, damit Sorgearbeit genauso wertgeschätzt wird, wie die Güterproduktion und der Erwerbsarbeit nicht länger nachgeordnet wird?

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

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Reichtum des Öffentlichen

Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht

August 2020

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen beinharte Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor. Die Unternehmen versuchen, ihre Verluste zu sozialisieren. Nach den öffentlichen Schulden drohen eine Neuauflage von Austeritätspolitiken ebenso wie neue Angriffe der Arbeitgeberseite.

Die Verteidigung des Sozialstaats geht also in eine neue Runde. Doch sie sollte nicht als Abwehrkampf geführt werden, als ein Versuch, das Bedrohte zu konservieren. Stattdessen ist es Zeit, den Sozialstaat gründlich zu erneuern und seine alten Fehler zu beheben. Doch wie sieht ein Sozialstaat aus, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist? Wie lässt sich verhindern, dass sich die Spaltung der Subalternen weiter vertieft? In Krisen drohen die Kapitalfraktionen ihre Spielräume auf Kosten der Lohnabhängigen zu erweitern. Wie kann eine Alternative dazu aussehen? Und wo wird jetzt schon dafür gekämpft?

Krise an zwei Fronten

Bisher war die Finanzierung des Sozialstaates an wirtschaftliches Wachstum gebunden. In einem hart erkämpften historischen Klassenkompromiss wurden Sozialleistungen auf der Grundlage stetigen Wachstums finanziert und schrittweise ausgebaut. Dies war ein Kompromiss, der lange nicht zulasten der Profite ging. Als die Profitrate zu fallen begann, wurde er mit der neoliberalen Offensive seit Beginn der 1980er Jahre einseitig aufgekündigt. Der Sozialstaat geriet mehr und mehr unter Druck. Angesichts von Globalisierung und Transnationalisierung galt ein starker Sozialstaat als Negativfaktor im internationalen Wettbewerb (auch wenn inzwischen im Sinne des „social investment state“ eine produktivistische Neuorientierung erfolgt ist; vgl. Dowling 2016). Die Begründung: Unter dem Kostendruck der Konkurrenz könnten eben nicht alle Wohltaten finanziert werden. Nach und nach wurden die Systeme sozialer Sicherung ausgehebelt und neoliberal umgebaut. Mit dem sogenannten New Public Management gerieten betriebswirtschaftliche Kriterien zum Maßstab des Handelns auf sämtlichen Feldern des Sozialsystems (vgl. Wohlfahrt 2015).

Seitdem kriselt der Sozialstaat an zwei Fronten: Einerseits haben Jahrzehnte der neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik den Bereich sozialer Infrastrukturen und öffentlicher Dienste finanziell und personell ausgezehrt – vom Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Bereich über die Wohnraumversorgung bis hin zu Kultur und Mobilität. Es fehlt an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, aber auch an Verwaltungspersonal, Steuerprüfer*innen oder Planer*innen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beziffert die Lücke schon jetzt auf über eine Millionen Arbeitskräfte und bei weiter dynamisch wachsendem Bedarf auf bis zu vier Millionen (Ötsch u.a. 2020).

Andererseits führte die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu einem längst überwunden geglaubten Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut.[1] Die Ursachen sind vielfältig und hängen doch zusammen: Deregulierung der Arbeitsmärkte und endemische Ausbreitung von Niedriglöhnen und unfreiwilliger Teilzeit, Privatisierung und Ausdünnung der sozialen Infrastrukturen, steigende Mieten sowie eine ungerechte Besteuerungspolitik, die hohe Einkommen sowie große Vermögen begünstigt. In der Folge sehen sich Millionen Menschen mit unsicheren Zukunftsaussichten konfrontiert: Aufgrund von Arbeitslosigkeit, aufgrund von Soloselbständigkeit oder Mini- und Midi-Jobs erwerben immer weniger Menschen ausreichende Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen – unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen. Aber selbst dann, wenn Ansprüche bestehen, reicht das Leistungsniveau oftmals nicht länger für ein Leben ohne Armut. Mit Niedriglöhnen oder erzwungener Teilzeit lässt sich keine vernünftige Rente erwirtschaften oder gar privat vorsorgen. Für große Teile der Bevölkerung bieten die bestehenden Sicherungssysteme keine Perspektive mehr – das Sicherungsversprechen des Sozialstaates verliert an Glaubwürdigkeit und muss grundlegend erneuert werden.

Kein Zurück zum „alten“ Sozialstaat

Wer den Sozialstaat erhalten will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sich seine Gestalt wandeln muss. Um für die neu zusammengesetzte Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts attraktiv zu sein, muss das Konzept von Sozialstaatlichkeit erweitert und verändert werden. Dazu gilt es, linke Kritiken an seiner bisherigen Verfasstheit aufzunehmen.

Der Sozialstaat war immer gekoppelt an spezifische Produktions- und Lebensweisen, an ein bestimmtes Geschlechterregime und an das damit verbundene Modell von Erwerbsarbeit und Reproduktion. Feminist*innen haben die Norm des männlichen Alleinverdieners im fordistischen Wohlfahrtsstaat kritisiert. Soziale Absicherung ist darin an (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit und an eine weitgehend lückenlose Erwerbsbiografie gebunden. Gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, die historisch an Frauen delegiert und in den Verantwortungsbereich der privaten Haushalte verlagert wurde, erfährt weder Anerkennung noch soziale Absicherung. Damit ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit systematisch in das fordistische Wohlfahrtssystem eingeschrieben. Es verstärkt zudem mit seinem patriarchalen Familienmodell die Abhängigkeit von Frauen und benachteiligt queere Menschen. Obgleich sich die Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse inzwischen deutlich gewandelt haben, bleiben die Verkopplung von sozialer Absicherung und Erwerbstätigkeit sowie die Privilegierung eines heteronormativen Ehe- und Familienmodells bestehen. Deswegen: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Erneuerung des Sozialstaates.

Die meisten Leistungen des Sozialstaates sind außerdem an nationale Zugehörigkeit gebunden. Es profitieren von ihnen nur diejenigen, die über eine bestimmte Staatsbürgerschaft verfügen oder über die offizielle Lohnarbeit sozialversichert sind. Geflüchtete, Personen im Asylverfahren und insbesondere Illegalisierte haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, obwohl Letztere in Sektoren wie Hausarbeit, Pflege, Bau, Landwirtschaft, Sexarbeit, Hotellerie, Gastgewerbe oder Reinigungsgewerbe einen elementaren Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung leisten (vgl. Behr 2010). Über das Aufenthaltsrecht wird migrantische Arbeit abgewertet, viele sind gezwungen, besonders schlechte Löhne und unsichere Bedingungen zu akzeptieren, was sich nicht nur in geminderten Leistungsansprüchen niederschlägt, sondern außerdem eine gesellschaftliche Aufwertung der genannten Arbeiten (Hausarbeit, Pflege etc.) erschwert. Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse werden dadurch verschärft.

Aber auch auf Migrant*innen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wirkt sich der bestehende Sozialstaat diskriminierend aus. Sie leiden besonders häufig unter unterbrochenen Erwerbsbiografien und Phasen informeller, schlechter bezahlter oder generell prekärer Beschäftigung, was geringere Anwartschaften zur Folge hat. Nicht erst angesichts wachsender Migrationsbewegungen muss diese Selektivität des Sozialstaats in Bezug auf die nationale Herkunft überwunden werden. Es bedarf hier einer grundlegenden Erneuerung, um ihn für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Eine große Aufgabe.

Die linke Kritik am fordistischen Sozialstaat hat schließlich deutlich gemacht, dass er – trotz seiner zweifellos positiven Funktion der Absicherung und Umverteilung – auch paternalistische Züge trägt und zur Passivität anhält. Das bürokratische, starre und auf Kontrolle orientierte Hilfesystem ist nicht nur an bestimmte Erwerbsmodelle und Lebensformen gebunden, sondern wirkt an vielen Stellen entmündigend. Der Ausschluss vieler Leistungsempfänger*innen von gesellschaftlicher Teilhabe wird so – trotz sozialer Abfederung – letztlich fortgeschrieben.

Zwar sind etliche, von Luc Boltanksi und Ève Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnete Einwände der neuen Linken später vonseiten neoliberaler Gegner*innen des Sozialstaats aufgenommen und entsprechend enteignet worden. Dennoch steckt hier ein für linke Zukunftsentwürfe unhintergehbarer Impuls: Ein Zurück zu den korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats des 20. Jahrhunderts ist keine Alternative, nicht nur wegen gewandelter Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse, sondern auch wegen seines ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Mit einer Erneuerung sozialer Sicherungssysteme ist darum auch die Aufgabe ihrer grundlegenden Demokratisierung verbunden.

Wo die Herausforderungen liegen

Die sozialen Sicherungssysteme stehen vor mehreren neuen Herausforderungen, die mit alten Konzepten nicht gelöst werden können.Sozial "abgehängte" Räume: Die Folgen der Erosion des Sozialstaates zeigen sich besonders prägnant auf der sozialräumlichen Ebene. Soziale Ungleichheit verschärft sich und dokumentiert sich zunehmend in Postleitzahlen, teils entstehen „abgehängte" Räume mit extrem lückenhafter Infrastruktur in benachteiligten Vierteln der Städte und in peripheren Zonen jenseits der Städte. Das trifft am stärksten marginalisierte Gruppen und erzeugt Konkurrenz um bereits knappe Ressourcen. Rechte Sicherheits- und Ordnungsdiskurse, die die Bedrohung einer vermeintlich homogenen Lebensweise der Einheimischen heraufbeschwören, können hieran anschließen. Da ein Großteil der Sozialleistungen von den Kommunen erbracht wird, wachsen zudem die sozialräumlichen Disparitäten zwischen Städten und Regionen.

Krise der Reproduktion: Das fordistische Geschlechter-, Reproduktions- und Familienmodell hat sich stark verändert – ohne dass jedoch Geschlechteregalität oder soziale Rechte für alle erreicht wurden. Heute dominiert nicht länger das Alleinernährer-, sondern das sogenannten Adult-Worker-Modell. Der Zwang, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, trifft nun alle gleichermaßen und verändert auch das Sorgeregime. Zwar werden immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die früher fast ausschließlich privat und unentgeltlich geleistet wurden, heute auch als Erwerbsarbeit erbracht – dies gilt etwa für Pflege und Erziehungsarbeit. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge werden die öffentlichen Angebote jedoch massiv ausgedünnt, was Überlastung, Stress und Erschöpfung zur Folge hat. Care-Arbeit ist auch als Lohnarbeit immer noch mehrheitlich eine Domäne von Frauen und Migrant*innen und wird somit deutlich schlechter bezahlt als andere Tätigkeiten. Ohne Geschlechtergerechtigkeit und ohne ein Ende der Abwertung von migrantischer Arbeit kann es also keine Erneuerung des Sozialstaates geben.

Die Zunahme bezahlter Sorgearbeit und ihre zunehmend privatwirtschaftliche Organisierung wirft auch die Frage neu auf, wo die Grenzen einer kapitalistischen Inwertsetzung von Fürsorge liegen. Ausgehend hiervon ist auch zu klären, ob nicht wichtige gesellschaftliche Aufgaben dem Markt gänzlich entzogen werden müssen, ob und inwieweit also eine Vergesellschaftung oder auch Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge notwendig ist.

Migration: Mit der Zunahme weltweiter Migration stellt sich die alte Frage nach dem Zugang zu bis dato vor allem nationalstaatlich organisierten Sicherungssystemen neu. Die Gesellschaften des Nordens sind noch stärker als bisher zu Einwanderungsgesellschaften geworden. Eine Abschottung gelingt nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche wie dem Anspruch nach Solidarität und Antirassismus. Ein in erster Linie als Versicherungssystem konzipierter Sozialstaat setzt allerdings jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anwartschaften voraus, die mit einer gestiegenen Bewegungsfreiheit und globaler Migration kaum kompatibel sind. Der Ausschluss vieler migrantischer Arbeitskräfte von sozialen Sicherungsleistungen ermöglicht die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sozialstaatliche Rechte müssen deswegen neu gedacht und von einem restriktiv regulierten Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht sukzessive gelöst werden.

Globale Ungleichheit: Das Einkommensgefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern hat zwar über die letzten Jahrzehnte abgenommen. Dies liegt aber vor allem am Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren wie China oder Südkorea oder von sogenannten Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Indien. Andere Länder sind im Prozess neoliberaler Globalisierung weiter zurückgefallen. Krieg und Zerstörung, Ressourcenausbeutung, unfaire Handelsabkommen, ungerechte weltwirtschaftliche Beziehungen und eine Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung in globalen Produktionsketten zerstören die Lebensperspektiven von Millionen. Die dadurch verursachte Ausbeutungsdynamik zwischen Nord und Süd wirft die Frage nach der Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen in den reichen Ländern mit besonderer Schärfe auf. Gleichzeitig hat die Schere zwischen Arm und Reich auch in den wohlhabenderen Gesellschaften ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung selbst. Die wachsende Ungleich unterminiert damit die Fundamente des sozialen Gewebes.

Klimakrise: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme klassenspezifischer Ungleichheiten und einem drastisch steigenden CO2-Ausstoß. Der Anteil, den die Reichen an den weltweiten Emissionen haben, wächst überproportional stark, während der Anteil der Ärmsten rückläufig ist. Dieses Missverhältnis gilt generell auch für die einzelnen Gesellschaften (Kleinhückelkotten u.a. 2016). Mehr Gleichheit ist also nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen notwendig.Die Folgen kapitalistischen Wachstums haben zu einer planetarischen ökologischen Krise geführt, die weitere soziale Verwerfungen sowie eine Zuspitzung der Reproduktionskrise und zunehmende Migrationsbewegungen nach sich zieht und immer mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Damit sind diese Entwicklungen zu nicht mehr hintergehbaren Herausforderungen auch für unser Verständnis von Sozialstaat geworden. Zugleich wird deutlich: „Der Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet“ (Urban). Wenn solidarische Formen der Krisenbearbeitung nicht durchgesetzt werden können und es nicht zu einer Umverteilung von Ressourcen sowie zu einer Verallgemeinerung sozialer Rechte kommt, sind eine Zunahme von Verteilungskonflikten und eine Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse absehbar.

Damit geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Sie betrifft die kommunale, nationale und transnationale Ebene. Doch um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss der Sozialstaat auch finanziert werden. Angesichts der ökologischen Krise kann dabei nicht umstandslos an die Tradition des sozialstaatlichen Kompromisses auf Basis von noch mehr Wachstum angeknüpft werden. Einerseits müssen Unternehmen und Vermögende deutlich stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Andererseits muss das Verhältnis von Steuern und Beiträgen neu austariert werden, um die Abhängigkeit einer sozialen Absicherung von der Erwerbsarbeit zu überwinden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden.

Soziale Infrastrukturen: kostenfrei und demokratisch

Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können. Das zeigt sich auch in den Diskussionen um die Zukunft sozialer Absicherung und die Perspektiven des Sozialstaats im 21. Jahrhundert. Was also wären positive Entwürfe, die die Anliegen der vielfältigen Bewegungen des Protests bündeln könnten? Von den zunehmenden Arbeitskämpfen insbesondere im Bereich Pflege und Erziehung über die Mietenproteste, die Anti-Privatisierungs-Bündnisse bis hin zu den neuen antirassistischen Protesten und der Klimabewegung: Wie könnten gemeinsame Forderungen aussehen, die die unterschiedlichen Anliegen einer pluralen Linken und verschiedenen Teilen der Subalternen aufnehmen und sinnvoll miteinander verbinden?Seit einigen Jahren dreht sich die Debatte – angestoßen von einem Diskussionszusammenhang rund um Joachim Hirsch (2003) und das Frankfurter links-netz (2012) – verstärkt um die Bedeutung sozialer Infrastrukturen als Teil einer postneoliberalen Sozialpolitik. Der Ansatz stellt die sozialen Dienstleistungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Transformation. Nach vielen Jahren neoliberaler Politiken ist hier zum einen der Mangel besonders offensichtlich, zum anderen ist dies der einzige Sektor, der in den Industrieländern ein beträchtliches (klima- und ressourcenneutrales) Beschäftigungspotenzial verspricht.

Statt also Sozialleistungen wie bisher nur über einen Mix aus Versicherungsmodellen und steuerfinanzierten Ansprüchen jeweils individuell abzusichern, besteht die Idee, „soziale Infrastrukturen“ zum Kern eines neuen Sozialstaats zu machen darin, soziale Dienstleistungen konsequent auszubauen und für alle frei – also auch entgeltfrei – zugänglich zu machen. Das betrifft die Gesundheitsversorgung genauso wie den Bereich der (Weiter-)Bildung, der Erziehung und Betreuung, das Recht auf bezahlbares Wohnen und auf Mobilität genauso wie den Zugang zu Energie, Trinkwasser oder zum Internet. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt also – anders als etwa bei einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht primär auf der monetären Absicherung des individuellen Konsums, sondern auf dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, also auf dem kollektiven Konsum.[2]

Alles entgeltfrei? Ja und nein. Vorstellbar wäre beispielsweise, auf allen genannten Feldern eine entgeltfreie Grundversorgung zu ermöglichen und für die Befriedigung darüber hinaus gehender individueller Bedürfnisse, Vorlieben oder Leidenschaften die Menschen ganz oder teilweise bezahlen zu lassen. Für den Bereich der Energieversorgung, die ein modernes menschliches Grundbedürfnis darstellt, würde das Folgendes bedeuten: Die Grundversorgung ist im Rahmen sozialer Infrastrukturen abgedeckt. Wer mehr Energie verbraucht, zahlt dafür, und Vielverbraucher zahlen deutlich mehr, der Preis steigt also progressiv an. Dieses Prinzip ist auf unterschiedliche Bereiche anwendbar (vgl. Schachtschneider/Candeias 2013): Zur Kasse gebeten wird, wer viel verbraucht. Das hieße ein entgeltfreies Pro-Kopf-Trinkwasserkontingent, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen und Luxusautos; entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, die Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle gebührenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, (dauerhaftem) sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums, Vergesellschaftung großen Immobilienbesitzes und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.

Ein solches Konzept wäre nicht nur ein Beitrag zum Abbau von sozialen Ungleichheiten, sondern auch ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise. Investitionen in soziale Dienstleistungen sind ökologisch sinnvoll, da die Arbeit mit Menschen kaum Umweltzerstörung mit sich bringt und deren Ausweitung neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet auch als Ausgleich für die Jobs, die in den rückzubauenden Bereichen klimaschädlicher Industrien verloren gehen werden. Dieser Ansatz hilft nicht nur bei der Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit, sondern auch bei der der (unbezahlten) Reproduktion. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen wird professionelle Care-Arbeit aufgewertet und erhält zusätzliche Ressourcen. Zugleich lässt der Erwerbsdruck nach, da die Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse garantiert ist. Damit steht mehr Zeit für Sorge und Selbstsorge sowie für die Arbeit am Gemeinwesen und politisches Engagement bereit. Nicht zuletzt bietet sich hier auch eine Chance, die für die emanzipative Gestaltung von Geschlechterverhältnissen genutzt werden kann: Der Blick wird stärker auf die reproduktiven Funktionen und Tätigkeiten gerichtet: Was erhält und sichert unser gemeinsames Leben? Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die stärkere Entkopplung der sozialen Teilhabe vom Erwerbsstatus und von der Lebens- oder Familienform – also individuelle Ansprüche für jede und jeden, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft.

Der Ausbau sozialer Infrastrukturen stärkt auch eine solidarische und demokratische Gesellschaft, denn Angst und Unsicherheit vor den notwendigen gesellschaftlichen Umbrüchen werden gemindert. Zugleich erscheinen die diskriminierenden Sozialstaatskonzepte der Rechten weniger attraktiv, wenn Marginalisierung, Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit bekämpft werden. Das Konzept sozialer Infrastrukturen erlaubt es also nicht nur, linke Sozialpolitik jenseits des fordistischen Wohlfahrtstaates neu zu denken. Die Forderung nach einer entgeltfreien, sozialökologischen Grundversorgung für alle, die hier leben (unabhängig von Pass, Geschlecht, Postleitzahl oder sonstigem Status), kann als verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe und eines gesellschaftlichen linken, sozialökologischen solidarischen Pols in der Gesellschaft dienen.

Soziale Infrastrukturen zielen darauf, weite Teile der Daseinsvorsorge dem Markt (wieder) zu entziehen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das bedeutet konkret, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen. Mit der Rekommunalisierung beispielsweise von privatisierten Krankenhäusern, Altenheimen, Kindertagesstätten, Wohnraum oder privaten Mobilitätsdienstleistungen ist nicht zuletzt die Frage der Eigentumsform gestellt – wie insbesondere die Kampagnen gegen überhöhte Mieten zuletzt deutlich gemacht haben. Hier können Umverteilung und soziale Gerechtigkeit mit Forderungen nach Demokratisierung und Emanzipation verbunden werden. Denn jenseits der Eigentumsfrage gilt es, neue Formen der Beteiligung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Soziale Infrastrukturen in öffentlicher Hand bedeutet auch, diese umfassend zu demokratisieren, sie in die Hände der Produzent*innen und Nutzer*innen zu legen. An vielen Stellen wird bereits über Gesundheits- oder Care-Räte diskutiert. Auch regionale Mobilitäts- und Transformationsräte stehen auf der Tagesordnung. Wir könnten so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen und erste Schritt in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus gehen (vgl. Redaktion prager frühling 2009).

Ein strategischer Vorschlag zur richtigen Zeit

Wie lässt sich so ein Umbau öffentlicher Dienstleistungen durchsetzen? Fest steht, das Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn unterschiedliche Akteure darin ihre Interessen wiederfinden. Die Idee kostenfreier, demokratischer Infrastrukturen kann unserer Ansicht nach Spielräume für linke Politik eröffnen: Soziale Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, Spaltungen zu überwinden und solidarisch zu bearbeiten, weil sie egalitäre Zugänge für unterschiedliche Teile der Subalternen bieten. In funktionierenden sozialen Infrastrukturen kommt die Idee eines anderen kollektiven Wohlstands zum Ausdruck, die imstande ist, gemeinsame Interessen an einem öffentlichen Reichtum überhaupt erst zu artikulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. Candeias 2019, 6). Außerdem bietet sich die Chance, aus fruchtlosen, von Gegensätzen geprägten linken Debatten herauszukommen, und zwar hinsichtlich mehrerer Streitfragen:

Das bedingungslose Grundeinkommen: Von diesem Grundeinkommen erhoffen sich beispielsweise Erwerbslose, Soloselbstständige und prekär Beschäftigte mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten dagegen weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Die Idee „sozialer Infrastrukturen“, verbunden mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, kann hier neue Perspektiven aufzeigen und neue Bündnisse ermöglichen.

Die Wachstumsfrage: Auch an diesem Punkt steckt die linke Debatte fest: zwischen Positionen von Degrowth-Anhänger*innen und denen keynesianisch inspirierter Vertreter*innen qualitativen Wachstums. Dabei streitet niemand ab, dass bestimmte Bereiche schrumpfen müssen, etwa die mit hohem Stoffumsatz verbundene industrielle Produktion, und andere zunächst wachsen müssen, wie die gesamte Care-Ökonomie und eben die sozialen Infrastrukturen, bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Ein solches qualitatives Wachstum ist übergangsweise notwendig, nicht zuletzt aufgrund der Lücken in vielen Bereichen der Reproduktion. Auch alternative industrielle Produktion ist notwendig – dies gilt vor allem für Länder des globalen Südens, aber auch hier für ressourcen- und klimaschonende Innovationen. Ein simpler Gegensatz von Wachstums- versus Postwachstumspositionen ist daher kontraproduktiv. Es muss um ein Einschwenken auf einen mittelfristigen Kurs einer „Reproduktionsökonomie“ (Candeias 2011) gehen, in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr stofflich wachsen. Soziale Infrastrukturen stünden im Zentrum einer solchen Reproduktionsökonomie.

Sie wären damit auch die wichtigste Säule für eine neue öffentliche Ökonomie, ohne die eine sozialökologische Transformation kaum möglich sein wird. Es gibt nur wenig Ansätze, die einer öffentlichen Produktionsweise eine eigene ökonomische Qualität zugestehen. Ausnahmen sind zum Beispiel die Ansätze eines "Public Value" (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder einer "Sozialwirtschaft" (Müller 2005 u. 2010). Dafür notwendig wäre eine andere gesellschaftliche Buchführung, die vorhandene wie benötigte Ressourcen gebrauchs- und bedarfsorientiert ins Verhältnis setzt und die die Frage ins Zentrum stellt, zu welchem Zweck und wie wir diese Ressourcen eigentlich einsetzen wollen. Eine solche gesellschaftliche Buchführung könnte eine von kapitalistischen Werttransfers unabhängige Grundlage für eine öffentliche Produktionsweise bieten. Der Sozialstaat wäre dann nicht nur kompensatorisch für den Ausgleich sozialer Verwerfungen und als Stabilisator in Zeiten von Krise zu denken, sondern wäre selbst Element einer solchen öffentlichen Ökonomie. Er wäre die Grundlage einer anderen Form des Produzierens und Reproduzierens, die mit dem Begriff grüner Infrastruktursozialismus umschrieben werden kann.

Verbindende Klassenpolitik für den grünen Infrastruktursozialismus…

Für anstehende sozialökologische Transformationskonflikte ist eine ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur ein Sicherheitsversprechen, das notwendig gewordenen Veränderungen das Bedrohliche nimmt und eine positive Zukunft denkbar werden lässt. Viele Bewegungen und die LINKE haben sich in den letzten Jahren bereits am Konzept der sozialen Infrastrukturen orientiert und es zu einem verbindenden Projekt werden lassen. Hier treffen sich Fragen der Umverteilung mit denen nach Freiheitsrechten und Demokratie, Fragen der Klassenpolitik mit Fragen der Anerkennung und Ermöglichung von Diversität und verschiedenen Lebensweisen.

Auch von anderer Seite wird der Frage sozialer Infrastrukturen (endlich) neue Bedeutung zugemessen: Eine neue "Fundamentalökonomie", wie Wolfgang Streeck es im Anschluss an eine englische Autorengruppe nennt (Foundational Economy Collective 2019), ist ein Bezugspunkt auch für sozialdemokratische Intellektuelle (vgl. u.a. SPW 2019), für Gewerkschaften wie die IG Metall, ver.di, die Eisenbahn- & Verkehrsgewerkschaft oder die GEW, aber auch für Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch für die Umweltbewegung und -verbände.

Die Bedingungen für große progressive Entwürfe sind gerade nicht gut, es stehen beinharte Auseinandersetzungen um die immensen Kosten der Krise bevor. Zugleich hat die Corona-Krise viele vermeintlich feststehende Wahrheiten infrage gestellt und aufgezeigt, dass politische Reaktionsmuster ins Wanken geraten können. Innerhalb kürzester Zeit war es nicht nur möglich, im Sinne der Pandemieprävention die Wirtschafts- und Konsumkreisläufe ganzer Gesellschaften herunterzufahren und damit – zumindest vorübergehend – das Primat der Politik vor das der Ökonomie zu setzen. Es ist im Zuge der Krisenbekämpfung auch möglich geworden, große staatliche Finanzvolumina zur Stützung von Unternehmen, Erwerbstätigen und öffentlichen Infrastrukturen sowie zur Ankurbelung der Konjunktur zu mobilisieren und dafür die "schwarze Null" von heute auf morgen über Bord zu werfen. Auf der Ebene der europäischen Regierungen wurde zudem das Verbot der gemeinsamen Verschuldung geschliffen. Das alles bedeutet für den weiteren Fortgang der Krise noch gar nichts, wie erwähnt stehen beinharte Verteilungskämpfe bevor. Es zeigt aber doch, dass das bisher scheinbar so fest verankerte marktliberale TINA-Prinzip[3] in einer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung aufgeweicht wurde. Unter der Wucht der Pandemie gewannen nicht nur eine andere Finanz- und Schuldenpolitik, sondern allgemein eine vorausschauendere, staatliche Steuerung und Intervention an Attraktivität. An solchen Tabubrüchen gilt es anzusetzen. Es sind kleine erweiterte Spielräume für eine gesellschaftliche Linke, die es zu nutzen gilt, um neue, um andere Pfade denkbar zu machen und zu erkämpfen (vgl. IfG & Friends 2020).

…und wo sie heute schon stattfindet

Um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen wird von vielen Akteuren bereits konkret gekämpft. Am sichtbarsten ist dies momentan wohl im Gesundheitswesen der Fall. In der ab September anlaufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (ÖD) wird es um eine Aufwertung der Pflege gehen. Bund und Länder haben angekündigt, dass es angesichts der Krise nichts zu verteilen gibt. Trotz des größten Rettungspakets der Geschichte soll es für die „systemrelevanten“ Berufe also bei einer symbolischen Anerkennung bleiben. Für höhere Löhne in der Pflege, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Personalquoten wird schon seit Langem gestreikt und gekämpft. Die Forderung nach einer bedarfsorientierten Finanzierung und nach mehr Personal in diesem wichtigen Bereich des Gesundheitswesens könnte zu einem Kristallisationspunkt von Kämpfen sowohl von Beschäftigten als auch von Nutzer*innen sozialer Infrastrukturen werden. Im Sinne eines Infrastruktursozialismus geht es außerdem darum, diese wichtigen Funktionen in gesellschaftliche Verantwortung zurückzuholen – also um eine Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Ähnlich steht es um Bildung und Erziehung, auch hier wird im Rahmen der Tarifrunde ÖD für eine Aufwertung und für bessere Angebote gestritten. Und auch hier hat die Pandemie schonungslos offengelegt, wie schlecht dieser elementare Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausgestattet ist – und zwar sowohl was das qualifizierte Personal angeht als auch die physische und digitale Hardware. Um in den Bereichen Bildung, Erziehung und soziale Arbeit verlässliche soziale Infrastrukturen für alle durchzusetzen, bedarf es neben einer besseren tariflichen Entlohnung des Personals des Ausbaus von Kitaplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten. Zudem wird vonseiten der Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, der Partei DIE LINKE und anderen schon seit Längerem für die bundesweite Abschaffung von Kitagebühren gestritten. Mit diesen Maßnahmen könnte die in Deutschland besonders dramatisch ausgeprägte Bildungsungleichheit verringert und mehr Teilhabe und Demokratie möglich werden.

Parallel zur Tarifrunde im ÖD werden erstmals bundesweit die Tarife im öffentlichen Nahverkehr verhandelt. Neben einer Entlastung durch mehr Personal geht es um einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Angesichts der zugespitzten Klimakrise ist das Letztere ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Fridays for Future, ver.di, die LINKE und andere wollen diese Auseinandersetzungen als gemeinsames Projekt angehen. Konkrete Schritte, um „Mobilität für alle“ als soziale Infrastruktur zu entwickeln, gibt es in einigen Städten schon: Der Einstieg in einen generellen Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist ein kostenloses Jahresabo für Schüler*innen, Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, kombiniert mit der Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle anderen. Dies soll den notwendigen Umstieg vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel erleichtern. Damit der steigende Bedarf an öffentlichen Nah- und Fernverkehrsmitteln überhaupt gedeckt werden kann, muss das Schienennetz ausgebaut und muss eine alternative Produktion von Straßenbahnen, E-Bussen, Zügen, U-Bahnwaggons etc. angeschoben werden. Zumindest Teile davon könnten in öffentlichen Unternehmen realisiert werden und wären damit ein weiterer Baustein der oben skizzierten öffentlichen Ökonomie.

Im Bereich Wohnen & Miete ist die Auseinandersetzung schon weiter. Hier geht es um die Verteidigung eines gesetzlichen Mietendeckels, wie er bisher in Berlin beschlossen wurde, und darum, ihn auf andere Bundesländer auszuweiten. Auch hier wird konkret über Vergesellschaftung diskutiert. Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co hat dies zum Ziel. Um die Menge an bezahlbarem Wohnraum zu erhöhen, wird der Bau von Sozialwohnungen in großer Zahl über eine „neue Gemeinnützigkeit“ ins Auge gefasst. Auch die Gründung einer öffentlichen Bauhütte, also eines Verbunds von Gewerken in öffentlicher Hand, wäre nützlich, um sich von der Bauindustrie unabhängig zu machen.

Auch in feministischen Debatten und Kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit spielt der Ausbau sozialer Infrastrukturen seit Jahren eine wichtige Rolle. Die internationale Bewegung für einen feministischen Streik und Debatten um eine feministische Klassenpolitik stellen die Aufwertung und Entlastung entlohnter wie unbezahlter Sorgearbeit ins Zentrum. Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit zielt auf eine Ausweitung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen, genauso wie hierzulande das queer-feministische Netzwerk Care Revolution. Dort organisieren sich unentlohnt Sorgende zusammen mit professionellen Care-Arbeiter*innen und denjenigen, die als Patient*innen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Gute Arbeitsbedingungen und Ausstattung in Kitas, Ganztagsschulen, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz reduzieren die Überlastung insbesondere von Frauen und ermöglichen eine Aufwertung wie eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit (vgl. Fried/Schurian 2016).

Kämpfe um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren in der weltweiten Bewegung für solidarische Städte gebündelt (vgl. Christoph/Kron 2019). Städte und Kommunen werden hier als Terrain gesehen, um eine demokratische Teilhabe und den Zugang zu lebenswichtigen Leistungen und Infrastrukturen für Geflüchtete und Illegalisierte lokal zu ermöglichen. New York City hat als erste Stadt eine “City Card” eingeführt, eine Art kommunales Personaldokument, das den Zugang zu städtischen Leistungen wie Gesundheit und Bildung ermöglicht sowie den Besuch von Bibliotheken und Museen, aber auch die Eröffnung eines Bankkontos und Abschluss eines Mietvertrags. Darüber hinaus bietet die "City Card" Schutz vor racial profiling, Polizeigewalt und Abschiebung – sie wird von der lokalen Polizeibehörde anerkannt und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Papiere. Auch in Europa wird an vielen Orten über eine "City Card" diskutiert. Zürich und Bern gehen hier voran,[4] aber auch in Berlin denkt die LINKE über die Einführung eines solchen Ausweisdokumentes nach (vgl. Frank 2019).

In Sachen Finanzierung braucht es Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen. Absehbar ist bereits jetzt, dass die Argumente und Konzepte der Austerität spätestens nach der nächsten Bundestagswahl mit Wucht durchschlagen werden. Spätestens dann wird genauer darüber verhandelt werden, wie und von wem die zur Pandemiebekämpfung aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden sollen. Das alles findet unter anderem vor dem Hintergrund der weiterhin ungelösten Altschuldenproblematik der Kommunen in Höhe von derzeit geschätzt rund 45 Milliarden Euro statt.Die Kommunen aber sind die Orte, an denen die Menschen ganz maßgeblich ihre Alltagserfahrungen sammeln und ihre Leben gestalten. Weitere Einschränkungen in weiten Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge werden der Entdemokratisierung, dem Frust und der Akzeptanz destruktiver Konzepte der Rechten sowie weiteren Klassenspaltungen Vorschub leisten. Umgekehrt kann der Ausbau sozialer Infrastrukturen, wie beschrieben, nicht nur Ungleichheiten bekämpfen, sondern eben auch mehr Demokratie und Teilhabe (auch vormals in der Öffentlichkeit unterrepräsentierter Gruppen) ermöglichen.

Für all das braucht es starke Initiativen von unten, die für eine solche Perspektive weitere kampagnenfähige und öffentlichkeitswirksame Kristallisationspunkte identifizieren, an denen es sich lohnt, auf verschiedenen Ebenen (kommunal, national, europäisch etc.) gleichzeitig produktive Konflikte aufzumachen und voranzutreiben. Dafür müssen auch und vor allem diejenigen gewonnen werden, die unter den derzeitigen Mängeln der sozialen Infrastrukturen am stärksten leiden.

Es wird entscheidend sein, ob es bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr gelingen wird, einen sozialökologischen Block zu formen, der Aufwertung und Ausbau sozialer Infrastrukturen zum Fluchtpunkt eines gemeinsamen Projekts macht (das auch nach der Wahl noch Bestand hat). Denn nur mit massivem gesellschaftlichen Druck und einer Bündelung von Kräften lassen sich konsequente Schritte in diese Richtung durchsetzen – Schritte in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus.

Fußnoten

[1] Die soziale Ungleichheit fällt nach neuesten Zahlen noch drastischer aus, als bislang angenommen: Demnach besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland rund 35 Prozent statt, wie bislang angenommen, 22 Prozent des Nettovermögens, die oberen zehn Prozent 67,3 statt 58,9 Prozent (Bartels u.a. 2020).

[2] Dies bedeutet nicht, die Bedeutung und Errungenschaft des klassischen Sozialversicherungsmodells zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Eine demokratischere, solidarischere Gesellschaft muss auch das Sozialversicherungswesen in den Blick nehmen, ausbauen und universalisieren, um die individuellen Risiken und Brüche im Lebenslauf besser abzusichern. Das heißt unter anderem, dass Elemente einer Mindestsicherung (etwa eine Mindestrente, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, oder eine Kindergrundsicherung etc.) gegenüber leistungsbezogenen Anwartschaften verstärkt werden und die Versicherungspflichten ausgeweitet werden müssen. Denkbar wären hier eine umfassende Erwerbstätigenversicherung (unter Einbeziehung auch von Beamt*innen, Freiberufler*innen, Selbstständigen etc.) im Rentensystem sowie eine Bürgerversicherung aller im Gesundheitswesen und eine solidarische Pflegevollversicherung.

[3] TINA: There Is No Alternative.

[4] Vgl. www.zuericitycard.ch/ und https://wirallesindbern.ch/city-card/.

Literatur

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Bartels, Charlotte/Göbler, Konstantin/Grabka, Markus/König, Johannes/Schröder, Carsten, 2020: MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, DIW-Wochenbericht 29/2020

Behr, Dieter A., 2010: Crossing Borders, in: Kulturrisse, März 2010

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

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Ders., 2011: Konversion – Einstieg in eine öko-sozialistische Reproduktionsökonomie, in: ders., 2019: Was tun und wo anfangen? 11-Punkte-Plan für einen neuen Sozialismus, in: LuXemburg 3-2019, www.zeitschrift-luxemburg.de/was-tun-und-wo-anfangen

Christoph, Wenke/Kron, Stefanie (Hg.), 2019: Solidarische Städte in Europa. Urbane Politik zwischen Charity und Citizenship, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

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Frank, Marie, 2019: Eine Karte für alle Fälle. Die Berliner Linkspartei will mehr Teilhabe für Illegalisierte durch einen Ausweis, in: neues deutschland, 13.4.2019

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Gehrig, Thomas, 2013: Soziale Infrastruktur statt Grundeinkommen, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-infrastruktur-statt-grundeinkommen

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Ders., 2010: Zur wert- und reproduktionstheoretischen Grundlegung und Transformation zu einer Ökonomie des Gemeinwesens, in: Ders. (Hg.): Von der Systemkritik zur gesellschaftlichen Transformation, Norderstedt,157-228

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Schachtschneider, Ulrich/Candeias, Mario, 2013: Kontrovers: Ökologisches Grundeinkommen vs. soziale Infrastruktur und kollektiver Konsum, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/kontrovers-oekologisches-grundeinkommen-2/

SPW – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 2019: Von der Kapitallogik zur gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie, Heft 235, www.spw.de/xd/public/content/index.html?sid=heftarchiv&year=2019&bookletid=176

Streeck, Wolfgang, 2019: Vorwort, in: Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M., 7–32

Wohlfahrt, Norbert, 2015: Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen – Die Ökonomisierung sozialer Dienste, in: LuXemburg 1/2015, www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-geschaeft-mit-grundbeduerfnissen/

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.

Moritz Warnke ist Referent für Soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur dieser Zeitschrift. Er ist im Landesvorstand der Berliner LINKEN und vertritt den Landesverband in der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«.

Eva Völpel arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für Wirtschaftspolitik.

Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist im Netzwerk Care Revolution aktiv und arbeitet zu Fragen von Sorgearbeit und Feminismus.

Hannah Schurian ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg. Sie ist Redakteurin dieser Zeitschrift.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/reichtum-des-oeffentlichen

#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor, so dass weitere Einschränkungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu befürchten sind. Zeit, den Sozialstaat und seine Finanzierung gründlich zu erneuern, schreiben die Autor:innen. Dabei geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Der Artikel zeigt, vor welchen Herausforderungen die sozialen Sicherungssysteme stehen, wie ein Sozialstaat aussehen kann, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist und wo schon jetzt ganz konkret um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen gekämpft wird.

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Warum wurden Pflegestellen reduziert? Wieso bringen Geburtsstationen Minus und Hüft-OPs ein Plus? Woher kommt der wirtschaftliche Druck in den Krankenhäusern, was wären bedarfsgerechte Alternativen? Antworten gibt die Broschüre vom Bündnis «Krankenhaus statt Fabrik». Das Bündnis wendet sich gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und besonders gegen das System der Fallpauschalen (DRG) in Krankenhäusern. Es will aufklären, um eine breite öffentliche Debatte über dieses bewusst installierte marktwirtschaftliche Steuerungsinstrument führen zu können.

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Personalnot im Krankenhaus

Warum gegen die jahrzehntelange Misere nur eine neue Personalbemessung hilft

März 2020 • Volker Gernhardt

Bild: Jodie Covington / Unsplash

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Krankenhaus, Pflege, Krise, Alternativen#Krankenhaus #Pflege #Krise #Alternativen

Der aktuelle extreme Mangel an Pflegekräften, die resultierenden Bettensperrungen und die immer wieder regional aufflammenden Streiks von Pflegekräften mit dem Ziel bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen, sind nichts Neues in der gesundheitspolitischen Landschaft Deutschlands. Bessere Arbeitsbedingungen sind eng verknüpft mit festen, nachvollziehbaren Stellenschlüsseln für die stationäre Pflege. Diese wurden bereits 1993 einmal erfolgreich mit Inkrafttreten der PPR (PflegePersonalRegelung) durchgesetzt, nach kurzer Zeit aus finanziellen Gründen ausgesetzt und werden heute in einer überarbeiteten, aktualisierten Fassung als PPR 2.0 angestrebt.Wie dringend erforderlich eine ordentliche, nachvollziehbare Personalbemessung im pflegerischen Bereich der stationären Gesundheitsversorgung ist, erfahren wir derzeit unter den zugespitzten Bedingungen einer sich rapide ausbreitenden Virenerkrankung mit Sars-CoV/2 (Coronavirus). Das deutsche Gesundheitswesen wird seitens der politisch Verantwortlichen als besonders gut dargestellt, auch in Bezug auf die Bewältigung einer Pandemie. Denn man sei in der Lage, auch relativ kurzfristig zusätzliche Intensivbetten aufzustellen. Aber wo soll das Personal herkommen, um diese Betten zu betreiben? Schon ohne Ankündigung zusätzlicher Intensivbetten können die vorhandenen Betten wegen des Mangels an Personal nicht zur Gänze betrieben werden. Entsprechende Meldungen kamen nahezu täglich in den letzten Monaten in der Presse. Um in der jetzigen Situation allein 50 weitere Intensivbetten zu betreiben, sind grob geschätzt mindestens 150 Krankenpflegekräfte (Vollkräfte) zusätzlich nötig, von denen mindestens ein gutes Drittel die Intensivzusatzausbildung absolviert haben sollte. Nimmt man den Gesundheitsminister Spahn beim Wort, so soll die Zahl der Intensivbetten in Deutschland verdoppelt werden. Derzeit werden rund 28.000 Intensivbetten betrieben. Eine Verdoppelung der Betten hieße auch, dass etwa das Vierfache an qualifiziertem Personal gebraucht würde, um diese Betten betreiben zu können. Wo aber sollen über 100.000 zusätzliche Krankenpflegekräfte herkommen? Hier wird deutlich, dass zusätzliche Intensivbetten im erforderlichen Ausmaß nicht zur Verfügung stehen und es zeigt im Weiteren die verfehlte Personalpolitik der vergangenen Jahre auf. Bedauerlicherweise ist diese Situation in der Bundesrepublik nichts Neues. Der Titel des SPIEGEL vom 21.11.1988 („Im Krankenhaus droht Lebensgefahr“) zeigt auf, dass wir bundesweit bereits mindestens einmal einen extremen Pflegenotstand zu beklagen hatten. Ganze Stationen konnten damals nicht mit Patient*innen belegt werden und OPs wurden geschlossen, da nicht ausreichend Pflegekräfte zur Verfügung standen. Die Proteste der Pflegekräfte wurden unüberhörbar und gipfelten in einer Protestversammlung in der Dortmunder Westfalenhalle am 28.Februar 1989, an der 20.000 Krankenpflegekräfte teilnahmen, begleitet von zahllosen regionalen Protestversammlungen im gesamten Bundesgebiet. Ursache war die Mitte der 80er Jahre verstärkt einsetzende Ökonomisierung des Gesundheitswesens durch Privatisierungen, Schließung ganzer Krankenhausstandorte, Ausgliederung von Dienstleistungen (Reinigung, Wäschereien, Essensversorgung usw.) und einem verstärkten Stellenabbau in der stationären Gesundheitsversorgung. Die damit einhergehende Arbeitsverdichtung insbesondere im Bereich der pflegerischen Versorgung führte im Zusammenspiel mit der traditionell schlechten Bezahlung von Pflegekräften zu einem extrem unattraktiven Berufsbild. Diese damals bereits absehbare Entwicklung wurde von der Politik bis zum sichtbaren Kollaps der Gesundheitsversorgung stoisch ignoriert. Erst der offensichtlich desolate Zustand in den Krankenhäusern und die heftigen Proteste von Krankenpflegekräften führte dann im Sommer 1990 zur Einsetzung einer Expert*innengruppe durch die Bundesregierung, mit dem Auftrag eine PflegePersonalVerordnung zu erarbeiten. Im Ergebnis entstand die sogenannte PPR (PflegePersonalRegelung) und wurde verbindlich am 1.1.1993 wirksam. Die Vorgaben der PPR sollten in mehreren Teilschritten bis 1996 erfüllt werden.

Mit Bedarfsmessung gegen die Personalnot? Der verlorene Kampf von unten

Inhaltlich betrachtet ist die PPR eine analytisch begründete Personalbedarfsbemessung. Der grundlegende Gedankengang war, alle pflegerischen Tätigkeiten, die erforderlich sind, um den gesundheitlichen Zustand von Patient*innen zu erhalten bzw. zu verbessern, zeitlich zu erfassen und mit empirisch ermittelten, durchschnittlichen Minutenwerten zu hinterlegen und damit den Pflegeaufwand in Minuten pro Tag festzulegen. Zählt man also die Bedarfe (in Minuten) an Pflege eines Tages von allen Patient*innen zusammen, so weiß man sehr genau, wieviel Minuten aufgewendet werden müssen, um den Pflegebedarf einer Station abzudecken. Da diese Ermittlung jeden Tag stattfinden sollte, kann man leicht den Bedarf für das gesamte zurückliegende Jahr errechnen und damit den Personalbedarf für das kommende Jahr prognostizieren. Dasselbe gilt für den Bezug auf eine Abteilung oder ein ganzes Krankenhaus. Eine Einschränkung liegt nur darin begründet, dass die PPR nur für somatische Stationen und erwachsene Patient*innen eingesetzt werden kann. Für Kinder und Neugeborene gab es eine weitere, spezielle PPR, für die psychiatrischen Abteilungen galt die PsychPV und die Intensivstationen wurden gesondert behandelt. Ab 1993 wurden dann jährlich neue Pflegestellen auf den Stationen geschaffen und besetzt. Ohne jeden Zweifel war die Einführung der PPR ein Erfolg für die Belange der Beschäftigten in der Pflege. Die Arbeitsbedingungen verbesserten sich durch einen Zuwachs an Pflegepersonal. Die öffentliche Debatte führte zu neuen Impulsen über das Berufsbild von Pflegekräften. Es wurde über ganzheitliche Pflege, Zimmerpflege und begleitende Pflege diskutiert und die sogenannte Funktionspflege wurde als überholt betrachtet. Funktionspflege ist das typische Ergebnis eines Mangels an Pflegekräften. Sie bedeutet, dass die Pflegekräfte einer Schichtbesetzung so eingeteilt werden, dass jeweils eine Pflegekraft eine bestimmte Tätigkeit z.B. das „Bettenmachen“ hintereinander bei allen Patient*innen durchführt. Eine andere Pflegekraft ist dann für eine andere pflegerische Tätigkeit, z.B. „Blutentnahme“ zuständig. Auf diese Weise geht der Kontakt, die Nähe und die Kommunikation zu den Patient*innen verloren, sie werden nicht mehr als Ganzheit erfasst, sondern eher als „Werkstück“ im Rahmen einer Fließbandtätigkeit. Diese Zergliederung pflegerischer Tätigkeiten konnte durch die Vermehrung der Pflegekräfte bei gleichzeitiger Diskussion über die Pflegeinhalte aufgehoben werden. Das Berufsbild Pflege gewann also deutlich an Attraktivität. Allerdings hielt dies nicht lange an. Denn schnell stellte sich heraus, dass die vollständige Erfüllung der Vorgaben durch die PPR erhebliche finanzielle Auswirkungen haben würde. Auf Drängen der Krankenkassen wurde die PPR bereits zum 1.1.1995 ausgesetzt. Damit hatten sich die Krankenkassen durchgesetzt. Hintergrund war eine gesellschaftliche Debatte über die Beitragssatzstabilität. Hier konnte sich die Arbeitgeber*innenseite gegenüber den von unten erkämpften Forderungen nach dauerhaften, nachvollziehbaren Personalzuordnungen durch die PPR durchsetzen. Den finanziellen Mehraufwand wollten weder die Kassen noch die Arbeitgeber*innen tragen. Die von den pflegerischen Basisaktiven mit zahlreichen Protesten und vielen Streiks erkämpften Fortschritte in den Arbeitsbedingungen auf den Stationen wurden nicht einfach nur eingeschränkt. Im Gegenteil, kaum waren die schlimmsten Auswirkungen des zurückliegenden Pflegenotstandes durch Einführung der PPR beseitigt und die Verhältnisse auf den Stationen „normalisiert“, leiteten Krankenkassen und Arbeitgeber*innen eine erneute Sparwelle im deutschen Gesundheitswesen ein. Bis 2008 wurden 50.000 Vollzeitstellen in der Pflege gestrichen. Weitere Privatisierungen und Ausgliederungen wurden von einem erheblichen Bettenabbau begleitet. Da die Zahl der Fälle sich nicht an dem Abbau der Betten orientierte, wurden die Verweildauern der Patient*innen erheblich reduziert. Die Arbeitsverdichtung auf den Stationen erreichte den Stand vor Einführung der PPR und dieses Mal kannten die Krankenhausträger ganz genau das Ausmaß des pflegerischen Notstandes und kalkulierten sogar damit. Da sich die PPR als ein Instrument erwiesen hatte, um den Personalbedarf messbar zu machen, wurde sie intern von nahezu allen Krankenhäusern als Instrument der Personaleinsatzplanung weiter genutzt und dies von vielen Krankenhäusern bis in die Gegenwart. Weil jedoch eine gesetzliche Verpflichtung weggefallen war, ist nie der tatsächlich ermittelte Bedarf an Personal, sondern ein deutlich geringerer eingesetzt worden. Der Personalmangel ist also schon seit den 90er Jahren ein kalkuliertes Vorgehen in den Klinken. Da die Bedarfsplanung intern weiter genutzt, aber nicht vollständig umgesetzt wird, ist den Klinikleitungen durchaus bewusst, dass sie massive Arbeitsverdichtungen in der Pflege vorantreiben. Die PPR macht mess- und sichtbar, wie viel Arbeit anfällt – und mit viel weniger Pflegekräften sie scheinbar umgesetzt wird.

Kostendruck und Investitionsstaus – die Verantwortung von Bund und Ländern

Der durch die Einführung der PPR entstandene finanzielle Mehraufwand war jedoch nicht der entscheidende Grund für die radikalen Sparmaßnahmen. Die gesetzlichen Krankenversicherungen hatten kein Ausgabenproblem, sondern ein Einnahmeproblem. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt waren die Ausgaben sehr stabil, während die beitragspflichtigen Einnahmen gegen Mitte der 90er Jahre zurückgingen. Um dies zu kompensieren, wurde nicht etwa die Einnahmesituation durch geeignete Maßnahmen entsprechend geändert, sondern die Ausgabenseite verantwortlich gemacht. Als ein Instrument, um die Ausgaben im Gesundheitswesen weiter zu reduzieren, wurde die Finanzierung der Krankenhäuser umgestellt. Galt bislang das Selbstkostendeckungsprinzip wurde ab 2004 eine an Fallpauschalen orientierte Finanzierung eingeführt. Nicht die notwendigen, bereits erfolgten Ausgaben wurden den Krankenhäusern von den Kassen rückerstattet, sondern es wurden pauschale Entgelte für bestimmte Fallarten, die sich an vorher festgelegten Durchschnittswerten orientierten, gezahlt. Damit wurde ein Teufelskreis eingeleitet. Gibt man für einen bestimmten Fall mehr Geld aus, als die Fallpauschale zulässt, so muss das Krankenhaus hier einsparen, um nicht unwirtschaftlich zu werden. Damit sinkt festgelegte Durchschnittswert dieser Fallpauschale weiter ab und weitere Einsparungen werden erforderlich. Wegen des hohen Personalkostenanteils in den Kliniken wurde natürlich gerade hier eingespart. Zudem wurde ein radikaler Abbau von Krankenhausbetten betrieben, der bis heute ungebrochen anhält und von einer erheblichen Arbeitsverdichtung in allen Bereichen des Krankenhauses begleitet wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt, welcher die Sparmaßnahmen im pflegerischen Bereich anheizte, war der erhebliche Mangel an Investitionsmittel für die Krankenhäuser. Die duale Finanzierung der stationären Gesundheitsversorgung beinhaltet die gesetzlich vorgeschriebene Finanzierung aller notwendigen investiven Kosten durch die Länder. Die Länder sind ihren Verpflichtungen sehr unterschiedlich und im Durchschnitt nur sehr eingeschränkt nachgekommen. Dies hat zu einem erheblichen Investitionsstau in den Krankenhäusern geführt – Expert*innen beziffern ein Volumen in Milliardenhöhe. Den meisten Krankenhäusern blieb daher nichts anderes übrig, als dringend anstehende Investitionen aus anderen Quellen zu finanzieren. Im Regelfall wurden die Finanzen aus dem Pflegesatzbudget herausgezogen. Damit wurden insbesondere die Personalkosten immer weiter reduziert, da diese den größten Anteil der verhandelten Budgets ausmachen. Auch die wegen mangelnder Investitionen gestiegenen Instandhaltungskosten mussten durch Reduzierung der Personalkosten kompensiert werden.

Neuer Protest in der Pflege – und ein neuer Anlauf der Bedarfsmessung?

Seit dem Jahr 2010 kommt es nun wieder bundesweit zu Protesten der Krankenpflegekräfte – und ein Ende ist bisher nicht in Sicht. Aus dem gewerkschaftlich initiierten Kampf um bessere Entlohnung entwickelte sich jedoch in der Zwischenzeit eine Auseinandersetzung um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal. Diese Forderung nach mehr Personal in den Krankenhäusern wurde von der Gewerkschaft Ver.di aufgegriffen und führte zu erbitterten Arbeitskämpfen, bis hin zum Erzwingungsstreik in großen Kliniken. Der erste große Erfolg wurde von den Kolleg*innen der Charité Anfang 2016 erzielt. Es wurde ein Tarifabschluss zwischen Verdi und der Charité Berlin erkämpft, welcher die einzusetzende Personalmenge (Krankenpflegekräfte) auf den Stationen regeln sollte. Galt bislang, dass die für eine bestimmte Arbeit eingesetzte Menge an Personal allein Angelegenheit der Arbeitgeber*innen ist, so gelang es hier erstmals, Stellenschlüssel tariflich festzuschreiben. Der erfolgreiche Arbeitskampf an der Charité stieß bundesweit weitere Auseinandersetzungen an diversen Kliniken an. Das Ziel war, bessere Arbeitsbedingungen durch Festlegung besserer Personalschlüssel auf den Stationen zu erkämpfen. Auch hier wurde eine Reihe von Erfolgen erstritten: Nach und nach konnten bundesweit an vielen Orten tarifliche Regelungen erkämpft werden. Sie erhalten jedoch sehr unterschiedliche Festlegungen zu Personalschlüsseln und zu den Sanktionen, die die Arbeitgeber bei Nichteinhaltung fürchten müssen.

Personalschlüssel tariflich oder gesetzlich regeln?

Der Mangel dieser und faktisch aller tariflicher Regelungen in Bezug auf Personalschlüssel, die in letzter Zeit erkämpft wurden, liegt in der Weigerung der Krankenkassen, solche Regelungen in den fallbezogenen Budgets zu berücksichtigen. Darum wird bereits länger darüber nachgedacht, eine gesetzliche Regelung zum Personalschlüssel im Pflegebereich durchzusetzen. Da eine gesetzliche Regelung gegen Personalnotstand in der Krankenpflege schon zu Beginn der 90er Jahre einmal erfolgreich durchgesetzt worden war, ist es nur folgerichtig diesen Ansatz aufzunehmen, zu aktualisieren und gesetzlich zu verankern. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Pflegerat und die Gewerkschaft Ver.di haben daher einen erneuten Anlauf genommen und eine aktualisierte Fassung der PPR unter dem Namen PPR 2.0 entwickelt. Diese liegt dem Bundesministerium für Gesundheit nun vor und dieses ist aufgefordert, dieses Personalbemessungsinstrument einzuführen.

Was regelt die neue Bedarfsermittlung in der Pflege?

Da in vielen Krankenhäusern die Daten zur Personalbemessung bis heute täglich erfasst werden, ist die Einführung der PPR 2.0 die wahrscheinlich einfachste Methode, Personalbemessung transparent und nachvollziehbar durchzuführen. Gerade wegen der täglichen Erfassung lässt sich auch unkompliziert die tägliche Menge an Pflegebedarf in Minuten ermitteln. Es ist dann nur ein kleiner Schritt dahin, die Gesamtanzahl des Pflegebedarfs in Minuten durch die Zahl der möglichen Arbeitsminuten pro Schicht zu dividieren. Im Ergebnis erhält man die Anzahl der notwendigen Köpfe des Pflegepersonals für diesen Tag. Dies ist eine sehr gute Grundlage, um die notwendige Schichtbesetzung des Folgetages zu prognostizieren. Hier muss angefügt werden, dass es insbesondere darauf ankommt, die Tagesbesetzung festzulegen. Ob die Früh- oder die Spätschicht gleich oder unterschiedlich zu besetzen sind, kann am besten an Hand der je unterschiedlichen Bedingungen vor Ort entschieden werden. Aus meiner Sicht und Erfahrung kann bereits nach drei Monaten einer derartigen Erhebung eine sehr genaue Prognose für den Bedarf an Vollkräften einer bestimmten Station für das Folgejahr erstellt und bei Pflegesatzverhandlungen vorgelegt werden. Ein weiterer, wichtiger Vorteil ist die Transparenz der Personalzuordnung auf den Stationen. Die Pflegekräfte kennen damit ganz genau die zu leistende Menge an Pflege und das Verhältnis der dazu eingesetzten Pflegekräfte. Damit werden ihre Forderungen nach mehr Personal auf eine nachvollziehbare, nicht widerlegbare Grundlage gestellt und können nicht mehr von den Pflegedienstleitungen in Frage gestellt werden und auf die Überforderung der einzelnen Mitarbeiter*innen geschoben werden. Die Einführung der PPR 2.0 wäre aus meiner Sicht ein großartiger Fortschritt, der tatsächlich den allgegenwärtigen Pflegenotstand nach und nach auflösen und den Beruf der Pflege wieder attraktiv machen könnte: für junge Menschen, die vor der Berufswahl stehen, aber auch für gestandene Pflegekräfte, die nach jahrelanger Überlastung ihre Arbeitszeit reduziert hatten. Denn sie würde den Status Quo deutlich verbessern: In einem von mir selbst ermittelten Beispiel einer unfallchirurgischen Station in einem Berliner Krankenhaus wurde deutlich, dass über ein halbes Jahr im Durchschnitt nur ca. 38% des laut PPR erforderlichen Personals vorhanden war. Dies ist kein Einzelfall, da vier stichprobenartig untersuchte weitere Krankenhäuser ähnliche Werte aufweisen. Auch bundesweit müssen ähnliche Größenordnungen unterstellt werden. Aus meiner Sicht wäre daher bereits eine Aufstockung des Pflegepersonals auf 70 % der PPR 2.0 ein großer Erfolg. Als ersten Teilschritt kann diese Marke durchaus dienen – wenn im Folgejahr auf 80% erhöht wird und dann jährlich steigend bis auf die volle Erfüllung der PPR 2.0. Es ist diese verlässliche, gesetzlich festgelegte Perspektive, die junge Menschen wieder motivieren könnte, einen Beruf im pflegerischen Bereich zu erlernen. Um dem Rechnung zu tragen, müssten auch die Ausbildungskapazitäten bundesweit drastisch erhöht werden. Die Betreuung der Auszubildenden auf den Stationen durch qualifizierte Praxisanleiter*innen mit entsprechender Freistellung ist ein weiterer wichtiger Baustein, um die stationäre Pflege als soziale und humane Aufgabe und damit als attraktiven Beruf wieder zu beleben. Es muss die Aufgabe der Politik, aber es wird auch die Aufgabe der kommenden Auseinandersetzungen sein, diesen Prozess zu begleiten und zum Erfolg zu führen.

Volker Gernhardt war viele Jahre Betriebsrat beim Klinikkonzern Vivantes und ist mittlerweile pensioniert.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/personalmangel-im-krankenhaus

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Der aktuelle extreme Mangel an Pflegekräften, die resultierenden Bettensperrungen und die immer wieder regional aufflammenden Streiks von Pflegekräften mit dem Ziel bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen, sind nichts Neues in der gesundheitspolitischen Landschaft Deutschlands. Bessere Arbeitsbedingungen sind eng verknüpft mit festen, nachvollziehbaren Stellenschlüsseln für die stationäre Pflege. Diese wurden bereits 1993 einmal erfolgreich mit Inkrafttreten der PPR (PflegePersonalRegelung) durchgesetzt, aber nach kurzer Zeit aus finanziellen Gründen ausgesetzt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Pflegerat und die Gewerkschaft Ver.di haben einen erneuten Versuch unternommen und für eine neue Personalbemessung eine aktualisierte Fassung der PPR unter dem Namen PPR 2.0 entwickelt.

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Der Text widmet sich den dringend notwendigen Reformen in der Altenpflege. Dem Pflegenotstand – also der unzureichenden Versorgung der Menschen mit Pflegebedarf, der mangelhaften Unterstützung pflegender Angehöriger und der schlechten Bezahlung der in der Pflege Beschäftigten trotz Arbeitsüberlastung – ist nur beizukommen, wenn sich sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Löhne in der Branche nachhaltig verbessern.

Die Autorin Pia Zimmermann betont, es brauche eine Pflegerevolution, um ein System zu entwickeln, in dem der Mensch im Mittelpunkt stehen. Dazu müsse die Finanzierung von Gesundheit und Pflege überarbeitet werden. Die skizzierte solidarische Pflegevollversicherung ist Bestandteil dieses Konzepts. Des Weiteren müssen zumindest die Renditen begrenzt werden, die mit Pflege gemacht werden können. Pflege ist keine Ware, sondern ein Grundrecht, das allen zugänglich sein muss.

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Arbeiten an der Belastungsgrenze und wirtschaftliche Zwänge, die im Widerspruch zum medizinischen und gesellschaftlichen Bedarf stehen – das war vielen Beschäftigten im Krankenhaus auch vor Corona nicht fremd. Die grundsätzliche Tendenz, das Gesundheitswesen vorrangig als ein Marktsegment zu betrachten, das sich über Wettbewerb steuern ließe, ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Gleiches gilt für den Widerstand von Beschäftigten und ihren Verbündeten. Die Broschüre gibt Einblicke in Kämpfe um Gesundheit in anderen Ländern und zeigt dabei nicht nur Gemeinsamkeiten und Besonderheiten auf, sondern beleuchtet zugleich verschiedene Problemstellungen und Konfliktgegenstände, die sich oft in verblüffender Ähnlichkeit auch hierzulande wiederfinden. So sollen die Beiträge nicht zuletzt auch die Diskussion um Herangehensweisen und Strategien der Krankenhausbewegung in Deutschland bereichern.

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Bewegung in der unternehmerischen Stadt

Wie sich das Terrain verändert hat

Juli 2019 • Margit Mayer

Foto: Dan Burton / Unsplash

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Wohnen, Krise, Organisierung, Rekommunalisierung#Wohnen #Krise #Organisierung #Rekommunalisierung

Die Auseinandersetzungen, die heute im und um den städtischen Raum ausgetragen werden, unterscheiden sich in wichtigen Dimensionen von früheren. Urbane Proteste und Bewegungen manifestieren sich spätestens seit der Französischen Revolution, als solche wahrgenommen wurden sie erst ab den 1960er und vor allem 1970er Jahren, als Sozialwissenschaftler wie Manuel Castells und Henri Lefebvre sie zu Forschungsgegenständen machten und als politische Subjekte analysierten. Konzepte und Theorien über städtische Bewegungen wurden vornehmlich an den – heute würden wir sagen: fordistisch geprägten – Kontexten und Konflikten dieser Zeit entwickelt. Der fordistische Urbanismus war allerdings ein sehr spezifischer historischer Moment. Er prägte das Aufbegehren der Bewegungen gegen die technokratische Zurichtung und die daraus resultierende »Unwirtlichkeit unserer Städte« (Mitscherlich 1965).

Die städtischen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre waren Teil eines Protestzyklus, der sich aus der Kritik am Fordismus und den ihm eigenen Produktions-, Regierungs- und Lebensweisen entwickelte. Die Funktion der Städte und die Bedingungen städtischen Lebens spielten dabei zentrale Rollen. Der Angelpunkt der Kämpfe hatte sich von der »produktiven« hin zur »reproduktiven Sphäre« mit ihren öffentlichen Infrastrukturen und Dienstleistungen verschoben, deren kulturelle Normen genauso hinterfragt wurden wie ihr Preis und ihre Qualität. Die Bewegungen forderten nicht nur eine Verbesserung dieser Einrichtungen des kollektiven Konsums, sondern auch eine stärkere Beteiligung an deren Gestaltung. Während sie so auf eine am Gebrauchswert orientierte Stadt drängten, entwickelten sie selbst autonome lokale Szenen und Projekte gegen die Standardisierung und einseitige Planung von Lebens-, Kultur- und Arbeitsweisen. In vielen Städten entstand eine dynamische Bewegungsinfrastruktur von Stadtteil- und Jugendzentren, Kinderläden, Gesundheitszentren und anderen selbstverwalteten Projekten. Die Bewegungen richteten sich also gegen die »keynesianische Stadt«, in der ein Großteil der sozialen Reproduktion vom (lokalen) Staat übernommen wird, weshalb zeitgenössische Autor*innen das Städtische explizit in Kategorien kollektiven Konsums definierten (vgl. Castells 1983). Heute, nach mehreren Runden neoliberaler Umstrukturierung, agieren die städtischen Bewegungen in einem völlig anderen Setting. Sie konfrontieren keine »keynesianische« Stadt mehr. Auf die Rollback-Phase der 1980er Jahre, in der der keynesianische Wohlfahrtsstaat geschliffen wurde, und die Rollout-Phase der 1990er Jahre, in der die Folgen dieser Sparpolitik durch flankierende Maßnahmen abgemildert werden sollten, folgte die durch die Finanz- und Wirtschaftskrise geprägte Phase der Austerität. Entscheidende Dimensionen der Stadtpolitik werden heute weniger von kommunalpolitischen Institutionen als von zunehmend globalen Wirtschafts-, Finanz- und Immobilieninteressen bestimmt. Statt zentral regulierter wohlfahrtsstaatlicher Politik sehen sich die Bewegungen multi-skalaren Aktivierungsstrategien – und machtvollen privaten Developern und Investoren gegenüber. Die Aufgabe von Stadtpolitik hat sich darauf verengt, das (ungezügelte) Wirken »des Markts« zu ermöglichen – was inzwischen aber auch Gegenwehr hervorruft.

Vier Merkmale kennzeichnen die heutige Neoliberalisierung des Städtischen bzw. der Stadtpolitik

1 | Nach wie vor ist der neoliberale Urbanismus bestimmt vom obersten Ziel, Wachstum zu befördern. Um sich in der verschärften interurbanen Konkurrenz gut zu platzieren, bemühen sich Lokalpolitiker*innen, Investitionsströme in ihre Stadt zu schleusen. In dieser Konkurrenz können nicht alle Städte gewinnen, doch sie hat überall Bodennutzungsentscheidungen hervorgebracht, die auf die größtmögliche Renditeerwartung setzen und somit für die Ausbreitung von Gentrifizierung, neuer privatisierter Enklaven für den Elitenkonsum und desinfizierter Räume sozialer Reproduktion sorgen. Diese Wachstumspolitik (häufig angeheizt durch internationale Boden- und Immobilienspekulation) hat nicht nur die gebaute Umwelt transformiert, sondern auch die Boden- und Immobilienpreise explodieren lassen, was Verdrängungsprozesse, vermehrte Räumungen und eine neue Wohnungs- und Obdachlosigkeitskrise zur Folge hat. Im Gegensatz zu den führenden Global Cities sehen sich die meisten »normalen« Städte schrumpfenden Haushalten gegenüber. Sie können das Wachstum also kaum noch mithilfe der in den 1980er Jahren gängigen Standortpolitik beflügeln, die auf teure Groß-Events wie Gartenshows oder Bauausstellungen setzte. Stattdessen haben sie sich eher symbolischen, preisgünstigen Formen der Standortpolitik zugewandt, um ihr lokales Flair aufzumöbeln und »kreative Klassen« und in der Folge auch Investoren anzuziehen, darunter so simple Maßnahmen wie erleichterte Vorschriften für die Gründung von Internetcafés. Solche innovativen, zunehmend kulturellen Branding-Strategien kommen unter anderem alternativen und subkulturellen Bewegungen zugute. Stadtmanager*innen haben festgestellt, dass sich solche Bewegungen als nützlich für Vermarktungsstrategien erweisen und leicht in »Kreative-Stadt-Projekte« eingepasst werden können.

2 | Städte haben in mehr und mehr Bereichen ihres Regierungshandelns unternehmerische Formen von Governance eingeführt. Sie nutzen dabei nicht nur angeblich effizientere betriebswirtschaftliche Modelle, sondern vergeben immer mehr Aufgaben an private Akteure (in Form von Sub- und Out-Contracting), etwa bei Ausschreibungen für (spekulative) Investitionsprojekte oder die Entwicklung bestimmter Stadtteile. Indem Bürgermeister*innen zusammen mit ihren Partnern aus der Wirtschaft für einzelne Projekte spezielle Träger beauftragen oder Public-Private-Partnerships einrichten, werden Stadträte zunehmend umgangen. Hegemonie wird hier, wenn überhaupt, nur über kleinteilige Einbindungen hergestellt. An die Stelle von langfristigen, tripartistisch angelegten Regulierungsmodi treten flexible, ständig wechselnde Zugeständnisse an verschiedene Gruppen. Dieser Trend einer »Projektepolitik« hat die kommunale Planung deutlich verändert und informelle und kooperative Prozesse verankert. Die von der Kommune orchestrierten kooperativen Planungsverfahren beteiligen neben (globalen) Developern und allerlei Experten für technologische, logistische und algorithmische Lösungen vermehrt auch zivilgesellschaftliche Gruppen. Diese Praxis von »Adhocismus« und Informalisierung der Politik verschafft externen und internationalen Akteuren wie Developern und Investoren einen wachsenden Einfluss, eröffnet aber auch neue Zugänge für artikulationsstarke Bewegungsakteure. Die fehlende öffentliche Transparenz dieser Strategie ruft aber auch neue Proteste auf den Plan, weil unberücksichtigte Gruppen sich von der Gestaltung der Stadt ausgeschlossen sehen und gegen die Erosion repräsentativer Demokratie zur Wehr setzen.

3 | Intensivierte Privatisierungsprozesse – sei es von kommunalem Vermögen oder öffentlichen Diensten – nehmen immer extremere Formen an und haben die traditionelle Beziehung und Abgrenzung von öffentlicher und privater Sphäre transformiert. Soziale Einrichtungen wurden abgebaut bzw. reorganisiert und kollektive Dienstleistungen und Infrastrukturen wie Versorgungsunternehmen dem Markt ausgesetzt. Zunehmend wird aus Privatisierung sogar Finanzialisierung, indem kommunale Verkehrssysteme oder Sozialwohnblöcke auf den Finanzmärkten verhökert werden. Bei dieser Plünderung öffentlicher Haushalte werden städtische Ressourcen und öffentliche Dienstleistungen zu Optionen für eine erweiterte Kapitalakkumulation durch Enteignung. Besonders gern haben Städte die Privatisierung öffentlicher Räume vorangetrieben. Je mehr private Räume dem Elitenkonsum gewidmet werden, umso besser kann eine maximale Bodenrente realisiert werden. Dies hat spürbare Effekte auf die Stadtlandschaft: Die Privatisierung von Plätzen, Bahnhöfen und quasi-öffentlichen Einkaufszentren hat den Zugang zu kollektiven Infrastrukturen beschränkt oder verteuert. Längst sind ganze Stadtzentren, von Paris, New York und London bis Hongkong oder Singapur, zu exklusiven »Zitadellen der Eliten« geworden. Gegen diese Einhegungen regt sich vielfältiger Protest, etwa gegen die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen oder für Rekommunalisierungen.

4 | Ein weiteres wichtiges Merkmal ist eine neue Doppelstrategie im Umgang mit der wachsenden sozialräumlichen Polarisierung. In den frühen Phasen der Neoliberalisierung in den 1980er und 1990er Jahren bestanden die einschlägigen Instrumente vor allem aus quartiersbezogenen Revitalisierungs- und Aktivierungsprogrammen, die eine unterstellte Abwärtsspirale in sogenannten Problembezirken aufhalten sollten. Solche Programme sind inzwischen zurückgefahren worden oder werden ersetzt durch eine neue zweigleisige Politik: Sie koppelt einerseits unverblümte Verdrängungsstrategien mit repressiven Maßnahmen und zielt andererseits darauf, mit scheinbar wohlmeinenden Programmen bestimmte ausgewählte verarmte Gebiete und soziale Gruppen in Aufwertungsprozesse einzubeziehen. Die repressiven Instrumente beinhalten Strategien, die unerwünschtes Verhalten sowie unerwünschte Gruppen (wie Obdachlose oder Bettelnde) bestrafen, ebenso wie die Verdrängung unterer Einkommensgruppen in immer entferntere Peripherien oder versteckte Elendsnischen innerhalb der Stadt. Diese punitive Seite der neoliberalen Stadt – mit ihren verschärften Gesetzen, härteren Polizeimaßnahmen, zunehmender Entrechtung – trifft insbesondere Obdachlose, papierlose Migrant*innen, informelle Arbeiter*innen, aber zunehmend auch neue Opfer von Austeritätspolitiken.Die »gutartigen« Instrumente dagegen kommen in Gebieten zum Einsatz, wo sich ein neues Entwicklungspotenzial abzeichnet: alte Industriegebiete oder verfallende Sozialwohnungsbezirke, also eigentlich stigmatisierte Gegenden. Wenn sie günstig gelegen sind, werden sie zu Standorten von Entwicklungsprojekten, die laut Versprechen des Stadtmanagements auch den Anwohner*innen zugutekommen sollen. Diese Strategien greifen nur dort, wo erfolgreiche Verwertungsprozesse, also ein Ansteigen von Immobilienpreisen und Investitionen, winken. Sobald es gelingt, die erwünschte hochpreisige Klientel anzuziehen – häufig durch Vermarktung des vorgefundenen »wilden Urbanismus«, des authentischen Arbeiterklassenmilieus oder der hippen »kulturellen Authentizität« – werden die ärmeren Bewohner*innen verdrängt. Häufig sind begleitende partizipatorische Verfahren vorgesehen, um die antizipierten Konflikte um die gegensätzlichen Interessen kleinzuarbeiten.

Aktuelle Konflikte und Kämpfe um die neoliberale Stadt

Die vielfältigen und vielschichtigen, mit der neoliberalen Stadtentwicklung einhergehenden Ausgrenzungs-, Verdrängungs-, Enteignungs- und Entrechtungsprozesse haben der Bewegungslandschaft neue unkonventionelle Akteure zugeführt und sie zugleich heterogenisiert und fragmentiert. Während die Folgen der intensivierten Wachstumspolitik Proteste von Anwohner*innen und unterschiedlichsten Betroffenen hervorbrachten – gegen Aufwertung und Verdrängung, gegen Touristifizierung oder Zweckentfremdung –, haben die neuen Wachstumsstrategien der »Kreative-Stadt-Politik« neue Spaltungslinien innerhalb der Bewegungslandschaft produziert. Prekäre, aber in diesem Kontext über »symbolisches Kapital« verfügende Kulturschaffende und Künstler*innen konnten hier zumindest temporär zu potenziellen »Profiteuren« der neoliberalen Stadtpolitik werden. Auch besetzte Häuser oder selbstverwaltete soziale Zentren konnten mancherorts über Jahre überleben, weil sie als Attraktivitätsmarker fungierten in einem Prozess, der über kurz oder lang von Investoren in lukratives Development überführt wird – womit meist eine neue Runde (nun defensiver) Kämpfe beginnt. Bewegungen, die sich nicht so zweckdienlich in lokale Standortpolitik und Vermarktungsstrategien einbinden lassen, haben weniger Entgegenkommen von staatlicher Seite zu erwarten.

Dennoch erstarken neben Protesten gegen Aufwertung und Verdrängung auch unter ressourcenarmen Gruppen diejenigen, die sich gegen Austeritätspolitik und Sozialkürzungen sowie gegen Privatisierung und überhaupt gegen das Vordringen globaler (Finanz-)Markt-Akteure in die Stadtentwicklung und die damit verbundene Erosion lokaler Demokratie richten. So hat sich vielerorts eine öffentlichkeitswirksame Bewegungsszene herausgebildet, welche die politischen Eliten massiv unter Druck setzt. Viele dieser – seit Kurzem und seit Langem – Bewegten kommen unter dem Dach des Protests gegen »Mietenwahnsinn« zusammen[1]. Die großen Demonstrationen im April 2019 in Berlin, München, Leipzig, Stuttgart, Frankfurt am Main und weiteren Städten markierten einen vorläufigen Höhepunkt. Dahinter stehen rasante Selbstorganisationsprozesse unterschiedlichster Mietergruppen, die sich mit kreativen Aktionen gegen exorbitante Mietsteigerungen zur Wehr setzen und zunehmend mit anderen Protestgruppen verbünden – etwa jenen gegen Gentrifizierung, Zwangsräumungen und Zweckentfremdung; für Rekommunalisierung, gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbau und Enteignung großer Wohnungsunternehmen. Allein in Berlin hatten 280 Initiativen zu dem bundesweiten Protesttag am 6. April aufgerufen. Dahinter stehen auch lokale Aktivistengruppen, die sich seit Jahren unter dem Banner »Recht auf Stadt«[2] über Landesgrenzen hinweg vernetzen, um ihren Kampf um bezahlbaren Wohnraum oder gegen Zwangsräumungen[3] multi-skalar zu führen. Den derart erstarkten Bewegungen neuer und alter urban outcasts gelingt es zunehmend, ihre Themen auf die mediale und politische Agenda zu setzen, gewisse Konzessionen zu erstreiten und mancherorts auch bewegungsnahe Politiker*innen in kommunale Ämter zu hieven. Da die eigentlichen Adressaten der Proteste, die global agierenden Investmentfirmen und Developer, schwer greifbar sind und die Kommune oft nicht mehr als Feind der Bewegungen wahrgenommen wird, kommt es zu Annäherung und Kooperationen »zwischen Zivilgesellschaft und Politik«, vor allem dort, wo Letztere zugänglich erscheint. Unter dem Label des »neuen Munizipalismus« finden Bewegungsforderungen Fürsprache bei Stadträten und/oder Bürgermeister*innen – von Barcelona über Zagreb, Warschau, Bologna und Berlin bis nach Jackson (Mississippi) und jüngst auch in Chicago.

Die Versuche, nicht nur Forderungen, sondern auch Akteure der Bewegung in lokale Institutionen und Regierungen hineinzuheben, rufen erheblichen Widerstand der etablierten Parteien und vor allem des Immobilien- und Finanzkapitals hervor. Gleichzeitig generieren sie Friktionen aufseiten von Bewegungsgruppen, deren Erwartungen über das »realpolitisch Durchsetzbare« oft hinausgehen. Oder sie verstärken vorhandene Spaltungslinien, weil die bereitgestellten Partizipationsformate eher von »Bewegungseliten« genutzt werden (Balcerowiak 2018). Meist sind es langwierige und mühsame Kämpfe, in denen Initiativen wie »Stadt von unten« darauf drängen, gerade NICHT »ein paar Projektorchideen für ein paar Glückliche zu schaffen« (Stadt von unten 2018).

»Stadt von unten« wurde 2014 in Berlin gegründet, um ein Modellprojekt in kommunalem Eigentum am Dragoner-Areal, einem größeren, von der Bundesanstalt für Immobilien (BIMA) zum Verkauf bestimmten bebauten Gebiet in Berlin-Kreuzberg durchzusetzen. Gemeinsam mit anderen Initiativen gelang es ihnen 2016, eine Privatisierung des Areals zu verhindern und es zum Sanierungsgebiet erklären zu lassen.[4] Mit der Kommunalisierung verknüpfen sie als Hauptziel die Demokratisierung der Wohnungsunternehmen und substanzielle Mitbestimmungsrechte der Mieter*innen, die eine langfristige soziale Ausrichtung und bezahlbare Mieten gewährleisten sollen. 2018 gelang es ihnen, einen paritätisch besetzten »Gründungsrat« zu etablieren und dort gemeinsam mit allen Projektbeteiligten Leitlinien für eine Kooperation zu entwerfen. Es zeichnete sich aber ab, dass Senat und Bezirk sich nicht auf inhaltliche Vorgaben einlassen wollten, die über die üblichen Auflagen für Sanierungsgebiete hinausgehen, wie zum Beispiel das Erbbaurecht. Noch bevor die Kooperationsvereinbarung unterzeichnet war, berief die Kreuzberger Bezirksverwaltung eine eher exklusive (da tagsüber im Rathaus tagende) »Beteiligungswerkstatt« ein, um Bau- und Nutzungsanforderungen zu klären – worauf die Initiativen mit Boykott reagierten (Stadt von unten 2019).

Während die Initiativen beim Tauziehen mit politischen Entscheidungsträger*innen in Gremien wie dem Gründungsrat kaum Zugeständnisse bei inhaltlichen Vorgaben und Leitlinien der Kooperationsvereinbarung erreichen können, konzediert die Politik auf Bezirkswie übergeordneter Ebene neue, informelle wie formelle Arbeits- und Koordinierungsstellen, die es ermöglichen, bislang ehrenamtliche und deshalb oft prekäre aktivistische Arbeit auf solidere Beine zu stellen. Dadurch werden Teile der Initiativen professionalisiert und in eine »gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung« eingebunden. Derartige Stellen steigern allerdings, genauso wie die oft umkämpften Kooperationsverfahren (vgl. Ziehl 2018), ohne aufmerksame Begleitung das Risiko von Intransparenz und Demokratiemangel in den Planungs- und Entscheidungsprozessen (vgl. Mayer 2019). Wo es also um die Umsetzung von Bewegungszielen geht, bewirken sowohl die unter »neuen munizipalistischen« Vorzeichen eröffneten Verhandlungs- und Kooperationsrunden als auch die Projektplanungen im Rahmen einer unternehmerischen Governance ein Auseinanderdividieren von Bewegungsakteuren: ein Teil entscheidet sich für eine Mitwirkung in diesen Gremien, ein anderer kritisiert deren fehlende öffentliche Transparenz.

Erfolg oder Scheitern heutiger städtischer Bewegungen lässt sich nicht bestimmen, indem man sie mit früheren fordistischen Bewegungen vergleicht. Aber so wie die damaligen Bewegungen die fordistische Stadt widerspiegelten und schließlich zu ihrer Krise beitrugen, so lassen sich auch die heutigen erst in ihrer Relation zum neoliberalen Urbanismus begreifen. Ihr Erfolg wird nur an dessen Demontage zu messen sein. Daraus folgt, dass Linke bei der Wahl ihrer stadtpolitischen Aktionen und Kampagnen die Dynamik der neoliberalen Stadtpolitik und deren Auswirkungen auf die Bewegungslandschaft beachten sollten. Die Wohnraumfrage etwa bietet Mobilisierungs- und Politisierungschancen, allerdings nur, wenn es gelingt, auf die große Masse der Betroffenen und auf Solidarität zwischen ressourcenarmen und mehr oder weniger privilegierten Gruppen hin zu orientieren und so den inhärenten Spaltungstendenzen entgegenzuwirken. Eine Vereinnahmung und Kooptierung von Akteuren, die über Artikulationsstärke, kulturelles Kapital oder sonstige für die »kreative Stadt« nützliche Kompetenzen verfügen, torpediert das cross-movement building, das so nötig ist. Nur wenn viele verschiedene Bewegungen sich hinter eine Forderung wie etwa die von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen!« stellen, besteht die Chance, über kosmetische Veränderungen hinauszukommen.

Fußnoten

[1] Vgl. die Pressemitteilung von Bundesweites Bündnis #Mietenwahnsinn vom 22.3.2019.

[2] Siehe z. B. www.realize-ruhrgebiet.de/2018/05/14/recht-auf-stadt-zwischen-abwehr-kaempfen-radikaler-realpolitik-und-alternativen.

[3] Siehe z. B. European Action Coalition for the Right to Housing and to the City aus Anti-Zwangsräumungsinitiativen aus 13 europäischen Ländern: www.rosalux.eu/publications/resisting-evictions-across-europe.

[4] Das Areal ist seither im Besitz des Landes Berlin. Die BIMA regelte, dass 90 Prozent der Fläche kommunal (also von einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft) bewirtschaftet werden müssen, das heißt, maximal zehn Prozent könnten selbstverwaltet bzw. in Erbbaurecht gemanagt werden.

Literatur

Balcerowiak, Rainer, 2018: Gegenteil einer sozialen Bewegung. In Großstädten tritt immer häufiger ein links-alternatives Bürgertum auf, das ein Recht auf Stadt einfordert – für sich und nicht für Wohnungslose, in: die tageszeitung, 15.11.2018.

Castells, Manuel, 1983: The City and the Grassroots, Berkeley.

Mayer, Margit, 2019: The Promise and Limits of Participatory Discourses and Practices, in: Ülker, Bariş/Mar Castro, Maria do (Hg.), Doing Tolerance. Democracy, Citizenship and Social Protests, Leverkusen.

Mitscherlich, Alexander, 1965: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt a.M.

Stadt von unten, 2018: Kommunal ist nicht genug! Übertragungsvertrag zum Dragonerareal frisst Modellprojekt, 9.10.2018, https://stadtvonunten.de/kommunal-ist-nicht-genug-uebertragungsvertrag-zum-dragonerareal-frisst-modellprojekt

Stadt von unten, 2019: Rathausblock/Dragonerareal: Stadtpolitische Initiative verweigert Mitarbeit an Werkstatt zur »Beteiligung«, 4.4.2019, https://stadtvonunten.de/pressemitteilung-rathausblockdragonerareal-stadtpolitische-initiative-verweigert-mitarbeit-an-werkstatt-zur-beteiligung

Ziehl, Michael, 2018: Zukunftsfähigkeit durch Kooperation. Ein Laborbericht, http://urban-upcycling.de/laborbericht

 

Margit Mayer ist Politikwissenschaftlerin und Professorin a. D. an der Freien Universität Berlin und Senior Fellow am Center for Metropolitan Studies Berlin. Sie forscht seit Langem zu städtischen Themen und sozialen Bewegungen in den USA und Deutschland.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/bewegung-in-der-unternehmerischen-stadt

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Entscheidende Dimensionen der Stadtpolitik werden heute weniger von kommunalpolitischen Institutionen als von zunehmend globalen Wirtschafts-, Finanz- und Immobilieninteressen bestimmt. Die mit der neoliberalen Stadtentwicklung einhergehenden Ausgrenzungs-, Verdrängungs-, Enteignungs- und Entrechtungsprozesse ruft aber auch Gegenwehr hervor. Margit Mayer skizziert Merkmale der Neoliberalisierung des Städtischen sowie Konflikte und Kämpfe um die neoliberale Stadt.

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Wenn der Gürtel nicht mehr enger geht

Austeritätspolitik in Europa und ihr Einfluss auf das Leben von Frauen

Juni 2018

Feminismus, Krise, Krankenhaus, Pflege#Feminismus #Krise #Krankenhaus #Pflege

«Ohne uns steht die Welt still.» Das war der Slogan, unter dem mehrere Millionen Frauen am 8. März 2018 in Spanien in den Generalstreik traten. Der Streik gab Ihnen die Möglichkeit, verschiedene Themen zu diskutieren und sich zu organisieren: Arbeit, Pflege, Konsum.

Keine andere soziale Bewegung von links hat in den letzten Jahren weltweit so erfolgreich protestiert und sich gegen patriarchale Strukturen gestemmt wie die feministische Bewegung.

Die Gründe sind vielfältig und von Land zu Land verschieden. Dennoch gibt es eine europäische Gemeinsamkeit: Mit Beginn der Finanzkrise im Jahr 2007, die sich später zur Eurokrise ausweitete, verschrieben sich viele Länder einer absoluten Austeritätspolitik.

In Südeuropa und Irland waren es hauptsächlich die Europäische Union und der internationale Währungsfonds, die das Sparen diktierten. In Osteuropa war es der Erfolgsdruck der neuen Mitgliedsländer gegenüber der EU und eine gewünschte schnelle Integration in den europäischen Wirtschaftsmarkt, die die Regierungen Sparhaushalte aushandeln ließ.

EU-Beitrittskandidaten wie Serbien und EU-Nachbarländer wie die Ukraine unterwarfen sich in vorauseilendem Gehorsam der EU und ihren Forderungen, um den Beitrittsfortschritt und die Annäherung nicht zu gefährden.

Wie auch immer — das Mantra des Sparens zu Gunsten eines ausgeglichenen Haushaltes, besserer Wettbewerbsfähigkeit und der Schuldenvermeidung hat verheerende Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen sowie auch generell auf die Geschlechterbeziehungen.

In den von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gegebenen Länderstudien zu den Auswirkungen der Austeritätspolitik auf Frauen wird genau dies auch untersucht.

Unter dem Titel «Austerity, Gender Inequality and Feminism after the Crisis» haben die Autorinnen nicht nur Daten zur Beschäftigung und zum Einkommen von Frauen  ausgewertet, sondern auch insbesondere Sparmaßnahmen, die direkt die Gleichstellung betrafen, unter die Lupe genommen, sowie Gesetzesänderungen und Neuregelungen  dahingehend untersucht.  

Wie wirkt sich Sparpolitik auf Geschlechterrollen in der Familie aus? Wer übernimmt Erziehung und Pflege von jung und alt, wenn der Staat keine Unterstützung mehr bietet? Was heißt es, wenn Gleichstellungsbeauftragte gleichzeitig mit dazugehörigen  Förderprogrammen weggespart werden? Wo bleiben Frauen, wenn es keine Zufluchtsstätten für Opfer häuslicher Gewalt gibt? Wer bringt die ungewollten Kinder durchs Leben, wenn Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr erlaubt sind?

Die Studien zeigen eine Topografie dessen, welche Auswirkungen das Spardiktat in Europa auf Geschlechterverhältnisse hat und formulieren Forderungen einer linken feministischen Politik, die auf sozialer Gerechtigkeit und einer Gleichstellung der Geschlechter basiert. 

Lesen Sie dazu den Hintergrundartikel von Elsa Koester in «der Freitag», Ausgabe 26/2018: «Küche, Kinder, Krise»

In der selben Ausgabe findet sich ein Interview mit der Autorin der Studie zu Deutschland, Alex Wischnewski: «Die Sehnsucht nach dem Kümmern»

Neben einer deutschen Studie liegen weitere Studien in englischer Sprache aus Griechenland, Spanien, Irland, der Ukraine vor. Studien zu Kroatien, Russland, Polen und Litauen folgen in Kürze.

  • Griechenland: The gendered aspects of the austerity regime in Greece: 2010 – 2017 Aliki Kosyfologou
  • Spanien: Economic Boom, Recession and Recovery in Spain: The Permanent Care Crisis and its Effects on Gender Equality. The Search for Feminist Alternatives. Inés Campillo Poza
  • Ukraine: Crisis, War and Austerity: Devaluation of Female Labor and Retreating of the State. Oksana Dutchak
  • Deutschland: Wer ist hier «Krisengewinner»? Auswirkungen von neoliberalem Staatsumbau und politischem Rechtsruck auf das Leben von Frauen in Deutschland. Alex Wischnewski
  • Irland: Irish Feminist Approaches against Austerity Regimes Mary P. Murphy and Pauline Cullen
  • Russland: «Should women have more rights?» Traditional Values and Austerity in Russia Marianna Muravyeva
  • Kroatien: «Death by a Thousand Cuts» - Impact of Austerity Measures on Women in Croatia Marija Ćaćić and Dora Levačić
  • Litauen: Austerity Policies in Lithuania - Austerity, Gender Inequality and Feminism after the Crisis in Lithuania Severija Bielskytė and Jolanta Bielskienė
  • Polen: Unsatisfactory Success and Hidden Austerity Policies. Feminist Approaches to the Austerity Paradigm. Agata Czarnacka

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Wie wirkt sich Sparpolitik auf Geschlechterrollen in der Familie aus? Wer übernimmt Erziehung und Pflege von jung und alt, wenn der Staat keine Unterstützung mehr bietet? Was heißt es, wenn Gleichstellungsbeauftragte gleichzeitig mit dazugehörigen Förderprogrammen weggespart werden? Wo bleiben Frauen, wenn es keine Zufluchtsstätten für Opfer häuslicher Gewalt gibt? Wer bringt die ungewollten Kinder durchs Leben, wenn Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr erlaubt sind?

Eine Reihe an Studien zeigen eine Topografie dessen, welche Auswirkungen das Spardiktat in Europa auf Geschlechterverhältnisse hat und formulieren Forderungen einer linken feministischen Politik, die auf sozialer Gerechtigkeit und einer Gleichstellung der Geschlechter basiert.

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Ein bundesweiter Mietendeckel ist verfassungsrechtlich möglich, verbessert flächendeckend den Schutz vor steigenden und überhöhten Mieten und leistet damit einen unverzichtbaren Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage. Zu diesen Ergebnissen kommt die Studie, die der Stadtsoziologe Andrej Holm und der Fachanwalt für Mietrecht Benjamin Raabe im Auftrag der Fraktion DIE LINKE im Bundestag und der Rosa-Luxemburg-Stiftung verfasst haben. Zugleich könnten die staatlichen Ausgaben für Mietzuschüsse an einkommensärmere Haushalte gesenkt werden. Allein in den 42 untersuchten Großstädten kann ein bundesweiter Mietendeckel mehr als einer Million Haushalten das Wohnen zu einer leistbaren Miete ermöglichen. Jeder siebte Haushalt würde so entlastet – in den besonders von der Wohnungsnot betroffenen Gebieten sogar jeder vierte. Um das gleiche Ziel zu erreichen, wären staatliche Mietzuschüsse, etwa durch Wohngeld, in Höhe von 5 Milliarden Euro pro Jahr nötig. Mit den vorgeschlagenen Regelungen kann erreicht werden, dass bezahlbarer Wohnraum erhalten und auch Menschen mit geringen Einkommen vor Verdrängung geschützt werden. Zudem zielen die Reformen darauf ab, Anreize zur Investition in den Wohnungsneubau anstelle von mietsteigernden Aufwertungen im Bestand zu setzen.

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»Wir haben nicht satt«

Mai 2018 • Barbara Fried im Gespräch mit Michael Bättig

Krise, Organisierung#Krise #Organisierung

Gutes Essen ist meist etwas für Menschen mit gehobenem Lebensstandard. Nicht nur wegen der Preise. Essen ist auch eine Kulturpraxis, über die sozialer Status (re)produziert wird. Wie kommt ihr als Arbeitsloseninitiative dazu, euch mit Ernährungsfragen zu beschäftigen?

Es fing damit an, dass die Ausgaben für Schnaps, Smartphone und Videostreaming zunehmend den Anteil für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke im Hartz-IV-Regelsatz auffraßen. Als wir eine Erhöhung forderten, rieten uns auch wohlmeinende Menschen, wir sollten doch erstmal mit dem Rauchen aufhören und die Heizung beim Lüften ausdrehen. Man könne sich doch auch mit wenig Geld gesund und ökologisch ernähren. Tatsächlich steigt seit Jahren der Pro-Kopf-Energieverbrauch für Wohnen, Essen, Auto, Reisen proportional zur Höhe des Einkommens. Und zwar völlig unbeeinflusst vom pseudogrünen Postwachstumsdiskurs und unabhängig von Bildungsstand und politischer Einstellung.[1] Auf der ersten »Wir haben es satt«-Demonstration 2011 in Berlin haben wir es auf unserem Flugblatt so ausgedrückt: »Ehrlich gesagt: Wir haben nicht satt! Wie auch: 4,83 Euro sind für einen Erwachsenen für Essen und Trinken pro Tag im Hartz-IV-Regelsatz vorgesehen, für ein 14-jähriges Kind 3,99 Euro. Davon wird niemand satt. An gesunde oder gar Bio-Lebensmittel ist nicht zu denken. Was bleibt, ist der Weg zum Discounter. Und da schauen wir nicht auf Gentechnik oder faire Produktion, sondern nach den günstigsten Preisen. Weil sonst am Ende des Geldes zu viel Monat übrigbleibt. Die Aufforderung, wir sollten doch uns und unsere Kinder gesund ernähren, hört sich gut an – führt aber in der Regel nur zu einem sparsamen Gesichtsausdruck. Ihr schüttelt über unsere ›Konsumgewohnheiten‹ den Kopf, und wir halten Eure Bioläden für Luxus.«[2] 

Ihr habt viel Aufmerksamkeit bekommen, als ihr gemeinsam mit Bäuer*innen faire Preise und »gesundes Essen für alle« gefordert habt.

Unsere Bündnisarbeit in diesem Bereich begann mit den europäischen Bauernprotesten 2008/09. Damals wurde mit Blockaden, Demonstrationen, Streiks und Misthaufenvor Regierungsgebäuden für höhere Milchpreise gekämpft. Bäuer*innen in unserer Region, die im Bundesverband Deutscher Milchviehhalter organisiert waren – eine Alternative zum traditionellen Bauernverband, der eher Lobbyist der Agrarindustrie ist –, wollten damals mit anderen gesellschaftlichen Gruppen wie Studierenden und Erwerbslosen zusammenarbeiten. So haben wir angefangen, über gemeinsame Interessen und dann auch Aktionen nachzudenken. Wir haben Kontakte zu Gewerkschaften, zu kirchlichen Organisationen und sozialen Einrichtungen geknüpft und das bundesweite Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum initiiert. Gemeinsam blockierten wir zum Beispiel einen Schlachthof, um gegen Lohndumping zu protestieren, oder einen Hafen aus Protest gegen Futtermittelimporte aus der »Dritten Welt«. Und wir waren auch bei anderen Aktionen wie den »Wir haben es satt«-Demos dabei. Über die Zeit ist in der Region ein informelles Netzwerk sozialer und ökologischer Initiativen entstanden.

Dass Erwerbslose sich gegen Lohndumping organisieren, ist nicht selbstverständlich. Wie genau mobilisiert ihr, wenn es um diese Themen geht?

Rund ein Drittel aller Haushalte in Deutschland hat für Lebensmittel ungefähr so viel zur Verfügung wie auch im Hartz-IV-Regelsatz vorgesehen ist: pro Monat etwa 145 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen. Das reicht für eine halbwegs ausgewogene Ernährung (nicht bio!) auch dann kaum, wenn man den ganzen Tag damit verbringt, den billigsten Angeboten hinterherzurennen. Dieses Problem betrifft also längst nicht nur Menschen im Hartz-IV-Bezug. Zugleich sind die Lebensmittelpreise Druckmittel für Löhne. 300.000 Bäuer*innen ernähren in Deutschland 80 Millionen Menschen. Ihre Produkte werden zu über 90 Prozent von fünf Ketten vermarktet: Edeka, Rewe, Aldi, Lidl und Metro. Sie diktieren Preise, Qualität, die Bedingungen der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung. Ihre wachsende Marktmacht bedroht die Existenz kleiner Lebensmittelproduzent*innen. Sie sind verantwortlich für unmenschliche Löhne und Arbeitsbedingungen weltweit und zerstören mit den immer weiteren Transportwegen die Umwelt. Mit Hartz IV sind wir aber gezwungen, bei Aldi und Lidl einzukaufen. Wir werden als Rechtfertigung für den Preiskrieg der Discounter missbraucht. Billiglöhne sind nur mit billigen Lebensmitteln möglich und billige Lebensmittel sind nur mit Billiglöhnen herzustellen. Auf diesen Zusammenhang versuchen wir unsere Leute hinzuweisen. Uns ist die Qualität unserer Ernährung und unserer Umwelt nicht egal. Und uns ist auch nicht egal, unter welchen Bedingungen die Lebensmittel produziert werden und wie dabei mit der Umwelt und den Tieren umgegangen wird. Die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze ist also keine isolierte Forderung, sondern Teil eines größeren Projekts. Konkret mobilisieren wir je nach Anlass hier im Arbeitslosenzentrum, über unsere Sozialberatung oder über befreundete Initiativen und Bündnisse. Einmal im Monat, an den »Zahltagen«, sind wir vor dem Jobcenter, verteilen Flugblätter und sprechen mit den Leuten. Außerdem schreiben wir natürlich Artikel und geben Interviews, so wie euch gerade.

Was müsste passieren, um mit diesem größeren Projekt weiterzukommen?

Die Kunst der politischen Aufklärung besteht zurzeit darin, konkrete Handlungsperspektiven aufzuzeigen – jenseits der Ideologie, dass das individuelle Konsumverhalten für die globale Nahrungsmittelproduktion verantwortlich ist, und jenseits davon, einfach resignativ-fatalistisch weiterzugrillen, weil sich ja strukturell eh nichts ändern lässt. Seit ein paar Jahren kauft die ALSO für das wöchentliche öffentliche Frühstück im Arbeitslosenzentrum im benachbarten Bioladen ein. Das hat den Kapitalismus bislang nur wenig erschüttert, führt aber zu Diskussionen und neuen Verbindungen zwischen Menschen und Initiativen. Für die größeren Veränderungen müssen die sozialen und ökologischen Projekte vor Ort zusammenfinden. In diesem Sinne weiten wir aktuell unsere Sozialberatung auf die angrenzenden Landkreise Vechta und Oldenburg aus. Dort befinden sich europäische Zentren der industriellen Fleisch- und Nahrungsmittelproduktion. In den letzten 15 bis 20 Jahren wurde hier vor allem mit Leiharbeiter*innen aus Osteuropa ein riesiger Billiglohnsektor aufgebaut, in dem zum Teil unvorstellbare Ausbeutungs- und Lebensverhältnisse herrschen. Betroffene berichten, dass sie von Vorarbeitern rassistisch beschimpft und in einzelnen Fällen gar geschlagen werden. In unseren Beratungsgesprächen erfahren wir davon und teilen dies auch anderen Beratungsstellen und Gewerkschaften mit. Leider nehmen auch namhafte Bio-Lebensmittelproduzenten die Dienstleistungen solcher Betriebe in Anspruch, zum Beispiel für die Ausstallung der Tiere vor dem Schlachten. Inzwischen ist es uns gelungen, in den migrantischen Communities Vertrauen aufzubauen. Wir leisten in Kooperation mit lokalen Gewerkschafts-, Kirchen- und Wohlfahrtsverbänden direkte Unterstützung für Betroffene, um Ansprüche gegen die Jobcenter durchzusetzen und um die Wohnverhältnisse zu verbessern. Hier gibt es vonseiten der Nahrungsmittelgewerkschaft NGG, der IG BAU und ver.di durchaus ernsthafte Organisierungsbemühungen und eine gute Zusammenarbeit bei Beratungen und Aktionen.

Wie reagieren Gewerkschafter*innen denn auf eure Forderung nach höheren Regelsätzen?

Naja, wenn es direkt um die Erhöhung des Regelsatzes oder gar ein Grundeinkommen geht, tun sich Gewerkschafter*innen noch immer schwer. Einkommen und Erwerbsarbeit zu entkoppeln ist angstbesetzt – das sieht man ja momentan auch bei der Rentendiskussion. Gerade deshalb weisen wir ja auf den Zusammenhang von Arbeits- und Produktionsbedingungen, von Dumpingpreisen im Discounter und niedrigen Hartz-IV-Sätzen hin. Vor Ort konkret zusammenzuarbeiten, erleichtert das gegenseitige Verständnis. Aber es ist auch noch ein Stück Weg zu gehen.

Was ist für euch das Wegweisende an dieser Bündnisarbeit?

Neue sozialökologische Bündnisse lassen sich nicht darauf reduzieren, dass Erwerbslose auch Biolebensmittelkaufen wollen. Lebensmittel sind nicht nur Mittel zum Leben, sie sind auch ein Vehikel, um Profite zu maximieren. Die enormen Produktivitätsfortschritte in der Landwirtschaft haben großen Anteil daran, dass die Kosten zur Wiederherstellung der Arbeitskraft so gering bleiben konnten. Wenn die Lebensmittel billig sind, brauchen die Löhne nicht so hoch zu sein, und die Profite steigen. Wir sehen deshalb zentrale Auseinandersetzungen in der Nahrungsmittelproduktion mit ihren zerstörerischen Auswirkungen auf Mensch und Natur und im Dienstleistungs- und Handelssektor mit der verschärften Ausbeutung der meist migrantischen Arbeitskräfte. Hier liegt der materialistische Kern der neuen Bündnisse aus Gewerkschaften, Bauern- und Umweltverbänden, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Erwerbslosennetzwerken. Was wir daraus machen, liegt auch an uns. Anders als in klassischen gewerkschaftlichen Kämpfen für mehr Lohn geht es uns darum, warum und wie produziert wird und um das, was wir unter einem »guten Leben für alle« verstehen. Wir kämpfen darum gegen die Exportorientierung der Agrarindustrie und für eine ökologische, faire, regionale und bäuerliche Landwirtschaft. Und natürlich kämpfen wir für eine ausreichende Grundsicherung auf europäischer Ebene, damit wir alle uns ökologisch und fair produzierte Lebensmittel leisten können. Und den Schnaps.

Anmerkungen

[1] Vgl. Umweltbundesamt, 2016: Repräsentative Erhebung von Pro-Kopf-Verbräuchen natürlicher Ressourcen in Deutschland, Berlin. 

[2] Die Zahlen sind für 2018 angepasst.

Michael Bättig ist seit mehr als 30 Jahren in der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) aktiv. Die ALSO ist eine der ältesten unabhängigen Erwerbsloseninitiativen in der Bundesrepublik.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-haben-nicht-satt

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Lebensmittel sind nicht nur Mittel zum Leben, sie sind auch ein Vehikel, um Profite zu maximieren. Michael Bättig, aktiv in der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), spricht im Interview über den Zusammenhang von Arbeits- und Produktionsbedingungen, von Dumpingpreisen im Discounter und niedrigen Hartz-IV-Sätzen. Die Arbeitsloseninitiative knüpft erfolgreich neue sozial-ökologische Bündnisse. Anders als in klassischen gewerkschaftlichen Kämpfen für mehr Lohn geht es ihnen darum, warum und wie produziert wird und um das, was wir unter einem »guten Leben für alle« verstehen.

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In den großen Städten explodieren die Mieten, bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Das birgt sozialen Sprengstoff. Dass es problematische Folgen hat, Wohnraum marktförmig zu organisieren, ist eine alte linke Erkenntnis. In der aktuellen Wohnungskrise ist sie vielen neu bewusst geworden.

Stadtpolitik ist aber auch ein Feld der politischen Hoffnung und des solidarischen Widerstands. In Hausgemeinschaften und Nachbarschaften, mit Kampagnen und Demonstrationen machen immer mehr Menschen gegen den Mietenwahnsinn mobil. Die Forderung nach Enteignung großer Immobilienkonzerne gewinnt ungeahnte Zustimmung. Diese Proteste haben die Wohnungsfrage wieder auf die politische Agenda gesetzt.

Wie kann eine Wohnungspolitik aussehen, die sich am Gemeinwohl orientiert, die Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausspielt, die inklusiv und zugänglich für alle ist? Dies beleuchtet diese Ausgabe der Zeitschrift «LuXemburg» 2/2019 zu Wohnungskrise und Stadtpolitik.

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Der Fokus der Ökonomisierungsstudie wurde auf den Wandel von Bildung in Deutschland gerichtet mit dem Ziel, für die Komplexität und Subtilität ökonomisierender Veränderungen zu sensibilisieren. Mit den Bildungsreformen seit Ende der 1990ern und der Umstellung auf ein wettbewerbs- und output-orientiertes Bildungssystem wird der Wert der Bildung gesellschaftspolitisch neu verhandelt und bestimmt.

Zuerst werden die Eckpunkte von Ökonomisierung historisch-theoretisch skizziert. Die ökonomisierenden Transformationen von Bildung beleuchtet die Studie auf drei Ebenen: Strukturveränderungen, Diskurse und Normen. Damit werden nicht nur geldbasierte und profitorientierte Ökonomisierungsformen (z. B. gewinnorientierte Privatschulen und Universitäten) in den Blick genommen, sondern auch nichtmonetäre Formen von Ökonomisierung wie etwa den Wettbewerb um beste Schulen und Köpfe. Anhand von Fallbeispielen werden Formen und Effekte von Ökonomisierung im Bildungsbereich exemplarisch dargestellt.

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Fast alle sind irgendwann darauf angewiesen, gepflegt zu werden: sei es durch Krankheiten, körperliche Einschränkungen oder aufgrund des Alters. Dann brauchen wir Menschen, die uns im Alltag helfen, aber auch Aufmerksamkeit und Zeit schenken. In dieser Situation möchten wir würdevoll behandelt werden und selbst entscheiden, wer uns wie und wo pflegt – unabhängig von Herkunft, Wohnort oder Geldbeutel.

Die Realität sieht leider anders aus. Der «Pflegenotstand» ist zum medialen Schlagwort geworden. Viele machen sich Sorgen, dass sie oder ihre Angehörigen in Armut leben müssen, wenn sie Pflege benötigen. Und viele haben Angst, allein zu bleiben, wenn sie auf Unterstützung angewiesen sind. Diese Ängste sind auch Ausdruck eines löchrigen und sozial ungerechten Pflegesystems.

Diese Broschüre zeigt die Probleme und deren Ursachen im heutigen Pflegesystem in Deutschland auf, nennt Forderungen und Alternativen und sucht schließlich nach Ansätzen, wie sich diese durchsetzen lassen könnten.

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Austerität in Folge der Weltwirtschaftskrise fand in Deutschland nicht als Schocktherapie statt wie in anderen europäischen Ländern. Vielmehr führte sie die Neoliberalisierung des (Sozial-)Staates, die erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die soziale Infrastruktur hat, weiter. Die sich dadurch verfestigende soziale Ungleichheit geht überwiegend auf Kosten von Frauen. Sie besiedeln den Niedriglohnsektor und stecken in der Teilzeitfalle, sie fangen die Folgen der Care-Krise auf und sind Angriffspunkt einer in dieser Situation erstarkenden Rechten. Feministische Bewegungen nehmen dies zunehmend in den Blick und können damit auch im «Herzen der Bestie» Solidarität mit Frauen in ganz Europa beweisen.

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Die Reproduktionskrise feministisch politisieren

Zwischen neoliberaler Humankapitalproduktion und rechter Refamilialisierung

August 2017 • Katharina Hajek

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Pflege, Hausarbeiterinnen, Krise, Feminismus#Pflege #Hausarbeiterinnen #Krise #Feminismus

Das Insistieren darauf, dass wir es gegenwärtig mit einer Krise der sozialen Reproduktion zu tun haben, stellt eine der wichtigsten Interventionen der progressiven, queer-feministischen Linken in herrschende Krisendeutungen dar. egen eine Individualisierung sollen die strukturellen Ursachen von Erfahrungen aufgezeigt werden, die viele im Füreinanderdasein in seiner unterschiedlichsten Form erleben: Erschöpfung, Überforderung, Frust oder das Gefühl der Unzulänglichkeit. Staatliche Austeritätspolitik, Privatisierungen und der markteffiziente Umbau des Wohlfahrtsstaates werden so als Ursachen einer Prekarisierung von Arbeit im öffentlichen Dienst wie auch der flächendeckenden Aushöhlung der öffentlichen Daseinsvorsorge benannt. Die Familie – meist der Verantwortungsbereich von Frauen – kann dies nicht zur Gänze kompensieren, da die gestiegene Frauenerwerbstätigkeit sowie der Druck in vielen Arbeitsverhältnissen schlicht nicht die Zeit und Energie dafür lassen, Pflegeverantwortungen im vollen Ausmaß nachzukommen. Das reibt einerseits den Alltag zwischen Lohnarbeit und Sorgeverantwortungen auf und führt andererseits – dort wo das Familieneinkommen hoch genug ist – zur Auslagerung dieser reproduktiven Arbeiten an meist migrantische, schlecht bezahlte Hausarbeiterinnen in halblegalen Arbeitsarrangements. Zur queer-feministischen Politisierung der Krise der Reproduktion gehört jedoch auch das Aufzeigen der Kämpfe, die dadurch angestoßen wurden. Die Initiative der Care Revolution, die Arbeitskämpfe an der Berliner Charité oder jüngste Initiativen gegen Gentrifizierung und Vertreibung zeigen, dass diese Krise auch mobilisierendes Potenzial hat. Neue Bündnispolitiken, die sich auf das gegenseitige Angewiesensein von Sorgenden und Umsorgten beziehen, werden ebenso diskutiert wie das transformatorische Potenzial von Kämpfen, die an den alltäglichen, reproduktiven Beziehungen ansetzen, in die wir alle eingebunden sind: für den Kampf um neue Verhältnisse und für eine andere Art, sich ins Verhältnis zu setzen (vgl. Dück/Fried 2015).

Doch nicht nur die progressive Linke redet von der Krise der sozialen Reproduktion. Im Gegenteil wird diese Krisendimension gegenwärtig – eher noch als die Wirtschafts- oder ökologische Krise – sowohl von den herrschenden Kapitalfraktionen als auch von der aufstrebenden Neuen Rechten als solche erkannt, benannt und versucht zu bearbeiten. Wie auch bei den progressiven Kräften geht es dabei stets in der einen oder anderen Form um die Krise der Reproduktion der Arbeitskraft wie auch der Bevölkerung. Die Krise der sozialen Reproduktion ist somit ein umkämpftes Terrain und ein Interventionspunkt für unterschiedlichste Interessen.

Neoliberale Humankapitalproduktion

So forcieren die Arbeitgeberverbände in Deutschland seit nunmehr einigen Jahrzehnten einen Krisendiskurs um die Frage der Reproduktion der Arbeitskraft und der Bevölkerung. Der „demografische Wandel“ ist dabei die zentrale Chiffre. Bereits in der Rentendiskussion wurde ab den 1990er Jahren vor einer „Überalterung der Gesellschaft“ gewarnt, wonach immer weniger Beitragszahler*innen eine immer Größere Gruppe an Leistungsbezieher*innen finanzieren müssen. Der sogenannte PISA-Schock im Jahr 2000, das im internationalen Vergleich schlechte Abschneiden deutscher Schüler*innen, fügte der Diskussion um die Reproduktion des Humankapitals eine qualitative Dimension hinzu und ließ keine rosigen Aussichten für das zukünftige Arbeitskräftepotenzial der ‚Wissensökonomie Deutschland’ zu. Gerahmt wurden diese Diskurse vor allem in den 1990er und 2000er Jahren von medial vermittelten Bildern von „menschenleeren Landstrichen“, „schrumpfenden Städten“ und „leeren Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen, die nach und nach in Alten- und Pflegeheime umgewandelt werden“ (vgl. Auth/Holland-Cunz 2007). 

Ab 2002 setzt das Kabinett Schröder II diesen Entwicklungen eine „nachhaltige“ und „bevölkerungsorientierte Familienpolitik“ entgegen, die später auch von der CDU übernommen wurde und die Familienpolitik in Grundzügen bis heute prägt. Damit erfolgte die Hinwendung zu einer aktiven Bevölkerungspolitik, die neben einer forcierten Erwerbsintegration von Müttern vor allem auf eine Geburtensteigerung setzt. Wirft man einen Blick auf die ihr zugrundeliegenden Expertisen, die vom Familienministerium gemeinsam mit familienpolitisch früher eher wenig engagierten Akteuren wie der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) oder dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) erstellt wurden, so wird die Reproduktionskrise so explizit wie nie zuvor reflektiert. Das diagnostizierte Geburtendefizit stellt sich vor allem als Problem des fehlenden "Humanvermögens" für den deutschen Wirtschaftsstandort dar. Die schrumpfende Bevölkerung führe nicht nur zu einer Reduzierung, sondern auch zu einer „Überalterung“ des Arbeitskräftepotenzials. Der fehlende „Bildungshunger“ und die nachlassende „Innovationsfähigkeit“ einer ‚alten’ Bevölkerung zeigten auch betriebswirtschaftliche Folgen, da ältere Arbeitnehmer*innen vermeintlich weniger flexibel, weiterbildungsfreundlich und damit weniger produktiv sind. Gesellschaft wird hier zur Belegschaft, die Reproduktion des Humankapitals zur Frage nach der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. 

Diese Politik ist dabei „selektiv pronatalistisch“ (Schultz 2012): Nicht nur einfach mehr Geburten sollen es sein, sondern vor allem gut ausgebildete Frauen sollen Kinder kriegen. Sie sind es, die ihr Humankapital an ihre Kinder weitergeben sollen. Die einkommensabhängige Gestaltung des Elterngeldes ab 2007 sollte die Elternzeit insbesondere für Gutverdienende attraktiver machen, während dieselbe Leistung Hartz-IV-Empfänger*innen seit 2010 de facto gestrichen wurde. Auch beim Ausbau der Kinderbetreuung greift diese Rationalität, die über die Hartz-IV-Reformen gegenfinanziert werden sollte. Während das erweiterte Angebot an Kleinkindbetreuung der erfolgreichen Karrierefrau eine baldige Rückkehr ins Erwerbsleben ermöglichen sollte, wird in Bezug auf „bildungsferne Eltern“ gerade umgekehrt argumentiert: Die Tagesbetreuung bietet die Möglichkeit, die Kinder aus diesen Familien ‚herauszuholen’ und das Humankapital früh in einem professionalisierten Umfeld zu fördern.

Rechte Bevölkerungspolitik und die heteronormative Familie

Auch die aufstrebende Neue Rechte geht von einer Krise der Reproduktion aus, verknüpft dies jedoch mit einer anderen Problematik. Weniger die quantitative und qualitative Reproduktion der Arbeitskraft als die Sorge um die Reproduktion der ‚deutschen’ Bevölkerung und Gesellschaft stehen hier im Zentrum (vgl. Hentschel in dieser Online -Sonderausgabe). Die AfD greift den herrschenden Diskurs um den demografischen Wandel dabei dankbar auf, übersetzt ihn jedoch in eine vermeintliche „Selbstabschaffung“ Deutschlands (AfD 2017, 37). Nicht der internationale Standortwettbewerb, sondern der ‚demografische Druck’ und die Migrationsbewegungen aus dem globalen Süden machen die negative Geburtenbilanz hier zu einer „Bedrohung Europas“ (ebd., 30). 

Die Krise der Reproduktion ist hier eng mit der Krisenerzählung der heterosexuellen Familie verbunden, die rassistische Dimension in den Biopolitiken der Rechten ist also nicht zu trennen von ihrer heteronormativen. Die rechtskonservative Rede von der Familie als „Keimzelle“ ist hier im doppelten Sinne zu verstehen, da – wie es die Vorsitzende der Initiative Christen in der AfD, formuliert – „in diesen sich ergänzenden Geschlechtern [die] biologische und soziale Zukunftsfähigkeit jeder Gesellschaft“ liegt (Schultner 2014). Die geschlechterhierarchische Familie sorgt in diesem Gesellschaftsbild nicht nur für die physische Reproduktion, indem sie Kinder ‚produziert’. Sie ist auch Dreh- und Angelpunkt für die kulturelle und soziale Reproduktion von Gesellschaft: „Stabile Familien sind die Mitte und Grundlage jeder sich selbst erhaltenden Gesellschaft, in der Wohlstand und sozialer Frieden herrschen und Werte weitergegeben werden.“ (AfD 2017, 37). Will heißen: Nur die heteronormative, privatisierte Konstellation von Vater und Mutter garantiert hier die Ausbildung von ‚normalen’ Identitäten und die Weitergabe der damit verbundenen Werte und normativen Orientierungen. Ehe und Familie gelten folglich auch als „staatstragende Institut [...], weil nur dieses das Staatsvolk als Träger der Souveränität hervorbringen kann“ (ebd., 40). Kommen Zweigeschlechtlichkeit und Familie ins Wanken – wie von der Neuen Rechten befürchtet – gerät also nicht nur die quantitative Reproduktion der (‚deutschen’) Bevölkerung in Gefahr, sondern die Gesellschaft als solche. 

Die rechten Bearbeitungsformen, um dieser Reproduktionskrise beizukommen, haben ebenso eine quantitative wie qualitative Seite. Die AfD fordert einerseits die Schließung der Grenzen, die Verhinderung der Zuwanderung sowie eine Beendigung der Abwanderung. Die Rede von der Wiederherstellung der „nationalen Souveränität“ (ebd., 30) steht hier für eine starke Exekutive, die diese Biopolitik in Form von Grenzsicherung und Abschiebungen auch umsetzt. Andererseits wird auch hier – sozusagen als Steigerungsstufe zur neoliberalen Familienpolitik – eine „aktivierende Familienpolitik“ und „nationale Bevölkerungspolitik“ (ebd., 37) gefordert. Ehe und Familie sollen hier ebenso gefördert werden (ebd.) wie die „familiennahe“, sprich häusliche Betreuung von Kindern (ebd., 39) und der „Schutz des ungeborenen Lebens“ (ebd.).

Neoliberale und rechte Biopolitiken als Hegemoniepolitiken

Beide Krisenerzählungen, die des „progressiven Neoliberalismus“ (Fraser 2017) wie auch die der Rechten, ‚greifen’, weil sie jeweils mit spezifischen Geschlechterpolitiken verbunden werden. Sie knüpfen jeweils an alltägliche Erfahrungen an, artikulieren spezifische Vorstellungen über die Gestaltung des Gemeinwesens und bieten Identifikationsangebote. Kurz: Sie können als Hegemoniepolitiken verstanden werden (vgl. Nowak 2010). 

So ist die „nachhaltige Familienpolitik“ auch als Wahltaktik der CDU zu verstehen, um für urbane und gut ausgebildeten Wähler*innen attraktiv zu sein. Diese neoliberale Biopolitik greift dabei durchaus alte feministische Forderungen nach dem Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung, der Erwerbsintegration von Frauen und der Förderung ihrer (finanziellen) Unabhängigkeit auf, reartikuliert sie jedoch in einer Weise, die im letzten Wahlkampf mit Bezug auf Hillary Clinton als business feminism bezeichnet wurden. Anstatt Emanzipation als gesamtgesellschaftliches Projekt zu begreifen, wird diese über den individualisierten Aufstieg einzelner Frauen redefiniert, Fortschritt auf das Durchbrechen ‚gläserner Decken’ reduziert (vgl. Fraser 2017). Im Kontext der Diskussion um Quoten, Work-Life-balance und Diversity-Management kommt es so zu einer Aufwertung einer spezifischen ‚Karriere-Weiblichkeit’. Diese ist zwar eine attraktive Anrufung für eine spezifische Gruppe von Frauen, kann aber nicht als umfassende Subjektivierungsweise fungieren. Gerade die eingangs aufgeworfenen Fragen der materiellen, physischen wie psychischen Reproduktion im Alltag vieler Menschen werden hier ausgespart. Die damit verbundenen Hierarchien und Arbeitsteilungen gerade unter Frauen lässt dieser Ansatz unangetastet. 

Während dieser corporate feminism die Defamilialisierung und Erwerbsarbeit von Frauen fördert, werden der Stress und Leistungsdruck, die schlechten Arbeitsverhältnisse und die Tatsache, dass immer mehr Menschen immer weniger Zeit für sich selbst und ihre Liebsten haben, nicht thematisiert. Genau dies wird von rechtskonservativen Akteuren wie der AfD aufgegriffen. Anstatt diese Kritik jedoch in die Forderung nach einer Umstrukturierung von Arbeitszeitmodellen, der Abschaffung des weiblichen Niedriglohnsektors und der Ausfinanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge zu übersetzen, wird eine erneute Familialisierung von Frauen und eine Reaktivierung des traditionellen Familien-Ernährer-Modells propagiert. Diese Geschlechterpolitiken nutzen dabei oft den Begriff der Wahlfreiheit, der in Deutschland konservativ bis rechts besetzt ist. Damit wird eine Politik angeboten, die es Frauen ermöglichen soll, sich den Zumutungen prekärer ‚Mac Jobs’ ebenso zu entziehen wie den damit verbundenen 60-stündigen Arbeitswochen. Sie können ‚zu Hause’ bleiben, ganz in ‚ihren’ reproduktiven Verantwortungen aufgehen und somit nicht zuletzt auch klaffende Reproduktionslücken schließen. Diese Geschlechterpolitik stellt eine Ankerkennung von Reproduktionsarbeit dar, wenn auch nur in der privatisierten, heteronormativen Form. 

Das fehlt dem neoliberalen Feminismus. Dabei darf man rechtskonservative Geschlechterpolitiken auch nicht dahingehend missverstehen, dass es hier einfach um eine weibliche Unterordnung und Zurückdrängung von Frauen aus der Öffentlichkeit geht. Mit Ausnahme vielleicht spezifischer Strömungen ist es eben nicht einfach ein bloßes „Frauen zurück an den Herd!“. Als Lebensform wäre das heute auch nur für eine verschwindend kleine Minderheit der Frauen interessant. Wenn man sich jedoch beispielsweise auf den von einer AfD-Vorfeldorganisation organisierten "Demos für Alle" umsieht, wo gegen die "Frühsexualisierung von Kindern" und "für die Familie" marschiert wird, bemerkt man, dass Mütterlichkeit als starkes Identifikationsangebot für Frauen fungiert. Hier wird ein neuer Maternalismus artikuliert, der Frauen gerade aufgrund ihrer vermeintlichen Fähigkeit zur Sorge, Pflege und familialen Rolle Präsenz und Mitsprache in der öffentlichen Diskussion zuspricht. Im Kontext einer nationalkonservativen Ideologie wird so eine ‚fürsorgende’, wiewohl ‚starke Weiblichkeit’ propagiert. Das ist eventuell bedeutend anschlussfähiger an viele Lebenserfahrungen, als man sich das auf den ersten Blick denken mag. 

Die Auseinandersetzung um die soziale Reproduktion findet also in einem umfassenden Sinne statt. Die feministische Linke begibt sich damit auf ein ‚beackertes Feld’. Was bedeutet dies nun für die Frage, wie die Reproduktionskrise feministisch zu repolitisieren ist? Im Anschluss an die oben dargelegte Konstellation können drei Punkte in diese Diskussion eingebracht werden.

Die Reproduktionskrise feministisch politisieren 

Erstens müsste es darum gehen, eine alternative Erzählung anzubieten, ohne Biopolitik zu betreiben. Genau diese Art von Politik ist mit den unterschiedlichen rechten wie neoliberalen Versuchen, die Krise der sozialen Reproduktion zu bearbeiten, immer auch verbunden: Sie umfassen bestimmte Vorstellungen, wie soziale Reproduktion von wem und unter welchen Umständen geleistet werden soll, wie Gesellschaft und Gemeinwesen gestaltet werden sollen. Damit werden notwendigerweise immer auch bestimmte vergeschlechtlichte Identifikationsangebote gemacht. Diese sind deshalb relativ erfolgreich, da damit auch jeweils an bestimmte Alltagserfahrungen angeknüpft wird und Zumutungen politisiert werden. Was wäre dem gegenüber eine emanzipatorische, queer-feministische Erzählung, die diesen neoliberalen und rechten Identifikationsangeboten und Gesellschaftsentwürfen entgegengehalten werden könnte? 

Dabei kann es nicht darum gehen, neue ‚Leitbilder’ oder Ähnliches zu formulieren, sehr wohl jedoch darum, ein Projekt und eine konkrete Vision davon anzubieten, wie Gesellschaft und die Organisation reproduktiver Zuständigkeiten aussehen können. Diese Erzählung müsste sowohl die Zumutungen immer prekärer werdender Arbeitsverhältnisse und die fehlende Zeit für sich und andere thematisieren als auch die Refamiliarisierung und Privatisierung von reproduktiven Verantwortungen sowie den damit verbundenen Sexismus kritisieren. Die Entwicklung dieser Erzählung kann nur im Zuge konkreter Aushandlungen und Kämpfe geschehen. Sie muss jedoch auch darüber hinaus weisen. 

Eine solche Erzählung erfordert zweitens, intersektional zu reflektieren, um sich so klar gegenüber neoliberalen oder rechten Biopolitiken abzugrenzen. Gegenüber dem nationalkonservativen Projekt erscheint dies noch relativ einfach. Gegenüber einer Familienpolitik, die Kindergärten ausbaut und reproduktive Leistungen etwa mit dem Elterngeld – im europäischen Vergleich – relativ hoch vergütet, sowie einem Feminismus, der Diversity und Empowerment von Frauen propagiert, ist das schon schwieriger. Eine queer-feministische Position muss hier die rassistischen und klassistischen Ausschlüsse, die mit dieser Politik verbunden sind, explizit benennen – und aktiv politisieren (vgl. Fried in dieser Ausgabe). Wer profitiert von diesem Feminismus? Und wer – und das sind schlicht viele mehr – profitiert davon nicht? 

Drittens würde es bedeuten, aktiv Familienpolitik zu betreiben. Es muss darum gehen, den Begriff der Familie von linksprogressiver Seite wieder zu besetzen. Die feministische Linke tut sich aufgrund der Rolle von Familie in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften wenig überraschend schwer mit einem positiven Bezug auf diesen Begriff. Trotzdem hat der Begriff das Potenzial, eine Reihe von queer-feministischen Forderungen und Positionen zu artikulieren, wie es schon mit Konzepten wie der Lebensformenpolitik oder Sorgegemeinschaften versucht wird. Zugleich umgeht der Begriff Familie aber die Gefahr, mit diesen Ideen in subkulturellen Diskussionen verhaftet zu verbleiben – er genießt nicht zuletzt eine ähnliche Popularität wie der Begriff der Demokratie. 

Will eine progressiv-feministische Position Reproduktionsverhältnisse repolitisieren, so muss sie in diesem Kontext dabei Familie als caring communities (und vice versa) fassen und sich dabei darauf beziehen, was Kath Weston bereits Anfang der 1990er Jahre im weitesten Sinne als „families we choose“ gefasst hat. Es müsse darum gehen, der Vielfalt bereits jetzt gelebter Familienformen Ausdruck zu verleihen und zugleich für die materiellen Bedingungen zu kämpfen, damit diese auch gelebt werden können. Um dabei der neoliberalen Privatisierung von reproduktiven Verantwortungen nicht noch mehr in die Hände zu spielen, ginge es darum, sich für den Ausbau, den freien Zugang und die Demokratisierung von reproduktiven Infrastrukturen wie etwa Kinderbetreuungs- oder Pflegeeinrichtungen stark zu machen. In diesem Kontext fordert eine queer-feministische Familienpolitik eine Reform des Eherechts, mehr Unterstützung für Alleinerziehende und die Anerkennung aller Formen des Füreinanderdaseins. Es würde mithin heißen, die Care Revolution auch von ihrer familiären, vielleicht – noch – privaten Seite in Angriff zu nehmen.

Literatur

Alternative für Deutschland, 2017: Programm für Deutschland. Wahlprogramm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum Deutschen Bundestag am 24. September 2017.

Butler, Judith, 2009: Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell?, in: dies., Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main, 167–213 .

Fraser, Nancy, 2017: Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2017, 71–76.

Fried, Barbara/Dück, Julia, 2015: Caring for Strategy. Transformation aus Kämpfen um soziale Reproduktion entwickeln, in: LuXemburg 1/2015, 84–93.

Hentschel, Susanne, 2017: Reproduktion der Klasse, Luxemburg-Online-Sonderausgabe 2017.

Holland-Cunz, Barbara, 2007: Alarmismus. Die Struktur der öffentlichen Debatte über den demographischen Wandel in Deutschland, in: Auth, Diana/Holland-Cunz, Barbara (Hg.), Grenzen der Bevölkerungspolitik. Strategien und Diskurse demographischer Steuerung, Opladen, 63–80.

Lang, Juliane, 2015: Familie und Vaterland in der Krise. Der extrem rechte Diskurs um Gender, in: Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (Hg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld, 167–182.

Nowak, Jörg, 2010: Familienpolitik als Kampfplatz um Hegemonie. Bemerkungen zur Leerstelle eines linken Feminismus, in: Auth, Diana/Buchholz, Eva/Janczyk, Stefanie (Hg.), Selektive Emanzipation. Analyse zur Gleichstellungs- und Familienpolitik, Opladen, 129–150.

Schultner, Anette, 22.11.2014, https://demofueralle/wordpress.com/service/demo-22-nov-14/videos/

Schultz, Susanne, 2012: Demografischer Sachzwang und politisiertes Gebären, in: LuXemburg 4/2012, 58–63.

Katharina Hajek promoviert zu den Themen Familien- und Biopolitik an der Universität Wien und ist Redaktionsmitglied der PROKLA.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: Die Reproduktionskrise feministisch politisieren | Zeitschrift Luxemburg (zeitschrift-luxemburg.de)

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Wir befinden uns in einer Krise der sozialen Reproduktion: Die Privatisierung sozialer Infrastrukturen, sowie der Rückbau des Sozialstaates haben zu einer weitreichenden Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen im Care-Sektor geführt. Daneben lastet die Sorgearbeit auf den Privathaushalten und somit auf dem Rücken von Frauen und Queers. Aus diesen Gründen muss eine queer-feministische Linke die Deutung der aktuellen Krise in die Hand nehmen und eine Bündnispolitik anstreben, die die Notwendigkeit des füreinander Sorgens in den Mittelpunkt stellt.

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Care-Arbeit: Vom bürgerlichen Liebesdienst zur »Freiwilligenarbeit« für alle

April 2016 • Gisela Notz

Foto: RLS

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Die Diskussion um Care-Arbeit ist nicht neu. Von der soziologischen Frauenforschung wurde schon lange kritisiert, dass den sogenannten »Reproduktionsarbeiten« zu wenig Bedeutung beigemessen wird. Mit dem Slogan „das Private ist politisch“ verlangten schon die Frauenbewegungen der 1970er Jahre eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Position der Frauen darin (vgl. Notz 2006). Dazu gehörte auch die Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung.Es gab viele Versuche, die „abgespaltenen Tätigkeiten“ (Scholz 2000, 18) theoretisch zu erklären und Strategien zu entwickeln, wie die mit der Trennung zwischen „privat“ und „öffentlich“ verbundenen geschlechts- und schichtspezifischen Arbeitsteilung sowie damit einhergehenden Diskriminierungen überwunden werden können: Von der Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“ (Dalla Costa/James 1973) bis zur Vergesellschaftung dieser Arbeitsform (Notz 2006, 46).

In diesem Text soll zunächst der Begriff der „Care-Ökonomie“ erläutert und seine gesellschaftliche Bewertung aufgezeigt werden, um anschließend an Hand der bis jetzt in der Care-Diskussion wenig beachteten „ehrenamtlichen“ Arbeit die Funktion von Care-Arbeit für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft zu verdeutlichen. Staat, Wohlfahrtsverbände und Kirchen weigern sich, notwendige Care-Arbeiten nach tarifvertraglichen Regeln zu bezahlen. Das führt zu einer weiteren Prekarisierung vor allem von Frauenarbeiten.

Zum Begriff der „Care-Ökonomie“

Seit einiger Zeit erlebt die Debatte unter dem Begriff „Care-Ökonomie“ eine Renaissance. Die Verwendung des Begriffs ist dabei vieldeutig. Care-Arbeit wird als Lohnarbeit, als selbständige Sorgearbeit, als „ehrenamtliche“ Gratisarbeit oder im eigenen Haushalt verrichtet. Die „ehrenamtliche“ Gratisarbeit (Notz 2012) wird in theoretischen Analysen der Care-Arbeit oft vernachlässigt. Die Frage, ob Prostitution (Sexarbeit) zur Care-Arbeit gehört, ist innerhalb der Genderforschung heiß umstritten. Auch Care-Arbeit als Assistenz für Menschen mit Behinderung ist noch zu wenig beleuchtet. Meiner Meinung nach gehört auch Widerstand gegen krankmachende Arbeits- und Lebensbedingungen, gegen Krieg und Umweltzerstörung zu Care-Arbeit. Die Unklarheiten machen den Umgang mit dem Begriff schwierig.

Fest steht, dass ohne Care-Arbeit das gesamte System der gesellschaftlichen Arbeit zusammenbrechen würde. Denn Care-Arbeit ist in einer kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft ebenso notwendig wie Produktionsarbeit. Sie ist die Kehrseite und die Voraussetzung der in Produktion, Landwirtschaft und Verwaltung geleisteten Arbeit. Care-Arbeit findet nicht, wie oft behauptet, ‚außerhalb‘ der kapitalistischen Produktionsverhältnisse statt, sondern ist Teil derselben. Sie ist auch keine andere ‚befreite Ökonomie‘, die nach Gesetzen und Handlungsrationalitäten jenseits des Wachstumszwangs und der Profitorientierung funktioniert (Chorus 2013).

In den bestehenden Geschlechterverhältnissen macht die in der Familie sowie sozialen Organisationen geleistete unbezahlte Care-Arbeit (meist Frauenarbeit) Marktaktivitäten (vorwiegend Männerarbeit) überhaupt erst möglich. Andererseits sind die bezahlt geleisteten Marktaktivitäten Voraussetzung für die angebliche Unbezahlbarkeit der Haus-, Sorge- und Fürsorgearbeiten. Um zu verstehen, warum Berufe, die Care-Tätigkeiten erfordert, nach wie vor niedriger bewertet werden als andere, „männlich“ konnotierte Erwerbsarbeiten, hilft ein Blick zurück in die Geschichte.

Bürgerlicher Liebesdienst

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war bürgerlichen Frauen der Zugang zu vielen Berufen und zu den Universitäten weitgehend versperrt, während Frauen und Kinder der arbeitenden Klasse bereits zu großer Zahl in den Fabriken arbeiten mussten, zu Hungerlöhnen und unter gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen. Für andere sorgen und andere pflegen war zunächst kein bezahlter Beruf, sondern wurde von bürgerlichen Frauen als soziale und karitative Dienste ehrenamtlich übernommen (vgl. Notz 1989). Dazu gehörte das Kochen der Armensuppe, das Versorgen von Verwundeten in den Lazaretten, die Versorgung von Kindern, deren Mütter in den Fabriken arbeiteten, Alten und anderen, die sich nicht selbst helfen konnten.

Die Frauen taten dies aus ‚christlicher Nächstenliebe‘. Eine Bezahlung wurde ihnen dafür nicht zuteil; meist verlangten sie diese auch nicht. Aufgrund ihrer Herkunft konnten sie es sich leisten, ohne Geld für ‚Gottes Lohn‘ zu arbeiten. Der Platz im Himmel schien ihnen dafür sicher; besagt doch schon das Matthäus-Evangelium: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Auch andere Bibelstellen verweisen darauf, dass die Versorgung der Hilfsbedürftigen als ein gottwohlgefälliges Werk zu betrachten sei, als ein Weg zur Sündenvergebung (Notz 1989, 44). So wurden die Menschen der Arbeiterklasse als Bedürftige zum Objekt der subjektiven Seelenrettung. Geholfen wurde aus Furcht vor der Hölle, um für begangene eigene Sünden zu büßen oder zumindest, um die eigenen sozialen Privilegien zu rechtfertigen.

Kritik der sozialistischen Frauenbewegung

Vertreterinnen der sozialistischen Frauenbewegung wandten sich gegen den weit verbreiteten Glauben der bürgerlichen Schwestern, „dass Wohltätigkeit, Armenpflege und allseitiger guter Wille die Mittel sind, das soziale Elend aus der Welt zu schaffen“ (Braun 1976, 64). Mit diesem Glauben verlören sowohl Wohltäter als auch Schützlinge die Empfindung für Gerechtigkeit und das Verständnis dafür, dass „jeder arbeitende Mensch ein Recht auf eine gesicherte Existenz hat“ (ebd.). Es sei nicht nur eine schreiende Ungerechtigkeit, sondern auch eine Kränkung, Menschen mit Almosen abzuspeisen. Die Proletarierinnen wollten das kapitalistische System radikal verändern und es nicht durch karitative Maßnahmen erträglicher gestalten. Vom Staat forderten sie die Schaffung von Lebensbedingungen, die Wohlfahrtspflege und Fürsorge überflüssig machen. Das Image der karitativen Arbeit bleibt bestehen...

Die Hoffnung der „ersten“ bürgerlichen Frauenbewegung, dass mit der Professionalisierung und der qualifizierten Ausbildung auch eine höhere Bewertung von Care-Arbeit einhergehen würde (Salomon 1902, 37), hat sich bis heute nicht erfüllt. Auch als die „wohltätigen“ Frauen durch die ersten Sozialen Frauenschulen formal qualifiziert waren, wurde weitestgehend davon ausgegangen, dass sie durch ihre Eltern, ihren späteren Ehemann oder eigenes Vermögen ‚versorgt‘ waren und weiter ohne Bezahlung arbeiten konnten.

Die „ehrenamtlichen“ Frauen begannen jedoch, Einfluss auf die Verwaltung und Gesetzgebung zu reklamieren und Bezahlung für ihre Arbeit zu verlangen. Dieses politische Engagement ging den (meist männlichen) Persönlichkeiten, die in der kommunalen Armenpflege arbeiteten, zu weit; sie standen den neuen Ausbildungsmöglichkeiten eher feindlich gegenüber: die öffentliche Armenpflege sei nicht geeignet sei, um aus der Hilfe und Sorge einen Lebensinhalt oder gar einen Beruf zu machen (vgl. Notz 2012, 32f). Die Professionalisierung schritt mit zunehmender Not der IndustriearbeiterInnen dennoch voran, vor allem während der Kriegsjahre wurde deutlich, dass ehrenamtliche Arbeit alleine nicht reicht.

Auch wenn es in den folgenden Jahrzehnten zu einem Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge, zu einer Verberuflichung und Professionalisierung vieler Care-Berufe und zu einer Veränderung von Geschlechterverhältnissen kam, wird in Kindergärten, in der Altenarbeit, in der Schule, in Jugendeinrichtungen und auch in der Gesundheitsversorgung noch immer viel un- und unterbezahlte Care-Arbeit geleistet. Das Image der karitativen Arbeit haftet den Berufen bis heute an. Es wird von den Kirchen und ihren Wohlfahrtseinrichtungen fleißig gepflegt. Auch wenn durchaus nicht mehr nur Frauen aus den bürgerlichen Schichten in den Einrichtungen arbeiten, scheinen die Care-Tätigkeiten Berufe für „opferfreudige Idealisten“ zu sein.

Ein Nebeneinander unterschiedlicher Arbeitsformen

Obwohl dieses Image eigentlich alle Care-ArbeiterInnen trifft, unterscheiden sich die Bedingungen zwischen einzelnen Bereichen extrem. Der Arbeitsmarkt im Care-Bereich besteht aus einem Nebeneinander unterschiedlichster Arbeitsformen. Die berufliche Vielfalt reicht von der gut bezahlten GeschäftsführerIn, über Beamte, Angestellte in unterschiedlichen Funktionen, Aushilfs- und Honorartätigkeiten, freie Mitarbeit, (oft) prekären Selbständigen, im Nebenberuf tätigen, in Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen Beschäftigte, geringfügig Beschäftigte, Mini-JobberInnen, Ein-Euro-JobberInnen und undokumentierte Beschäftigte bis hin zu GratisarbeiterInnen. Viele Vereine und vor allem Selbsthilfeorganisationen arbeiten schon lange „rein ehrenamtlich“ (Notz 1989, 108 f.).

Die Vielzahl der unterschiedlichen Arbeitsverhältnisse macht die Arbeitenden gegeneinander ausspielbar. Es entstehen Unterschichtungen zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen und „Ehrenamtlichen“. Aus Berichten geht hervor, dass durch die „neue Unübersichtlichkeit im Freiwilligensektor die Solidarität in vielen Einrichtungen zum Fremdwort geworden“ ist (TNS Infratest 2005, 11). Die Unterscheidung zwischen bezahlt und unbezahlt Arbeitenden wird so immer schwerer.

Das gilt auch für andere Care-Berufe: So arbeiten etwa 60 (Ost 75) Prozent der Erzieherinnen – oft ungewollt - in einer Teilzeitstelle, die meist nicht existenzsichernd ist. Jede fünfte Beschäftigte in Ost und West hat einen befristeten Vertrag. Zugleich hat der Erzieherberuf nach wie vor einen Männeranteil von um die vier Prozent (Groll 2015). Die Zahl der Mütter und Bezugspersonen, die „ehrenamtliche“ Care-Arbeit bei der Kinderbetreuung leisten, wächst. Das hängt mit einer neuen In-Dienst-Nahme von unter- bzw. schlechtbezahlter Care-Arbeit im Neoliberalismus zusammen. Denn für das unbezahlte Arbeitsvolumen wird mit dem Ruf nach Familien- und Gemeinsinn geworben, das Bezahlte fällt mehr und mehr dem Sozialabbau zum Opfer oder wird zur prekären Beschäftigung, von deren Ertrag vor allem Frauen ihre Existenz nicht eigenständig sichern können.

Die unbezahlten Care-Arbeiten nehmen in dem Maße zu, wie sie im bezahlten Bereich abgebaut werden (Notz 2012, 57ff.) Aus diesem Grunde verweisen PolitikerInnen immer wieder darauf, dass soziale Kontakte und Teilhabe, die die Gratisarbeit bietet, wichtiger seien als Geld. ‚Freiwilliges‘ Engagement soll glücklich, gesund und zufrieden machen, ja sogar für ein langes Leben sorgen, weil man aktiv das eigene Lebensumfeld mitgestalten kann (vgl. Wehner/Güntert 2015). Die Rhetorik kann nicht darüber hinwegtauschen, dass es um die Einsparung von Kosten geht.

Care-Arbeit als monetarisierte „Freiwilligenarbeit“

Im Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitswesen und besonders in der Altenhilfe und -pflege besteht eklatanter Personalmangel. „Wer pflegt uns, wenn wir alt sind?“, ist eine der großen Zukunftsfragen. Sie ist nach wie vor überwiegend Frauensache, egal ob in der professionellen Altenpflege, in der Familie oder in der ehrenamtlichen Gratisarbeit. Überall liegt der Frauenanteil zwischen 80 und 90 Prozent. Auf männlichen Nachwuchs kann nicht gehofft werden, denn nur 5 Prozent der AltenpflegeschülerInnen sind männlich (Pflegeagenten 2015).

Staat und Wohlfahrtsverbände suchen nach Lösungen, um den zunehmenden Bedarf an AltenpflegerInnen kostensparend zu decken. Arbeitsdienste im Sinne von sozialen Pflichtjahren werden immer wieder diskutiert - solche „Zwangsdienste“ wären aber ohne Verfassungsänderung schwer durchzusetzen. Wie also mit den „neuen“ Problemen fertig werden?

Freiwilligendienste für alle

Schon vor der Aussetzung des Zivildienstes wurde in der Bundesrepublik darüber diskutiert, wie die „Freiwilligendienste“ in verbindlichere und verlässlichere Strukturen gebracht und engagierte BürgerInnen auf personell unterversorgte Arbeitsbereiche konzentriert werden können, ohne dass sie dann dem Vorwurf eines Pflichtdienstes ausgesetzt sind. Mit dem „Gesetz zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes“ (BFD) hat die Bundesfamilienministerin ab April 2011 – zeitgleich mit dem Aussetzen des Zivildienstes – für Menschen aller Generationen ein völlig neues Arbeitsverhältnis geschaffen.

Die ‚freiwillige‘ Verpflichtung, für die alle Männer und Frauen aller Altersklassen nach Ableistung ihrer Schulpflicht angeworben werden – unabhängig von der deutschen Staatsangehörigkeit. Er dauert mindestens sechs und höchstens 18 Monate, umfasst 40 Stunden in der Woche für unter 27-Jährige und mindestens 20 Stunden für Ältere. Die „neue Freiwilligenarbeit“ wird in soziale und ökologische Bereiche, Sport, Integration und Kultur vermittelt. Schwerpunkte sind jedoch Care-Arbeiten wie Kinder- und Jugendbetreuung sowie Altenbetreuung und -pflege.

Die ArbeiterInnen sind während des Dienstes sozialversichert. Sie erhalten ein Taschengeld, das monatlich maximal 336 Euro bei einer Vollzeitbeschäftigung betragen darf. Alle großen Wohlfahrtsverbände sind an diesem Modell beteiligt und bekommen ca. 200 € Zuschuss, wenn sie eine Stelle einrichten. Fast 160.000 Männer und Frauen haben sich seit der Einführung 2011 beteiligt und sich in einem sozialen Projekt engagiert. Das spart nicht nur tariflich bezahlte Arbeitsplätze, sondern wertet die ohnehin schon geringschätzig behandelten Care-Berufe weiter ab.

Mit einer Erwerbsarbeit ist der „Freiwilligendienst“ nicht vereinbar. Auch bei reduzierter Stundenzahl müssen Nebentätigkeiten von der Einsatzstelle genehmigt werden Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-BezieherInnen dürfen 200 Euro von ihrem Taschengeld behalten und müssen in dieser Zeit keine andere Arbeit annehmen. Das macht den Dienst auch für Langzeiterwerbslose und für arme RentnerInnen interessant.

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD), hat zum 1. Dezember 2015 10.000 neue ‚Stellen‘ für den BFD geschaffen. Der Bundesfreiwilligendienst mit Flüchtlingsbezug soll sowohl einheimischen Freiwilligen als auch Asylberechtigten und AsylbewerberInnen mit guter Bleibeperspektive offenstehen. Flüchtlinge haben zudem die Möglichkeit, einen BFD auch in den regulären Bereichen abzuleisten – zum Beispiel in einem Seniorenheim. „Ich halte es für sehr wichtig, dass sich auch Flüchtlinge als Freiwillige engagieren – das stärkt den sozialen Zusammenhalt, hilft auch bei der Integration und auch beim Erlernen unserer Sprache“, so Manuela Schwesig (BMFSFJ 2016). Ein Schelm, der Böses dabei denkt? Der bereits verabschiedete und gesetzlich geregelte Mindestlohn kann so locker umgangen werden.

WohlfahrtsexpertInnen verwiesen schon lange darauf, dass es um die Zukunft der Pflege älterer Menschen in Deutschland nicht gut bestellt ist. Im Sozial- und Gesundheitsbereich und vor allem in der Altenpflege müssten mehr qualifizierte sozialversicherungspflichtige „reguläre Arbeitsplätze“ geschaffen werden. „Auf gute Pflege haben alle ein Recht, sie darf nicht arm machen“, sagt das Bündnis für Pflege, indem sich verschiedene Verbände, darunter auch die großen Wohlfahrtsverbände und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sowie der Deutsche Frauenrat zusammengeschlossen haben. Sie fordern maßgeschneiderte Leistungen für Pflegebedürftige, Unterstützung und Anerkennung für Angehörige, bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen und gerechte Finanzierung.

Mit der Förderung des BFD fährt der Zug in die entgegengesetzte Richtung. Zwar gebietet das Gesetz eine arbeitsmarktneutrale Ausgestaltung – das heißt, die Freiwilligen sollen lediglich „unterstützende, zusätzliche Tätigkeiten verrichten“ und keinesfalls hauptamtliche Kräfte ersetzen. Eine Abgrenzung ist aber kaum möglich. Arbeitsplatzbeschreibungen gibt es nicht. Sieht man sich die Stellenausschreibungen im Internet an, werden die Zweifel bestätigt. Auch der erste Evaluationsbericht, der ansonsten vor Lob strotzt, kann es nicht bestreiten: er stellt fest, dass „Tätigkeitsprofile, die stark an Erwerbsarbeit erinnern“, zu finden sind (Anheier u.a. 2012, 21). Der DGB Vorsitzende Michael Sommer kritisierte während seiner Amtszeit, dass durch den BFD „bestehende Arbeitsplätze verdrängt und neue Arbeitsplätze verhindert werden“ (Sommer 2012). Selbst die Beschränkung auf „unterstützende Tätigkeiten“ ist nicht unproblematisch. Denn wenn damit zwischenmenschliche emotionale Zuwendung für Kranke, Kinder, Alte oder andere der Hilfe Bedürftige gemeint ist, so sind das Tätigkeiten, die früher integraler Bestandteil der Berufe von Altenpflegerinnen, Krankenschwestern, Erzieherinnen oder Sozialarbeiterinnen waren.

Es besteht die Gefahr, dass die hauptberufliche soziale Grundversorgung wesentlich durch eine zu Niedrigstlöhnen beschäftigte Randbelegschaft aus Freiwilligen unterstützt wird, deren sozialer und emotionaler Einsatz nicht mehr „unbezahlbar“, sondern ganz wenig Wert ist.

Perspektiven

Der Bedarf an freiwilligen Care-Arbeiten wird in der Zukunft noch weiter zunehmen. Grund dafür ist nicht nur der demografische Wandel und die „zunehmende Erwerbsbeteiligung“ der Frauen, auf die nicht unbegrenzt als Hausfrauen zurückgegriffen werden kann. Auch die Zahl derjenigen, die auf Hilfe angewiesen sind, wird angesichts der globalen Krisen zunehmen.

Freiwillige Arbeit sollte neben einer existenzsichernden Erwerbsarbeit geleistet werden können und nicht als Ersatz für diese. Das heißt, dass die Freiwilligen über ein ausreichendes Einkommen oder Rente abgesichert sein müssen. Und: Freiwillige Arbeit kann erst dann effektiv eingesetzt werden, wenn die professionelle Versorgung von Hilfe-, Versorgungs- und Betreuungsbedürftigen sichergestellt ist.

Für eine politisch verstandene Freiwilligenarbeit gilt, dass sie nicht nur gesellschaftlich organisierte Hilfe für Menschen leistet, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht selbst helfen können. Sie sollte sich auch nicht nur mit der Linderung oder Bearbeitung sozialer, kulturpolitischer oder umweltbezogener Probleme beschäftigen, sondern auch mit der Verhinderung und mit der langfristigen Lösung.

Freiwilligenarbeit hat in der vielzitierten Zivilgesellschaft somit auch einen politischen Auftrag, nämlich Ungleichheit und Ausgrenzung anzuprangern und dabei einzufordern, dass Handlungsstrategien entwickelt werden, die der Exklusion entgegenwirken. Eine allein mildtätige, karitativer Motivation – deren Notwendigkeit angesichts der aktuellen Problemlagen nicht bezweifelt werden soll – kann lediglich die Symptome der Übel bearbeiten. Es gilt stattdessen, politisch auf Veränderung zu dringen und die Missstände auf die Agenda zu setzen.

Literatur

Anheier, Helmut K. u.a., 2012: Ein Jahr Bundesfreiwilligendienst, Erste Erkenntnisse einer Begleitenden Untersuchung, Heidelberg.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – BMFSFJ (Hg.), 2006: Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Siebter Familienbericht, Berlin.

BMFSFJ (Hg.), 2011: Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht, Berlin.

BMFSFJ, 2016: Manuela Schwesig begrüßt die ersten „bufdis“ in der Flüchtlingshilfe, 7.1.2016, www.bmfsfj.de 

Chorus, Silke, 2013: Care-Ökonomie im Postfordismus, Münster.

Dalla Costa, Maria und Selma James, 1973: Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft, Berlin.

DAK Gesundheit (Hg.), 2015: Pflegereport 2015. So pflegt Deutschland, Hamburg.

Groll, Tina, 2015: Schlecht bezahlt in der Kita, in: Zeitmagazin, 6.1.2015.

Lenz, Ilse (Hg.), 2008: Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden.

Notz, Gisela, 1989: Frauen im sozialen Ehrenamt. Ausgewählte Handlungsfelder: Rahmenbedingungen und Optionen, Freiburg.

Dies., 2006: Warum flog die Tomate? Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre, Neu Ulm.

Dies., 2011: Theorien alternativen Wirtschaftens. Fenster in eine andere Welt, Stuttgart Dies., 2012: „Freiwilligendienste“ für alle. Von der ehrenamtlichen Tätigkeit zur Prekarisierung der „freiwilligen“ Arbeit, Neu-Ulm.

Dies., 2013: Gesellschaftliches Potenzial der Haus- und Betreuungsarbeit. Umverteilung statt Abwälzung auf Freiwillige und Dienstbotinnen, in: Widerspruch, 105-119.

Pflegeagenten: Pflege ist weiblich? Umdenken bitte!, www.pflegeagenten.de/Pflege-ist-weiblich-Umdenken-bitte--13287.aspx

Scholz, Roswitha, 2000: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorie und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef.

TNS Infratest Sozialforschung/Dr. Thomas Gensicke, 2005: Freiwilliges Engagement in Niedersachsen (1999 – 2004 im Trend), München.

Weeks, Kathi, 2011: Affektive Arbeit, feministische Kritik und postfordistische Politik, in: Grundrisse 38, 13-27.

Wehner, Theo und Stefan T. Güntert (Hg.), 2015: Psychologie der Freiwilligenarbeit. Motivation, Gestaltung und Organisation, Berlin/Heidelberg.

Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin und hat an verschiedenen Forschungsprojekten zu Geschlechterverhältnissen, Prekarisierung des Arbeitslebens sowie zur historischen Frauenforschung gearbeitet.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/vom-buergerlichen-liebesdienst-zur-freiwilligenarbeit-fuer-alle

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Die Diskussion um Care-Arbeit ist nicht neu. Mit dem Slogan „das Private ist politisch“ verlangten beispielsweise die Frauenbewegungen der 1970er Jahre eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dazu gehörte auch die Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und die Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“. Auch wenn es zu einem Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge, zu einer Professionalisierung vieler Care-Berufe und zu einer Veränderung von Geschlechterverhältnissen kam, wird in Kindergärten, in der Altenarbeit, in der Schule, in Jugendeinrichtungen und auch in der Gesundheitsversorgung noch immer viel un- und unterbezahlte Care-Arbeit geleistet.

Der Text erklärt, welche Bedeutung Care-Arbeit für die Wirtschaft hat und warum diese trotzdem niedriger bewertet / entlohnt wird als andere, „männlich“ konnotierte Tätigkeiten. Anhand der „ehrenamtlichen“ Arbeit wird die Funktion von Care-Arbeit für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft und die Folgen verdeutlicht.

Foto: RLS

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