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Die neue Kultur des Helfens

Februar 2022 • Tine Haubner

Foto: Mat Napo / Unsplash

Foto: Mat Napo / Unsplash

Pflege, Krise, Migration#Pflege #Krise #Migration

»Seit Jahren fehlen Altenpfleger – bei den Löhnen kein Wunder! Die müssen rauf, klar. Um den Notstand aber abzuwenden, sollten diejenigen helfen, die sonst nur warten« (Heine 2015). Dieser Zeitungskommentar ist nur eine von vielen Stimmen, die aktuell den Einsatz von Flüchtlingen in der Altenpflege fordern.

Er bildet einen Ausschnitt der sozialpolitischen Suchbewegung nach neuen Arbeitskraftpotenzialen in der Care-Krise, die sich durch pflegepolitischen Handlungsdruck intensiviert. Ob ein solches Krisenmanagement tatsächlich zumindest übergangsweise eine ›Win-win-Situation‹ für Flüchtlinge und den Pflegesektor darstellen kann oder ob mit den Flüchtlingen eine sozial verwundbare Gruppe an der Schwelle zum Niedriglohnsektor für den Social-Investment-State[1]  mobilisiert werden soll, ist angesichts laufender Informalisierungs- und Deprofessionalisierungstendenzen in der Pflege durchaus fraglich. Eine andere, schon länger verfolgte Strategie ist der staatlich geförderte Einsatz freiwillig Engagierter in der Pflege.

Ein Blick auf die vergangenen Jahrzehnte zeigt: Sowohl Renaissance als auch Krise des Freiwilligen Engagements werden regelmäßig ausgerufen. Diagnostizieren ForscherInnen noch Mitte der 1980er Jahre eine Rekrutierungskrise »helfender Hände«, wird zur Jahrtausendwende mit »Freiwillige vor!« (Schlagzeile eines ZEIT-Artikels) das neu entfachte Interesse für das Ehrenamt in eine Parole gegossen (Heuser/v. Randow 2000). Die Konjunkturzyklen der Aufmerksamkeit für das freiwillige Engagement folgen dabei ökonomischen und politischen Krisenrhythmen – ein Aspekt, der in der öffentlichen Debatte häufig von moralischen Appellen an den Bürger- und Gemeinsinn überlagert wird.

Das neue Ehrenamt im Kontext wohlfahrtsstaatlichen Wandels

Die Renaissance des Ehrenamts in der Pflege, deren Ausläufer wir gegenwärtig miterleben, beginnt daher nicht zufällig in den 1990er Jahren, als die Krise von Arbeitsgesellschaft, Wohlfahrtsstaat und Demokratie im Kontext des neoliberalen Siegeszuges die Gemüter erregte. Auch die soziale Reproduktion geriet in eine Krise: Die Bevölkerung altert, traditionelle Haushalts- und Familienstrukturen wandeln sich, die weibliche Erwerbsbeteiligung steigt global, die räumliche und zeitliche Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse nimmt zu und das Ernährermodell – mitsamt der alimentierten informellen Pflege durch Hausfrauen – erodiert. Daneben führten die seit den 1980er Jahren steigende Sockelarbeitslosigkeit und der Abbau gut bezahlter Industriearbeitsplätze zu sinkenden Beitrags- und Steuereinnahmen (bei gleichzeitig steigenden Sozialhilfeempfängerzahlen) und belasteten so die kommunalen Haushalte.

Galt der Sozialstaat in der Nachkriegszeit noch als Garant sozialen Friedens und wirtschaftlicher Prosperität, geriet er nun zunehmend in den Verdacht, den Standort Deutschland durch mangelnde Flexibilität, Reformstau und zu hohe Lohnnebenkosten im globalen Wettbewerb zu benachteiligen (vgl. Lessenich 2008).

Neben den vielbeschworenen demokratisierenden Potenzialen und haushaltspolitischen Vorzügen kam dem neuen Ehrenamt im deutschen Diskurs der 1980er und 1990er Jahre deshalb vor allem eine arbeitsmarktpolitische Bedeutung zu. Der zwischen Markt und Staat befindliche Dritte Sektor mit staatlich kofinanzierten und auch unentgoltenen Sozialdienstleistungen wurde zunehmend als Hoffnungsträger des gesellschaftlichen Zusammenhalts gehandelt. Die staatliche Förderung des Ehrenamts galt immer häufiger als probate Arbeitsmarktstrategie vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Spaltungstendenzen.

In dieser Übergangsphase, in welcher der Wohlfahrtsstaat ›alter Prägung‹ durch verschiedene Wandlungsprozesse unter Druck geriet, stellte sich die Frage, wie die vielbeklagten ›leeren Staatskassen‹ geschont werden sollten, wenn zugleich der Bedarf an pflegerischer Versorgung wächst. Das Rekrutierungsproblem von sowohl bezahlten als auch unbezahlten Pflegekräften treibt die Sozial- und Pflegepolitik in Deutschland seither um: Wer füllt die Lücke, die überforderte Familien, erwerbstätige Frauen, erschöpfte Pflegefachkräfte und ein sich »aktiv selbst zurücknehmender Staat« hinterlassen (Kommission für Zukunftsfragen 1997, 169)? Die Wahl sollte, soviel ist sicher, auf eine möglichst kostengünstige Gruppe fallen.

Die neue Konjunktur des ›Bürgersinns‹

Die politisch-philosophische Strömung des Kommunitarismus lieferte der »neuen Kultur des Helfens« (Fink 1990) zu Beginn der 1990er Jahre auch außerhalb akademischer Fachdebatten medienwirksame Schlagworte. Mit Appellen an Gemeinschaft und Gemeinsinn sowie mit der Betonung von ›Aktivierung‹ und Werteorientierung hebt sie unermüdlich die Bedeutung sozialen Zusammenhalts in Zeiten neoliberaler Vereinzelung hervor.

Mit einer Studie zu Entwicklungspfaden italienischer Gemeinden zeigte der kommunitaristische Soziologe Robert Putnam (1993), dass die Effizienz lokaler partizipativer Entscheidungsprozesse mit der Anzahl der bürgerschaftlichen Vereine und dem ehrenamtlichen Engagement korreliert. Sein daraus entwickeltes Konzept des Sozialkapitals avancierte zu einem vielzitierten Gradmesser gesellschaftlicher Integration. Es soll helfen, den sozialen, kulturellen und ökonomischen Nutzen politischer Beteiligung und sozialer Netzwerkbildung zu vermessen – und zu akkumulieren. Entsprechend begann die Bundesregierung in den 1990er Jahren damit, großflächig Modellprojekte zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements zu finanzieren.

Forschungsberichte über vorhandene »Humankapitalressourcen« (wie das erste Freiwilligen-Survey oder der erste Engagement-Bericht) wurden veröffentlicht, 1999 wurde die Enquete-Kommission »Zukunft des ehrenamtlichen Engagements« eingesetzt, die EU-Kommission erklärte 2011 zum »Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit«, es folgten die Gründung des Bundesfreiwilligendiensts und 2013 ein Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts. Der Nonprofit-Sektor wächst seither weltweit rasant: 1995 erreichte die Zahl der darin Beschäftigten allein in Deutschland mit 1,4 Millionen Vollzeitäquivalenten einen Anteil von fast 5 Prozent an der Gesamtbeschäftigung – jeder fünfte Erwachsene war zu dieser Zeit unentgeltlich aktiv (Priller/Zimmer 2001). Im Jahr 2009 erzeugten Freiwillige einen geschätzten Arbeitswert von 35 Milliarden Euro (Pinl 2013).

Das neue Ehrenamt in der Pflege

Das Ehrenamt in der Pflege ist jedoch kein neues Phänomen. Bevor der Beruf der Altenpflege in den 1960er Jahren offiziell eingeführt wurde, waren zumeist bürgerliche Frauen als sogenannte Diakonissen und Ordensschwestern unentgeltlich in der Alten- und Krankenpflege tätig. Das Normalarbeitsverhältnis war für den Pflegebereich, historisch betrachtet, nie maßgeblich prägend, die Abgrenzung zwischen professioneller Fach- und Laienpflege immer prekär und umkämpft.

Diese Diffusität von beruflichen Tätigkeitsprofilen und qualifikationsbasierten Zuständigkeiten spielt auch heute eine zentrale Rolle, wenn Freiwillige für pflegerische Betreuungsleistungen mobilisiert werden. So erfasste die Wiederentdeckung des bürgerschaftlichen Engagements ab den 1990er Jahren auch den Pflegebereich, wo freiwillige Gratisarbeit durch die Professionalisierung der Sozial- und Gesundheitsberufe zwischenzeitlich an den Rand gedrängt worden war.

Der Einsatz von Freiwilligen wird seither vor allem durch die Sozialgesetzgebung gestärkt und ausgeweitet. Das Pflegeleistungsergänzungsgesetz von 2001 zielte mit der finanziellen Förderung niedrigschwelliger Betreuungsangebote auf die Stärkung häuslicher Betreuung auch durch Ehrenamtliche ab. In diesem Jahr erhielt bereits jeder zehnte Pflegehaushalt Unterstützung durch Freiwillige (ZQP 2013). Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz ergänzte sieben Jahre später Fördermöglichkeiten für Selbsthilfe und Ehrenamt auch für körperlich Kranke. In dieser Zeit wurde auch der Spitzenverband der Pflegekassen dazu verpflichtet, niedrigschwellige Betreuungsangebote und ehrenamtlich Pflegende mit 25 Millionen Euro jährlich zu unterstützen. Das Pflege-Neuausrichtungsgesetz von 2012 gestattete stationären Einrichtungen, Aufwandsentschädigungen an Ehrenamtliche zu zahlen.

Diese Förderung des bürgerschaftlichen Engagements gewann mit der Verschärfung der Pflegekrise sukzessive an Fahrt und ist darüber hinaus schon länger Teil der »Demografie-Strategie der Bundesregierung« sowie der »Nationalen Engagement-Strategie«. Für die nächsten Jahre wird mit der Versorgung von Flüchtlingen eine weitere Etappe des neuen Engagement-Diskurses prophezeit, wobei »die Entwicklung hin zu einer Tätigkeitsgesellschaft« die Abgrenzung zwischen beruflicher- und unentgeltlicher Arbeit ohnehin zunehmend erschwert (Evers u.a. 2015). Die Engpässe in der professionellen Pflege sowie die Tatsache, dass die Pflegeversicherung auch in Zukunft eine Teilkaskoversicherung[2]  bleiben soll, legen nahe, dass sich dieser Trend fortsetzen wird.

Professionalisiertes ›weibliches‹ Engagement an der Schnittstelle zum Niedriglohn

Mit nur 2 Prozent der insgesamt ehrenamtlich Tätigen, gehört Engagement in der Pflege nicht zu den beliebtesten Bereichen freiwilliger Arbeit. Ein Blick auf die dort Engagierten ist dennoch aufschlussreich: Laut Freiwilligen-Survey engagieren sich dort häufig ältere, zu 80 Prozent weibliche, gut qualifizierte, materiell durchschnittlich abgesicherte Personen. Pflegende Angehörige sind in dieser Gruppe überdurchschnittlich oft vertreten (ZQP 2013). Von einer qualitativ neuen und geschlechtergerechten Arbeitsverteilung kann hier also offensichtlich nicht die Rede sein – das Engagement in Pflege und Gesundheit bleibt überwiegend ›weiblich‹.

Weil das Ehrenamt jedoch weder eine konstante und verbindliche (geschweige denn professionelle) Versorgung von Pflegebedürftigen gewährleisten kann, wird es zunehmend als soziale Dienstleistung professionalisiert und über materielle Anreize gesteuert – etwa mittels pauschaler Entschädigungen und Versicherungsleistungen. Häufig wird der ehrenamtliche Pflegeeinsatz über Leistungen der Pflegeversicherung für sogenannte niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsleistungen finanziert. Denn mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz haben Pflegebedürftige und Personen mit »eingeschränkter Alltagskompetenz« erhöhten Anspruch auf zusätzliche Betreuung. Mit dieser ›Betreuungspauschale‹ stehen ihnen seit 2015 monatlich zusätzlich zum Pflegegeld zwischen 104 und 208 Euro an zweckgebundenen Beträgen für die Inanspruchnahme freiwilliger Helferinnen zur Verfügung.

Auf diese Weise avanciert das Ehrenamt zu einer nebenberuflichen Beschäftigung mit Stundensätzen zwischen fünf und zehn Euro, die zum Teil weit unter dem gesetzlichen Pflegemindestlohn liegen und vor allem für diejenigen attraktiv werden, die von geringen Rentenleistungen und Altersarmut betroffen sind.

Das Ehrenamt als kostengünstiger Pflegedienstleister

Dass sich das Ehrenamt dabei mitunter zu einem konkurrierenden Anbieter pflegerischer Dienste mausert, zeigt das Beispiel einer ehemaligen Pflegehilfskraft. Die erwerbsunfähige Rentnerin engagiert sich nach einem erlittenen Burn-out ehrenamtlich als Demenzhelferin für fünf Euro die Stunde, um ihre dürftige Rente aufzubessern. In einem 2014 geführten Interview[3]  berichtete sie stolz, ihr Verein sei wesentlich kostengünstiger als andere Anbieter. Und auch die Leiterin des Vereins hob hervor, dass sie aufgrund der geringeren Vergütung der freiwilligen Mitarbeiterinnen – im Vergleich zum Personal ambulanter Pflegedienste – mehr Zeit für die Pflegebedürftigen anbieten könne.

Sowohl aufseiten der caregiver wie aufseiten der care receiver ist die Altersarmut der zentrale Treiber dieses Unterbietungswettbewerbs. Die Konkurrenz von ambulanten Pflegediensten und Freiwilligenvereinen um die niedrigschwelligen Betreuungsleistungen nimmt zu. Wenn hier Ehrenamtliche nicht selten selbst grund- und sogar behandlungspflegerische Aufgaben (wie Injektionen oder Wundversorgung) übernehmen, werden damit nicht nur Prozesse der Entprofessionalisierung in der Pflege fortgeschrieben, die das traditionelle Negativimage des Berufes als einer ›Jederfrautätigkeit‹ festigen.

Auch die Engagierten selbst werden während ihrer Einsätze häufig überfordert. Ein anschauliches Beispiel solcher Überforderung schilderte die bereits genannte Demenzhelferin. Es geht um einen Zwischenfall im Haushalt einer hochaltrigen Pflegebedürftigen, die während des Einsatzes einen Atemstillstand erlitt. Da die Angehörigen entschieden, keinen Arzt zu konsultieren, wohnte die Demenzhelferin dem Geschehen als hilflose Zeugin bei: »Das ging mir ganz schön nah. Die hätte mir ja auch unter den Händen wegsterben können.«

Das Beispiel zeigt eindrücklich, mit welchen Anforderungen pflegende Angehörige und Ehrenamtliche in der Pflege alleingelassen werden – ein mehrwöchiger Crashkurs zum Thema Demenzbetreuung kann eine dreijährige Berufsausbildung zur Altenpflegekraft nicht ersetzen. Zugleich wird hier die essenzielle Bedeutung des Engagements in der maroden Pflegelandschaft deutlich, bieten doch freiwillige Demenzhelferinnen oftmals die einzige Betreuung neben den häufig überlasteten Angehörigen und den im engen Takt der Minutenpflege ächzenden Pflegediensten.

Lösungen jenseits von Staat und Markt?

Wurde die sozialpolitische Instrumentalisierung des Ehrenamts noch in den 1980er und 1990er Jahren von Arbeits-, Sozialwissenschaften und Gewerkschaften problematisiert, ist diese Kritik vielfach verstummt: Das Engagement wird mehr und mehr zu einer materiell entschädigten, mittels Passungsfähigkeit und Talentmanagement quasi personalpolitisch gemanagten und professionalisierten Sozialdienstleistung – eine Entwicklung, die selbst in Teilen der gesellschaftlichen Linken begrüßt wird. Die kollektiv-selbsttätige Organisation der Reproduktion »jenseits von Markt und Staat« wird vielerorts als Gegenstrategie zur privatwirtschaftlichen wie auch staatlichen Vereinnahmung begriffen (Lent/Trumann 2015, 105).

Indem allerdings auch die Care-Commons den Sozialstaat von Reproduktionskosten entlasten, gleichen sie weniger »Inseln« (trouble everyday collective 2014, 69) als vielmehr innerkapitalistischen Kolonien (vgl. Werlhof et al. 1988). Caring-Communities oder Bürgerkommunen genießen dennoch nicht selten den Ruf, Manifestationen realutopischer Entwürfe einer solidarischen Zukunftsgesellschaft zu sein. Dass sie jedoch mitunter auch zu einer Entprofessionalisierung in der Pflege beitragen und freimütig Niedriglohnbeschäftigung organisieren, zeigt das Zitat des Bürgermeisters einer Caring-Community, der in einer Forschungsstudie den Gestaltwandel des Ehrenamts wie folgt bewirbt:

»Die Engagierten, die wir vermitteln, unterstützen hilfe- und pflegebedürftige Mitbürger deutlich intensiver als in der traditionellen Nachbarschaftshilfe. Sie werden von uns geschult und nicht nur in der Alltagsbegleitung, sondern auch in der Grundpflege und in der Hauswirtschaft eingesetzt. Dafür erhalten sie eine Aufwandsentschädigung von sieben bis acht Euro netto pro Stunde« (ZQP 2013, 62).

Eine solche vorauseilende und kostengünstige Umsetzung des Subsidiaritätsgedankens[4]  kann ein konservativer Wohlfahrtsstaat wie der deutsche nur begrüßen – er bürdet traditionell den Großteil der pflegerischen Versorgung kleinen Netzwerken auf, mehrheitlich unbezahlt.

Der staatliche Appell an die Freiwilligen und deren beinah euphorische Würdigung als »Elite der Gesellschaft« sollten zudem Skepsis hervorrufen, wenn es heißt: »Die Ehrenamtlichen kümmern sich viel persönlicher, als dies die beste staatliche Jobagentur kann […]. Das ist nicht nur positiv, das ist wunderbar. Die Ehrenamtlichen haben Fantasie. Die Ehrenamtlichen sind die Unbezahlbaren dieser Gesellschaft, sie sorgen dafür, dass aus Demokratie nicht Dekadenz wird« (Prantl 2010).  Das Ehrenamt wird hier als ›unbezahlbare‹ Prävention gegen sozialstaatliche Generosität begrüßt, getragen von aktiven, für ihre Belange selbst verantwortlichen Bürgerinnen.

Ungehorsames Engagement

Aus einer kritischen Perspektive stellt sich die Frage, wie den bestehenden Versorgungslücken in der Pflege begegnet werden kann, ohne bereitwillig zu akzeptieren, dass die sozialstaatliche Daseinsfürsorge durch die Gratisarbeit sorgender Gemeinschaften substituiert wird. Die Losung »Es ist uns keine Ehre« des Berliner Medibüros (vgl. Schuh in diesem Heft), das eine unentgeltliche medizinische Versorgung für Flüchtlinge organisiert, stellt einen reflektierten Versuch dar, die eigene Tätigkeit als aus der Not geborene Hilfeleistung und die Gefahr der sozialpolitischen Instrumentalisierung öffentlich zu problematisieren. Darin artikuliert sich ein Selbstverständnis, das als »ungehorsames Engagement« bezeichnet werden könnte und das sich jenseits einer zynischen Generalabsage von linker Seite an praktische Unterstützung von Hilfebedürftigen verortet. Aber auch jenseits bürgerlicher Selbstaufopferung. Hier wird aufgezeigt, dass Care-Work unter den Bedingungen kapitalistischer Verwertung und sozialpolitischer Instrumentalisierung schlechterdings unmöglich ohne Ausbeutung zu haben ist (Van Dyk et al. 2016).

Eine andere Form, auf die Instrumentalisierung des freiwilligen Engagements hinzuweisen, bestünde hingegen in einer demonstrativen Verweigerung – die Hausfrauenstreiks der 1970er Jahre könnten dafür Pate stehen. Ein Streik von Freiwilligen könnte sowohl auf die essenzielle Bedeutung unsichtbarer Arbeit als auch auf ihre Instrumentalisierung hinweisen. Die Entwicklung solcher Protestformen gehört auf die Agenda einer emanzipatorischen Politik, die sich den Fragen sozialer Reproduktion zuwendet.

Anmerkungen

[1] Mit dem Begriff Social-Investment-State wird der Strukturwandel des deutschen Sozialstaates im Zuge der 1990er Jahre bezeichnet, in dessen Folge Aktivität, Eigentätigkeit und Selbststeuerung der BürgerInnen sozialpolitisch an Bedeutung gewinnen (vgl. Lessenich 2008). 

[2] Die 1995 eingeführte deutsche Pflegeversicherung ist eine »beitragsfinanzierte Teilkaskoversicherung« in Abgrenzung zu einer »bedarfsorientierten Vollkaskoversicherung«, das heißt, die budgetierten Versicherungsleistungen decken lediglich einen Teil der entstehenden Kosten ab und sollen die informelle Pflege durch Angehörige, Nachbarn oder Freunde nur »ergänzen« (§4 SGB XI). Sie setzt die Bereitschaft zur unbezahlten Übernahme pflegerischer Tätigkeiten durch soziale Netzwerke immer schon voraus. 

[3] Dieses und andere Interviews mit überwiegend ›informellen‹ Pflegekräften wie Angehörigen, Ehrenamtlichen und migrantischen Pflegekräften führte ich im Rahmen meiner Dissertation zur sozialpolitischen Regulierung der deutschen Pflegekrise 2014. 

[4] Der deutsche Sozialstaat zeichnet sich durch seine am Subsidiaritätsprinzip ausgerichtete »privatistischfamilialistische Pflegekultur« aus (Lessenich 2003). Die jeweils kleinere soziale Einheit wie etwa die Familie ist die bevorzugte ökonomische und soziale Unterstützungsinstanz.

Literatur

Evers, Adalbert et al., 2015: Die Vielfalt des Engagements. Eine Herausforderung an Gesellschaft und Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 30.3.2015, 3–9.

Fink, Ulf, 1990: Die neue Kultur des Helfens. Nicht Abbau, sondern Umbau des Sozialstaats, München/Zürich.

Heine, Hannes, 2015: Hilfe aus Syrien. Flüchtlinge als Altenpfleger, in: Der Tagesspiegel, 27.1.2015.

Heuser, Uwe Jean und Gero v. Randow, 2000: Freiwillige vor! Der Gemeinsinn wächst – trotz Geldfiebers und schwarzer Konten. Ehrlichkeit und Mitmenschlichkeit gehen nicht unter, in: ZEIT online, 16.3.2000.

Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, 1997: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Teil 3: Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage, Bonn.

Lent, Lilly und Andrea Trumann, 2015: Kritik des Staatsfeminismus. Oder: Kinder, Küche, Kapitalismus, Berlin.

Lessenich, Stephan, 2008: Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld.

Ders., 2003: Dynamischer Immobilismus. Kontinuität und Wandel im deutschen Sozialmodell, Frankfurt a.M./New York.

Pinl, Claudia, 2013: Freiwillig zu Diensten? Über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit, Frankfurt a.M.

Prantl, Heribert, 2010: Im Himmel sind wir dann alle gleich. Die Elite und die kleinen Leute – Politik und Verantwortung nach der großen Wirtschaftskrise. Festrede beim Neujahrsempfang der Stadt Friedrichshafen am 17. Januar 2010.

Priller, Eckhard und Annette Zimmer (Hg.), 2001: Der Dritte Sektor international. Mehr Markt – weniger Staat?, Berlin.

Putnam, Robert D., 1993: Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton.

trouble everyday collective, 2014: Die Krise der sozialen Reproduktion. Kritik, Perspektiven, Strategien und Utopien, Münster.

Van Dyk, Silke et al., 2016: Für ein rebellisches Engagement, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2016, 37–40.

Werlhof, Claudia v. et al., 1988: Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit, Reinbek.

Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP), 2013: Freiwilliges Engagement im pflegerischen Versorgungsmix. ZQP-Themenreport, Berlin, http://zqp.de/upload/content.000/ id00367/attachment00.pdf.

Tine Haubner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und beschäftigt sich mit der Soziologie der Arbeit, unter anderem mit Reproduktions- und Sorgearbeit, mit Prekarisierung und sozialer Ungleichheit.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/die-neue-kultur-des-helfens

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Wurde die sozialpolitische Instrumentalisierung des Ehrenamts noch in den 1980er und 1990er problematisiert, ist diese Kritik vielfach verstummt. Caring-Communities oder Bürgerkommunen genießen nicht selten den Ruf, Ausdruck realutopischer Entwürfe einer solidarischen Zukunftsgesellschaft zu sein. Für die nächsten Jahre wird mit der Versorgung von Geflüchteten eine weitere Etappe des neuen Engagement-Diskurses prophezeit.

Der Artikel beleuchtet, wie der staatlich geförderte Einsatz freiwillig Engagierter in der Pflege schon länger eine verfolgte Strategie ist, um dem Pflegenotstand beizukommen und wie dies zu einer Entprofessionalisierung in der Pflege beiträgt, das Image des Berufes als einer ›Jederfrautätigkeit‹ festigt und Niedriglohnbeschäftigung fördert. Schließlich wird aufgezeigt, wie den bestehenden Versorgungslücken begegnet werden kann, ohne bereitwillig zu akzeptieren, dass die sozialstaatliche Daseinsfürsorge durch die Gratisarbeit sorgender Gemeinschaften ersetzt wird.

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Eine andere Migrationspolitik ist möglich!

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Februar 2022

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Oft ist Schule mühevoll und einschüchternd, eher Lernfabrik als Lebensraum. In kaum einem Land entscheidet die soziale Herkunft so sehr über den Bildungsweg wie in Deutschland. Wenn Schulen auch noch in einem Leistungswettbewerb stehen, erscheinen Kinder mit schlechteren Startbedingungen als «Problem». Die Ungerechtigkeit ist enorm.

Die Zeitschrift «LuXemburg» 2/2021 bringt frischen Wind in die Bildungsdiskussion: Was sind die großen und kleinen Schritte hin zu einer Schule für alle? Was fordern Schüler:innen und wie können Lehrer:innen von ihnen lernen? Warum ist Schule für Kinder aus Arbeiter:innen- und Migrant:innen-Familien oft ein Spießrutenlauf? Wie steht es um die berufliche Bildung? Wie können Lehrer:innen, Eltern und Schüler:innen gemeinsam für bessere Bedingungen kämpfen?

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»Irgendwann sind auch unsere Kräfte am Ende«

Juni 2020 • Llanquiray Painemal • Susanne Schultz • Michel Jungwirth

Foto: Legalisierung jetzt!

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Anti-Rassismus, Migration, Organisierung#Anti-Rassismus #Migration #Organisierung

„Guten Abend allerseits! Ich möchte Euch gern mitteilen, vor welchen Herausforderungen ich als undokumentierte Frau in dieser globalen Covid-19-Pandemie stehe. Ich habe meinen Job verloren, nachdem das Restaurant geschlossen hat, in dem ich gearbeitet habe. Als informelle Arbeiterin heißt das, dass es keinerlei Entschädigung für eine plötzliche Kündigung gibt. Ohne einen formalen Arbeitsvertrag habe ich kaum Verhandlungsmacht. Ich komme aus armen Verhältnissen, aus einem hochverschuldeten Haushalt. Bei mir hat dieser zusätzliche Schock des Lockdown meine Kräfte extrem geschwächt, auch noch damit fertig werden zu können. Ich habe zwei Söhne und auch meine Eltern sind von mir abhängig (sie leben im Herkunftsland, Kommentar respect). Keine Arbeit bedeutet kein Geld – und kein Geld bedeutet kein Essen, keine Medikamente und keine Mittel für Miete und andere Rechnungen. Ich kann wohl noch ein oder zwei Wochen überleben, aber ich weiß nicht, was in einem Monat passieren wird.“

„Hallo! Ich bin eine lateinamerikanische Frau und lebe hier seit fast drei Jahren. Ich bin illegal und bin mit meinem jüngsten Sohn hergekommen, um ein besseres Leben zu haben und eine bessere Bildung für ihn. Als diese Pandemie ausgebrochen ist, bin ich leider schlimm erkrankt, hatte Probleme mit den Bronchien. Seitdem ich hier bin, habe ich die ganze Zeit gearbeitet, habe Wohnungen geputzt und auf Babys aufgepasst. Aus der Wohnung, in der ich bisher wohnte, haben sie mich rausgeschmissen, weil ich krank war. Gerade hilft mir eine Freundin: Sie hat mich aufgenommen und ich schlafe mit meinem kleinen Sohn auf dem Boden in ihrem Wohnzimmer. Ich bin sehr besorgt und sehr erschrocken darüber, was gerade passiert. Denn ich habe keinerlei Rücklagen. Ich hoffe sehr, dass Ihr uns unterstützt: Wir wollen legalisiert werden, wir möchten arbeiten, wir möchten etwas tun können.“[1]  

Diese Botschaften haben uns Frauen ohne Papiere aus unserem Netzwerk Ende April zugeschickt. Anlass war der Aktionstag #LegalisierungJetzt am 25. April, den wir, die respect-Initiative Berlin und das Bündnis Solidarity City Berlin, gemeinsam organisiert haben. Ziel war es, auf die Situation Illegalisierter aufmerksam zu machen, einmal mehr für die Forderung nach Legalisierung einzutreten und durch einen Solidaritätsfonds auch praktische Unterstützung leisten zu können. Wir haben an dem Tag unglaublich viele Solidaritäts-Fotos aus aller Welt erhalten und können nun für einige Monate mit den erhaltenen Spenden auf niedrigem, nicht existenzsicherndem Niveau Nothilfe für acht Frauen aus unserem Netzwerk leisten.[2] 

Mit diesem Text stellen wir die aktuelle Situation illegalisierter Migrantinnen in Berlin vor und wollen in Anknüpfung an den Aktionstag Ansatzpunkte für politische Forderungen in Zeiten der Corona-Krise diskutieren. Denn wir merken zurzeit, dass die extreme Zuspitzung der Krisensituation es mehr als sonst ermöglicht, auf die schlechte Normalität der Illegalisierung aufmerksam zu machen. Wir hoffen, dass es eine Chance gibt, dass die kleinen Pflänzchen der aktuellen Solidarität wachsen und sich ausweiten – in Richtung einer Politik der Legalisierung, in Richtung eines Existenzgeldes für alle, in Richtung eines Rechts auf eine gute öffentliche Gesundheitsversorgung für alle und auch in Richtung einer anderen Organisation und Verteilung von Sorgearbeit. Doch kurz zu uns: Die respect-Initiative macht seit mehr als 20 Jahren in Berlin auf die Situation von Frauen ohne Papiere aufmerksam, fördert die Selbstorganisierung, ist mit ihnen solidarisch und unterstützt sie konkret. Die meisten der illegalisierten Frauen kommen aus lateinamerikanischen und aus afrikanischen Ländern. Seit einigen Jahren sind wir auch in dem Bündnis Solidarity City Berlin aktiv und setzen uns mit anderen Gruppen für einen gleichberechtigten und würdigen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Schulbildung für Menschen ohne oder mit nur prekärem Aufenthaltsstatus in Berlin ein.

Die Situation illegalisierter Menschen in Zeiten von Corona – Legalisierung jetzt erst recht!

Die aktuelle Krisensituation, die wir in Zeiten einer globalen Pandemie, des (partiellen) ökonomischen Lockdowns sowie einer drastischen Verschiebung von Sorgearbeitsverhältnissen erleben, trifft illegalisierte Frauen besonders hart. Und sie macht in dieser drastischen Zuspitzung auf eine Normalität aufmerksam, die für Illegalisierte nichts Neues ist: die alltägliche Angst vor Polizeikontrollen; die mangelnde oder allenfalls prekäre Gesundheitsversorgung; die alltägliche ökonomische Unsicherheit und Abhängigkeit von Jobs in Gastronomie und Privathaushalten – und die Abwesenheit von rechtlicher Absicherung, von Kündigungsschutz, Urlaub und Krankengeld. Hinzu kommt die Belastung illegalisierter Frauen in der Sorge und Verantwortung für Kinder und Familienangehörige, sowohl hier als auch sehr oft im Herkunftsland. Angesichts dieser Ausgrenzungen und Vielfachbelastungen sind sie oftmals angewiesen auf Alltagssolidarität, erfahrungsgemäß meist vor allem von denjenigen, denen es so ähnlich geht oder die diese Erfahrung früher einmal gemacht haben. Die Gründe, warum viele Menschen illegalisiert in Deutschland leben, sind vielfältig. Vielen von ihnen wurde politisches Asyl verweigert. Aus Angst vor Repression in ihren Ländern entschieden sie sich, in den Untergrund zu gehen. Andere sind als Touristinnen gekommen und haben beschlossen, hier zu bleiben, um zu arbeiten und ihren Familien in ihren Herkunftsländern zu helfen. Viele Frauen versuchen, in Deutschland ein eigenständiges Leben aufzubauen, manchmal auch, um sich patriarchalen und sexistischen Verhältnissen zu entziehen. Die zentrale Ursache dieser Situation ist die Ungleichheit zwischen dem Globalen Süden und Norden. So wie viele Europäerinnen in Krisenzeiten nach Lateinamerika ausgewandert sind, wandern auch heute Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben aus oder fliehen vor Unterdrückung. Seit Jahrzehnten haben antirassistische, migrantische, solidarische Bewegungen in Deutschland immer wieder ein Recht auf Rechte eingefordert, um gegen einen zentralen Pfeiler rassistischer Diskriminierung und Ausbeutung vorzugehen: den systematischen Ausschluss aus sozialen und Bürgerrechten in der Illegalisierung – sei es in der langjährigen Kampagne „kein Mensch ist illegal“, sei es in der Anfang der 2000er aktiven „Gesellschaft für Legalisierung“, sei es in vielfältigen selbstorganisierten migrantischen Bewegungen und Protesten. Dennoch ist auf der Ebene der staatlichen Regulierung in Deutschland trotz all dieser Kämpfe nichts verbessert worden für die Hunderttausende, die trotz ihrer enormen Expertise und „Systemrelevanz“ nicht als „Fachkräfte“ gelten und für die die (sowieso minimalen) klassenselektiven Öffnungen des Einwanderungsregimes der letzten Jahre irrelevant sind. Es gibt keinerlei Stichtagsregelungen oder Kontingente der Legalisierung wie in anderen europäischen Ländern. Die Einzelnen müssen in Härtefallkommissionen als Bittstellerinnen auftreten, die nur wenigen eine Perspektive bieten. Oder es ergeben sich neue Möglichkeiten aufgrund biographischer Veränderungen in ihren Familienverhältnissen (etwa abhängige Aufenthaltsrechte nach einer Heirat oder der Geburt eines „deutschen“ Kindes). Viele müssen sich auf lange Sicht in dem extrem prekären und entrechteten Leben als Menschen ohne Papiere einrichten. In Zeiten von Covid-19 sind zwar Abschiebungen vorübergehend und teilweise ausgesetzt. Dies ändert aber nichts an der prinzipiellen Bedrohung Illegalisierter durch das Abschieberegime. Ganz im Gegenteil ist ihre Bewegungsfreiheit aufgrund der massiven und beängstigenden Polizeipräsenz zusätzlich eingeschränkt: Viele Menschen ohne Papiere wagen es derzeit nicht, auf die Straße zu gehen, aus Angst, kontrolliert zu werden. Die anfänglich in Berlin eingeführte Ausweispflicht wurde zwar wieder zurückgenommen, das ändert aber nichts an der prinzipiellen Angst und dem Unbehagen angesichts der vielen Ordnungskräfte und Polizeiwagen, die derzeit das Bild der Öffentlichkeit prägen. Auch ohne Ausweispflicht ist das Thema Racial Profiling eine Alltagsrealität für von Rassismus betroffene Menschen – insbesondere an den sogenannten gefährlichen Orten, wo die Polizei kontrollieren kann, wie sie will. Die sich zuspitzende prekäre Lage der Menschen ohne Papiere in der Pandemiekrise hat aber auch zu neuen Initiativen geführt. In der Partei Die Linke wird bereits seit einiger Zeit ausgelotet, ob mit einem Städte-Ausweis der Zugang Illegalisierter zu städtischen Dienstleistungen ermöglicht werden könnte. Am 22. April haben 27 Abgeordnete der Linken an Kanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer einen offenen Brief geschrieben, in dem sie sich u.a. für eine einmalige finanzielle Hilfe für Illegalisierte einsetzen – des weiteren für einen Abschiebestopp, eine Generalamnestie für Illegalisierte und insbesondere dafür, „eine Legalisierung für alle Menschen ohne Aufenthalt in Deutschland einzuleiten“ (Jelpke 2020). Diese begrüßenswerte Initiative setzt sich also für eine Stichtagsregelung ein, wie sie in anderen europäischen Ländern in der Vergangenheit Praxis war und geht damit erfreulicherweise über eine temporäre Krisenbewältigung nur für bestimmte (bereits registrierte) Gruppen hinaus, wie etwa die vielbeachtete Sofortmaßnahme der portugiesischen Regierung.[3] 

Bisher ist allerdings wenig unternommen worden, um dieser parlamentarischen Initiative mehr politischen Nachdruck zu verleihen und zu verhindern, dass sie eine Eintagsfliege bleibt. Hier liegt es nicht zuletzt an den sozialen antirassistischen Bewegungen, die neue Sichtbarkeit in der aktuellen Krisensituation zu nutzen, um die Frage der Legalisierung wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen und eine solidarische Lösung zu fordern. Aufgrund der Kriminalisierung ist es Illegalisierten kaum möglich, massenhaft auf die Straße zu gehen oder allein eine öffentliche Kampagne zu stemmen.

Globale Care-Arbeit in der Krise – die gekündigten Care-Arbeiterinnen ohne Papiere  stehen jetzt vor dem Nichts

Illegalisierte Menschen arbeiten hauptsächlich im Dienstleistungssektor. Migrantinnen übernehmen die Haus-, Sorge- und Pflegearbeit, die viele Menschen mit besseren wirtschaftlichem Lebensbedingungen selbst nicht mehr leisten und dadurch Zeit für ihre Erwerbsarbeit haben. Menschen ohne Papiere kümmern sich um Kinder, sie holen sie von der Schule ab, bringen sie ins Bett, wenn die Eltern ins Kino oder auf eine Party gehen, putzen die Häuser, bügeln, kochen in Restaurants, machen sauber in Hotels, oder arbeiten auch auf dem Bau. Als Isolation und soziale Distanzierung in der Pandemie zur neuen gesellschaftlichen Priorität wurden, blieben die Arbeit gebenden Familien zu Hause. Schulen und Kitas wurden geschlossen und illegalisierte Arbeiterinnen wurden nicht mehr gebraucht. Die Arbeitgeberinnen teilten den Care-Arbeiterinnen meist mit, dass sie auf unbestimmte Zeit ihre Arbeit nicht mehr benötigen. Die uns bekannten illegalisierten Arbeiterinnen haben fast alle ihre Jobs verloren, und bis auf das eine oder andere Almosen (etwa 20 Euro im Briefumschlag bei der letzten Arbeitsstunde) wurden sie ohne jegliche Unterstützungsangebote in die Kontaktsperre entlassen. Insbesondere die wichtige Einnahmequelle Babysitten und Kinderbetreuung fällt komplett aus, weil eine Ansteckung durch die Arbeiterinnen befürchtet wird. Die körperlich oft härteren stundenweisen Putzjobs gibt es teilweise noch, aber nicht in dem Umfang, dass sie annähernd zum Überleben ausreichen. Zu alledem kommt noch die enorme Belastung der globalen Care-Arbeiterinnen durch die Situation ihrer Familienangehörigen in ihren Herkunftsländern. Gerade jetzt sind diese in vielen Ländern besonders auf die Unterstützung durch Familienangehörige im globalen Norden angewiesen. Oftmals hängen nicht nur die Kinder von deren Einkommen vom Putzen und Babysitten ab, sondern auch weitere Familienangehörige, etwa die alten Eltern. Und gerade jetzt verlieren viele der Familienangehörigen in den Herkunftsländern mit oft extremen Ausgangssperren selbst ihre Einnahmequellen. „Wenn wir nicht wegen Corona sterben, sterben wir, weil wir hungern“, teilten etwa Familienangehörige aus El Alto in Bolivien mit. In Zeiten von Corona zeigen sich viele widersprüchliche und problematische Entwicklungen in der Care-Arbeit gleichzeitig, und die Frage der “Systemrelevanz” wirft viel weitergehende Fragen auf, als sie in der Öffentlichkeit oft diskutiert werden. Immerhin wird gerade relativ breit in der Öffentlichkeit kritisiert, dass es zu einer extremen Retraditionalisierung von Rollenmustern kommt. Es sind vor allem die Frauen, deren Arbeitskapazitäten in den Haushalten beim Wegfallen der öffentlichen Kinderbetreuung extrem in Anspruch genommen werden. Was demgegenüber kaum öffentlich problematisiert wird ist, dass das übliche prekäre Outsourcing dieser Arbeiten an migrantische Arbeiterinnen vorübergehend und teilweise reduziert wird die weiterhin unsichtbaren Carearbeiterinnen um ihre Existenzgrundlage bringt. Im Unterschied zu den osteuropäischen Pflegekräften, von denen viele das Land verlassen haben und so den häuslichen Pflegenotstand verstärkt haben, bleiben die Frauen, mit denen wir vernetzt sind, hier – und stehen vor dem Nichts. Wieder einmal erscheint das Hin- und Herschieben dieser für die Gesellschaft so zentralen und gleichzeitig so abgewerteten Haus- und Sorgearbeiten als die einzige Möglichkeit; ein Hin- und Herschieben, das allein zwischen unbezahlter und absolut prekarisierter Arbeit und vor allem zwischen Frauen stattfindet – und zwar zwischen Frauen mit verschiedenen Klassenzugehörigkeiten und unterschiedlichen Aufenthaltsrechten bzw. unterschiedlicher Betroffenheit von rassistischer Diskriminierung. Eine wirkliche Debatte über „Systemrelevanz“ müsste unserer Meinung nach ganz grundsätzlich die Frage einbeziehen, wie diese Arbeit zugleich aufgewertet, besser bezahlt und umverteilt werden kann. Dann würde aus der Debatte um Systemrelevanz allerdings auch eine Debatte um Systemwechsel.

Der mühselige Kampf für eine Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere in Berlin geht weiter…

Angesichts der enormen Schwierigkeit, einer Legalisierungskampagne in Deutschland zum Erfolg zu verhelfen, bleibt es akut unsere Aufgabe, für elementare soziale Rechte auch in der Illegalität zu kämpfen. Wie die Frauen in ihren Audiobotschaften berichten, ist die Gesundheitssituation für illegalisierte Menschen in Berlin weiterhin extrem prekär – sowohl die allgemeine Versorgung als auch die spezifische zu COVID-19. In den letzten Jahren haben wir uns im Bündnis Solidarity City Berlin für einen anonymisierten Krankenschein eingesetzt, der einen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Menschen ohne Krankenversicherung ermöglichen würde, darunter insbesondere für Leute ohne Papiere. Viele Jahre der Kämpfe und des Nachhakens von Solidarity City kurz vor den Wahlen 2016 haben zwar bewirkt, dass der rot-rot-grüne Senat eine Clearingstelle eingerichtet hat, um Menschen ohne Krankenversicherung den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Leider blieb dies aber bisher höchst bürokratisch und mangelhaft organisiert: Es gab bisher wenig Engagement, die Existenz der Clearingstelle überhaupt in den verschiedenen Communities bekannt zu machen. Zudem erlebten die Antragsstellerinnen, die meist mit akuten Gesundheitsproblemen kamen, teilweise entwürdigende Interviews. Immerhin hat sich in Zeiten von Corona etwas Positives getan: Der Senat hat endlich einen Vertrag mit der Kassenärztlichen Vereinigung in Berlin gemacht, so dass die Clearingstelle nun Menschen ohne Papiere zu allen Berliner Hausärztinnen schicken kann, und nicht nur zu wenigen Vertragsärztinnen. Dennoch bleibt die Clearingstelle ein Nadelöhr, das unter Corona-Bedingungen noch enger geworden ist: Oft wird erst mehrere Wochen nach einer telefonischen Anfrage ein Termin angeboten. Zudem fehlt es weiterhin an verlässlichen und ausführlichen Informationen zu Tests und Behandlungen für Illegalisierte im Falle einer möglichen COVID-19-Infektion. Auch jetzt, Ende Mai, bleibt die Kostenübernahme für die mindestens 60 Euro teuren Tests unklar, und falls die Person positiv getestet ist, wird sie gemeldet. Das habe zwar – so die Gesundheitsämter – keine aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen für Illegalisierte, schürt aber dennoch Ängste bei den Betroffenen, weil nicht ausführlich über den Umgang mit den Daten informiert wird. So bleiben auch in Corona-Zeiten die allermeisten Menschen ohne Papiere in Berlin weiter auf solidarische und karitative Organisationen angewiesen – oder gehen wenn überhaupt nur in extremen Notlagen zu Ärztinnen oder ins Krankenhaus.

Zwischen Depression, gegenseitiger Hilfe und ersten Schritten des Protestes

Wie ist es möglich, sich zu organisieren, wenn es so schwierig ist, sich zu bewegen und zu treffen – und wenn die Kräfte schwinden, wie es die Botschaften unserer Freundinnen eindrücklich schildern? Insbesondere die ersten Wochen während der Pandemie-Krise in Deutschland waren von Verzweiflung und Depression geprägt. Viele der Frauen ohne Papiere waren völlig isoliert und entwickelten in einer extrem nervenaufreibenden Situation der Unsicherheit und Notlage Angstzustände und Depressionen. Einerseits müssen sie ihre Gesundheit besonders schützen, denn ohne Krankenversicherung oder die Möglichkeit, sich auf COVID-19 testen zu lassen, leben sie besonders prekär. Andererseits ist es in dieser Lage fast unmöglich, nach anderen Jobs zu suchen, und so müssen viele mit der täglichen Sorge leben, wie sie ihre Miete in den kommenden Monaten bezahlen werden – oder wo sie weiter unterkommen könnten, wenn sie ihre Unterkünfte schon verloren haben. Langsam entstehen aber auch wieder solidarische Netzwerke untereinander – und wie so oft sind es zuallererst die Frauen, die in einer ähnlichen Lage sind oder waren, die sich gegenseitig unterstützen. Zudem gibt es viel Bereitschaft in unserem Netzwerk, auch an politischen Forderungen zu arbeiten und diese zu artikulieren, wie anlässlich des Aktionstages #LegalisierungJetzt. Aber auch in den gemeinsamen Forderungen Berliner Basisorganisationen, bei den Protesten gegen die Situation in den Lagern der Kampagne #leavenoonebehind oder in den Mobilisierungen gegen rassistische Gewalt am 8. Mai unter dem Schlagwort #entnazifizierungjetzt kommt dies zum Ausdruck. Zentraler Ausgangspunkt ist die Art und Weise, wie die Pandemiekrise die skandalösen sozialen Ungleichheiten aufdeckt und verschärft – und wie es dennoch an jeglicher staatlicher Unterstützung mangelt. Menschen ohne Papiere existieren für den deutschen Staat auch weiterhin nicht und bleiben unsichtbar. Auf Wunsch der illegalisierten Frauen, mit denen wir in Kontakt sind, möchten wir darum alle Organisationen, Initiativen und Menschen auffordern, sich für die Legalisierung der Menschen ohne Papiere einzusetzen. Wir fordern ein Recht auf gleichberechtigten Zugang zu öffentlicher Gesundheitsversorgung für alle Menschen, die in Deutschland leben, sowie die Existenzsicherung für alle, die in der Krise ihre Arbeit teilweise oder ganz verloren haben, egal ob formal oder informell. Und wir fordern, dass Arbeitsrechte unabhängig vom Aufenthaltsstatus gelten und auch geltend gemacht werden können. Wir glauben, dass es in Zeiten, in denen viel Verantwortung und Solidarität von uns verlangt wird, extrem wichtig ist, dass illegalisierte Menschen nicht auf der Strecke bleiben und dass auch für sie die Idee einer solidarischen Gesellschaft gelten muss. Die aktuelle Krise zeigt deutlich, dass niemand von grundlegenden sozialen Rechten ausgeschlossen werden darf. Die plötzliche Aufmerksamkeit für systemrelevante“ Sorgearbeiterinnen sollte alle – auch die Arbeiterinnen ohne Papiere – einbeziehen und dazu genutzt werden, dass deren Arbeit mit Rechten versehen, aufgewertet und besser bezahlt wird. Dies ist ein erster und unverzichtbarer Schritt, um weitere, langfristige Ideen zu entwickeln, wie Sorgearbeit gerechter umverteilt werden kann und eine rassistische und patriarchale Arbeitsteilung überwunden werden kann.

 

Llanquiray Painemal und Susanne Schultz engagieren sich in der respect-Initative Berlin. Michel Jungwirth ist aktiv im Bündnis Solidarity City Berlin.

Fußnoten:

[1] Botschaften von illegalisierten Frauen in Berlin – mehr Erfahrungsberichte unter: www.respectberlin.org/. 

[2] Siehe http://www.respectberlin.org/wordpress/2020/04/aktionstag-heute-information-siehe-unten/ https://twitter.com/hashtag/LegalisierungJetzt?src=hashtag_click; https://de-de.facebook.com/events/2286744208301926/. 

[3] Ein weiteres, wiederum anders gelagertes Beispiel einer Erweiterung von Aufenthaltsrechten während der Pandemiekrise ist Italien, wo Erntearbeiterinnen legalisiert werden können, allerdings auch hier nur, wenn sie schon Anfang März registriert waren, nur mit Arbeitsvertrag und für sechs Monate befristet – eine eindeutig ökonomisch begründete Politik der Regularisierung (Süddeutsche Zeitung, 13.5.2020).

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Illegalisierte Arbeiter*innen in Berlin fordern: Legalisierung jetzt!

Foto: Legalisierung jetzt!

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Eine andere Migrationspolitik ist nicht nur möglich, sie passiert schon! Dies zeigten lokale Politiker*innen, Zivilgesellschaft, und Forscher*innen bei der Launch-Veranstaltung der Webseite www.moving-cities.eu . Sie ist als Instrument für Kommunen und zivilgesellschaftliche Organisationen gedacht, die auf der Suche nach Anregungen und Strategien zur Veränderung ihrer lokalen Migrationspolitik sind.

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Wie geht Sozialstaat feministisch?

August 2020 • Sabine Skubsch

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

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Feministischen Bewegungen ist es über viele Jahrzehnte hinweg gelungen, die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit gesellschaftlich zum Thema zu machen. Spätestens mit der Coronakrise ist diese Frage auch im medialen Mainstream angelangt. Wie eine solche Umverteilung von Care-Arbeit zu erreichen wäre, dazu werden in linken Debatten unterschiedliche Ansätze diskutiert – vom bedingungslosen Grundeinkommen über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Arbeitszeitverkürzung, sozial- und familienpolitische Maßnahmen oder einen Ausbau sozialer Infrastrukturen. Was ist aus feministischer Sicht zentral? Und was muss verändert werden, damit Sorgearbeit genauso wertgeschätzt wird, wie die Güterproduktion und der Erwerbsarbeit nicht länger nachgeordnet wird?

„Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ kreist um die Erwerbsarbeit

Das Konzept „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ wird nach wie vor von allen Parteien (mit Ausnahme der AfD) propagiert. Es deckt sich mit dem Wunsch der meisten jungen Paare, die - zumindest in der Theorie – weniger Erwerbsarbeit machen und sich die Kindererziehung teilen wollen. Bei sozialstaatlichen Maßnahmen zur „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ steht insbesondere die Sorge der Arbeitgeberverbände um das zukünftige Arbeitskräftepotenzial im Vordergrund. Der auf Wachstum basierende Kapitalismus ist heute mehr denn je auf gut ausgebildete Arbeitskräfte angewiesen. Die Wirtschaft braucht Frauen, die arbeiten, und sie braucht Menschen, die eine gut ausgebildete nächste Generation heranziehen, was historisch den Frauen zugewiesen wurde. Ziel der staatlichen Familienpolitik ist es daher, die Geburtenrate zu steigern, qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen und die „stille Reserve“, also Frauen mit kleinen Kindern, für die Wirtschaft zu mobilisieren. Ganz in diesem Sinne wirkt das von der ehemaligen Familienministerin Ursula von der Leyen eingeführte Elternzeitgesetz[1] als eine bevölkerungspolitische Maßnahme (vgl. Schultz 2012).

Gut ausgebildeten Frauen gibt es einen Anreiz, Kinder zu bekommen und vollzeitnah zu arbeiten. Gleichzeitig haben die sogenannten „Vätermonate“[2] einen enormen kulturellen Wandel in Bezug auf die geschlechtliche Rollenverteilung bewirkt.

Vor 20 Jahren war es in vielen Branchen noch undenkbar, dass Männer in Teilzeit arbeiten oder Elternmonate nehmen. Der Neoliberalismus ersetzte das „Mann-als-Ernährer-der-Familie-Ideal“ durch das „Alle-Erwachsenen-müssen-arbeiten-Modell“[3] .

Frauen wurden zwar von der Abhängigkeit vom Ehemann befreit, aber an die Stelle der abhängigen Hausfrau wurde die rund um die Uhr aktive Familienmanagerin gesetzt. In der Coronakrise hat sich die Widersprüchlichkeit neuer Arbeitsformen, wie Homeoffice, gezeigt. Durch ständige Erreichbarkeit und Multitasking werden vor allem Mütter dauerhaft überfordert. Unter dem Motto „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ werden Maßnahmen auf den Weg gebracht, die die Zumutung der Mehrfachbelastung abschwächen sollen.

Grundsätzlich infrage gestellt wird diese Politik jedoch nicht, schließlich bleibt sie orientiert an den Erfordernissen der Erwerbsarbeit. Bei der Kinderbetreuung beispielsweise geht es stets darum, dass die Mütter zur Arbeit gehen können. Die Kita-Öffnungszeiten erlauben nicht, zu einer politischen Versammlung oder zum Tanzen zu gehen. Völlig unglaubwürdig klingt das Versprechen von „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ für Frauen in schlecht bezahlten Jobs, bei denen es, obwohl sie ständig hin- und herhasten, einfach nicht zum Leben reicht. Wenig verwunderlich ist es dann, wenn diese Frauen Parteien, die ihnen nicht mehr zu bieten haben, den Rücken kehren.

Inwieweit ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) zu einer gerechten Verteilung der Sorgearbeit beitragen kann, ist in feministischen Diskussionen umstritten. So würde es zwar finanziellen Spielraum für Eltern schaffen, die Arbeit untereinander anders verteilen wollen. Einen Anreiz genau das zu tun, bietet es aber nicht. Da das BGE-Konzept vom Aspekt der sozialen Absicherung ausgeht und die Frage der Verteilung der Arbeit ausklammert, könnte es genauso gut dazu genutzt werden, die traditionelle Rollenverteilung zu stabilisieren.

Verkürzung der Arbeitszeit geht in die richtige Richtung

Die Forderung nach einer Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ist in vielen feministischen Debatten (zu Recht) ein realpolitischer Favorit. Verbündete finden sich in den Gewerkschaften und bei Politiker*innen und Parteien, die das Soziale und die Arbeit in den Vordergrund stellen. Einen Ansatz dazu entwirft Bernd Riexinger in seinem Buch „Neue Klassenpolitik“. Riexinger unternimmt dabei den Versuch einer Abkehr von einer Definition der Arbeiterklasse, die den männlichen Vollzeit-Industriearbeiter als das Normale konstruiert. Die heutigen Lohnabhängigen sind weiblicher, migrantischer und häufig im Dienstleistungsbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu finden, so seine Klassenanalyse. Als realpolitisches Ziel formuliert Riexinger ein „neues Normalarbeitsverhältnis“ von 28 bis 35 Stunden.

Diese Forderung geht in die richtige Richtung, aber sie spricht vor allem Beschäftigte mit einem auskömmlich bezahlten, unbefristeten Vollzeit-Arbeitsverhältnis an. Für die Mehrheit der Frauen sind aber prekäre, schlecht bezahlte oder Teilzeitarbeitsverhältnisse seit langem die Realität. Wie Menschen, die anderthalb Jobs brauchen, um mit dem unzureichenden Lohn über die Runden kommen, die sich mit Minijobs und Teilzeit rumschlagen und sich nichts mehr wünschen als einen unbefristeten Vollzeit-Job, für diese Forderung mobilisiert werden sollen, bleibt eine Herausforderung.

Es klafft noch eine weitere politische Lücke zwischen Bernd Riexingers eindringlicher Beschreibung der heterogenen prekären Arbeitswelt und der Forderung nach einer „neuen Normalarbeitszeit“. Weder eine Kassiererin mit Minijob, noch eine befristet beschäftigte Sozialarbeiterin oder eine Beschäftigte in einer Großküche fühlt sich angesprochen, wenn sie am „atypischen Rand“ verortet wird. Auch bleibt letztlich für sie unklar, wie eine Umverteilung von Arbeit so aussehen kann, dass eine „Normalarbeit“ im Sinne des „neuen Normalarbeitsverhältnis“ für sie in erreichbare Zukunft rückt.

Eine feministische Erzählung muss deshalb die gesellschaftlich notwendige „systemrelevante“ Arbeit aufwerten. Diese muss sich an dem ungeheuren Produzentenstolz messen, der früher im Bergbau vorherrschte und den man heute in der Automobilindustrie findet. Der ver.di-Tarif-Slogan „Wir sind es wert“ geht in diese Richtung. Im Pflegebereich empfinden die Beschäftigten beispielsweise ein hohes Maß an Gebrauchswertstolz und sind sich der Lebensnotwendigkeit ihrer Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes voll bewusst – nur so erklären sich die endlosen Überstunden, die unter den gegenwärtigen Bedingungen nötig sind, um ihren Job den eigenen Ansprüchen gemäß auszufüllen. Statt diesen Produzentenstolz neoliberal ausbeuten zu lassen, gilt es ihn in kämpferisches Selbstbewusstsein zu wenden, wie es den Aktiven in den Auseinandersetzungen der Berliner Charité gelungen ist.

Um offensive Kämpfe führen zu können, muss sich linke Politik auch für Rahmenbedingungen einsetzen, die dies ermöglichen. Wie soll sich sonst eine wachsende Anzahl von prekären (insbesondere weiblichen) Arbeitnehmer*innen von einer linken Politik angesprochen fühlen, die an Regularien anknüpft, die für sie noch nie gegolten haben. Die Forderung nach einer Stärkung der Betriebsräte verfängt bei vielen auch deshalb nicht, weil das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) so gestrickt ist, dass Betriebsräte im Wesentlichen die Interessen der Stammbelegschaft vertreten. Klassenbewusste Politik muss dafür eintreten, dass der Betriebsbegriff im BetrVG so geändert wird, dass alle abhängig Beschäftigten in Betriebsräten vertreten sein können. Eine feministische Klassenpolitik muss auch in solchen Fragen in die Offensive kommen.

Nicht nur Lebensrisiken absichern, sondern das ganze Leben in den Mittelpunkt stellen

Anfang 2020 hat die LINKE ein „Konzept für einen demokratischen Sozialstaat der Zukunft“ vorgestellt, in dem die feministische Forderung nach einer Neuverteilung der Sorgearbeit aber leider nicht Gegenstand ist. Das LINKE Sozialstaatkonzept zielt auf einen „aktiven Sozialstaat, der die Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Pflegebedürftigkeit und Behinderung sowie Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit solidarisch absichert“. Schwangerschaft, Geburt, Kindererziehung und Alter sind aber keine „Lebensrisiken“, es sind Phasen unseres Lebens, in denen wir (mehr als sonst) auf die Sorge anderer angewiesen sind. Wenn Krankheit und Alter „Lebensrisiken“ sind, was ist dann der Normalzustand? Der fitte, gesunde, nichtbehinderte, eher männliche Arbeitnehmer zwischen 18 und 60? Aus feministischer Perspektive braucht es einen Paradigmenwechsel: Alle Menschen sind – mal mehr, mal weniger – auf die Sorge anderer angewiesen. Kriterium für gutes Leben ist, in einer Situation der Hilfsbedürftigkeit versorgt zu werden und ebenso für andere Sorge zu leisten, ohne unangemessene Opfer bringen zu müssen (vgl. Winker 2015).

In die Strategiedebatte der LINKEN Anfang 2020 mischte sich ein im Zuge feministischer Vernetzung in der Partei entstandenes „Feministisches Autor*innenkollektiv“ ein. In ihrem Papier wird eine sozialpolitische Richtung angedeutet, die das ganze Leben in den Mittelpunkt rückt. Dabei geht um viel mehr, als nur ein paar feministische Korrekturen. Nämlich um „eine Gesellschaft, deren Ökonomie sich an den gemeinsam ermittelten Bedürfnissen orientiert, nicht an Wachstum und Profit. Eine Gesellschaft, in der Kinder, Alte und Kranke nicht wegorganisiert werden müssen. ... Statt von der Erwerbsarbeit ausgehend zu überlegen, wie diese zum Leben passt, schlagen wir vor, von der Frage auszugehen, wie wir leben wollen, und daraus abzuleiten, wie wir folglich produzieren und arbeiten müssen und welche Arbeiten wir brauchen.“ Nur, wenn wir einen echten Perspektivwechsel vollziehen und ganz anders auf die zu regelnden Dinge blicken, kommen auch neue Lösungen in den Blick. Lösungen, die „das ganze Leben“ (Frigga Haug) zum Gegenstand auch sozialpolitischer Überlegungen haben.

Feministische Positionen in der Sozialstaatsdiskussion

Erwerbs- und Sorgearbeit müssen dann nicht „vereinbart“, sondern beide müssen verändert und umverteilt werden. Schritte in diese Richtung sind: Erhöhung der bisherigen zwei auf zwölf „Vätermonate“ wie es die LINKE fordert[4] und ein vom Einkommen unabhängiges Elterngeld. Das von der SPD geforderte Familiengeld[5] geht schon in diese Richtung.

Gleichzeitig müssen sozialstaatliche Anreize zur Beibehaltung der traditionellen Rollenverteilung beseitigt werden: Kein Ehegattensplitting, das Familien, in denen einer viel und der andere wenig oder gar nichts verdient, steuerlich bevorzugt; dafür ein stärkere Gewichtung der Sorgearbeit bei den Rentenansprüchen; keine beitragsfreie Mitversicherung bei der Krankenversicherung; stattdessen eine Bürgerversicherung für alle und eine Pflegeversicherung, die die gesamten Pflegekosten abdeckt. Familien stehen oft vor dem Dilemma, dass entweder die hohen Zuzahlungen für Pflegeheime alle Ersparnisse aufbrauchen oder meist die Frauen die Pflege zu Hause übernehmen müssen – häufig unterstützt durch Migrantinnen, die in einer tolerierten Informalität einen relevanten Teil der häuslichen Pflege leisten.

Eine weitere wichtige Säule ist die Stärkung der öffentlichen sozialen Infrastruktur. Bildung (Kitas und Schulen), Gesundheit und Pflege gehören zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Ein entscheidender Kampf um die Zukunft des Sozialstaats wird gegen die profitorientierte Privatisierung von Krankenhäusern, Kitas und Pflegeheimen geführt werden müssen. Die Daseinsvorsorge muss in Kommunales oder anderes Gemeinschaftseigentum zurückgeführt werden und allen kostenlos oder gegen geringes Entgelt zur Verfügung gestellt werden.

Sozialstaat, Solidarität und Demokratie am Beispiel von Senior*innenbetreuung und Pflege

Eine feministische Sozialstaatsdiskussion kann sich nicht auf die paternalistische Vorstellung beschränken, dass der Staat alles - möglichst zum Wohle der Bürger*innen - regeln soll. Sozialstaatliche Maßnahmen dürfen die Menschen nicht auf Objekte der Fürsorge reduzieren, sondern müssen zur Beteiligung anregen, mit dem Ziel ein solidarisches Miteinander zu fördern. Beispiele dafür sind die Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen Wohn-, Produktions- und Verteilungsgenossenschaften, die auf Selbsthilfe und Kooperation beruhen. In den 1960er und 1970er Jahren bildeten sich überall selbstverwaltete Kitas, selbstinitiierte Stadtteilhilfen, Arbeitskollektive, die leider oft die neoliberalen Reformen nicht überlebten.

Eine feministische Sozialstaatsdebatte muss mit der Diskussion um solidarische Praxen verbunden werden. Es geht nicht nur um soziale Absicherung, sondern um Mitgestaltung und Partizipation in allen Lebensabschnitten: Selbstbestimmung in der Geburtshilfe, altersgemäße Beteiligung von Schüler*innen an der Strukturierung des Schulalltags, selbstverwaltete genossenschaftliche Wohnprojekte und schließlich auch ein gutes selbstbestimmtes Leben im Alter. Die Kampagne der LINKEN zu Gesundheit und Pflege stößt bei den Beschäftigten auf viel Anerkennung. Aber linke Pflege-Politik kann sich nicht auf die Ansprache der bezahlten Beschäftigten in der Pflege beschränken. Sie muss auch die Alten und Kranken und diejenigen, die zu Hause pflegen (fast ausschließlich Frauen) adressieren. Wie selbstbestimmte Behindertenpolitik schon lange fordert, müssen Menschen, die stark auf die Sorge anderer angewiesen sind, als Subjekte ernst genommen werden. Für viele ältere und behinderte Menschen war es in der Coronazeit unbefriedigend, dass sie zwar durch Isolationsmaßnahmen geschützt, aber nicht nach ihren Wünschen gefragt wurden. Wochenlanger Lockdown in Pflegeeinrichtungen ohne Kontakt zu den Angehörigen haben viele Bewohner*innen als „eingesperrt sein“ empfunden.

Um in solchen Fällen angemessene Lösungen zu finden, muss die soziale Infrastruktur demokratisiert werden. Carenehmer*innen und deren Angehörige genauso wie Caregeber*innen müssen an Entscheidungen sozialer Institutionen beteiligt werden. Gabriele Winker schlägt hierfür den Aufbau von „Care-Räten“ vor, in denen Personen, die bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit leisten und empfangen, vertreten sind. Sie sollen Öffentlichkeit für Missstände in Pflege, Erziehung und Sozialem schaffen und politische Vorschläge für gute Pflege, Betreuung und Erziehung aus Sicht der Betroffenen erarbeiten. Perspektivisch sollen diese Care-Räte in alle kommunalen Entscheidungen, die die Daseinsvorsorge betreffen, eingebunden werden. Statt kommerzieller Pflegeheime müssen Kommunen (finanziert vom Bund) eine wohnortnahe stadtteil- oder dorfbezogene Versorgung für Senior*innen schaffen. Dazu gehören selbstorganisierte Projekte wie Mehrgenerationen-Wohnen, Alters-WGs oder genossenschaftlich organisierte Pflegedienste.

Der Wunsch nach solchen Projekten ist allerorten vorhanden. Oft scheitern sie aber an der Finanzierung und an fehlender Planungskompetenz. Zur Unterstützung muss die öffentliche Hand eine Struktur von Projektmanager*innen, Betriebswirt*innen und Sozialarbeiter*innen zur Verfügung stellen. Ein gutes Beispiel für eine wohnortnahe Infrastruktur hat die Bürgergemeinschaft Eichstetten in einer ländlichen Region am Kaiserstuhl geschaffen. Das Motto lautet: „Wenn die Menschen nicht mehr zum Leben gehen können, muss das Leben eben zu den Menschen kommen.“ Ziel ist, den Bewohner*innen alle Dienste anzubieten, die es ermöglichen bis ins hohe Alter ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben im Ort zu führen.

Herausforderungen einer feministischen Sozialstaatsdiskussionen

Der Feminismus hierzulande ist weitgehend weiß, mittelständisch und akademisch geprägt. Es fehlen Repräsentantinnen der migrantischen und autochthonen Arbeiterinnen, die abends die Büros putzen oder morgens die Brötchen verkaufen. Um dies zu ändern, ist es nötig, allen in Deutschland lebenden Menschen – Geflüchtete und Illegalisierte eingeschlossen – einen Zugang zum sozialstaatlichen Netz zu verschaffen. Dies nicht zu tun, ist nicht nur unsozial, sondern reproduziert dauerhaft ethnische Abwertungen und belässt migrantische Frauen in ihren vielfältigen Abhängigkeiten zwischen Ehemann und prekärer oder nicht-legaler Beschäftigung. Der Kapitalismus, der alles zur Ware macht, kommodifiziert zunehmend die Haus- und Sorgearbeit.

Die Coronakrise hat zumindest dazu geführt, dass die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte wahrgenommen werden. Dass in den Küchen und im Reinigungsdienst der profitorientierten Krankenhäuser und Pflegeheime sowie in Privathaushalten meist weibliche und migrantische Arbeitskräfte oft unter Mindestlohn und ohne die geltende rechtliche Absicherung beschäftigt werden, wird aber verdrängt. Feministinnen fordern mehr Repräsentation von Frauen, was richtig ist. Mehr Frauen sollen verantwortliche Positionen und die Hälfte der Abgeordnetenplätze (Paritégesetz) besetzen. Feministisches Ziel kann aber nicht sein, dass während mehr Frauen in die Parlamente einziehen, andere weiterhin schlecht entlohnt und mit kaum Teilhabemöglichkeiten putzen, kochen und pflegen. Forderungen nach stärkerer Vertretung von Frauen drohen neoliberal abzudriften, wenn nicht gleichzeitig die Frage der ungleichen Verteilung der Sorgearbeit, der sozialen und der rechtlichen Ungleichheit angegangen wird.

Fußnoten

[1] Elterngeld bekommen Mütter und Väter, wenn sie nach der Geburt des Kindes nicht oder nur noch wenig arbeiten wollen. Die staatliche Unterstützung beträgt 300 Euro bis 1.800 Euro im Monat, abhängig vom Netto-Verdienst, das der zu Hause bleibende Elternteil vor der Geburt des Kindes hatte.

[2] Das Elterngeld wird maximal 14 Monate lang gezahlt, wenn sich beide an der Betreuung beteiligen. Jedes Elternteil muss dafür mindestens zwei Monate zu Hause bleiben.

[3] In zweifacher Hinsicht ist der vielfach genutzte Ausdruck „Doppelverdiener-Familie“ irreführend: erstens, weil er auf das Ideal der Familie mit dem Mann als Ernährer Bezug nimmt und zweitens, weil er suggeriert, ein Haushalt hätte nun das Doppelte des zum Leben benötigten Einkommens.

[4] „Zwölf Monate Elterngeldanspruch pro Elternteil (bzw. 24 Monate für Alleinerziehende), der individuell und nicht übertragbar ist.“(Sozialstaatsprogramm DIE LINKEN)

[5] Familienarbeitszeit-Modell: nach dem Elterngeldbezug soll es drei Jahre lang eine Subvention geben, wenn beide Eltern ihre Arbeitszeiten angleichen (bei Alleinerziehenden sind partnerunabhängig 80 Prozent die Richtschnur).  

Literatur

Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution, Bielefeld

Sabine Skubsch lebt in Karlsruhe und ist Diplompädagogin und Lehrerin. Sie ist Betriebsrätin bei einem freien sozialen Träger und aktiv im Landesvorstand der LINKEN in Baden Württemberg. Außerdem ist sie Mitglied in der Frauenredaktion von Das Argument und in der Redaktion der Zeitschrift LuXemburg.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wie-geht-sozialstaat-feministisch

Foto: i bi / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

#Krise #Feminismus #Hausarbeiterinnen #Migration #Alternativen #Pflege

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Feministischen Bewegungen ist es über viele Jahrzehnte hinweg gelungen, die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit gesellschaftlich zum Thema zu machen. Spätestens mit der Coronakrise ist diese Frage auch im medialen Mainstream angelangt. Wie eine solche Umverteilung von Care-Arbeit zu erreichen wäre, dazu werden in linken Debatten unterschiedliche Ansätze diskutiert – vom bedingungslosen Grundeinkommen über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Arbeitszeitverkürzung, sozial- und familienpolitische Maßnahmen oder einen Ausbau sozialer Infrastrukturen. Was ist aus feministischer Sicht zentral? Und was muss verändert werden, damit Sorgearbeit genauso wertgeschätzt wird, wie die Güterproduktion und der Erwerbsarbeit nicht länger nachgeordnet wird?

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Reichtum des Öffentlichen

Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht

August 2020

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen beinharte Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor. Die Unternehmen versuchen, ihre Verluste zu sozialisieren. Nach den öffentlichen Schulden drohen eine Neuauflage von Austeritätspolitiken ebenso wie neue Angriffe der Arbeitgeberseite.

Die Verteidigung des Sozialstaats geht also in eine neue Runde. Doch sie sollte nicht als Abwehrkampf geführt werden, als ein Versuch, das Bedrohte zu konservieren. Stattdessen ist es Zeit, den Sozialstaat gründlich zu erneuern und seine alten Fehler zu beheben. Doch wie sieht ein Sozialstaat aus, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist? Wie lässt sich verhindern, dass sich die Spaltung der Subalternen weiter vertieft? In Krisen drohen die Kapitalfraktionen ihre Spielräume auf Kosten der Lohnabhängigen zu erweitern. Wie kann eine Alternative dazu aussehen? Und wo wird jetzt schon dafür gekämpft?

Krise an zwei Fronten

Bisher war die Finanzierung des Sozialstaates an wirtschaftliches Wachstum gebunden. In einem hart erkämpften historischen Klassenkompromiss wurden Sozialleistungen auf der Grundlage stetigen Wachstums finanziert und schrittweise ausgebaut. Dies war ein Kompromiss, der lange nicht zulasten der Profite ging. Als die Profitrate zu fallen begann, wurde er mit der neoliberalen Offensive seit Beginn der 1980er Jahre einseitig aufgekündigt. Der Sozialstaat geriet mehr und mehr unter Druck. Angesichts von Globalisierung und Transnationalisierung galt ein starker Sozialstaat als Negativfaktor im internationalen Wettbewerb (auch wenn inzwischen im Sinne des „social investment state“ eine produktivistische Neuorientierung erfolgt ist; vgl. Dowling 2016). Die Begründung: Unter dem Kostendruck der Konkurrenz könnten eben nicht alle Wohltaten finanziert werden. Nach und nach wurden die Systeme sozialer Sicherung ausgehebelt und neoliberal umgebaut. Mit dem sogenannten New Public Management gerieten betriebswirtschaftliche Kriterien zum Maßstab des Handelns auf sämtlichen Feldern des Sozialsystems (vgl. Wohlfahrt 2015).

Seitdem kriselt der Sozialstaat an zwei Fronten: Einerseits haben Jahrzehnte der neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik den Bereich sozialer Infrastrukturen und öffentlicher Dienste finanziell und personell ausgezehrt – vom Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Bereich über die Wohnraumversorgung bis hin zu Kultur und Mobilität. Es fehlt an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, aber auch an Verwaltungspersonal, Steuerprüfer*innen oder Planer*innen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beziffert die Lücke schon jetzt auf über eine Millionen Arbeitskräfte und bei weiter dynamisch wachsendem Bedarf auf bis zu vier Millionen (Ötsch u.a. 2020).

Andererseits führte die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu einem längst überwunden geglaubten Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut.[1] Die Ursachen sind vielfältig und hängen doch zusammen: Deregulierung der Arbeitsmärkte und endemische Ausbreitung von Niedriglöhnen und unfreiwilliger Teilzeit, Privatisierung und Ausdünnung der sozialen Infrastrukturen, steigende Mieten sowie eine ungerechte Besteuerungspolitik, die hohe Einkommen sowie große Vermögen begünstigt. In der Folge sehen sich Millionen Menschen mit unsicheren Zukunftsaussichten konfrontiert: Aufgrund von Arbeitslosigkeit, aufgrund von Soloselbständigkeit oder Mini- und Midi-Jobs erwerben immer weniger Menschen ausreichende Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen – unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen. Aber selbst dann, wenn Ansprüche bestehen, reicht das Leistungsniveau oftmals nicht länger für ein Leben ohne Armut. Mit Niedriglöhnen oder erzwungener Teilzeit lässt sich keine vernünftige Rente erwirtschaften oder gar privat vorsorgen. Für große Teile der Bevölkerung bieten die bestehenden Sicherungssysteme keine Perspektive mehr – das Sicherungsversprechen des Sozialstaates verliert an Glaubwürdigkeit und muss grundlegend erneuert werden.

Kein Zurück zum „alten“ Sozialstaat

Wer den Sozialstaat erhalten will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sich seine Gestalt wandeln muss. Um für die neu zusammengesetzte Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts attraktiv zu sein, muss das Konzept von Sozialstaatlichkeit erweitert und verändert werden. Dazu gilt es, linke Kritiken an seiner bisherigen Verfasstheit aufzunehmen.

Der Sozialstaat war immer gekoppelt an spezifische Produktions- und Lebensweisen, an ein bestimmtes Geschlechterregime und an das damit verbundene Modell von Erwerbsarbeit und Reproduktion. Feminist*innen haben die Norm des männlichen Alleinverdieners im fordistischen Wohlfahrtsstaat kritisiert. Soziale Absicherung ist darin an (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit und an eine weitgehend lückenlose Erwerbsbiografie gebunden. Gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, die historisch an Frauen delegiert und in den Verantwortungsbereich der privaten Haushalte verlagert wurde, erfährt weder Anerkennung noch soziale Absicherung. Damit ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit systematisch in das fordistische Wohlfahrtssystem eingeschrieben. Es verstärkt zudem mit seinem patriarchalen Familienmodell die Abhängigkeit von Frauen und benachteiligt queere Menschen. Obgleich sich die Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse inzwischen deutlich gewandelt haben, bleiben die Verkopplung von sozialer Absicherung und Erwerbstätigkeit sowie die Privilegierung eines heteronormativen Ehe- und Familienmodells bestehen. Deswegen: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Erneuerung des Sozialstaates.

Die meisten Leistungen des Sozialstaates sind außerdem an nationale Zugehörigkeit gebunden. Es profitieren von ihnen nur diejenigen, die über eine bestimmte Staatsbürgerschaft verfügen oder über die offizielle Lohnarbeit sozialversichert sind. Geflüchtete, Personen im Asylverfahren und insbesondere Illegalisierte haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, obwohl Letztere in Sektoren wie Hausarbeit, Pflege, Bau, Landwirtschaft, Sexarbeit, Hotellerie, Gastgewerbe oder Reinigungsgewerbe einen elementaren Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung leisten (vgl. Behr 2010). Über das Aufenthaltsrecht wird migrantische Arbeit abgewertet, viele sind gezwungen, besonders schlechte Löhne und unsichere Bedingungen zu akzeptieren, was sich nicht nur in geminderten Leistungsansprüchen niederschlägt, sondern außerdem eine gesellschaftliche Aufwertung der genannten Arbeiten (Hausarbeit, Pflege etc.) erschwert. Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse werden dadurch verschärft.

Aber auch auf Migrant*innen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wirkt sich der bestehende Sozialstaat diskriminierend aus. Sie leiden besonders häufig unter unterbrochenen Erwerbsbiografien und Phasen informeller, schlechter bezahlter oder generell prekärer Beschäftigung, was geringere Anwartschaften zur Folge hat. Nicht erst angesichts wachsender Migrationsbewegungen muss diese Selektivität des Sozialstaats in Bezug auf die nationale Herkunft überwunden werden. Es bedarf hier einer grundlegenden Erneuerung, um ihn für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Eine große Aufgabe.

Die linke Kritik am fordistischen Sozialstaat hat schließlich deutlich gemacht, dass er – trotz seiner zweifellos positiven Funktion der Absicherung und Umverteilung – auch paternalistische Züge trägt und zur Passivität anhält. Das bürokratische, starre und auf Kontrolle orientierte Hilfesystem ist nicht nur an bestimmte Erwerbsmodelle und Lebensformen gebunden, sondern wirkt an vielen Stellen entmündigend. Der Ausschluss vieler Leistungsempfänger*innen von gesellschaftlicher Teilhabe wird so – trotz sozialer Abfederung – letztlich fortgeschrieben.

Zwar sind etliche, von Luc Boltanksi und Ève Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnete Einwände der neuen Linken später vonseiten neoliberaler Gegner*innen des Sozialstaats aufgenommen und entsprechend enteignet worden. Dennoch steckt hier ein für linke Zukunftsentwürfe unhintergehbarer Impuls: Ein Zurück zu den korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats des 20. Jahrhunderts ist keine Alternative, nicht nur wegen gewandelter Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse, sondern auch wegen seines ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Mit einer Erneuerung sozialer Sicherungssysteme ist darum auch die Aufgabe ihrer grundlegenden Demokratisierung verbunden.

Wo die Herausforderungen liegen

Die sozialen Sicherungssysteme stehen vor mehreren neuen Herausforderungen, die mit alten Konzepten nicht gelöst werden können.Sozial "abgehängte" Räume: Die Folgen der Erosion des Sozialstaates zeigen sich besonders prägnant auf der sozialräumlichen Ebene. Soziale Ungleichheit verschärft sich und dokumentiert sich zunehmend in Postleitzahlen, teils entstehen „abgehängte" Räume mit extrem lückenhafter Infrastruktur in benachteiligten Vierteln der Städte und in peripheren Zonen jenseits der Städte. Das trifft am stärksten marginalisierte Gruppen und erzeugt Konkurrenz um bereits knappe Ressourcen. Rechte Sicherheits- und Ordnungsdiskurse, die die Bedrohung einer vermeintlich homogenen Lebensweise der Einheimischen heraufbeschwören, können hieran anschließen. Da ein Großteil der Sozialleistungen von den Kommunen erbracht wird, wachsen zudem die sozialräumlichen Disparitäten zwischen Städten und Regionen.

Krise der Reproduktion: Das fordistische Geschlechter-, Reproduktions- und Familienmodell hat sich stark verändert – ohne dass jedoch Geschlechteregalität oder soziale Rechte für alle erreicht wurden. Heute dominiert nicht länger das Alleinernährer-, sondern das sogenannten Adult-Worker-Modell. Der Zwang, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, trifft nun alle gleichermaßen und verändert auch das Sorgeregime. Zwar werden immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die früher fast ausschließlich privat und unentgeltlich geleistet wurden, heute auch als Erwerbsarbeit erbracht – dies gilt etwa für Pflege und Erziehungsarbeit. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge werden die öffentlichen Angebote jedoch massiv ausgedünnt, was Überlastung, Stress und Erschöpfung zur Folge hat. Care-Arbeit ist auch als Lohnarbeit immer noch mehrheitlich eine Domäne von Frauen und Migrant*innen und wird somit deutlich schlechter bezahlt als andere Tätigkeiten. Ohne Geschlechtergerechtigkeit und ohne ein Ende der Abwertung von migrantischer Arbeit kann es also keine Erneuerung des Sozialstaates geben.

Die Zunahme bezahlter Sorgearbeit und ihre zunehmend privatwirtschaftliche Organisierung wirft auch die Frage neu auf, wo die Grenzen einer kapitalistischen Inwertsetzung von Fürsorge liegen. Ausgehend hiervon ist auch zu klären, ob nicht wichtige gesellschaftliche Aufgaben dem Markt gänzlich entzogen werden müssen, ob und inwieweit also eine Vergesellschaftung oder auch Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge notwendig ist.

Migration: Mit der Zunahme weltweiter Migration stellt sich die alte Frage nach dem Zugang zu bis dato vor allem nationalstaatlich organisierten Sicherungssystemen neu. Die Gesellschaften des Nordens sind noch stärker als bisher zu Einwanderungsgesellschaften geworden. Eine Abschottung gelingt nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche wie dem Anspruch nach Solidarität und Antirassismus. Ein in erster Linie als Versicherungssystem konzipierter Sozialstaat setzt allerdings jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anwartschaften voraus, die mit einer gestiegenen Bewegungsfreiheit und globaler Migration kaum kompatibel sind. Der Ausschluss vieler migrantischer Arbeitskräfte von sozialen Sicherungsleistungen ermöglicht die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sozialstaatliche Rechte müssen deswegen neu gedacht und von einem restriktiv regulierten Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht sukzessive gelöst werden.

Globale Ungleichheit: Das Einkommensgefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern hat zwar über die letzten Jahrzehnte abgenommen. Dies liegt aber vor allem am Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren wie China oder Südkorea oder von sogenannten Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Indien. Andere Länder sind im Prozess neoliberaler Globalisierung weiter zurückgefallen. Krieg und Zerstörung, Ressourcenausbeutung, unfaire Handelsabkommen, ungerechte weltwirtschaftliche Beziehungen und eine Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung in globalen Produktionsketten zerstören die Lebensperspektiven von Millionen. Die dadurch verursachte Ausbeutungsdynamik zwischen Nord und Süd wirft die Frage nach der Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen in den reichen Ländern mit besonderer Schärfe auf. Gleichzeitig hat die Schere zwischen Arm und Reich auch in den wohlhabenderen Gesellschaften ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung selbst. Die wachsende Ungleich unterminiert damit die Fundamente des sozialen Gewebes.

Klimakrise: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme klassenspezifischer Ungleichheiten und einem drastisch steigenden CO2-Ausstoß. Der Anteil, den die Reichen an den weltweiten Emissionen haben, wächst überproportional stark, während der Anteil der Ärmsten rückläufig ist. Dieses Missverhältnis gilt generell auch für die einzelnen Gesellschaften (Kleinhückelkotten u.a. 2016). Mehr Gleichheit ist also nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen notwendig.Die Folgen kapitalistischen Wachstums haben zu einer planetarischen ökologischen Krise geführt, die weitere soziale Verwerfungen sowie eine Zuspitzung der Reproduktionskrise und zunehmende Migrationsbewegungen nach sich zieht und immer mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Damit sind diese Entwicklungen zu nicht mehr hintergehbaren Herausforderungen auch für unser Verständnis von Sozialstaat geworden. Zugleich wird deutlich: „Der Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet“ (Urban). Wenn solidarische Formen der Krisenbearbeitung nicht durchgesetzt werden können und es nicht zu einer Umverteilung von Ressourcen sowie zu einer Verallgemeinerung sozialer Rechte kommt, sind eine Zunahme von Verteilungskonflikten und eine Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse absehbar.

Damit geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Sie betrifft die kommunale, nationale und transnationale Ebene. Doch um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss der Sozialstaat auch finanziert werden. Angesichts der ökologischen Krise kann dabei nicht umstandslos an die Tradition des sozialstaatlichen Kompromisses auf Basis von noch mehr Wachstum angeknüpft werden. Einerseits müssen Unternehmen und Vermögende deutlich stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Andererseits muss das Verhältnis von Steuern und Beiträgen neu austariert werden, um die Abhängigkeit einer sozialen Absicherung von der Erwerbsarbeit zu überwinden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden.

Soziale Infrastrukturen: kostenfrei und demokratisch

Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können. Das zeigt sich auch in den Diskussionen um die Zukunft sozialer Absicherung und die Perspektiven des Sozialstaats im 21. Jahrhundert. Was also wären positive Entwürfe, die die Anliegen der vielfältigen Bewegungen des Protests bündeln könnten? Von den zunehmenden Arbeitskämpfen insbesondere im Bereich Pflege und Erziehung über die Mietenproteste, die Anti-Privatisierungs-Bündnisse bis hin zu den neuen antirassistischen Protesten und der Klimabewegung: Wie könnten gemeinsame Forderungen aussehen, die die unterschiedlichen Anliegen einer pluralen Linken und verschiedenen Teilen der Subalternen aufnehmen und sinnvoll miteinander verbinden?Seit einigen Jahren dreht sich die Debatte – angestoßen von einem Diskussionszusammenhang rund um Joachim Hirsch (2003) und das Frankfurter links-netz (2012) – verstärkt um die Bedeutung sozialer Infrastrukturen als Teil einer postneoliberalen Sozialpolitik. Der Ansatz stellt die sozialen Dienstleistungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Transformation. Nach vielen Jahren neoliberaler Politiken ist hier zum einen der Mangel besonders offensichtlich, zum anderen ist dies der einzige Sektor, der in den Industrieländern ein beträchtliches (klima- und ressourcenneutrales) Beschäftigungspotenzial verspricht.

Statt also Sozialleistungen wie bisher nur über einen Mix aus Versicherungsmodellen und steuerfinanzierten Ansprüchen jeweils individuell abzusichern, besteht die Idee, „soziale Infrastrukturen“ zum Kern eines neuen Sozialstaats zu machen darin, soziale Dienstleistungen konsequent auszubauen und für alle frei – also auch entgeltfrei – zugänglich zu machen. Das betrifft die Gesundheitsversorgung genauso wie den Bereich der (Weiter-)Bildung, der Erziehung und Betreuung, das Recht auf bezahlbares Wohnen und auf Mobilität genauso wie den Zugang zu Energie, Trinkwasser oder zum Internet. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt also – anders als etwa bei einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht primär auf der monetären Absicherung des individuellen Konsums, sondern auf dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, also auf dem kollektiven Konsum.[2]

Alles entgeltfrei? Ja und nein. Vorstellbar wäre beispielsweise, auf allen genannten Feldern eine entgeltfreie Grundversorgung zu ermöglichen und für die Befriedigung darüber hinaus gehender individueller Bedürfnisse, Vorlieben oder Leidenschaften die Menschen ganz oder teilweise bezahlen zu lassen. Für den Bereich der Energieversorgung, die ein modernes menschliches Grundbedürfnis darstellt, würde das Folgendes bedeuten: Die Grundversorgung ist im Rahmen sozialer Infrastrukturen abgedeckt. Wer mehr Energie verbraucht, zahlt dafür, und Vielverbraucher zahlen deutlich mehr, der Preis steigt also progressiv an. Dieses Prinzip ist auf unterschiedliche Bereiche anwendbar (vgl. Schachtschneider/Candeias 2013): Zur Kasse gebeten wird, wer viel verbraucht. Das hieße ein entgeltfreies Pro-Kopf-Trinkwasserkontingent, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen und Luxusautos; entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, die Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle gebührenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, (dauerhaftem) sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums, Vergesellschaftung großen Immobilienbesitzes und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.

Ein solches Konzept wäre nicht nur ein Beitrag zum Abbau von sozialen Ungleichheiten, sondern auch ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise. Investitionen in soziale Dienstleistungen sind ökologisch sinnvoll, da die Arbeit mit Menschen kaum Umweltzerstörung mit sich bringt und deren Ausweitung neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet auch als Ausgleich für die Jobs, die in den rückzubauenden Bereichen klimaschädlicher Industrien verloren gehen werden. Dieser Ansatz hilft nicht nur bei der Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit, sondern auch bei der der (unbezahlten) Reproduktion. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen wird professionelle Care-Arbeit aufgewertet und erhält zusätzliche Ressourcen. Zugleich lässt der Erwerbsdruck nach, da die Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse garantiert ist. Damit steht mehr Zeit für Sorge und Selbstsorge sowie für die Arbeit am Gemeinwesen und politisches Engagement bereit. Nicht zuletzt bietet sich hier auch eine Chance, die für die emanzipative Gestaltung von Geschlechterverhältnissen genutzt werden kann: Der Blick wird stärker auf die reproduktiven Funktionen und Tätigkeiten gerichtet: Was erhält und sichert unser gemeinsames Leben? Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die stärkere Entkopplung der sozialen Teilhabe vom Erwerbsstatus und von der Lebens- oder Familienform – also individuelle Ansprüche für jede und jeden, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft.

Der Ausbau sozialer Infrastrukturen stärkt auch eine solidarische und demokratische Gesellschaft, denn Angst und Unsicherheit vor den notwendigen gesellschaftlichen Umbrüchen werden gemindert. Zugleich erscheinen die diskriminierenden Sozialstaatskonzepte der Rechten weniger attraktiv, wenn Marginalisierung, Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit bekämpft werden. Das Konzept sozialer Infrastrukturen erlaubt es also nicht nur, linke Sozialpolitik jenseits des fordistischen Wohlfahrtstaates neu zu denken. Die Forderung nach einer entgeltfreien, sozialökologischen Grundversorgung für alle, die hier leben (unabhängig von Pass, Geschlecht, Postleitzahl oder sonstigem Status), kann als verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe und eines gesellschaftlichen linken, sozialökologischen solidarischen Pols in der Gesellschaft dienen.

Soziale Infrastrukturen zielen darauf, weite Teile der Daseinsvorsorge dem Markt (wieder) zu entziehen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das bedeutet konkret, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen. Mit der Rekommunalisierung beispielsweise von privatisierten Krankenhäusern, Altenheimen, Kindertagesstätten, Wohnraum oder privaten Mobilitätsdienstleistungen ist nicht zuletzt die Frage der Eigentumsform gestellt – wie insbesondere die Kampagnen gegen überhöhte Mieten zuletzt deutlich gemacht haben. Hier können Umverteilung und soziale Gerechtigkeit mit Forderungen nach Demokratisierung und Emanzipation verbunden werden. Denn jenseits der Eigentumsfrage gilt es, neue Formen der Beteiligung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Soziale Infrastrukturen in öffentlicher Hand bedeutet auch, diese umfassend zu demokratisieren, sie in die Hände der Produzent*innen und Nutzer*innen zu legen. An vielen Stellen wird bereits über Gesundheits- oder Care-Räte diskutiert. Auch regionale Mobilitäts- und Transformationsräte stehen auf der Tagesordnung. Wir könnten so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen und erste Schritt in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus gehen (vgl. Redaktion prager frühling 2009).

Ein strategischer Vorschlag zur richtigen Zeit

Wie lässt sich so ein Umbau öffentlicher Dienstleistungen durchsetzen? Fest steht, das Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn unterschiedliche Akteure darin ihre Interessen wiederfinden. Die Idee kostenfreier, demokratischer Infrastrukturen kann unserer Ansicht nach Spielräume für linke Politik eröffnen: Soziale Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, Spaltungen zu überwinden und solidarisch zu bearbeiten, weil sie egalitäre Zugänge für unterschiedliche Teile der Subalternen bieten. In funktionierenden sozialen Infrastrukturen kommt die Idee eines anderen kollektiven Wohlstands zum Ausdruck, die imstande ist, gemeinsame Interessen an einem öffentlichen Reichtum überhaupt erst zu artikulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. Candeias 2019, 6). Außerdem bietet sich die Chance, aus fruchtlosen, von Gegensätzen geprägten linken Debatten herauszukommen, und zwar hinsichtlich mehrerer Streitfragen:

Das bedingungslose Grundeinkommen: Von diesem Grundeinkommen erhoffen sich beispielsweise Erwerbslose, Soloselbstständige und prekär Beschäftigte mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten dagegen weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Die Idee „sozialer Infrastrukturen“, verbunden mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, kann hier neue Perspektiven aufzeigen und neue Bündnisse ermöglichen.

Die Wachstumsfrage: Auch an diesem Punkt steckt die linke Debatte fest: zwischen Positionen von Degrowth-Anhänger*innen und denen keynesianisch inspirierter Vertreter*innen qualitativen Wachstums. Dabei streitet niemand ab, dass bestimmte Bereiche schrumpfen müssen, etwa die mit hohem Stoffumsatz verbundene industrielle Produktion, und andere zunächst wachsen müssen, wie die gesamte Care-Ökonomie und eben die sozialen Infrastrukturen, bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Ein solches qualitatives Wachstum ist übergangsweise notwendig, nicht zuletzt aufgrund der Lücken in vielen Bereichen der Reproduktion. Auch alternative industrielle Produktion ist notwendig – dies gilt vor allem für Länder des globalen Südens, aber auch hier für ressourcen- und klimaschonende Innovationen. Ein simpler Gegensatz von Wachstums- versus Postwachstumspositionen ist daher kontraproduktiv. Es muss um ein Einschwenken auf einen mittelfristigen Kurs einer „Reproduktionsökonomie“ (Candeias 2011) gehen, in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr stofflich wachsen. Soziale Infrastrukturen stünden im Zentrum einer solchen Reproduktionsökonomie.

Sie wären damit auch die wichtigste Säule für eine neue öffentliche Ökonomie, ohne die eine sozialökologische Transformation kaum möglich sein wird. Es gibt nur wenig Ansätze, die einer öffentlichen Produktionsweise eine eigene ökonomische Qualität zugestehen. Ausnahmen sind zum Beispiel die Ansätze eines "Public Value" (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder einer "Sozialwirtschaft" (Müller 2005 u. 2010). Dafür notwendig wäre eine andere gesellschaftliche Buchführung, die vorhandene wie benötigte Ressourcen gebrauchs- und bedarfsorientiert ins Verhältnis setzt und die die Frage ins Zentrum stellt, zu welchem Zweck und wie wir diese Ressourcen eigentlich einsetzen wollen. Eine solche gesellschaftliche Buchführung könnte eine von kapitalistischen Werttransfers unabhängige Grundlage für eine öffentliche Produktionsweise bieten. Der Sozialstaat wäre dann nicht nur kompensatorisch für den Ausgleich sozialer Verwerfungen und als Stabilisator in Zeiten von Krise zu denken, sondern wäre selbst Element einer solchen öffentlichen Ökonomie. Er wäre die Grundlage einer anderen Form des Produzierens und Reproduzierens, die mit dem Begriff grüner Infrastruktursozialismus umschrieben werden kann.

Verbindende Klassenpolitik für den grünen Infrastruktursozialismus…

Für anstehende sozialökologische Transformationskonflikte ist eine ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur ein Sicherheitsversprechen, das notwendig gewordenen Veränderungen das Bedrohliche nimmt und eine positive Zukunft denkbar werden lässt. Viele Bewegungen und die LINKE haben sich in den letzten Jahren bereits am Konzept der sozialen Infrastrukturen orientiert und es zu einem verbindenden Projekt werden lassen. Hier treffen sich Fragen der Umverteilung mit denen nach Freiheitsrechten und Demokratie, Fragen der Klassenpolitik mit Fragen der Anerkennung und Ermöglichung von Diversität und verschiedenen Lebensweisen.

Auch von anderer Seite wird der Frage sozialer Infrastrukturen (endlich) neue Bedeutung zugemessen: Eine neue "Fundamentalökonomie", wie Wolfgang Streeck es im Anschluss an eine englische Autorengruppe nennt (Foundational Economy Collective 2019), ist ein Bezugspunkt auch für sozialdemokratische Intellektuelle (vgl. u.a. SPW 2019), für Gewerkschaften wie die IG Metall, ver.di, die Eisenbahn- & Verkehrsgewerkschaft oder die GEW, aber auch für Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch für die Umweltbewegung und -verbände.

Die Bedingungen für große progressive Entwürfe sind gerade nicht gut, es stehen beinharte Auseinandersetzungen um die immensen Kosten der Krise bevor. Zugleich hat die Corona-Krise viele vermeintlich feststehende Wahrheiten infrage gestellt und aufgezeigt, dass politische Reaktionsmuster ins Wanken geraten können. Innerhalb kürzester Zeit war es nicht nur möglich, im Sinne der Pandemieprävention die Wirtschafts- und Konsumkreisläufe ganzer Gesellschaften herunterzufahren und damit – zumindest vorübergehend – das Primat der Politik vor das der Ökonomie zu setzen. Es ist im Zuge der Krisenbekämpfung auch möglich geworden, große staatliche Finanzvolumina zur Stützung von Unternehmen, Erwerbstätigen und öffentlichen Infrastrukturen sowie zur Ankurbelung der Konjunktur zu mobilisieren und dafür die "schwarze Null" von heute auf morgen über Bord zu werfen. Auf der Ebene der europäischen Regierungen wurde zudem das Verbot der gemeinsamen Verschuldung geschliffen. Das alles bedeutet für den weiteren Fortgang der Krise noch gar nichts, wie erwähnt stehen beinharte Verteilungskämpfe bevor. Es zeigt aber doch, dass das bisher scheinbar so fest verankerte marktliberale TINA-Prinzip[3] in einer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung aufgeweicht wurde. Unter der Wucht der Pandemie gewannen nicht nur eine andere Finanz- und Schuldenpolitik, sondern allgemein eine vorausschauendere, staatliche Steuerung und Intervention an Attraktivität. An solchen Tabubrüchen gilt es anzusetzen. Es sind kleine erweiterte Spielräume für eine gesellschaftliche Linke, die es zu nutzen gilt, um neue, um andere Pfade denkbar zu machen und zu erkämpfen (vgl. IfG & Friends 2020).

…und wo sie heute schon stattfindet

Um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen wird von vielen Akteuren bereits konkret gekämpft. Am sichtbarsten ist dies momentan wohl im Gesundheitswesen der Fall. In der ab September anlaufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (ÖD) wird es um eine Aufwertung der Pflege gehen. Bund und Länder haben angekündigt, dass es angesichts der Krise nichts zu verteilen gibt. Trotz des größten Rettungspakets der Geschichte soll es für die „systemrelevanten“ Berufe also bei einer symbolischen Anerkennung bleiben. Für höhere Löhne in der Pflege, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Personalquoten wird schon seit Langem gestreikt und gekämpft. Die Forderung nach einer bedarfsorientierten Finanzierung und nach mehr Personal in diesem wichtigen Bereich des Gesundheitswesens könnte zu einem Kristallisationspunkt von Kämpfen sowohl von Beschäftigten als auch von Nutzer*innen sozialer Infrastrukturen werden. Im Sinne eines Infrastruktursozialismus geht es außerdem darum, diese wichtigen Funktionen in gesellschaftliche Verantwortung zurückzuholen – also um eine Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Ähnlich steht es um Bildung und Erziehung, auch hier wird im Rahmen der Tarifrunde ÖD für eine Aufwertung und für bessere Angebote gestritten. Und auch hier hat die Pandemie schonungslos offengelegt, wie schlecht dieser elementare Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausgestattet ist – und zwar sowohl was das qualifizierte Personal angeht als auch die physische und digitale Hardware. Um in den Bereichen Bildung, Erziehung und soziale Arbeit verlässliche soziale Infrastrukturen für alle durchzusetzen, bedarf es neben einer besseren tariflichen Entlohnung des Personals des Ausbaus von Kitaplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten. Zudem wird vonseiten der Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, der Partei DIE LINKE und anderen schon seit Längerem für die bundesweite Abschaffung von Kitagebühren gestritten. Mit diesen Maßnahmen könnte die in Deutschland besonders dramatisch ausgeprägte Bildungsungleichheit verringert und mehr Teilhabe und Demokratie möglich werden.

Parallel zur Tarifrunde im ÖD werden erstmals bundesweit die Tarife im öffentlichen Nahverkehr verhandelt. Neben einer Entlastung durch mehr Personal geht es um einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Angesichts der zugespitzten Klimakrise ist das Letztere ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Fridays for Future, ver.di, die LINKE und andere wollen diese Auseinandersetzungen als gemeinsames Projekt angehen. Konkrete Schritte, um „Mobilität für alle“ als soziale Infrastruktur zu entwickeln, gibt es in einigen Städten schon: Der Einstieg in einen generellen Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist ein kostenloses Jahresabo für Schüler*innen, Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, kombiniert mit der Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle anderen. Dies soll den notwendigen Umstieg vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel erleichtern. Damit der steigende Bedarf an öffentlichen Nah- und Fernverkehrsmitteln überhaupt gedeckt werden kann, muss das Schienennetz ausgebaut und muss eine alternative Produktion von Straßenbahnen, E-Bussen, Zügen, U-Bahnwaggons etc. angeschoben werden. Zumindest Teile davon könnten in öffentlichen Unternehmen realisiert werden und wären damit ein weiterer Baustein der oben skizzierten öffentlichen Ökonomie.

Im Bereich Wohnen & Miete ist die Auseinandersetzung schon weiter. Hier geht es um die Verteidigung eines gesetzlichen Mietendeckels, wie er bisher in Berlin beschlossen wurde, und darum, ihn auf andere Bundesländer auszuweiten. Auch hier wird konkret über Vergesellschaftung diskutiert. Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co hat dies zum Ziel. Um die Menge an bezahlbarem Wohnraum zu erhöhen, wird der Bau von Sozialwohnungen in großer Zahl über eine „neue Gemeinnützigkeit“ ins Auge gefasst. Auch die Gründung einer öffentlichen Bauhütte, also eines Verbunds von Gewerken in öffentlicher Hand, wäre nützlich, um sich von der Bauindustrie unabhängig zu machen.

Auch in feministischen Debatten und Kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit spielt der Ausbau sozialer Infrastrukturen seit Jahren eine wichtige Rolle. Die internationale Bewegung für einen feministischen Streik und Debatten um eine feministische Klassenpolitik stellen die Aufwertung und Entlastung entlohnter wie unbezahlter Sorgearbeit ins Zentrum. Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit zielt auf eine Ausweitung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen, genauso wie hierzulande das queer-feministische Netzwerk Care Revolution. Dort organisieren sich unentlohnt Sorgende zusammen mit professionellen Care-Arbeiter*innen und denjenigen, die als Patient*innen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Gute Arbeitsbedingungen und Ausstattung in Kitas, Ganztagsschulen, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz reduzieren die Überlastung insbesondere von Frauen und ermöglichen eine Aufwertung wie eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit (vgl. Fried/Schurian 2016).

Kämpfe um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren in der weltweiten Bewegung für solidarische Städte gebündelt (vgl. Christoph/Kron 2019). Städte und Kommunen werden hier als Terrain gesehen, um eine demokratische Teilhabe und den Zugang zu lebenswichtigen Leistungen und Infrastrukturen für Geflüchtete und Illegalisierte lokal zu ermöglichen. New York City hat als erste Stadt eine “City Card” eingeführt, eine Art kommunales Personaldokument, das den Zugang zu städtischen Leistungen wie Gesundheit und Bildung ermöglicht sowie den Besuch von Bibliotheken und Museen, aber auch die Eröffnung eines Bankkontos und Abschluss eines Mietvertrags. Darüber hinaus bietet die "City Card" Schutz vor racial profiling, Polizeigewalt und Abschiebung – sie wird von der lokalen Polizeibehörde anerkannt und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Papiere. Auch in Europa wird an vielen Orten über eine "City Card" diskutiert. Zürich und Bern gehen hier voran,[4] aber auch in Berlin denkt die LINKE über die Einführung eines solchen Ausweisdokumentes nach (vgl. Frank 2019).

In Sachen Finanzierung braucht es Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen. Absehbar ist bereits jetzt, dass die Argumente und Konzepte der Austerität spätestens nach der nächsten Bundestagswahl mit Wucht durchschlagen werden. Spätestens dann wird genauer darüber verhandelt werden, wie und von wem die zur Pandemiebekämpfung aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden sollen. Das alles findet unter anderem vor dem Hintergrund der weiterhin ungelösten Altschuldenproblematik der Kommunen in Höhe von derzeit geschätzt rund 45 Milliarden Euro statt.Die Kommunen aber sind die Orte, an denen die Menschen ganz maßgeblich ihre Alltagserfahrungen sammeln und ihre Leben gestalten. Weitere Einschränkungen in weiten Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge werden der Entdemokratisierung, dem Frust und der Akzeptanz destruktiver Konzepte der Rechten sowie weiteren Klassenspaltungen Vorschub leisten. Umgekehrt kann der Ausbau sozialer Infrastrukturen, wie beschrieben, nicht nur Ungleichheiten bekämpfen, sondern eben auch mehr Demokratie und Teilhabe (auch vormals in der Öffentlichkeit unterrepräsentierter Gruppen) ermöglichen.

Für all das braucht es starke Initiativen von unten, die für eine solche Perspektive weitere kampagnenfähige und öffentlichkeitswirksame Kristallisationspunkte identifizieren, an denen es sich lohnt, auf verschiedenen Ebenen (kommunal, national, europäisch etc.) gleichzeitig produktive Konflikte aufzumachen und voranzutreiben. Dafür müssen auch und vor allem diejenigen gewonnen werden, die unter den derzeitigen Mängeln der sozialen Infrastrukturen am stärksten leiden.

Es wird entscheidend sein, ob es bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr gelingen wird, einen sozialökologischen Block zu formen, der Aufwertung und Ausbau sozialer Infrastrukturen zum Fluchtpunkt eines gemeinsamen Projekts macht (das auch nach der Wahl noch Bestand hat). Denn nur mit massivem gesellschaftlichen Druck und einer Bündelung von Kräften lassen sich konsequente Schritte in diese Richtung durchsetzen – Schritte in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus.

Fußnoten

[1] Die soziale Ungleichheit fällt nach neuesten Zahlen noch drastischer aus, als bislang angenommen: Demnach besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland rund 35 Prozent statt, wie bislang angenommen, 22 Prozent des Nettovermögens, die oberen zehn Prozent 67,3 statt 58,9 Prozent (Bartels u.a. 2020).

[2] Dies bedeutet nicht, die Bedeutung und Errungenschaft des klassischen Sozialversicherungsmodells zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Eine demokratischere, solidarischere Gesellschaft muss auch das Sozialversicherungswesen in den Blick nehmen, ausbauen und universalisieren, um die individuellen Risiken und Brüche im Lebenslauf besser abzusichern. Das heißt unter anderem, dass Elemente einer Mindestsicherung (etwa eine Mindestrente, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, oder eine Kindergrundsicherung etc.) gegenüber leistungsbezogenen Anwartschaften verstärkt werden und die Versicherungspflichten ausgeweitet werden müssen. Denkbar wären hier eine umfassende Erwerbstätigenversicherung (unter Einbeziehung auch von Beamt*innen, Freiberufler*innen, Selbstständigen etc.) im Rentensystem sowie eine Bürgerversicherung aller im Gesundheitswesen und eine solidarische Pflegevollversicherung.

[3] TINA: There Is No Alternative.

[4] Vgl. www.zuericitycard.ch/ und https://wirallesindbern.ch/city-card/.

Literatur

AG links-netz, 2012: Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur, http://wp.links-netz.de/?p=23

Bartels, Charlotte/Göbler, Konstantin/Grabka, Markus/König, Johannes/Schröder, Carsten, 2020: MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, DIW-Wochenbericht 29/2020

Behr, Dieter A., 2010: Crossing Borders, in: Kulturrisse, März 2010

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

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Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.

Moritz Warnke ist Referent für Soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur dieser Zeitschrift. Er ist im Landesvorstand der Berliner LINKEN und vertritt den Landesverband in der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«.

Eva Völpel arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für Wirtschaftspolitik.

Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist im Netzwerk Care Revolution aktiv und arbeitet zu Fragen von Sorgearbeit und Feminismus.

Hannah Schurian ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg. Sie ist Redakteurin dieser Zeitschrift.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/reichtum-des-oeffentlichen

#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor, so dass weitere Einschränkungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu befürchten sind. Zeit, den Sozialstaat und seine Finanzierung gründlich zu erneuern, schreiben die Autor:innen. Dabei geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Der Artikel zeigt, vor welchen Herausforderungen die sozialen Sicherungssysteme stehen, wie ein Sozialstaat aussehen kann, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist und wo schon jetzt ganz konkret um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen gekämpft wird.

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Teilhabe für alle

Linke Geländegewinne im Kampf um Antidiskriminierung

Juni 2021 • Elif Eralp

wal_172619 / Pixabay

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Berlin, Anti-Rassismus, Migration#Berlin #Anti-Rassismus #Migration

Über Rassismus sprechen

Das Wichtigste vorneweg: Die gesellschaftliche Ausgangslage ist entscheidend für die Frage, was eine LINKE in Regierung (und außerhalb) durchsetzen kann. Diese steht aktuell für progressive und antirassistische Projekte nicht schlecht. Zwar haben wir es mit einer zunehmend aggressiven rassistischen Stimmungsmache und Mobilisierung eines Teils der Gesellschaft zu tun, doch zugleich wurde im letzten Jahr in Deutschland erstmals monatelang umfassend über Rassismus diskutiert und zwar auch in seinen strukturellen Dimensionen. Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland fasst diese Verschiebung in der gesellschaftlichen Debatte so zusammen: „Nach dem Attentat von Hanau wurde zum ersten Mal sehr schnell von Rassismus gesprochen. Zuvor wurde das oft mit Begriffen wie „fremdenfeindlich“ oder „ausländerfeindlich“ verharmlost. Rassismus ist endlich kein Tabuthema mehr.“

In Berlin gibt es Mehrheiten für eine offene und solidarische Gesellschaft und sehr viele Menschen, die sich aktiv dafür engagieren und sich organisieren. Der rassistische Terroranschlag von Hanau, dem neun junge als „fremd“ markierte Menschen zum Opfer fielen, war für viele junge Menschen und gerade Menschen mit Migrationsgeschichte eine Zäsur. Weite Teile der jungen Generation haben sich politisiert. Bundesweit gründeten sich etliche Initiativen, antirassistische Bündnisse und Migrantifa-Gruppen. Dieser Prozess wurde verstärkt durch die Black Lives Matter Proteste, deren Initialzündung die Ermordung George Flyods durch einen weißen Polizisten in Minneapolis war. Ausgehend von den USA fanden sie global Widerhall und brachten im Juni 2020 in Berlin Zehntausende auf den Alexanderplatz. Sie rückten Polizeigewalt und Rassismus in staatlichen Institutionen auch hierzulande in den Fokus der Öffentlichkeit. Aber auch das Recht auf Teilhabe und Partizipation von migrantisierten Menschen wurde auf allen Ebenen stark gemacht. In Reaktion auf Hanau forderte beispielsweise die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen, die über 40 Selbstvertretungen vereint, eine „Migrationsquote“ für den öffentlichen Dienst.

Ein Gelegenheitsfenster

In dieser Situation stand laut Koalitionsvertrag die Novellierung des „Partizipations- und Integrationsgesetzes“ in Berlin an. Das Gesetz war 2010 auf Initiative des Landesbeirats für Integrations- und Migrationsfragen durch die damals von LINKEN und SPD geführte Landesregierung entstanden. Es sollte die Teilhabe von Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund[1] in der Verwaltung verbessern, vorhandene Zugangsbarrieren durch gezielte Förderung und die Einbindung migrantischer Organisationen in behördliche Entscheidungsprozesse abbauen.

Dem lag die Feststellung zugrunde, dass sehr wenig Menschen mit Migrationsgeschichte in den Behörden beschäftigt sind und ihre Perspektiven folglich in Entscheidungsprozessen kaum eine Rolle spielen. Berlin war mit dem Gesetz damals bundesweit Vorreiterin.[2]

Es hat im Laufe von 10 Jahren jedoch kaum zu Verbesserungen geführt. Schätzungen zufolge haben derzeit nur etwa 12 Prozent der Beschäftigten in der Verwaltung einen sogenannten Migrationshintergrund, obwohl dies auf 35 Prozent der Berliner Bevölkerung zutrifft. Laut einer Studie von Vielfalt entscheidet bezeichnen sich unter den Führungskräften in der Verwaltung sogar nur drei Prozent als „nicht weiß“. Der Evaluationsbericht zum Gesetz von 2019 macht deutlich, dass es kaum umgesetzt wurde. In einzelnen Verwaltungen gab es kleinere Maßnahmen, aber keine konkreten Förderpläne, keine Zielmarken und keine verbindlichen, mit Ressourcen ausgestatteten Instrumente. So gaben beispielsweise nur 60 Prozent der Verwaltungseinheiten an, bei Ausschreibungen den Beisatz „Bewerbungen von Menschen mit Migrationshintergrund sind besonders erwünscht“ tatsächlich zu verwenden. Die Integrationssenatorin Elke Breitenbach spricht von einem der am wenigsten umgesetzten Gesetze überhaupt.

Die notwendige Novellierung lag in LINKER Zuständigkeit und bot damit die Chance endlich effektive Umsetzungsinstrumente für Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung einzuführen und langjährige Forderungen von Migrant*innenorganisationen aufzunehmen. Dazu gehört die schon lange geforderte, rechtlich und politisch aber umstrittene Quote. Anders als die Frauenquote ist die Quote für Menschen mit Migrationsgeschichte rechtliches Neuland. Progressive Rechtsexpert*innen stützen jedoch die Verfassungsgemäßheit eines solchen Vorhabens.[3]

Die LINKE könnte – so die Einschätzung – hier den Unterschied machen und beweisen, dass sie nicht nur von Teilhabe fabuliert, sondern ernst macht und vorangeht, wenn es sich um neues und strittiges Terrain handelt. Bisher hat bundesweit niemand in Regierungsverantwortung eine so weitgehende Regelung angestrebt und auch die Beschlusslagen bei den Berliner Koalitionspartnern gaben das nicht her.

Im Vorstand der Berliner LINKEN fassten wir nach intensiver Debatte den Beschluss für eine Einstellungsquote zu kämpfen, obwohl abzusehen war, dass es von Seiten der SPD erhebliche Widerstände geben würde und unklar war, wo sich die Grünen in dem Konflikt verorten würden – von der Opposition und reaktionären gesellschaftlichen Kräften ganz zu schweigen. Dass der Beschluss so zustande kam, lag auch an der geschilderten gesellschaftlichen Ausgangslage. Uns war bewusst, dass wir die Quote innerhalb der Koalition möglicherweise nicht durchsetzen würden. Die historische Chance, erstmalig durch einen Gesetzesvorschlag aus einer Senatsverwaltung die politische und rechtliche Machbarkeit einer Quote für Menschen mit „Migrationshintergrund“[4] zu beweisen, wollten wir aber nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Das Terrain der Auseinandersetzung

Für dieses Vorhaben war der frühzeitige und regelmäßige Austausch von Mitgliedern des Parteivorstands der LINKEN mit migrantischen Selbstvertretungen, zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und Gewerkschafter*innen maßgeblich, aber auch der Kontakt zwischen Parteivorstand und Elke Breitenbach als zuständiger Integrationssenatorin.

In der mündlichen und schriftlichen Verbändeanhörung sprachen sich zahlreiche migrantische Selbstvertretungen und Verbände für die Erweiterung der Zielgruppe des Gesetzes und für effektive Instrumente wie eine flächendeckende Datenerhebung, Dokumentationspflichten, fördernde Bewerbungs- und Einstellungsverfahren sowie für die Einstellungsquote für Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung aus. Auch ein von der Integrationsverwaltung in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten, dass die von der SPD und anderen angezweifelte Verfassungsgemäßheit einer Quote bescheinigte, war von Bedeutung. Gegen Widerstände auch innerhalb der Fachebenen der Verwaltung setzte Elke Breitenbach die Quote in einer zweiten Fassung des Referentenentwurfs durch. Wichtig war dabei auch, dass innerhalb der verschiedenen Senatshäuser Verwaltungsmitarbeiter*innen unser Anliegen politisch teilten und gegen anders lautende Fachauffassungen argumentierten. Gleiches gilt für die Berliner Integrationsbeauftragte.

Als sich im senatsinternen Mitzeichnungsverfahren abzeichnete, dass zwar die Grünen den Vorschlag mittrugen, die SPD sich jedoch als vehemente Gegnerin der Quote darstellte und drohte das gesamte Vorhaben zu blockieren, bezog Elke Breitenbach vielfach öffentlich Stellung für die Quote.

Damit wurde der Konflikt öffentlich geführt und ermöglicht, dass sich die Zivilgesellschaft an der Debatte beteiligt. Die SPD schäumte, weil sie unter Druck geriet und sich öffentlich positionieren musste. Der Tagesspiegel titelte „Streit über Berliner Migrantenquote, SPD wertet Breitenbachs Vorstoß als ‚grobes Foul’“. Es folgte eine intensive Presseberichterstattung.[5]

Auch die Parteiführung der Grünen bezog öffentlich Stellung für das Gesetz und für die Quote. Die zahlreichen Wortmeldungen aus der Stadtgesellschaft gaben Rückenwind für den Quotenvorschlag und es konnte zumindest kurzzeitig eine intensive Debatte in der Stadt entfacht werden. Viele Verbände wiesen die Kritik der SPD zurück und unterstützen den Gesetzesvorschlag von Elke Breitenbach. Dazu gehörten die Neuen Deutschen Organisationen, die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen, der Berliner Migrationsrat, in dem sich über 70 Selbstvertretungen organisieren, auch wenn sie noch weitergehende Forderungen hatten. Letzterer startete sogar eine Social-Media-Kampagne #35%Quote. Gewerkschafter*innen of Color appellierten in einem offenen Brief an die SPD ihren Widerstand gegen die Quote aufzugeben und sich für die Beschäftigten mit Migrationsgeschichte einzusetzen. Die Berliner Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial setze sich vielfach öffentlich für die Gesetzesnovelle und die Quotenregelung ein. Auch Rechtsexpert*innen widerlegten die seitens der SPD und anderer vorgetragenen Bedenken gegen die Verfassungsgemäßheit einer Quote. In verschiedenen Diskussionsveranstaltungen wurde kontrovers debattiert. Es fand eine breite gesellschaftliche Mobilisierung statt.

Diese Debatte rief natürlich auch die Gegner*innen von Teilhabepolitik auf den Plan. Neben Hassmails an die Integrationssenatorin und zahllosen rassistischen und rechtsextremen Kommentaren und Hetze im Internet wurde auch von bürgerlicher Seite gegen die Quote angeschrieben. Die CDU stellte einen Antrag zur Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus mit dem Titel „Migrantenquote im Öffentlichen Dienst: unnötig, unsinnig, schädlich, verfassungswidrig“. Die Debatte verlief turbulent und die üblichen Ressentiments und Rassismen gegen migrantisierte Menschen kamen auch hier wieder einmal zum Ausdruck.[6]

Viele Vorbehalte, wie eine Quote bedeute einen Generalverdacht gegen Einstellende, reduziere Menschen auf ein bestimmtes Merkmal oder sei eine ungerechte Bevorzugung kennen wir aus den Debatten und Widerständen gegen die Frauenquote. In dieser Diskussion kamen sie leider auch von deren Vorkämpferinnen. So positionierte sich die Berliner SPD-Vorsitzende und Bundesfamilienministerin Franziska Giffey gegen die „Migrationsquote“, obwohl sie selbst wenig vorher zur Verteidigung der Frauenquote anführte, dass „der eine Thomas den anderen Thomas, der eine Michael den anderen Michael“ fördere und „Kontakte, Beziehungen und Sympathien in festgefügten Netzwerken von Männern“ dazu führten, dass ein Kreislauf entstünde, in den Frauen nicht eindringen könnten. Diese Förderung von Personen, die einem ähnlich erscheinen, nennt die Journalistin und Teilhabe-Expertin Ferda Ataman „similar-to-me“ Effekt und weist daraufhin, dass das gleiche Phänomen auch Menschen mit Migrationsgeschichte betreffe. In der SPD war die Bereitschaft für ein weiteres umstrittenes antirassistisches Projekt wohl auch deswegen gering, weil sie sich kurz zuvor durch das Mittragen des Landesantidiskriminierungsgesetzes viel Kritik in ihrer Wählerschaft eingehandelt hatte.

Raus aus der Defensive

Trotz des Gegenwinds wirkte die Debatte auch stärkend, weil sich migrantisierte sowie sich antirassistisch positionierende Menschen über die verschiedensten Zusammenhänge und Communities hinweg zu Wort meldeten, Diskriminierung anprangerten und Teilhabe einforderten. Es entstand eine Art Wettbewerb zwischen den sich als offen verstehenden Parteien und Politiker*innen, wer mehr Menschen mit Migrationsgeschichte in den eigenen Reihen habe. Dass es einen solchen Wettbewerb gibt ist gut und zeigt, dass inzwischen auch Entscheidungsträger*innen erkannt haben, dass sie sich anstrengen müssen, um ihre Strukturen durchlässiger zu machen. Denn ohne Vielfalt und Teilhabe Aller werden wir es weiter mit einem erheblichen Demokratiedefizit zu tun haben.

Als LINKE haben wir, wie auch einige Verbände, versucht die hinter der Quotenforderung stehende Klassenfrage in der Debatte stark zu machen. Schließlich sind Menschen mit Migrationsgeschichte besonders häufig von prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen betroffen, haben schlechtere Bildungs- und Aufstiegschancen als andere. Insofern sollte das Gesetz mit seinen vielen Förderelementen auch einen sozialen Nachteislausgleich darstellen und dazu beitragen Chancengleichheit herzustellen.

Die Debatte hat sich sehr stark auf die Quote fokussiert. Andere wichtige Teilhabeaspekte des Gesetzes und gesellschaftliche Schieflagen, die einen Nachteilsausgleich erforderlich machen, haben weniger eine Rolle gespielt. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass vor allem Zuspitzungen und Themen mit einem hohen Konfliktpotential medial durchdringen. Für uns barg das die Gefahr, Erwartungen zu enttäuschen, falls wir uns nicht durchsetzen.

Scheitern und Erfolg

Letztlich ist eine verbindliche Einstellungsquote am Widerstand der SPD gescheitert. Dennoch sind wichtige Fortschritte erzielt worden, die ohne die weitgehenden Vorschläge von Elke Breitenbach und der Berliner LINKEN nicht möglich gewesen wären. Ähnlich zentral waren jedoch die politische Bereitschaft auch öffentlich in den Konflikt zu gehen sowie der Rückenwind und das Zusammenspiel mit der Berliner Stadtgesellschaft.

Statt einer einklagbaren Quotenregelung ist lediglich eine Zielvereinbarung beschlossen worden, diese steht aber immerhin im Gesetz statt bloß in Förderplänen. Dies ist insofern als Erfolg zu werden, als sie sowohl für Einstellungen als auch bei der Ausbildungsplatzvergabe vorsieht, auf allen Ebenen mindestens den Anteil von Personen mit „Migrationshintergrund“ abzubilden, der dem Berliner Bevölkerungsanteil entspricht. Außerdem wird eine Dokumentationspflicht für Einstellungsverfahren eingeführt, welche die Defizite transparent machen wird. Besonders wichtig für die Kontrolle der Umsetzung des Gesetzes ist, dass endlich eine Rechtsgrundlage zur flächendeckenden auf freiwilligen Angaben beruhenden Datenerhebung geschaffen wird, die transparent machen wird, in welcher Besoldungsgruppe wie viele Menschen mit „Migrationshintergrund“ beschäftigt sind. So können zielgenaue Maßnahmen ergriffen und Förderpläne geschrieben werden. Schließlich wurde die Zielgruppe des Gesetzes erweitert und erstmals die Begriffe „Menschen mit Migrationsgeschichte“ und „rassistisch Diskriminierte“ in einem Partizipationsgesetz eingeführt, die die zu fördernde Gruppe besser beschreiben.[7]

Verwaltungsbeschäftigte mit Migrationsgeschichte werden regelmäßig anonym zu ihrer Situation und zu Diskriminierungserfahrungen befragt, um Maßnahmen für eine diskriminierungsfreie Organisationskultur zu entwickeln. Bei der Auswahl der Bewerber*innen wird nun sichergestellt, dass mindestens so viele Menschen mit „Migrationshintergrund“ zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Außerdem soll gezielt angeworben werden. Zur Umsetzung des Gesetzes ist zusätzliches Personal vorgesehen und Berlin erfüllt eine langjährige Forderung der Rom*nja und Sinti*zze Organisationen und bekommt einen „Beirat für die Angelegenheiten der Roma und Sinti“. Der positive Begriff der Partizipation wurde im Gesetz gestärkt, auch wenn es, wegen des Widerstands der SPD, leider nicht gelungen ist, den Begriff „Integration“ vollständig aus dem Gesetz zu streichen.[8]

Der Gesetzestitel lautet nun aber immerhin: „Gesetz zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin (Partizipationsgesetz – PartMigG)“ statt „Integrations- und Partizipationsgesetz“.

Das Partizipationsgesetz ist inzwischen im Senat beschlossen worden und derzeit stehen die Beratungen dazu im Abgeordnetenhaus an, wo es erneut die Chance gibt unsere weitergehenden Forderungen stark zu machen.

Aber schon jetzt ist viel erreicht worden und die geführte Debatte kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wir sind bei der Forderung nach mehr Teilhabe und Repräsentanz von Menschen mit Migrationsgeschichte, von Schwarzen Menschen und Menschen of Color auch diskursiv einen großen Schritt weitergekommen. Der Geländegewinn muss durch Kämpfe der Selbstvertretungen, der progressiven Kräfte in Parteien und der Gesellschaft weiter ausgebaut werden!

Fußnoten:

[1] Ein solcher besteht, wenn die betroffene Person selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht schon bei Geburt besaß (vgl. § 6 Mikrozensusgesetz).

[2] Später haben andere Bundesländer, wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern ähnliche Gesetze erlassen und auch in anderen Bundesländern wurde darüber diskutiert.

[3] Neben dem von der Integrationsverwaltung in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten von Doris Liebscher, „Möglichkeiten zur Verbesserung der Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund/Migrationsgeschichte durch eine Novellierung des PartIntG Berlin“ gehen auch Verfassungsrichterin Professorin Susanne Baer und Professorin Nora Markard von der Verfassunsgemäßheit positiver Maßnahmen wie der Einstellungsquote aus (vgl. Baer/Markard, Grundgesetz Kommentar Mangoldt u.w., 2. Aufl., 2018, Art. 3, Rn. 422 ff.). Vgl. außerdem Dr. Ibrahim Kanalan, Weder revolutionär noch eine Besonderheit – Verfassungsblog.

[4] Richtiger wäre es, die Quote und andere Fördermaßnahmen an dem Umstand der gesellschaftlichen Diskriminierung festzumachen und entsprechend eher an Kriterien wie „rassistisch diskriminierte Person“ oder zumindest „Person mit Migrationsgeschichte“. So können etwa weiße Nordeuropäer*innen nach der genannten Definition einen „Migrationshintergrund“ haben, sie sind aber deshalb meist nicht von Diskriminierung betroffen. Für Schwarze Menschen, deren Familien seit vielen Generationen in Deutschland leben und keinen „Migrationshintergrund“ mehr haben, sind jedoch Rassismus und Diskriminierung feste Größen in ihrem Alltag. Um Fördermaßnahmen wie eine Quote umsetzbar zu machen, bedarf es aber einer statistischen Bezugsgröße. Repräsentatives Datenmaterial liegt in Berlin und bundesweit bisher nur zum sogenannten Migrationshintergrund vor, der daher der Quote als Anknüpfungspunkt dient (vgl. dazu auch Liebscher 2019).

[5]  Siehe dazu in den folgenden Fußnoten sowie in DER SPIEGEL, 26.1.2021; Tagesspiegel, 2.2.2021; ND, 18.1.2021; Verfassungsblog, 29.1.2021; BR Podcast, 19.1.2021; Tagesspiegel, 24.1.2021; SZ.de, 5.2.2021; ZEIT ONLINE, 26.1.2021; BZ, 23.1.2021; ARD, 19.1.2021.

[6] Vgl. Abgeordnetenhaus, Plenarprotokoll 18/71 v. 28. Januar 2021, Seite 8452 ff., Plenum - Protokoll (parlament-berlin.de); Elke Breitenbach fasste die gesellschaftliche Debatte, die sich auch im Parlament widerspiegelte, gut zusammen, indem sie auf den Reflex hinwies, „dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte per se ihre Eignung abgesprochen wird, in den öffentlichen Dienst zu gehen – und zwar bis tief hinein in Funktionärskreise von Parteien und Gewerkschaften“ und darauf, dass „ein zutiefst rassistisches Denken in dieser Gesellschaft verankert“ sei (siehe: https://m.tagesspiegel.de/berlin/berliner-senatorin-verteidigt-migrantenquote-rassistisches-denken-ist-tief-in-unserer-gesellschaft-verankert/26840408.html).

[7] Der Begriff der „Menschen mit Migrationsgeschichte“ wird im Gesetz überall dort verwandt, wo es nicht zwingend einer statistischen Bezugsgröße bedarf. Bei Fördermaßnahmen die auf eine statistische Bezugsgröße angewiesen sind, wird der Begriff der „Menschen mit Migrationshintergrund“ verwandt, zu dem Vergleichsdaten im Hinblick auf den Bevölkerungsanteil vorliegen, siehe auch Fußnote 4.

[8] Der Begriff „Integration“ suggeriert, dass es eine heterogene vorzufindende Gesellschaft gäbe, in die sich (vermeintlich) Hinzugekommene integrieren müssten, dabei muss es um die gemeinsame Gestaltung der vielfältigen Gesellschaft gehen. Das Konzept der „Integration“ gilt in der Diskriminierungsforschung daher auch weitgehend als überholt (vgl. z.B. Ein Gesetz für die Berliner Stadtgesellschaft – Bericht der Evaluation des Partizipations- und Integrationsgesetzes ist öffentlich - Berlin.de).

Elif Eralp ist Juristin und Mitglied im Landesvorstand der Berliner LINKEN. Sie war am Entwurf des im März 2021 auf den Weg gebrachten „Gesetzes zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin“ massgeblich beteiligt.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/teilhabe-fuer-alle

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Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung sind in den meisten gesellschaftlichen Feldern unterrepräsentiert, Zugänge deutlich erschwert. Um dies zu ändern und um die Chancen auf gleichberechtigte Teilhabe und Repräsentanz in der Berliner Verwaltung zu verbessern, sollte Ende 2020/Anfang 2021 das Berliner Partizipationsgesetz überarbeitet werden. In diesen Prozess haben die Berliner LINKE und die zuständige Senatorin Elke Breitenbach eine Quotenregelung für Menschen mit Migrationsgeschichte vorgeschlagen. Wie zu erwarten gab es erheblichen Widerstand, der jedoch in eine breite öffentliche Debatte um Teilhabechancen und eine glaubwürdige Politik gegen Diskriminierung gewendet werden konnte. Insofern kann dies als Beispiel für „rebellisches Regieren“ dienen – aber auch dessen Grenzen aufzeigen. Es veranschaulicht, wie durch arbeitsteiliges Zusammenwirken von Partei, Senatsmitgliedern und Zivilgesellschaft sowohl diskursive als auch materielle Erfolge erzielt werden können.

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»Wohnraum muss für alle da sein - auch für Geflüchtete«

Juli 2019

Rasande Tyskar / flickr

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Ihr unterstützt Personen mit Fluchterfahrung bei der Wohnungssuche. Was sind die dringlichsten Probleme, mit denen die Menschen zu euch kommen?

BEA: Die meisten wollen dringend aus den Unterkünften raus und in einer eigenen Wohnung leben, eine Privatsphäre haben.

REMZI: Wir unterstützen Personen, die beider Wohnungssuche eine Diskriminierung erfahren. Leider stellen wir täglich fest,dass die Wohnungssuche insbesondere für Menschen mit Flucht- oder Migrationserfahrung besonders schwierig ist. Sie haben kaum Zugänge zum Wohnungsmarkt und sind von unterschiedlichen Arten der Diskriminierung betroffen.

Was könnt ihr dagegen tun?

REMZI: In konkreten Fällen der Diskriminierung lässt sich politisch leider wenig machen. Die Betroffenen müssen selbst rechtliche Schritte unternehmen, die wir jedoch unterstützen können. Neben den Diskriminierungserfahrungen bei der Wohnungssuche kommen Fälle von Diskriminierung auchin mietrechtlichen oder strafrechtlichen Verfahren, beispielsweise in Nachbarschaftskonflikten vor und müssten eigentlich dort als solche verhandelt werden. In diesem Rahmen werden Fragen der Diskriminierung aber oft nicht berücksichtigt. Es gibt jedoch vereinzelt Erfolge, wenn Vermieterinnen im Rahmen von Klagen nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Diskriminierung nachgewiesen werden kann. Damit bekommen die Betroffenen leider noch keinen Rechtsanspruch auf eine Wohnung. Nach dem AGG ist nur eine Entschädigung oder Schadensersatz vorgesehen. Frustrierend ist zudem, wenn die Betroffenen aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten von einer an sich aussichtsreichen Klage absehen. Die Betroffenen müssen darüber hinaus individuell klagen und ihre Rechte allein durchsetzen. Die Möglichkeit von Sammel- und Verbandsklagen sieht das AGG nicht vor.

Wer ist besonders von Ausschlüssen betroffen?

REMZI: Insbesondere große Familien oder Haushalte über fünf Personen haben praktisch keine Chance, eine Wohnung zu finden. Das liegt an der sogenannten Eine-Person-ein-Wohnraum-Regelung. Diese besagt, dass Wohnungen mindestens so viele Zimmer haben sollen wie die Anzahl der zusammenlebenden Personen. Im bezahlbaren und öffentlich geförderten Sektor gibt es aber einfach kaum Wohnungen mit fünf und mehr Zimmern.

BEA: Bei Xenion arbeiten wir mit Familien, die seit neun Jahren im Heim leben – obwohl sich ihr Aufenthaltsstatus geändert hat. Die Kinder kennen nur Flucht- und Heimunterbringung, sie haben noch nie in einer eigenen Wohnung gewohnt. Wir brauchen eine ganz gezielte Förderung für große Familien, die ihnen Zugang zu bezahlbaren Wohnungen ermöglicht. Kürzlich haben wir im Wedding ein halbes Jahr gebraucht, bis wir endlich für eine Familie zwei Wohnungen zusammenlegen konnten.

Wie sieht es mit privaten Vermieterinnen aus?

 

REMZI: Hier gibt es die gleiche Praxis. An eine Familie mit sechs Personen wird nur eine Sechszimmerwohnung vergeben. Die gibt es aber nicht. Das bedeutet im Klartext, dass diese Familien vom Wohnungsmarkt quasi komplett ausgeschlossen sind.

BEA: Hier müsste die Bauförderung verändert werden. Momentan ist die Förderung für Bauunternehmen an die Anzahl der bereitgestellten Wohnungen geknüpft, nicht an die Anzahl der Personen, die darin leben können. Daher gibt es im sozialen Wohnungsbau sehr viele Ein- und Zweizimmerwohnungen. In Gesprächen beim Runden Tisch »Alternativen zur öffentlichen Unterbringung Geflüchteter«, einer von den Senatsverwaltungen für Integration, Arbeit und Soziales sowie für Stadtentwicklung und Wohnen einberufenen Runde, wurde zudem deutlich: Private Vermieterinnen haben oft Angst vor Mietausfall. Sie erhalten ja keine Bürgschaft wie im geschützten Marktsegment, sondern tragen das Risiko selbst. Hier müsste der Senat eine Bürgschaft übernehmen, denn es gibt durchaus engagierte private Hausverwaltungen, die auch an Geflüchtete vermieten würden. Es reicht nicht, hier nur die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften im Blick zu haben, die privaten machen schließlich einen großen Teil des Wohnungsmarktes aus. In Brandenburg haben die Kommunen beispielsweise direkt Wohnungen angemietet, die sie an Geflüchtete weitervermieten.

Das wären konkrete politische Maßnahmen, die den Zugang von Geflüchteten zu Wohnraum verbessern würden. Gäbe es weitere?

BEA: Eine unserer wichtigsten Forderungen ist ein Wohnberechtigungsschein (WBS) für alle. Der WBS berechtigt ja Menschen mit geringen Einkommen, in eine mit öffentlichen Mitteln geförderte und damit günstigere Wohnung zu ziehen (vgl. Holm in diesem Heft). Obwohl Geflüchtete zu diesem Personenkreis gehören, schließt die Senatspolitik aktuell Menschen im laufenden Asylverfahren vom Anspruch auf einen WBS und damit vom Zugang zu Sozialwohnungen aus. Das Gleiche gilt für Menschen, deren Aufenthaltsbewilligung weniger als elf Monate umfasst. Ein Asylverfahren dauert ja oft mehrere Jahre. Solange müssen die Menschen in den meisten Fällen in Gemeinschaftsunterkünften bleiben. Außerdem kann es zu Fehlern beiden Einträgen in die Ausweispapiere kommen. Ich hatte in der Beratung eine Familie mit einem behinderten Kind. Die Mutter hatteeine zweijährige Aufenthaltsgenehmigung, der Mann allerdings nur eine einjährige, weil sein Ausweis verloren gegangen war und die Ausländerbehörde dann statt zwei Jahren nur noch ein Jahr in den neuen Ausweis geschrieben hat. Deshalb wurde der WBS abgelehnt. Die Sachbearbeiterinnen ziehen sich immer auf das Argument zurück: »Es muss ein Aufenthalt von mindestens elf Monaten gegeben sein.« Dabei genießt die Familie in Deutschland seit fünf Jahren subsidiären Schutz. Es gibt viele ähnliche Geschichten. Widersprüche reichen hier teils bis zur Sozialstadträtin – ohne Erfolg, egal in welchem Bezirk. Daher fordern wir, dass Geflüchtete unabhängig vom Aufenthaltsstatus einen WBS erhalten. Damit könnten sie in integrierte Wohnprojekte in der Mitte der Gesellschaft einziehen und müssten nicht weiter in separierten Einrichtungen wohnen.

REMZI: Würden die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften hier ihre Vergabepraxis ändern, hätte das sicherlich auch Ausstrahlung auf den privaten Wohnungsmarkt.Auch die privaten Vermieterinnen möchten unbedingt eine lange Aufenthaltsdauer nachgewiesen haben. Wobei ich sagen muss, ein Mieterwechsel gehört halt zum Job eines Eigentümers oder einer Hausverwaltung. Das kann auch unabhängig von der Aufenthaltsdauer passieren.

Woran liegt es, dass sich die Forderung nach einem WBS für Geflüchtete derzeit politisch nicht durchsetzen lässt?

BEA: Der Staatssekretär für Wohnen, Sebastian Scheel, argumentiert beispielsweise, dass aktuell schon 30.000 Sozialwohnungen in Berlin fehlen. Da könne man den sozialen Wohnraum nicht für eine weitere anspruchsberechtigte Gruppe, nämlich Geflüchtete im Asylverfahren, öffnen. Das gäbe schlechte Stimmung. Die Tatsache, dass es einen deutlichen Mangel an Sozialwohnungen gibt, darf jedoch kein Argument dafür sein, eine bedürftige Gruppe vom Anspruch auszuschließen. Einen offensichtlichen Mangel fair zu verwalten stellt eine große soziale Verantwortung dar. Transparente Vergabekriterien sind hier zentral, um zu verhindern, dass Betroffene sich gegeneinander ausgespielt fühlen. Der Flüchtlingsrat Berlin hat hier Praxisbeispiele aus anderen Bundesländern vorgestellt, die Geflüchteten weit mehr Möglichkeiten geben. Zum Teil werden Wohnungen dann vergeben, wenn eine positive Bleibeperspektive besteht. Wenn etwa eine Arbeitserlaubnis vonseiten der Ausländerbehörde erteilt wird, dann reicht dies, damit die/ der zuständige Sachbearbeiterin dem Umzug in eine eigene Wohnung zustimmen kann. Das ist eine ganz praktikable Sache.

REMZI: Ich finde auch: Transparenz ist sehr wichtig. Wir müssen gerade in Gesprächen mit den unterschiedlichen Bedarfsgruppen betonen, dass sie im selben Boot sitzen und sich nicht gegeneinander ausspielen lassen dürfen. Und: Wir müssen allen passgenaue Angebote machen.

Gibt es weitere Handlungsfelder, um für Geflüchtete bessere Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt zu schaffen?

BEA: Mein Schwerpunkt sind gerade Genossenschaften. Wir versuchen, zusammenmit Stiftungen einen Unterstützungsfondzu schaffen, um Geflüchtete auch in neue Genossenschaftsprojekte und frei finanzierte Neubauprojekte integrieren zu können. Der Zugang ist leider an hohe finanzielle Einlagen gebunden, die diese Menschen nicht aufbringen können. Wir suchen deshalb das Gespräch mit Genossenschaftsmitgliedern, um dafür zu werben, auch Neuberlinerinnen in diese Projekte einzubinden. Mit Unterstützung der Genossenschaft Ostseeplatz konnten beispielweise 23 geflüchtete Menschen in ein Gemeinschaftsprojekt, einen Neubau nach neuestem Standard, in der Lynarstraße im Wedding einziehen. Sie waren auch an dem zweijährigen Planungsprozess beteiligt. Außerdem wäre es wichtig, die Genossenschaftsidee und -struktur auch unter Geflüchteten publik zu machen. Städtischer Wohnungsbau, so wie er derzeit organisiert ist, ist langfristig keine Lösung. Wir brauchen wieder einen rechtlich abgesicherten und kontrollierten gemeinnützigen Wohnungsbau (vgl. Kuhn in diesem Heft).

 

Das Gespräch führten Jan Drunkenmölle und Julia Schnegg. 

Bea Fünfrocken arbeitet bei Xenion, einem Verein, der psychosoziale Unterstützung für politisch Verfolgte anbietet. Als Koordinatorin der AG Wohnen berät sie Geflüchtete bei der Wohnungssuche und vertritt deren Interessen gegenüber Vermieterinnen und Ämtern.

Remzi Uyguner arbeitet bei der Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt und ist ehrenamtlich Vorstandsmitglied des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (TBB).

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wohnraum-fuer-alle/

Foto: Rasande Tyskar / flickr / CC BY-NC 2.0

#Anti-Rassismus #Migration #Wohnen

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Ein Gespräch mit Bea Fünfrocken (Xenion) und Remzi Uyguner (Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt) über Probleme von Geflüchteten bei der Wohnungssuche, Unterstützungsmöglichkeiten und politische Forderungen.

Rasande Tyskar / flickr

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Wie können wir mit jungen Menschen rassismuskritische, offene solidarische und selbstreflektierte Positionen entwickeln? Die Autor_innen sind sich einig, dass die Bildungspraxis entscheidend ist: Es geht darum, wie Bildungsprozesse gestaltet werden und wie wir von- und miteinander lernen. Anders als in einem zunehmend neoliberal ausgerichteten Bildungssystem, das auf die Konformität von Menschen abzielt, lässt sich politische Bildung mit Inhalten füllen, die uns etwas bedeuten. Wir können dort Bildung organisieren, wo wir etwas verändern wollen am Status quo.

In der Broschüre (Heft 7 in der RLS-Reihe «Bildungsmaterialien») werden beispielhaft vier Bereiche und Methodenbausteine ausgewählt, die bildungspolitisch relevant und allgemein von großem Interesse sind: Jugendbildungsarbeit nach dem NSU; Klasse und Klassismus; Organisierung und selbstverwaltete Jugendclubs; Utopie in der politischen Bildung.

  • #Alternativen
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Die Solidarität der Städte

Orte einer neuen politischen Phantasie

Januar 2019 • Mario Neumann

Tobias Rademacher / unsplash

Tobias Rademacher / unsplash

Migration, Rekommunalisierung#Migration #Rekommunalisierung

Der 2017 verstorbene Zygmunt Bauman attestiert in seinem letzten zu Lebzeiten vollendeten Buch eine «globale Epidemie der Nostalgie». Gemeint ist damit, dass quer zu allen politischen Zugehörigkeiten eine Umkehrung der Idee von Veränderung zu beobachten sei. Politische Utopien sind nicht mehr länger Visionen einer zu gewinnenden und noch zu entdeckenden Zukunft, sondern bedienen sich aus einer «untoten» und verklärten Vergangenheit, zu der sie zurückkehren wollen. In einer globalisierten, verflochtenen und chaotischen Situation – so seine Diagnose – erscheint daher auch vielen Linken die Rückkehr zur «territorialen Souveränität» und zu einer Zeit wohlfahrtstaatlich geschützter Heimat als Retropie – als eine Vergangenheit also, die zum politischen Gegenentwurf zur unheilvollen Gegenwart und bedrohlichen Zukunft taugen soll. (Bauman 2017)

Und in der Tat genügt ein Blick in gegenwärtige linke Debatten auf dem Feld der Migrationspolitik, um diese These zumindest nicht direkt zu verwerfen. Da wird nämlich nicht selten ein Gegensatz konstruiert, in dem alle widersprüchlichen, globalen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ausschließlich als Verstärker oder Katalysatoren neoliberaler Globalisierung klassifiziert werden - und wo diese letztlich eine bloße Verfallsgeschichte zu sein scheint, in der die sozialen Kämpfe der letzten Jahrzehnte keinerlei Spuren hinterlassen haben. (Mezzadra und Neumann 2017) Einziger Maßstab der Utopie ist darin die Vergangenheit des nationalen Wohlfahrtsstaates.

Die Kritik an nationaler Zugehörigkeit wird dann als «Kosmopolitismus», die Migrationsbewegungen als Teil einer «neoliberalen Open-Border-Politik» und das der Vielfalt in den Metropolen entsprechende Bewusstsein als das einer «urbanen Mittelschicht» abgetan. Dieser Diskurs produziert schon in seinen Grundstrukturen letztlich das, was Bauman behauptet: Gegenwart und Zukunft scheinen nur mit den Instrumenten der Vergangenheit zu bändigen, weil alle ihre Prozesse einseitig ins Negative weisen. Und die Rückkehr zu dieser Vergangenheit ist letztlich – auch wenn sie als «kommunitaristisch» verklärt wird – ein Prozess der Renationalisierung und Rückgewinnung von nationaler Souveränität. Darin verspielt die Linke zugunsten des «Untoten» eine Kraft, die sie aus den lebendigen sozialen Kämpfen der Gegenwart gewinnen könnte, allen voran jene der Migrationsbewegungen.

Think glokal!

Doch es gibt Auswege aus «Retrotopia», politische Möglichkeiten jenseits der Wahl zwischen einer schlechten Gegenwart und einer verklärten Vergangenheit. Bewegte Ideen, die nicht zwischen einem «kommunitaristischen» Nationalen oder einem «kosmopolitischen», aber abstrakten Weltbürgertum wählen. Politiken, in denen das Lokale und das Globale nicht als Widerspruch konzipiert und dann letztlich vom Nationalen durchschnitten werden – und wo folglich Migration nicht als permanentes Außen, sondern als konstitutives Innen mitgedacht wird – als eine Kraft der Demokratisierung. Es ist noch viel zu tun, aber: Die Konzepte und realen Praxen Solidarischer Städte sind auf dem Vormarsch – und sie scheinen zumindest potentiell Orte einer wirksamen linken Opposition gegen den autoritären Neoliberalismus zu sein.

Ada Colau, ehemalige Aktivistin der PAH, Mitglied der Büger*inneninitiative «Barcelona en Comu» und heute Bürgermeisterin von Barcelona drückte es kürzlich in Vermont auf Einladung von Bernie Sanders bei einer Rede über die Erfahrungen des Munizipalismus in Spanien folgendermaßen aus: «We need a new way of doing politics. We decided to start at the local level … We needed to provide real and concrete solutions through actions, that change peoples live … The local level is the best place to improve democracy. It‘s where we live our daily lives and where the government is close to the people.» Und in der Tat: Städte sind Orte einer konkreten Utopie von unten, die aus gelebter Praxis entsteht und die gegenwärtigen Kämpfe der Migration und der Solidarität in sich aufnimmt und weiterentwickelt. Sie können lebendige Laboratorien und Umschlagplätze einer Politik von unten sein. Darin überkreuzen sich die Debatten um Solidarity Cities mit denen um einen neuen Munizipalismus (Brunner u. a. 2017). Sie werden jedoch nur dann solche Orte sein, wenn damit nicht der Verzicht auf nationale und transnationale Politik gemeint ist – oder sogar der Rückzug auf Praktiken, die nur noch auf kleine, konkrete Verbesserungen des Lebens der Vielen abzielen. Vielmehr geht es darum, mit der Kraft solidarischer, migrantischer und alltäglicher Praxen eine neue Phantasie für eine demokratische, soziale Linke zu entwickeln.

Jenseits der Gewalt des Nationalen: Alle, die hier sind, sind von hier

Das Plädoyer für eine Linke der Städte ist daher kein Versuch, den Rückzug auf den Nationalstaat nun mit einem Rückzug auf das Kommunale zu unterbieten. Die Rechnung geht andersherum: Eine Politik der Städte hat sowohl eine lokale als auch eine transnationale Dimension. Städte sind lokale Orte der Globalisierung und damit Orte eines sozialen und politischen Gemeinsamen, die den Nationalstaat sowohl unterlaufen als auch übersteigen. Orte, an denen Migration, Differenz und Globalisierung von unten eine alltägliche Realität und unumkehrbare Gegenwart sind – und damit eine weitaus plausiblere Geschäftsgrundlage lokaler Politik als die politische Gewalt des Nationalen, die von hieraus als ebensolche durchschaut werden kann.

Anstatt also der allgegenwärtigen Fokussierung auf die Nation mit dem abstrakten Sprung in die Weltpolitik zu begegnen, entdecken die Praxen der solidarischen Städte das Globale im Lokalen. Sie bestreiten nicht, dass der Nationalstaat ein bedeutendes Terrain politischer Auseinandersetzung ist. Aber sie bestreiten entschieden, dass die durch Staatsbürgerschaft, stratifizierte Rechte und Aufenthaltsgesetze gelegten «Grenzen der Demokratie» (Balibar 1993) als Bedingungen demokratischer Politik akzeptiert werden müssen. Der Nationalstaat bleibt ein Terrain der Auseinandersetzung, jedoch ohne die von ihm produzierten politischen Formen und hierarchisierten Gruppen zu übernehmen. Der Macht des Nationalstaates, über Zuwanderungsgesetze, Asylrecht oder Staatsbürgerschaft soziale und politische Rechte zu definieren, wird das universelle Recht aller Anwesenden und Ankommenden entgegengesetzt und zur unhintergehbaren Grundlage des Politischen gemacht.

Soziale Rechte und demokratische Politik werden so tendenziell von der staatsbürgerlichen Zugehörigkeit und den verschiedenen politischen Setzungen des Nationalstaates entkoppelt: Alle, die hier sind, sind von hier – die politische Gemeinschaft wird nicht vom Staat definiert, sondern besteht aus allen Anwesenden. Dieses Paradigma strahlt von der Stadt in die Welt und kann sich in (trans)nationale Politiken übersetzen – davon zeugt die Aufmerksamkeit, die Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando für seinen vielzitierten Satz europaweit generierte: «Wenn Sie fragen, wie viele Flüchtlinge in Palermo leben, antworte ich nicht: 60 000 oder 100 000. Sondern: keine. Wer nach Palermo kommt, ist ein Palermitaner.»(NZZ 2017)

Was ist eine Solidarische Stadt?

Solidarische Städte und ihre konkreten Politiken sind mittlerweile auch in Europa in aller Munde. Sowohl in Spanien (wo in Barcelona eine munizipalistische Bewegung die Stadtregierung unter Ada Colau stellt) als auch in Italien (wo einzelne Bürgermeister*innen in Riace, Palermo, Neapel und anderswo für Aufsehen sorgten und sich als «solidarische Städte» gegen Innenminister Salvini auflehnen) gibt es eine neue Konjunktur einer politischen Opposition, die sich nicht einfach auf eine Zugehörigkeit im nationalen System der Repräsentation beschränkt, sondern an konkrete lokale Praktiken und Regierungen gebunden ist. Verschiedene Netzwerke entstehen, in denen sich einerseits progressive Stadtregierungen, andererseits Basisinitiativen und soziale Bewegungen zusammenschließen.

Ausgangspunkt vieler Ansätze sind Erfahrungen aus Nordamerika, die seit den 1980er Jahren entwickelt wurden und darin wiederum auf lange politische Diskurse (etwa zum «Urban Citizenship») zurückgreifen konnten. Hier wurde und wird in Städten wie Toronto, New York oder San Francisco eine neue Zusammenarbeit von sozialen Initiativen und Stadtregierungen erprobt, die sich gemeinsam den nationalen Behörden und ihren Ausländerpolitiken widersetzen. Zentraler Ausgangspunkt dieser Bewegung der Sanctuary Cities sind die illegalisierten Einwohner*innen der Stadt – und darin der Versuch, sie einerseits vor Abschiebungen zu schützen und andererseits und darüber hinaus den Zugang zu städtischer Infrastruktur und sozialen Rechten zu organisieren. Die vielfältigen Praktiken reichen dabei von Dienstanweisungen an lokale Behörden, die die Zusammenarbeit mit den nationalen Einwanderungsbehörden verbieten, bis hin zu städtischen Ausweispapieren («City-ID», die an Illegalisierte vergeben wird) und dem legalen Zugang zu Bildung, Gesundheit und Kultur (für eine ausführliche Darstellung vgl. (Bauder 2017; Heuser 2018; Kron und Lebuhn 2018; Mayer 2018). Auch in der BRD sind Städte nicht zum ersten Mal das Terrain einer progressiven Migrationspolitik (vgl. das Interview mit Sabine Hess (2018) in diesem Dossier sowie Hess und Lebuhn 2014)

Utopische Praxis

Bei aller Vielfalt dieser Experimente besitzen sie doch einige Merkmale, die Impulsgeber für die europäischen Debatten über Solidarische Städte sind. Zunächst ist entscheidend, dass der Logik nationalstaatlicher Inklusion und Exklusion eine städtische Demokratie entgegengesetzt wird, die Migration nicht problematisiert, sondern stattdessen in ihrer Faktizität anerkennt und von dort die Notwendigkeit sozialer Rechte und gesellschaftlicher Teilhabe für alle ableitet. In einem nächsten Schritt sind es dann häufig solidarische Initiativen und antirassistische Akteure, die bestimmte Solidaritätspraktiken verallgemeinern wollen oder institutionelle Unterstützung anfordern, die sich in der Regel immer direkt oder indirekt nationalstaatlichen Politiken widersetzen. So kommt es häufig zu einer Herausforderung der Grenzen nationaler Demokratien und zu Projekten ihrer Erweiterung – wie z.B. dem Zugang von illegalisierten Menschen zur Gesundheitsversorgung. Ein zentraler Effekt der erfolgreichen Durchsetzung solcher Politiken ist dann wiederum, dass auch weitere Gruppen von den Maßnahmen profitieren, sie sich so über die Gruppe illegalisierter Personen erweitern. Dies kann auch jüngst in Berlin beobachtet werden, wo sich die Arbeit des «Medibüros» für die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Papiere derzeit in eine offizielle Anlaufstelle weiterentwickelt hat, die auch Obdachlose, EU-Migrant*innen und Menschen, die aus der Krankenkasse geflogen sind, nutzen (Medibüro Berlin 2018). Gleichzeitig besitzen viele Praktiken nicht die Struktur institutionalisierter sozialer Rechte, sondern finden häufig in Grauzonen statt, in denen Behörden, Stadtregierungen und Initiativen miteinander interagieren. (Jungfer und Kopp 2018)

Der Schutz vor Abschiebungen und der Zugang zu sozialen Rechten ist darin ein Ausgangspunkt, der Prozesse einer Demokratisierung der Stadtgesellschaften in Gang setzt und dabei zum Teil neue Sozialpolitiken erkämpft, die auch anderen Gruppen zugute kommt. Ein weiteres Feld, das vor allen Dingen in Europa hinzukommt, ist die Frage, inwieweit Städte an den repressiven Grenzpolitik von EU und Nationalstaaten vorbei Akteure der Neuaufnahme von Migrant*innen sein können. Trotz der rechtlichen Grenzen des wesentlich in nationaler Zuständigkeit liegenden Einwanderungs- und Asylrechts haben viele Städte hier eine bedeutende Rolle gespielt – sowohl in der Auseinandersetzung um sichere Häfen in Italien als auch in der Bewegung für sichere Orte der Ankunft, wie sie beispielsweise die Seebrücken-Bewegung fordert und dabei von mittlerweile über 30 Städten in Deutschland unterstützt wird. Klar ist bei all diesen Prozessen jedoch auch, dass auf lange Sicht die Bereitschaft von Stadtregierungen, sich als «rebellische Städte» in Auseinandersetzungen mit der nationalen Politik zu begeben und sich entsprechend zu solidarischen Städten zu verbinden, ein entscheidendes Kriterium dafür ist, ob sie effektiv eine Rolle in den gesellschaftlichen Kämpfen spielen können.

Hervorbringung neuer Politiken von unten

Natürlich geht es nicht darum, dass Politiken der solidarischen Stadt das Initiativrecht auf Seiten der Basisinitiativen legen würden. Ideen und Kreativität kommen auch mancherorts aus den Rathäusern und Behörden. Nichtsdestotrotz ist es essentiell, dass - von Toronto bis zur Seebrücke – die Phantasie sozialer Initiativen und die konkreten Erfahrungen des Alltags in der Stadt eine zentrale Rolle bei der Hervorbringung neuer politischer Konzepte spielen. Dabei ist es wichtig, einen umfassenden Begriff dieser Kräfte zu entwickeln, anstatt sie auf ein einseitiges Verständnis politischer Bewegungen zu reduzieren. Die solidarischen Praxen der Stadt umfassen diverse Unterstützungsstrukturen, persönliche Solidaritäten, anwaltliche Arbeit, ehrenamtliche und hauptamtliche Sozialarbeit und Gesundheitsversorgung und vieles mehr.

Viele von ihnen sind in ihrem Grundverständnis Akteure einer Post-Zivilgesellschaft: Initiativen, die nicht einseitig auf politische Durchsetzung von Forderungen orientieren, sondern aus guten Gründen eigene, autonome Praxen und damit eine soziale Macht entwickeln und von dort aus Strategien ihrer Stärkung und politischen Durchsetzung auflegen. Sie fragen nicht zuallererst, wie die Gesellschaft durch die Regierung verändert werden kann. Sie fragen, wie die Realität der postmigrantischen Gesellschaft, der Mobilität, der sozialen Heterogenität, der Solidaritätsinitiativen in Politik und soziale Rechte übersetzt werden kann.

Das gleiche gilt für den Beitrag der Migrationsbewegungen zu den innovativen Praktiken: Es ist die Autonomie der Migration und ihre Unaufhaltsamkeit, die über die Anwesenheit der Migrant*innen das Außen der globalisierten Welt in das Innere der Städte holt – und damit eine neue politische Konstellation ermöglicht, in der Akteure sich nicht mit dem Nationalstaat und seinem Wunsch nach Migrationskontrolle identifizieren, sondern mit den sozialen Bedürfnissen ihrer Nachbar*innen. Die Stadt ist so gesehen eine Chiffre für eine Politik, die die sozialen Beziehungen und das Zusammenleben der Vielen zu einem Ausgangspunkt macht: Die politische Utopie kommt aus der sozialen Realität. Eine Politik der Städte erkennt die Zusammensetzung der Stadt, ihre Offenheit und ihre postmigrantische Realität bedingungslos an. Sie kann zeigen, dass die Nation nichts Natürliches ist, sondern die Praxis der Hierarchisierung von Menschen und Rechten als eine politische Technik entzaubern. So werden – idealtypisch – neue soziale Rechte durch Migrationsprozesse und solidarische Praktiken von unten produziert.

Chance für die Linke

Solidarische Städte sind Orte, an denen neue linke Politiken erprobt und entwickelt werden können. In der Stadt kehrt sich das Verhältnis von Bewegungen und Politik auf eine produktive Weise um. Regierungen sind Teil einer umfassenden Strategie sozialer Veränderung, die sich auf die faktischen Realitäten in der Stadt stützen kann: Die Bedeutung der Migration, die Existenz solidarischer Initiativen und der Alltag einer Gesellschaft, der aus sich heraus die Natürlichkeit des Nationalen herausfordert und dechiffriert. Ihr Ausgangspunkt ist die Realität des alltäglichen Lebens – die soziale, kulturelle und politische Faktizität der Gesellschaft der Vielen. Städte und ihre Kämpfe können also für die Linke eine methodologische Bedeutung haben, weil sie die Orte sind, an denen soziale Praktiken politisch ausgespielt werden können und die Frage ihrer Übersetzung in neue politische Formen gestellt wird. Diese Prozesse können beispielhaft und vorbildlich sein für die Entdeckung neuer politischer Formen in Stadt, Land, Bundespolitik und darüber hinaus.

Die Grundstruktur der Praxis solidarischer Städte gibt eine konzeptuelle Antwort darauf, wie linke Politik sich aus den Widersprüchen ihres gegenwärtigen Denkens lösen kann. Sie zeigt, wie Migration und Alltagssolidarität als Kräfte der Transformation wirken können und wie die «soziale Frage» nicht bloß gestellt, sondern von links beantwortet und zur Frage der Demokratie in Beziehung gesetzt werden kann. Sie öffnen einen Raum, in dem Narrative und konkrete Projekte entwickelt werden können, wo institutionelle Politiken und Solidaritätsstrukturen interagieren, wo lokale und transnationale Räume sich kreuzen und Bewegung und Regierung in ein neues Verhältnis treten. Das alles löst die Widersprüche darin nicht auf, kann und soll Konflikte nicht stillstellen – erst Recht nicht den zwischen den Institutionen und den Basisakteuren. Sie sind jedoch ein Mechanismus, diese Widersprüche produktiv zu machen.

Solidarische Städte sind keine geschlossene Utopie. Sie sind keine Lösung, aber ein Beginn einer anderen Politik der Übersetzung von unten nach oben, der Konstituierung der Städte als politische Akteure und einer linken Migrationspolitik, die aus dem Paradigma der Integration ausbricht. Dass das alles nicht so einfach geht? Ist klar. Bewegungen und Regierungen können manchmal interagieren, doch niemals eine Einheit sein. Stadtregierungen sind nicht nur Umschlagsplätze für eine Politik von unten, sondern sogar bei besten Absichten den Zwängen des Nationalstaates und der Logik der Institutionen verhaftet. Können Städte rebellieren?

  Mario Neumann ist Politikwissenschaftler und Aktivist aus Berlin. Er ist im Netzwerk «We'll Come United» aktiv, arbeitet an der Universität Kassel und ist gemeinsam mit Sandro Mezzadra Autor von «Jenseits von Interesse und Identität: Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968» (Laika-Verlag).

Literaturangaben:

  • Balibar, Etienne (1993): Die Grenzen der Demokratie. Argument-Verlag.
  • Bauder, Harald (2017): «Sanctuary Cities: Policies and Practices in International Perspective». In: International Migration. 55 (2), S. 174–187.
  • Bauman, Zygmunt (2017): Retrotopia. Erste Auflage, Sonderdruck, Deutsche Erstausgabe. Berlin: Suhrkamp (edition suhrkamp Sonderdruck).
  • Brunner, Christoph; Kubaczek, Niki; Mulvaney, Kelly; u. a. (2017): Die neuen Munizipalismen Soziale Bewegung und die Regierung der Städte.
  • Hess, Sabine (2018): «Es gibt auch in Deutschland eine Kontinuität städtischen Ungehorsams» - RLS
  • Hess, Sabine; Lebuhn, Hendrik (2014): «Politiken der Bürgerschaft. Zur Forschungsgeschichte um Migration, Stadt und Citizenship». In: suburban. zeitschrift für kritische stadtforschung. 2 (3), S. 11–34.
  • Heuser, Helene (2018): «Sanctuary Cities in der BRD – Netzwerk Fluchtforschung»
  • Jungfer, Eberhard; Kopp, Hagen (2018): «‹Umkämpfte Räume› – Mit Solidarity Cities für Bewegungsfreiheit und gleiche soziale Rechte für alle». express- Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. 2018.
  • Kron, Stefanie; Lebuhn, Hendrik (2018): «Solidarische Städte: Globale Soziale Rechte und das Recht auf Mobilität» - RLS
  • Mayer, Margit (2018): «Cities as sites of refuge and resistancex. In: European Urban and Regional Studies. 25 (3), S. 232–249, doi: 10.1177/0969776417729963.
  • Medibüro Berlin (2018): «Anonymer Krankenschein» - Medibüro
  • Mezzadra, Sandro; Neumann, Mario (2017): Jenseits von Interesse und Identität Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968. laika.
  • NZZ (2017): «Wie Palermos Bürgermeister vom Mafiajäger zum Flüchtlingsvater wurde»

#Migration #Rekommunalisierung

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«Solidarische Städte» sind nicht bloß eine kommunalpolitische Antwort auf globale Migrationsbewegungen. Als konkrete Utopien können sie einen Paradigmenwechsel begründen, der eine Antwort auf die Krise der politischen Linken bietet – weil sie das Nationale von innen und von unten herausfordern und darin Migration als Kraft umfassender gesellschaftlicher Transformation sichtbar machen..

Tobias Rademacher / unsplash

  • #Migration
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«Alles Weitere bei einer Tasse Tee»

Wie kann eine linke Stadtpolitik aus der Perspektive der Migration aussehen?

November 2018

Andrej Holm und Sandy Kaltenborn

Andrej Holm und Sandy Kaltenborn

Migration, Rekommunalisierung#Migration #Rekommunalisierung

«Missverhältnis in der Repräsentation»

Piening: Sandy, reicht dieses Mitgedacht-Werden aus für Sichtbarmachen in Deinem Sinne?

Kaltenborn: Es bleibt ein Ungleichgewicht in der Repräsentation. Wenn man auf die aktivistischen Kreise schaut - Wer ist da wie sprechfähig? Welche Initiativen treten mit was für einer Geschwindigkeit an die Öffentlichkeit? - dann sind das oft Leute aus der Mittelschicht ohne internationalen Hintergrund. Das bildet sich auch in den Themen ab. Derzeit ist in Berlin das Vorkaufsrecht ein großes Thema. Dabei reden wir aktuell über 13 Häuser! Das steht in keinem Verhältnis zu den 3000 Wohnungen in der Wassertorsiedlung hier am Kottbusser Tor, wo hauptsächlich arme Menschen mit einem internationalen Hintergrund wohnen. Das ist ein Missverhältnis. Die Aufmerksamkeitsökonomie in linken Publikationen und der Presse konzentriert sich sehr auf einzelne Häuser, wo doch Wohnungsgesellschaften wie die Deutsche Wohnen oder die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und der Soziale Wohnungsbau die quantitativ strukturell wichtigere Perspektive wären.

Piening: Dazu kommt eine weitere Entwicklung seit 2015. Bewegungen wie Solidarity Cities haben Geflüchtete und dabei besonders die Undokumentierten im Fokus. Fällt der «Sozialmieter» am Kottbusser Tor nun wieder hinten runter?

Kaltenborn: Bei den Linken und auch den antirassistischen Initiativen gibt es die unterschiedlichsten Konjunkturen zu Rassismus und Migrationspolitik. Aktuell sind es u.a. die Solidarity Cities. Bei aller Skepsis solchen Konjunkturen gegenüber, kann dies aber auch ein guter Katalysator sein, die verschiedenen Fragestellungen miteinander zu verschränken. Konkret heißt das, man sollte nicht nur auf die aktuelle Fluchtbewegung schauen, sondern sie im Kontext des zivilisierenden Charakters von Migration im Allgemeinen zusammen denken und bearbeiten. Dies ist noch nicht einmal eine linke Position, sondern findet sich aktuell z.B. auch in der Präambel des UN-Migrationspakts als Faktum wieder – kurz: man sollte aufhören, Gesellschaften jenseits der Frage der Migration zu denken.

Piening: Selbst in einer von Einwanderung geprägten Stadt wie Berlin ist demnach eine angemessene Repräsentation migrantischer Perspektiven auch in linken Bewegungen keine Selbstverständlichkeit und muss immer wieder hergestellt werden. Verliert sich diese Perspektive endgültig dann, wenn es in und um die Institutionen geht? Wie ist das Zusammenspiel von Bewegung und Stadtpolitik? Und versteht es die LINKE bzw. der Berliner R2G-Senat, diese Kraft und Lösungskompetenz der diversen Stadtgesellschaft zu nutzen?

Kaltenborn: Wir, die mieten- und stadtpolitischen Initiativen sind die treibende Kraft einer sozialen Stadtentwicklung, wir haben die großen Projekte angeschoben und nicht die Politik. Wir haben die Stadt zum Besseren bewegt, die Impulse sind von uns gekommen. Das ist unser Selbstbewusstsein heute. Ob R2G Erfolg hat, wird sich daran festmachen, ob sie lernfähig ist hinsichtlich der Zivilgesellschaft und der Akteure aus diesen Bewegungen. Die zentrale Frage ist, welche Formate des Regierens zwischen Politik, Verwaltung und der Zivilgesellschaft eingerichtet werden können, um nachhaltige Lernprozesse in beide Richtungen zu ermöglichen.

 

Holm: Was hat hier bei Kotti & Co stattgefunden? Ein politischer Akteur, nämlich eine gut organisierte Hausgemeinschaft, hat den Staat zum Gecekondu zitiert und seine Forderung unterstrichen, als Experte anerkannt zu werden. Dahinter kann R2G nicht zurückfallen! Das Versprechen der LINKEN und von Teilen der Grünen ist: Wir wollen diesen Schwung nutzen und wir fühlen uns von diesen sozialen Bewegungen mandatiert.

Piening: Und wie funktioniert es? Wie wird es umgesetzt? Wie fällt Eure Halbzeitbilanz aus?

Holm: Das ist zutiefst von widersprüchlichen Erfahrungen geprägt. Es ist von Vorteil, dass es persönliche Beziehungen zwischen Aktiven und denen gibt, die bis vor zwei Jahren Opposition waren und jetzt Verantwortung tragen. Ohne diesen kurzen Draht wäre einer der großen Erfolge hier am Kottbusser Tor, nämlich die Kommunalisierung des Neuen Kreuzberger Zentrums, nicht gelungen.

Erfahrungen mit Rot-Rot-Grün

Darüber hinaus gibt es eine Tendenz, den Initiativen die Türen in regierungsnahe Abstimmungsrunden zu öffnen. Wir haben die Kungelrunden zwischen Politik und Wohnungs- und Bauwirtschaft jahrelang kritisiert und jetzt heißt es: «Mietshäusersyndikat, Genossenschaften, kritische Wissenschaft - ihr seid alle eingeladen!» Vor allem in den von der Linken geführten Senatsverwaltungen sind die typischen Verwaltungsexperten und die Lobbyisten der jeweiligen Wirtschaftsbranchen nicht mehr unter sich. Wir können noch nicht ermessen, was genau der Ertrag von solchen Beteiligungen ist. Aber die Teilnahme an einem Begleitkreis der Senatorin entspricht ganz sicher noch nicht den Vorstellungen von einem echten «Stadtmitgestalten», den viele hatten und haben.

Piening: «Der Weg vom Protest zum Programm», wie du es einmal formuliert hast, scheint einige unerwartete Kurven zu haben…

Holm: In den Institutionen hat es jahrelang keine Kompetenz z.B. in Fragen des Sozialen Wohnungsbaus oder einer sozial ausgerichteten Liegenschaftspolitik gegeben. Diese Kompetenz hat sich die Protestkultur erarbeitet und von unten in die Politik eingebracht. Alles, was an konkreten Maßnahmen in den Abschnitten zur Wohnungspolitik in der R2G-Koalitionsvereinbarung steht, kommt aus den stadtpolitischen Initiativen. Es gab keine eigenen Gestaltungsideen der Koalitionspartner, sie griffen auf, was unten vorbereitet war. Und das ist aus meiner Perspektive kein Mangel sondern eine Stärke des Regierungsversprechens von Rot-Rot-Grün.

Im Vergleich zu früheren politischen Konstellationen in Berlin gibt es zurzeit eigentlich keinen Dissens zwischen stadt- und wohnungspolitischen Basisbewegungen und den Regierenden. Die Geister scheiden sich vor allem an der Frage, wie, wie schnell und wie konsequent eine soziale Stadtpolitik implementiert werden kann. Die LINKE droht in das klassische Muster zurückzufallen, und immer mal wieder ist zu hören, dass alles schwer durchzusetzen sei, weil die Koalitionspartner sich quer stellen oder weil die Verwaltung nicht will. Das ist auch für die Initiativen eine neue Situation. Mit diesen praktischen Implementierungsfragen konnten sich die Bewegungen in Berlin bisher gar nicht beschäftigen, wir waren ja ständig dabei, unser Programm an die Politik zu adressieren. Jetzt kommt die Anforderung, dass wir uns an der Umsetzung beteiligen.

Kaltenborn: Es sind zähe Lernprozesse. Das liegt auch an den lebensweltlichen Kontexten linker Politiker. Wir haben die Expertise, wir haben neue Formate entwickelt - und dann erleben wir Verwaltungen, wo man sich fragt, wo leben die eigentlich? Dieses organische Wissen der Bewegung fehlt vielen politischen Verantwortungsträger*innen. Das ist auch nicht verwunderlich. Wer von den LINKEN hat denn teilgenommen an den sozialen Kämpfen? Wer war auf den Kotti-Lärm-Demonstrationen, im Gecekondu? Nicht viele haben wirklich verstanden, was es heißt, dass wir die Stadt gestalten. Wenn nach wie vor bei allen Parteien die Vorstellung herrscht, dass sie die  Gestalter sind, hat das auch biografische Gründe. Darum ist die Frage entscheidend, welche Menschen mit welchen Hintergründen und welchem Wissen in die Institutionen geholt werden - in die Verwaltung, in die Politik, in die Hochschulen.

Piening: Die Stadt als «Motor der Transformation» - das ist derzeit ein Schlagwort in vielen linken Diskussionen. Nation, supranationale Strukturen scheinen keine Rolle mehr zu spielen. Aber auch rebellische Städte stoßen an Grenzen nationaler und internationaler Restriktionen. Beschneidet sich die Bewegung nicht selbst, wenn sie das «drumherum» außer Acht lässt?

Holm: Die sozialen Kämpfe sind immer da, wo man gerade ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass Städte nicht nur Voraussetzung und Ergebnis von Machtverhältnissen sind, sondern auch die Arena, in der die Konflikte ausgetragen werden. Hobsbawm hat ganz simpel erklärt, warum Revolutionen immer in den Städten ihren Ausgangspunkt hatten: Weil da die Menge zusammenkommt und weil die Orte der Herrschaft gut zu erreichen sind. Das gilt im übertragenden Sinne immer noch. Konflikte werden sichtbarer in Städten. Verhältnisse schlagen sich unmittelbar in deinem Alltag nieder, nicht vermittelt durch eine abstrakte Struktur. Deshalb ist die Stadt Inkubator und Beschleuniger von vielen Konflikten, was aber nicht bedeutet, dass es in anderen Konstellationen keine Bewegung gibt. Gerade in den grenzregime-bezogenen Diskussionen sehen wir, wie nationale Organisationen unfähig sind, Lösungspotentiale zu finden. Darum ist ja mit der Ermächtigung von Städten als politischen Körperschaften so viel Hoffnung verbunden. Die Stadt ist die politische Einheit, in der sich die politischen Machtverhältnisse schneller und sichtbarer verschieben können. Bewegungen in der Stadt nutzen die Vielfalt und die hohen Verdichtungen, die in anderen räumlichen Konstellationen schwerer herzustellen sind.

«Versprechen auf die Gesellschaft von morgen»

Kaltenborn: Das neue Selbstbewusstsein der stadtpolitischen Bewegungen, das etwa in den Diskussionen um Munizipalismus deutlich wird, hat doch Ursachen. Unsere Kämpfe sind verhältnismäßig erfolgreich und sie strahlen in die Fläche aus. In der Stadt lassen sich die Kämpfe der Migration von den sozialen Kämpfen nicht trennen. Daraus entstehen die Lernprozesse und die neuen Perspektiven. Kotti & Co macht ja nicht «nur» Mietenpolitik, sondern Politik für den Alltag, für das Leben. Damit werfen wir die Frage auf: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Solche Prozesse laufen an vielen Stellen. Beispiel Volksentscheide: Das sind vollkommen unterschiedliche Themen, ganz unterschiedliche Kämpfe, die hier ihren Ausdruck finden, aber sie kommen zusammen, haben sich beraten und vernetzt. Da wird Solidarität mit anderen Kampffeldern gelebt.

Holm: Die Problemlagen, die aus städtischen Alltagserfahrungen wachsen, unterscheiden sich ja nicht grundlegend von anderen Fragestellungen in der Gesellschaft: Diskriminierung, Offenheit, Anerkennung von Differenzen und Lebensentwürfen, die verheerende Wirkung einer Marktorientierung, der Ruf nach öffentlicher Verantwortung und das Bedürfnis mitzubestimmen.  Das kann ich im Mikrokonflikt thematisieren und zu einer gesellschaftlichen Utopie weiterdenken. Die städtischen Protestbewegungen sind Versprechungen auf die Gesellschaft von morgen.

Auf der nationalen oder gar europäischen Ebene kann ich mir kaum vorstellen, dass eine Bewegung, die eher horizontal organisiert ist und auf basisdemokratische Elemente setzt, diese Durchschlagskraft bekommt. Beim derzeitigen Stand an Organisationsgraden hat die Stadt die passende Reichweite, um die Prozesse in der politischen Arena kontrollierbar zu halten. Wir beobachten das in Spanien. Das, was Barcelona En Comú erreicht, ist wesentlich attraktiver als das, was PODEMOS auf der nationalen Ebene hervorbringt. Das liegt ja nicht daran, dass die einen eine bessere Idee haben oder bessere Leute. Viel von dem Versprechen, Gesellschaft gemeinsam zu gestalten und Machtverhältnisse ins Wanken zu bringen, erscheint im Lokalen noch halbwegs möglich, aber je höher die Ebene, umso unwahrscheinlicher wird es.

Piening: Bleibt das nicht unbefriedigend? Die Antiglobalisierungsbewegung nahm wenigstens das Ganze in den Blick. Wo bleibt die große Transformation im globalisierten Kapitalismus?

Holm: Naja, jenseits kurzfristiger Mobilisierung war die Antiglobalisierungsbewegung ja nicht gerade sehr erfolgreich. Sie hatten im Unterschied zu den stadtpolitischen Bewegungen wohl zu wenig Bodenhaftung. Stadtpolitische Bewegung ist keine Weltrevolution. Ich bin skeptisch, ob wir mit einer anderen Adressierung - Nation, Europa - mehr erreichen könnten. Da fallen mir vor allem Schwierigkeiten ein, z.B. dass es eher wieder ein Expertending von jenen wird, die die Ressourcen haben …

Kaltenborn: Als wir im Gecekondu gesessen haben, sind Leute aus der ganzen Welt gekommen. Sie wollten politische Lösungen von den Leuten hören, für die sich früher nicht einmal die deutsche Linke interessiert hat. Es gibt Kotti & Co noch, weil die Leute, die vorher kaum sichtbar waren, stolz sind, was erreicht zu haben. Diese Selbstermächtigung, die auf einer ganz kleinen Begegnungsebene aufbaut, ist die Basis jeder Veränderung.

Sandy Kaltenborn, eigentlich Alexander Sandy Paul Omar Abdullah Kaltenborn, ist Kommunikationsdesigner und betreibt das Kommunikationsdesign-Büro image-shift am Kottbusser Tor in Berlin. Er war bei Kanak Attak aktiv und setzt
sich in Ausstellungen, Videos, Plakaten und Aktionen mit Praktiken
urbaner Aneignung auseinander.

Andrej Holm ist
Soziologe, Stadtforscher, Aktivist. Holm ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Humboldt Universität (derzeit beurlaubt) mit den
Forschungsschwerpunkten Gentrifizierung, Wohnungspolitik im
internationalen Vergleich und Europäische Stadtpolitik. Seit 2017 berät Holm die Senatsverwaltung als Mitglied des «Begleitkreises zum
Stadtentwicklungsplan Wohnen 2030».

Website von Kotti & Co

Film zu Kotti & Co (2016)

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://www.rosalux.de/publikation/id/39629/alles-weitere-bei-einer-tasse-tee

#Migration #Rekommunalisierung

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«Linke Stadtpolitik aus der Perspektive der Migration entwickeln» - das ist ein Standardsatz im Repertoire der aufgeklärten Linken. Aber was heißt das konkret, welche Haltungen, Allianzen, Akteursgruppen kommen wie ins Spiel? Fragen an den Stadtforscher Andrej Holm und den Designer Sandy Kaltenborn von Kotti & Co.

Andrej Holm und Sandy Kaltenborn

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Recht auf Gesellschaft

«Es gibt auch in Deutschland eine Kontinuität städtischen Ungehorsams»

September 2018 • Sabine Hess

Sabine Hess

Sabine Hess

Migration#Migration

Günter Piening: Was ist die Rolle der Städte im Grenzregime?

Die Frage ist so allgemein, dass man sie kaum beantworten kann. Städte sind im Grenzregime zentrale Instanzen bei der Zuweisung von Rechten. Sie interpretieren und setzen die nationalen und europäischen Rahmenregelungen um. Im deutschen Rechtssystem sind es die Ausländerbehörden, die über Rechtsstatus, Aufenthalt und Abschiebung entscheiden. Dazu kommen die ganzen sozialpolitischen Fragen der Teilhabe an Wohnen, Bildung usw. – alles originäre Aufgaben der Kommunen. Gerade nach dem Sommer der Migration sehen wir, welche einflussreiche Rolle die Städte im Grenzregime spielen und wie unterschiedlich Städte die ganz basalen Aspekte des Daseins zu gestalten versuchen, wie die Frage des Wohnens, von Gesundheit oder Bildung – bis heute ist da alles möglich, von der Unterbringung in Hallen bis hin zu dezentralen Wohnformen mit klugen Begegnungskonzepten. Dabei spielen nicht nur die städtischen Infrastrukturen eine Rolle, sondern auch das politische und soziale Klima, wie die städtische Gesellschaft tickt – auch das fördern Städte ja sehr unterschiedlich, wobei es nicht mit einer Ehrenamtskoordination getan ist.

Wer eine Funktion hat, hat auch die Macht, diese nicht oder anders auszufüllen. Nutzen die Städte ihre Freiräume?

Na ja, historisch müsste man die Frage umdrehen. Da nationale Einwanderungspolitiken im Sinne von Teilhabe- und Integrationspolitiken ausblieben, sahen sich die Städte angesichts einer sich zunehmend verstetigenden Arbeitsmigration und lauter werdenden Forderungen nach Teilhabe ja bereits Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahren gezwungen, auf kommunaler Ebene soziale Politiken zu entwickeln und «Integration» zu gestalten, auch wenn es niemand wahrhaben wollte, wie es der Münchner OB Vogel seinerzeit ausdrückte. Dies haben die Städte durchaus unterschiedlich gemacht – wobei dies sicherlich auch abhängig war von der jeweiligen finanziellen Situation. In dem Sinne waren die Städte schon immer in gewisser Weise die Laboratorien der Einwanderungsgesellschaft und der nationalen Politik Lichtjahre voraus und mussten deren Blockadehaltungen ausbaden.

Dabei gibt es auch so was wie eine Kontinuität städtischen Ungehorsams. Als es klar war, dass auf nationaler Ebene wieder keine gestaltende Politik durchzusetzen war, haben in den Neunzigern beispielsweise Städte wie Freiburg oder München Strategien entwickelt, um den Umgang mit Undokumentierten zu entkriminalisieren. Und auch damals war es die Macht der städtischen Zivilgesellschaft, die Wohlfahrtsverbände v.a., die mit den Problemen direkt konfrontiert sind, die sich zusammen taten und städtische Mehrheiten hinter sich brachten.

Der Schub von 2015 wirkt weiter

Die Entwicklungen des Jahres 2015, als überall Soli-Gruppen und Ehrenamtliche an den Bahnhöfen und in den Städten wie Pilze aus dem Boden sprossen, um das Ankommen in Würde einigermaßen zu organisieren und der Staat schlichtweg nicht da war, hat für die Solidaritätsbewegungen einen Schub gebracht, der so nicht vorauszusehen war. Diese neuen Kräfte der Solidarität sind in vielen Städten weiterhin aktiv. Die Bewegung, die 2015 entstanden ist, ist vielleicht nicht mehr so sichtbar, aber sie ist nicht verschwunden.

Dabei haben Bewegungszyklen wie Lampedusa in Hamburg oder Kotti & Co in Berlin schon vor 2015 das Recht auf Stadtgesellschaft und das Recht auf Teilhabe enorm auf eine neue Weise politisiert und es mit den Kämpfen um Mobilität und gegen die Entrechtungen und Zwangsverhältnisse des europäischen Grenzregimes verzahnt.

Angesichts des enormen Rechtsrucks auch der deutschen Asylpolitik und des gesellschaftlichen Klimas in Zeiten von AfD, Seehofer und Co. ist es nicht verwunderlich, dass es wieder die Städte sind, in denen und mit denen sich solidarische Politikformen entwickeln, wie es die Bewegung der «Solidarity Cities» zeigt.

Was macht eigentlich eine Solidarity City aus?

Ein Stadt, in der keiner Angst vor Abschiebung haben muss, in der alle Menschen Rechte haben und das Stadtleben mitgestalten können – unabhängig von Aufenthaltsstatus, finanziellen Möglichkeiten, Hautfarbe, Geschlecht, Sexualität, Religion - eine Stadt also, die die Politiken des Grenzregimes unterläuft, sich widersetzt. Voraussetzung dafür sind Bürger*innen, die die Aktivitäten der Ausländerbehörde beobachten, die sich Abschiebungen entgegenstellen, die der Politik immer dort auf die Finger hauen, wo Entrechtung stattfindet, die Diskriminierung thematisieren und Rassismus ...

Ist es also eine Bewegungsfrage und keine institutionelle Angelegenheit?

Selbstverständlich sollte sich dies in staatlich-kommunales Handeln übersetzen, um verbindliche und nachhaltige Strukturen bilden zu können. Hier sehe ich übrigens eine Schwäche der aktuellen Solidarity Cities-Bewegung, die sich mit ihren eigenen Netzwerken, Verstecken, Anti-Abschiebungs-Notrufketten und Taktiken gegenüber Schulen oder Gesundheitssystem oftmals zu genügen scheinen. Doch da ist mehr drin, sowohl in Sachen Strukturbildung als auch in Sachen Politik/Meinungsbildung. Gerade erleben wir ja, wie im Zusammenhang mit der Seebrücken-Bewegung auch deutsche  Bürgermeister*innen und Städte erklären, mehr Flüchtlinge aufnehmen zu wollen und damit den nationalen und europäischen Abschottungskonsens unterlaufen.

Was alles geht mit der Perspektive auf den städtischen Raum machen uns ja die Bewegungen in den USA oder in UK vor: Es geht um solidarische Schulen und Universitäten, um solidarische Krankenhäuser etc., die ein klares Signal aussenden, dass sich eine offene, solidarische Gesellschaft gestalten lässt.

Die vielen Bewegungen haben nicht verhindert, dass der politische Diskurs, die «Großwetterlage», wie es so schön heißt, nach rechts abgedriftet ist. Die politische Lage war für Geflüchtete und Eingewanderte noch nie so dramatisch wie heute.

In der Tat spitzt sich die Polarisierung zu. Wer hätte vor Jahren geglaubt, dass das Bundesinnenministerium und der Rechtspopulismus eine ähnliche Agenda haben? Es scheint inzwischen so, dass der rechtsautoritäre Umbau ein staatsinstitutionen-internes Projekt ist.

Rechtsruck und fehlende Antworten der Linken

Dramatisch nur ist, dass es bisher kein organisiertes linkes Projekt gibt, welches auf der Höhe der Herausforderungen der Migration eine fortschrittliche soziale politische Vision entwickelt hat; das wäre eine Politik, die Migration und ihre Kämpfe, v.a. ja das in der Migration zentral zum Ausdruck kommende Ringen um ein Leben in Würde und Sicherheit, endlich sozialpolitisch ernst nimmt im Sinne eines gemeinsamen Kampfes um ein lebenswertes Leben. Dies erfordert jedoch, endlich einen anderen Begriff des Sozialen zu entwickeln als es weite Teile der gewerkschaftlichen und parteipolitischen Linken buchstabieren können, die weiterhin nicht über den Tellerrand des Nationalen schauen und die ein lebenswertes Leben weiterhin nur in Lohnzuwächsen deklinieren. Hier wird jedoch keine Antwort auf die globalen sozialen Verwerfungen und Herausforderungen zu finden sein.

Doch insgesamt ist in den letzten Wochen dieses Sommers ein Ruck durchs Land gegangen und die «Willkommensgesellschaft», die «offene Gesellschaft», für die Vielfalt nicht nur ein buntes Kulturfesterlebnis ist, sondern die wissen, dass es ein Gut ist, welches es zu verteidigen gilt, scheint langsam zu erwachen und dem politischen Rechtsruck Einhalt zu gebieten

Die Seebrückenbewegung – eine neue Etappe?

Eine neue Etappe dafür könnte die Seebrückenbewegung sein, die Zehntausende auf die Straße bringt, in den Städten, auf dem Land oder die Sammlungsbewegung We’ll Come United, die am 29. September zu einer Parade nach Hamburg aufruft. Auch die aktuellen Ereignisse rund um Chemnitz haben mobilisiert. Die Schule meiner Tochter hat beschlossen, eine Anzeige gegen den Rechtspopulismus zu schalten. Das sind Bürger*innenaktionen, die sich bis vor Kurzem kaum jemand vorstellen konnte. Es scheint für viele aus dem liberalen Spektrum der Zeitpunkt gekommen zu sein, gemeinsam aus der Unsichtbarkeit herauszutreten und Position zu beziehen.

Auffallend ist aber, dass die klassischen Migrant*innenorganisationen vergleichsweise still und unsichtbar sind. Dadurch bleiben die Erfahrungen, die die Geschichte der Kämpfe der Migration bereithält, weitgehend ungenutzt.

Vielleicht fehlt denen – wie mir auch – der Fokus auf Bürgerrechte. Interessanterweise ist seit 2015 die Debatte um «Urban Citizenship», die auch in Deutschland langsam an Fahrt aufnahm, wieder abgeebbt …

Das Interessante an «Urban Citizenship» ist in der Tat, dass die Kategorie des Migrantischen keine Rolle mehr spielt. In UK mobilisiert der Begriff eine breite Koalition von Akteuren, die von Migrant*innen, Erwerbslosen und Aktivist*innen bis zu Studierenden, Künstler*innen und Akademiker*innen reicht. Doch der Begriff scheint aus verschiedenen Gründen im deutschen zu sperrig zu sein. In seiner englischen Version ist er einfach zu akademistisch; und in seiner deutschen Variante – «städtische Bürgerschaft» zu fordern – hat er gleich mehrere weitere Probleme: So klingt Bürgerschaft im Deutschen zu formaljuristisch, und damit nach dem nationalen sozialen (patriarchalen) Projekt, was zu bekämpfen ist. Vorstellungen im Sinne von «activist citizenship», wie es sie im Englischen gibt, – alle die hier leben und lieben und sich als Bewohner*innen selbst verstehen und dementsprechend handeln, als Bürger*innen zu verstehen – gibt es hierzulande nicht, also die Perspektive auf das Rechte nehmen. Dabei ist die Migration ja eine soziale Bewegung par excellence, die sich das Recht auf Mobilität und ein besseres Leben nimmt – und damit stellt sie ja eigentlich eine originär demokratische Kraft da.

In diesem Sinne halte ich den Slogan «Recht auf Stadt», der ja in aktuellen stadtpolitischen Kämpfen gerade bei den Linken sehr beliebt ist, auch als zu einengend und irreführend. Wenn schon, dann geht es doch um ein «Recht auf Gesellschaft» – das wäre eine inkludierende Agenda, die Freiheitsrechte und soziale Rechte für alle thematisiert. Dass es eine derartige Perspektive in der organisierten Linken bisher nur in Ansätzen gibt, die nicht Migration, sondern die Einwanderungspolitik als Gesellschaftspolitik formuliert, ist kaum zu verzeihen, da die plurale Gesellschaft der Vielen ja tagtäglich da draußen auf den Straßen und in den Schulen praktiziert wird und zwar nicht mehr als Ausnahme, sondern als tägliche Normalität.

 

Sabine Hess arbeitet als Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Migrations- und Grenzregimeforschung. Sie ist Gründungsmitglied des Netzwerkes für Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung kritnet, Mitherausgeberin der Zeitschrift «movements» und Mitglied des Rats für Migration.

#Migration

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Die Migrationsforscherin Sabine Hess zur Rolle der Städte im europäischen Grenzregime, zu den Folgen von 2015 und zur Unfähigkeit der organisierten Linken, die soziale Frage mit den Kämpfen der Migration zu verbinden.

Sabine Hess

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Eine Aufnahme von Schutzsuchenden aus einem anderen EU-Mitgliedsstaat durch die Bundesländer ist zulässig. Zu diesem Ergebnis kommt ein aktuelles von der Rosa-Luxemburg-Stiftung beauftragtes Rechtsgutachten zur «Aufnahme von Schutzsuchenden durch die Bundesländer».

Die Bundesländer hätten gemäß § 23 Absatz 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes die Möglichkeit, allein oder in Koordination miteinander Programme zur Aufnahme von Geflüchteten aufsetzen. Das Bundesinnenministerium (BMI) dürfe in dem erforderlichen Zustimmungsprozess lediglich einen äußersten rechtlichen Rahmen für die ansonsten freie politische Entscheidung der Länder abstecken. Bei einer mutmaßlich rechtswidrigen Ablehnung durch das BMI könnte das betroffene Land das Bundesverwaltungsgericht anrufen.

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In den großen Städten explodieren die Mieten, bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Das birgt sozialen Sprengstoff. Dass es problematische Folgen hat, Wohnraum marktförmig zu organisieren, ist eine alte linke Erkenntnis. In der aktuellen Wohnungskrise ist sie vielen neu bewusst geworden.

Stadtpolitik ist aber auch ein Feld der politischen Hoffnung und des solidarischen Widerstands. In Hausgemeinschaften und Nachbarschaften, mit Kampagnen und Demonstrationen machen immer mehr Menschen gegen den Mietenwahnsinn mobil. Die Forderung nach Enteignung großer Immobilienkonzerne gewinnt ungeahnte Zustimmung. Diese Proteste haben die Wohnungsfrage wieder auf die politische Agenda gesetzt.

Wie kann eine Wohnungspolitik aussehen, die sich am Gemeinwohl orientiert, die Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausspielt, die inklusiv und zugänglich für alle ist? Dies beleuchtet diese Ausgabe der Zeitschrift «LuXemburg» 2/2019 zu Wohnungskrise und Stadtpolitik.

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„Dorn im Fleisch der Verwaltung“?

Juli 2017 • Mira Wallis

WelcomeCamp 2017 / Foto: Andi Weiland / CC BY SA

WelcomeCamp 2017 / Foto: Andi Weiland / CC BY SA

Migration#Migration

Die Flüchtlingskrise bringt für viele Kommunen eine dreifache Belastung: Sie sind hoch verschuldet, müssen einen ausgeglichenen Haushalt erreichen und dann auch noch die Flüchtlinge unterbringen. […] Man muss die Bevölkerung vorsichtig darauf vorbereiten, dass bestimmte Dinge [zusätzliche Sozialleistungen] zwar schön sind, wir sie uns in Zukunft aber nicht mehr leisten können.“ (zit. nach Welt, 27.1.16).

Mit diesen Worten warnte der Geschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Gerd Landsberg im Januar 2016 im Vorfeld eines Treffens der Spitzenvertreter der Kommunen mit der Bundeskanzlerin vor massiven Einschränkungen in der kommunalen Infrastruktur, wenn die Zahl der Geflüchteten nicht reduziert würde. Das Zitat verdeutlicht, inwiefern das, was gemeinhin als „Flüchtlingskrise“ tituliert wird, der Zivilgesellschaft jenseits medialer Debatten vor allem auf lokaler Ebene begegnet. Fragen der Versorgung und der gesellschaftlichen Teilhabe von Geflüchteten stellen sich in erster Linie auf der Ebene des „lokalen Staates“, wie Felix Wiegand in LuXemburg 1/2016 argumentiert.

Nach Jahrzehnten neoliberaler Deregulierung, kommunaler Austerität und der daraus resultierenden strukturellen Unterfinanzierung der Kommunen war dieser lokale Staat allerdings schon lange vor der Ankunft einer großen Anzahl von Geflüchteten ‚belastet’. Die Hilflosigkeit vieler Kommunen im Sommer 2015 lenkte lediglich neue Aufmerksamkeit auf die massiven Einschnitte in öffentlichen und sozialen Einrichtungen wie Kitas, Krankenhäusern, Schwimmbädern oder Beratungsstellen, von denen die lokale Bevölkerung bereits seit Jahren betroffen war. Die „Flüchtlingskrise“ brachte also die Krise der öffentlichen Daseinsvorsorge nur erneut zum Vorschein.

Diese Überforderung der Kommunen wurde jedoch schnell zum Politikum: Sie wurde nicht nur von rechter Seite ausgenutzt, „um alte und neue Bewohnerinnen gegeneinander auszuspielen und Geflüchtete für eine real vorhandene Misere verantwortlich zu machen“ (Wiegand 2016), sondern – so zeigt das obige Zeit – auch von Politik und Verwaltung. In dieser Gemengelage kam den zahlreichen Willkommensinitiativen, die zum Teil schon ab 2011 entstanden waren, die aber insbesondere nach dem Sommer der Migration großen Zulauf erfahren hatten (Karakayali/Kleist 2015 u. 2016), eine höchst ambivalente Rolle zu: Nicht selten wurden die Freiwilligen ins Feld geführt, um genau diese Überforderung zu betonen und im Zweifel als Argument für die Einführung von Obergrenzen oder für eine verschärfte Abschiebepraxis in Anschlag zu bringen. So verkündete beispielsweise Finanzminister Schäuble Ende letzten Jahres:

„In der Flüchtlingskrise hat Deutschland enorme Hilfsbereitschaft gezeigt. Noch auf Jahrzehnte wird man im Ausland mit uns die Bilder vom Münchener Hauptbahnhof verbinden. Aber wenn wir diese Hilfsbereitschaft erhalten wollen, müssen diejenigen wieder gehen, die kein Recht haben zu bleiben.“ (zit. nach Zeit, 3.12.16)

Laura Graf weist auf die widersprüchliche Rolle des Freiwilligenengagements in der Transformation des Asylregimes hin, wenn sie schreibt, dass „die öffentliche Wahrnehmung von Hilfe und Engagement […] von Beginn an mit den Narrativen der Überforderung und der Krise verschränkt“ war und „mit Blick auf seine antizipierte Erschöpfung verhandelt“ wurde (Graf 2016). Viele Freiwillige sind jedoch gar nicht ‚überfordert’ oder ‚erschöpft’, sondern vor allem frustriert von einer unterfinanzierten, oft wenig kooperativen, undurchsichtigen bis repressiven Verwaltung. Außerdem sind einige Engagierte wütend auf eine Politik, die die politischen Dimensionen des freiwilligen Engagements nicht anerkennt und/oder diesem Engagement zuwiderlaufende Ziele verfolgt.

Anhand von qualitativen Interviews und Online-Umfragen mit freiwillig Engagierten, die am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) durchgeführt wurden, soll diese Gemengelage genauer in den Blick genommen werden. Der Artikel will sowohl das Narrativ der „Überforderung“ der Freiwilligen kritisch beleuchten, also auch den im Sommer der Migration entstandene Diskurs um die vermeintlichen „Chancen“ des Zuzugs von Geflüchteten für Kommunen in der Infrastrukturkrise. 

Insbesondere im von demographischem Wandel und Abwanderung in die Städte betroffenen ländlichen Raum könne der Rückbau von Infrastrukturen (z.B. Kitas und Schulen) abgemildert oder sogar die Ausstattung an Gemeinbedarfseinrichtungen[1] verbessert werden, so die Argumentation (vgl. Keller 2016).[2]

Auch in diesem Kontext spielen die Willkommensinitiativen eine wichtige Rolle: Sie sind es, die Geflüchteten den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen (z.B. zu Ärztinnen, Beratungsangeboten, Behörden) erleichtern, die mitunter kaputtgesparte Infrastrukturen vor dem Zusammenbruch bewahren (z.B. durch den Betrieb von Stadtteilbibliotheken) und sich teils für die Schaffung neuer Infrastrukturen einsetzen, welche nicht nur den neu Ankommenden, sondern allen Bürgerinnen der Kommune zu Gute kommen (z.B. in Form von Busverbindungen zu abgelegenen Unterkünften oder durch Begegnungscafés). Gleichzeitig laufen sie Gefahr, auch in diesem Diskurs über die Chancen des Zuzugs von Geflüchteten von staatlicher Seite instrumentalisiert zu werden. Denn spätestens seit der Jahrtausendwende handelt es sich bei der Aktivierung von „Engagementpotenzialen“ um eine staatliche Strategie zur Entlastung kommunaler Haushalte im Kontext der neoliberalen Transformation des Sozialstaates. Der Text geht dieser doppelten Instrumentalisierung der Freiwilligen nach: für den Diskurs der Überforderung und den der Chancen für die Kommunen. In einem zweiten Schritt soll die Frage aufgeworfen werden, welche Perspektiven und Anknüpfungspunkte sich in dieser Konstellation für eine linke Politik ergeben. Inwiefern sind die Erfahrungen der Freiwilligen anschlussfähig an eine breitere Bewegung und ein gemeinsames Eintreten für soziale Infrastrukturen „für alle“?

Die Konfrontation der Freiwilligen mit dem (lokalen) Staat

Ein wichtiger Teil der Freiwilligenarbeit besteht darin, die Geflüchteten bei Behördengängen zu begleiten. Dort begegnen sie dem (lokalen) Staat, machen Erfahrungen mit undurchsichtigen bürokratischen Prozessen. Einige großteils aus der Mittelschicht stammende Engagierte werden so zum ersten Mal mit den strukturellen Ausschlüssen des deutschen Sozialstaats und mit institutionellem Rassismus konfrontiert (Hamann/Karakayalı 2016: 80). Dabei nehmen sie gegenüber den Behörden nicht selten die Funktion von ‚Anwältinnen’ der Geflüchteten ein, wenn sie beispielsweise auf bestehende Handlungsspielräume von Mitarbeiterinnen verweisen und darauf pochen, dass diese auch genutzt werden. So berichtete ein ehrenamtlicher Koordinator aus Berlin, dass er eine syrische Familie zum Jobcenter begleitete, um dort die Kostenübernahme für eine Mietwohnung durchzusetzen. Während die Zuständige dies zunächst mit dem Argument verweigerte, die Miete liege oberhalb der rechtlich zulässigen Grenze, stimmte sie in dem Moment zu, als der Freiwillige sie auf eine Regelung aufmerksam machte, nach der die Miete im vorliegenden Fall durchaus um 20 Prozent höher liegen könne. Die Mitarbeiterin gestand später ein, der Kostenübernahme nur zugestimmt zu haben, weil der Freiwillige von dieser Ausnahmeregelung wusste (ebd.). Viele Initiativen haben sich so mittlerweile einen starken Standpunkt gegenüber lokalen Behörden erarbeitet, oft sogar einen Wissensvorsprung bei aktuellen Asyl- und Sozialrechtsfragen:

„Wir sind der Dorn im Fleisch der Verwaltung. Die Behörden wissen das natürlich, deswegen werden die Erfahrungen der Freiwilligen zwangsläufig in das Verwaltungshandeln mitaufgenommen. Unsere Mitarbeiter, ganz besonders die in der Beratung, sind über gewisse Sachen deutlich besser informiert als behördliche Angestellte. Die berichtigen dann oftmals und die Behörden müssen zurückrudern. Von daher werden die Freiwilligen schon gehört und da sind wir auch ein Stück weit stolz drauf. Wir werden gehört – mit einem Augenrollen. Wir sehen also bei jedem Besuch in einer Behörde das Weiße in den Augen.“ (Interview mit Akzeptanz! e.V. Gera, Thüringen, 03/2017)

Doch in der Konsequenz verhelfen Freiwillige nicht nur Geflüchteten dazu, ihre Rechte durchzusetzen, sondern übernehmen oftmals auch Aufgaben und Leistungen, für die eigentlich staatliche Stellen zuständig wären (Karakayalı/Kleist 2015; van Dyk/Misbach 2016). Das folgende Zitat des Thüringer Vereins Akzeptanz e.V. verdeutlicht, dass die Übernahme staatlicher Aufgaben angesichts der personellen Unterbesetzung kommunaler Behörden und des akuten Bedarfs auf Seiten der Geflüchteten oftmals alternativlos erscheint:

„Ich habe vor 14 Tagen bei der Ausländerbehörde angerufen. Erst mal hat es mich fünf Anrufe gedauert, bis ich überhaupt jemand am Telefon hatte. Dann hatte ich eine Frau am Telefon, die selber eigentlich krank war, die ich kaum verstanden habe, weil sie keine Stimme hatte, die flüsterte also mit mir. Und die hat mir dann erklärt, sie ist die Einzige in der ganzen Ausländerbehörde, die noch arbeitsfähig ist. Das ist nicht ihr Aufgabenbereich, die macht eigentlich sonst was ganz Anderes und keiner konnte mir helfen. Da war aber eine Fristsache zu wahren, von daher ist das wahnsinnig schwierig. Wenn bei uns jemand krank wird, versuchen wir mit Ehrenamtlichen und freiwilligen Kräften die Lücke zu stopfen. […] Wir können [auch] nicht sagen, es ist Feierabend in den Behörden, kommt am Montag wieder. Wir müssen eine Lösung finden.“ (Interview mit Akzeptanz! e.V. Gera, Thüringen, 03/2017)

Sowohl Verwaltungsmitarbeiterinnen als auch Hauptamtliche bei etablierten Trägern der Flüchtlingshilfe, wie beispielsweise Wohlfahrtsverbänden, verfügen über Routinen und Standards, um eine gewisse Abgrenzung von der häufig auch emotional sehr belastenden Lohnarbeit zu ermöglichen. Im Gegensatz dazu sind freiwillig Engagierte oft rund um die Uhr privat erreichbar.

Die Grenze zwischen Ehren- und Hauptamt spielt hier eine zentrale Rolle. Wie diese interpretiert wird, variiert jedoch bei den unterschiedlichen Initiativen. Besonderen Wert auf eine klare Trennung legt beispielsweise der Berliner Verein Moabit hilft e.V.:

„Das ist genau der Punkt, wo wir sagen, wir machen viele Dinge nicht, die andere Initiativen ohne mit der Wimper zu zucken machen. Wir fordern halt diese Dinge ein. Das ist ein Hauptmerkmal unserer Arbeit, dass wir bei Politik, ob es lokale oder Bundespolitik ist, Druck aufbauen. Entweder für Gesetzesänderungen oder hinsichtlich dessen, dass es um die exekutive Arbeit hier vor Ort geht. Zum Beispiel wenn das Jobcenter die Zahlung in einer unmittelbaren Bedrohung durch Mittellosigkeit verweigert […]. (Interview mit Moabit Hilft, Berlin, 03/17)

Hier wird die Abgrenzung von der Rolle Lückenbüßer sozialstaatlicher Missstände zu sein als wichtiges Moment des eigenen politischen Selbstverständnisses interpretiert (vgl. Interview mit Diana Henniges, auf LuXemburg-Online, Mai 2017).

Vereinzelt gibt es Versuche der Freiwilligen, aus einer gemeinsamen Position der Willkommensinitiativen heraus politischen Druck aufzubauen. So schlossen sich beispielsweise in Bayern im Herbst letzten Jahres Freiwillige zusammen und riefen einen 24-stündigen Warnstreik aus:

Die einzig wirkliche Macht über die wir Ehrenamtliche selbst verfügen ist unsere freiwillige Arbeitskraft und Zeit. Wir sind nicht in der Unterzahl, wir haben uns lediglich bisher noch nicht organisiert.[3]

Die Trennung in Geflüchtete mit „guter“ und „schlechter“ Bleibeperspektive, aus der sich beispielsweise der Zugang zu kostenlosen Sprachkursen ableitet, läuft dem Engagement eines Großteils der Initiativen, die ihre Angebote für alle Geflüchteten konzipieren, zuwider. Insbesondere die jüngsten Abschiebungen nach Afghanistan führten bei vielen Freiwilligen zu einer wachsenden politischen Mobilisierung:

„Wir haben jetzt auch beschlossen, dass wir uns das nicht gefallen lassen wollen mit den Afghanen, weil wir eben acht Afghanen hier haben, die alle eigentlich, nicht nur alle, die sind einfach nur integriert. Und wenn die abgeschoben werden sollen, werden wir uns richtig wehren. Wir wissen noch nicht wie, aber wir lassen sie uns nicht nehmen.“ (Interview mit einer Flüchtlingsinitiative aus Niedersachsen, 03/2017)

Wie eingangs bereits skizziert, entspricht die Diagnose einer „Überforderung“ der Engagierten durch die Anzahl der aufgenommenen Geflüchteten in den Kommunen nicht deren Selbstwahrnehmung. Vielmehr herrschen Frust und Wut unter den Freiwilligen über eine personell unterbesetzte, intransparente, unkooperative bis repressive Verwaltung sowie über eine Politik, die die Willkommenskultur in eine Abschiebekultur umzuwandeln versucht.

Doch längst nicht alle Initiativen nehmen in dieser Situation ein grundlegend kritisches Verhältnis zum Staatsapparat ein. Vielen ist an einer guten Zusammenarbeit mit Behörden und staatlichen Stellen gelegen, um für jeden Einzelfall die bestmögliche Unterstützung zu erzielen. Sie befürchten nicht, einer Privatisierung staatlicher Aufgaben Vorschub zu leisten. In einer Online-Umfrage vom November 2015 gab die Hälfte der Befragten unabhängig von der Dauer ihres Engagements und ihrer Aufgaben an, dass ihre Tätigkeiten teils als zivilgesellschaftliche und teils als staatliche anzusehen seien, während nur jeweils unter 10 Prozent meinten, es seien klar zivilgesellschaftliche oder staatliche Aufgaben (Karakayalı/Kleist 2016: 28f).

Die „Chancen“ des Engagements im Verhältnis zum aktivierenden Sozialstaat

Die Gefahr einer Indienstnahme der freiwilligen Arbeit durch den Staat besteht keineswegs nur im Bereich der Flüchtlingshilfe. Wie Neumann (2016) umfassend beschreibt, avancierte das Ehrenamt spätestens unter der rot-grünen Bundesregierung (1998-2005) zu einem „politische[n] Hoffnungsträger angesichts sozialstaatlicher Finanzierungs- und Versorgungsengpässe“ (10) und „das Konzept der Bürgergesellschaft [wurde] zum Leitbild des aktivierenden Sozialstaats“ (431). Die staatliche Engagementförderung wurde ausgebaut und Engagementpolitik als eigenständiges Feld etabliert. Auf kommunaler Ebene gingen die massiven Steuersenkungen der Regierung Schröder, die den Kommunen die finanzielle Basis öffentlicher Infrastrukturen und freiwilliger Leistungen entzogen sowohl mit einer Privatisierung von ehemaligen öffentlichen Aufgaben als auch mit einer Kommodifizierung ehrenamtlicher Leistungen einher (Pinl 2015). Um der Krise der sozialen Infrastruktur auf lokaler Ebene zu begegnen, wurden Bürgerbusse zum Ersatz für den öffentlichen Nahverkehr organisiert, Nachbarschaftshilfe institutionalisiert und Freiwillige betrieben fortan Schwimmbäder oder Büchereien.[5] 

Gleichzeitig führten die Hartz-Reformen 2003 zu einer massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors (Dörre 2009: 65f), der sich ebenfalls auf den Bereich des Ehrenamts auswirkte. Jakob problematisiert beispielsweise, dass Minijobs nicht selten durch ehrenamtlichen Tätigkeiten, für die Aufwandsentschädigungen gezahlt werden, aufgestockt werden. Dies gibt es häufig im Bereich der Pflege und beim Ausbau von Ganztagsschulen (Jakob 2016: 2f). Dadurch würde „‘durch die Hintertür‘ ein Niedriglohnsektor etabliert, der weder gesetzlich noch tarifpolitisch geregelt [sei] und sozialversicherungsrechtliche Regelungen [unterlaufe]“ (ebd: 7). In der Zivilgesellschafts- und Engagementforschung werden diese verschwimmenden Grenzen zwischen Ehren- und Hauptamt und die Ambivalenzen einer finanziellen Engagementförderung unter den Stichworten einer „Monetarisierung“ und „Ökonomisierung“ des Ehrenamts verhandelt (vgl. z.B. Jakob 2016; Klein 2016; van Dyk/Misbach 2016).

Im Bereich der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe lässt sich nach dem Sommer der Migration ein weiterer Ausbau der Engagementförderung feststellen, der aus der schieren Unverzichtbarkeit der freiwilligen Arbeit für die Versorgung der Geflüchteten resultiert und gleichzeitig oftmals als Zeichen der Anerkennung dieser Arbeit gehandelt wird. Die staatliche Förderung wurde mit zahlreichen Landes- und Bundesprogrammen zur Unterstützung des Engagements für Geflüchtete ausgebaut und auch viele privatwirtschaftliche Akteure wie Stiftungen und Unternehmen richten ihre Förderprogramme im Bereich Integration und Migration neu aus. Einige der Förderprogramme knüpfen in ihrer inhaltlichen Ausrichtung an den Diskurs um die Chancen des Zuzugs von Geflüchteten für Kommunen in der Infrastrukturkrise an. So fördert zum Beispiel das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aktuell „500 LandInitiativen“ im Rahmen des Bundesprogrammes Ländliche Entwicklung. Finanziell unterstützt werden ehrenamtliche Initiativen im ländlichen Raum, deren Ziel der „gemeinsamen Ausbau/ Erhalt von Gemeindeeigentum“ (z.B. durch die Renovierung eines Dorfgemeinschaftshauses oder den Bau eines Spielplatzes) ist.[6]

Blickt man aber insgesamt auf die Engagementförderung im Bereich der Flüchtlingshilfe, sieht man eine zum Teil paradoxe Situation: Zum einen fließt zwar mehr Geld, doch an der strukturellen Unterfinanzierung der Kommunen hat sich nicht viel geändert. Auch kommt das Geld nicht zwangsläufig auf der lokalen Ebene an. So geht beispielsweise der Großteil öffentlicher Fördergelder nach wie vor an etablierte Träger wie Wohlfahrtsverbände. Die meisten Willkommensinitiativen finanzieren sich überwiegend aus Privatspenden (Karakayalı et al. 2017). Zum anderen wollen viele Fördermittelgeber die ehrenamtliche Arbeit „an sich“ fördern (z.B. Begegnungs-Projekte oder Weiterbildungen), während die Freiwilligen einen nicht unerheblichen Teil ihres Budgets für die direkte finanzielle Unterstützung der Geflüchteten verwenden, beispielsweise für Transportkosten, Anwaltskosten, Erstausstattungen von Wohnungen oder die Überbrückung finanzieller Engpässe bei zu geringen oder ausbleibenden Sozialleistungen (ebd.). Einige Förderprogramme versuchen genau diese direkte Finanzierung staatlicher Pflichtleistungen zu verhindern, um nicht Gefahr zu laufen, diese zu ersetzen.[7] 

Im Effekt wird die infrastrukturelle Förderung der freiwilligen Arbeit für Geflüchtete ausgebaut, während die strukturelle und nachhaltige Absicherung dysfunktionaler Infrastrukturen, die die Förderung des Engagements zum Teil überhaupt erst nötig macht, ausbleibt. In der Tendenz werden dadurch aus Rechtsansprüchen optionale Dienstleistungen.

Jenseits eines „zurück“ zum fordistischen Sozialstaat – Perspektiven für eine linke Politik

Warum sollte sich die organisierte Linke mit dem Verhältnis von Willkommensinitiativen und der Krise sozialer Infrastruktur auseinandersetzen? Nach einer kurzen Phase der Euphorie betrachten einige linkspolitische Akteure die Willkommensinitiativen kaum noch als potenzielle politische Bündnispartner. Dafür gibt es viele Gründe, unter anderem die Kritik an einem paternalistischen Verhältnis vieler Initiativen gegenüber den Geflüchteten, das diese auf Empfängerinnen von Hilfeleistungen reduziert. Die daran anschließende, vor allem von Geflüchteten-Selbstorganisationen vorgebrachte Forderung nach Rechten statt Almosen, bleibt nach wie vor zentral.

Doch Versuche, längerfristige Brücken zu schlagen und gemeinsame Perspektiven zu entwickeln, scheitern auch daran, dass teils eine umfassende Kritik am kapitalistischen Staat erwartet und bereits zur Voraussetzung für einen gemeinsamen Kampf gemacht wird. Für eine Linke, der es um eine breitere gesellschaftliche Verankerung ihrer Politik geht und die Fragen der sozialen Reproduktion oben auf die Tagesordnung setzen möchte, bleiben die Willkommensinitiativen aber wichtige Bündnispartnerinnen. Die Funktionen und Perspektiven, die die neuen und alten freiwillig Engagierten in der Krise der öffentlichen Daseinsvorsorge einnehmen, zeigen eine politische Perspektive an und sollten Ausgangspunkt gemeinsamen Handelns sein.

Mit Blick auf den Diskurs um eine Überforderung des Engagements und die Forderungen nach einer Begrenzung der Fluchtmigration befinden sich die Initiativen in einer schwierigen Position. Sie versuchen mit ihrer Arbeit nicht nur reale Versorgungslücken des Staates zu schließen. Angesichts des von Rechts inszenierten Verteilungskampf um knappe Ressourcen gerade auf lokaler Ebene sind sie dabei auch noch permanenten Anfeindungen ausgesetzt und müssen ihr eigenes Handeln verteidigen. So berichtet beispielsweise der bereits zitierte Verein Akzeptanz e.V. aus Gera von zunehmenden rechten Angriffen im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs in Form von Vandalismus, fast wöchentlichen verbalen Angriffen und monatlichen „Auftritten beim Staatsschutz und der Polizei“.

Die Willkommensinitiativen insofern lediglich als willige Lückenfüller im Umbau des Sozialstaats zu verstehen greift viel zu kurz. Es verkennt nicht nur die Heterogenität der freiwillig Engagierten und ihre sehr unterschiedlichen Haltungen gegenüber den Staatsapparaten und staatlicher Migrationspolitik. Sondern auch, dass diese Haltungen – und das ist zentral – keineswegs festgeschrieben sind, sondern sich gerade durch Erfahrungen mit undurchsichtigen bis repressiven Verwaltungsstrukturen und strukturellen Ausschlüssen verändern können (siehe obiges Beispiel der Begleitung von Geflüchteten zu Behörden). Hamann und Karakayalı argumentieren, dass die Erfahrungen, die Freiwillige mit struktureller Gewalt machen, der viele Geflüchtete im deutschen Sozialsystem ausgesetzt sind, genau Räume für die Reflektion über institutionellen Rassismus und damit „Möglichkeiten neuer Allianzen der Solidarität“ eröffnen können (Hamann/Karakayalı 2016: 80).

Die Freiwilligen nur als Lückenfüller eines schwindenden Sozialstaats zu begreifen, verkennt außerdem die der linken Sozialstaatsdebatte inhärenten Ambivalenzen. Zweifelsohne laufen die Freiwilligen Gefahr, der Privatisierung staatlicher Pflichtleistungen und dem Ersatz von Rechtsansprüchen durch Almosen Vorschub zu leisten – oder diese zumindest abzustützen. Aber laufen wir nicht wiederum Gefahr, als Reaktion auf diese Veränderungen lediglich ein ‚zurück’ zu einem nationalen Wohlfahrtsstaat alter Prägung zu fordern? Und welchen Staat rufen wir dabei eigentlich an? Worin liegt beispielsweise das emanzipatorische Potenzial zu fordern, dass nicht Freiwillige, sondern staatliche Institutionen Geflüchtete bei der Arbeitssuche unterstützen sollten, wenn es sich bei der Arbeit, in die ‚integriert’ wird, zum Großteil um prekäre Beschäftigungsverhältnisse handelt? Wie das obige Zitat der Thüringer Initiative Akzeptanz e.V. gezeigt hat, sind die freiwillig Engagierten zum Teil überzeugt, dass sie über besseres Wissen verfügen als staatliche Behörden, und dass sie bestimmte Aufgaben besser übernehmen können als die Verwaltungsmitarbeiterinnen, denen sie begegnen. Sie wünschen sich, dass ihre Erfahrungen in das Verwaltungshandeln aufgenommen werden und eine Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ erfolgt (vgl. Hamann et al. 2016). Darüber hinaus zeigt das Beispiel des Gewerkschaftsbundes VETO, dass die Forderungen eines Teils der Initiativen, nicht nur die Ausgestaltung ihrer eigenen Arbeit gegenüber staatlichen Stellen berühren, sondern ihre Anerkennung und ihr Mitspracherecht als politische Akteure. Diese Dimensionen des Engagements verdeutlichen, dass eine linke Politik Perspektiven und Formen der Zusammenarbeit mit den neuen Akteuren der Solidaritätsbewegung finden muss, die darüber hinaus gehen, nur nach sozialstaatlicher Verantwortungsübernahme zu rufen und die stattdessen die Erfahrungen der Selbstermächtigung, die viele der freiwillig Engagierten in den letzten Jahren gemacht haben, systematisch einbeziehen.

Der gemeinsame Kampf um kostenfreie und demokratisch organisierte soziale Infrastrukturen „für alle“ ist eine wichtige Suchbewegung.[8] 

Für linke Politik stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern das Anliegen der Willkommensinitiativen, funktionsfähige Infrastrukturen für Geflüchtete zu schaffen, über die Unterstützung für diese spezifische Gruppe hinausweisen kann. In Ansätzen geschieht dies bereits vielerorts: Zum Beispiel in den zahlreichen Begegnungscafés für Geflüchtete und schon länger Ansässige, die fester Bestandteil vieler Initiativen sind;[9] 

In Projekten, die brachliegende Orte wie Gärten gemeinsam mit Geflüchteten wieder nutzbar machen; Im Zurückdrangen rechtsextremer Tendenzen durch Willkommensinitiativen, die beispielsweise bei der Einrichtung einer neuen Unterkunft Anwohnerinnen in ihre Arbeit mit Geflüchteten einbinden und so ein ‚Kippen der Stimmung‘ verhindern können; In Initiativen im ländlichen Raum, die sich nicht nur für eine verbesserte Mobilität von Geflüchtete einsetzen, sondern auch die Verkehrsinfrastruktur für Seniorinnen und Jugendliche verbessern.[10]

Der Aufbau neuer Allianzen wird allerdings stets mit dem Problem konfrontiert sein, dass viele Willkommensinitiativen mit ihrer eigenen Arbeit schon so ausgelastet sind, dass sie kaum Zeit haben für weitere politische Versammlungen. Auch sind viele in erster Linie von dem Motiv getrieben, konkrete Hilfe zu leisten, die direkt bei einer bestimmten Personengruppe ankommt. Eine Frage, der sich linke Politik zuwenden müsste, wäre also, warum es unter vielen dieser Menschen, die vorher kaum bis gar nicht in antirassistische Politik involviert waren, eine solche Skepsis gibt, das eigene Tun auch als politisch zu verstehen? Wie können auch linke Formen und Praxen verändert werden, um hier bestimmte Vorbehalte abzubauen, oder Zugänge zu erleichtern? Und wie können die Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, die für viele Freiwillige in ihrer Arbeit mit Geflüchteten so zentral zu sein scheinen, auch in der organisierten Linken aufgehoben werden?

Fußnoten:

[1] Diese Infrastrukturmaßnahmen sollen unter anderem durch eine Neuausrichtung der Bund-Länder-Städtebauförderung auf den Bereich der sozialen Integration ermöglicht werden. So fördert beispielsweise das NRW-Landesprogramm „Hilfen im Städtebau für Kommunen zur Integration von Flüchtlingen“ in Kommunen, die „besonders von der Flüchtlingszuwanderung betroffen“ sind, Maßnahmen der Daseinsvorsorge und des sozialen Zusammenhalts. Siehe sessionnet.krz.de/detmold/bi/vo0050.asp?__kvonr=10073. Zuletzt aufgerufen am 10.06.2017.

[2] Die Debatte um „Zuwanderung als Chance“ für kommunale Infrastrukturen ist oftmals eng verknüpft mit der Diskussion um die potentiellen Arbeitskraftressourcen von Geflüchteten (vgl. z.B. Weidinger/Kordel: 109).

[3] www.unserveto.de/ziviler-ungehorsam/

[4] Vgl. z.B. die „Asylgipfel“, Vernetzungstreffen der Helfer- und Unterstützerkreise in Oberbayern: www.asyl.bayern/. In der „Tutzinger Resolution“ forderten die Helferkreise im Januar 2017 unter anderem einen Abschiebestopp nach Afghanistan: asyl.ruhr/bayern/pdf/Tutzinger-Resolution-2017.pdf.

[5] Für ein aktuelles Beispiel für eine Mobilisierung von Freiwilligen für den Betrieb eines Schwimmbades zur Entlastung des kommunalen Haushalts, siehe Zeit, 12.5.17.

[6] www.500landinitiativen.de/.

[7] Siehe z.B. die Förderkriterien des Stiftungsbündnisses „Stiftungen helfen“ aus Niedersachsen: www.stiftungen-helfen.de/kriterien/.

[8] Die Debatten um eine „soziale Infrastruktur für alle“ gehen unter anderem auf die AG links-netz zurück, die darunter die demokratisch verwaltete und kostenlose „Bereitstellung öffentlicher, für alle gleichermaßen zugängliche[] Güter und Dienstleistungen […] [versteht], die von den einzelnen nicht selbst hergestellt werden können oder sollen“ und für soziale Teilhabe notwendig sind. Darunter fallen nicht nur personenbezogene Dienstleistungen, sondern auch Güter in den Bereichen der Gesundheitsversorgung, des Verkehrs, des Wohnens, der Bildung und der Kultur (AG links-netz 2012: 6).

[9] Geflüchteten-Selbstorganisationen könnten bei dieser Suche eine wegweisende Funktion einnehmen, weil sich ihre Arbeit oft per se nicht nur an Geflüchtete, sondern auch an andere Einwohner*innen der Stadt richtet. Vgl. z.B. das Konzept der „No-Stress-Tour“: www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Projekte/2016/no_stressTour.pdf.

[10] Ein paar Beispiele hierzu finden sich in der Darstellung der geförderten Projekte des bereits erwähnten Bundesprogramms „500 Landinitiativen“. So plant beispielsweise die Bürgerhilfe Anzenkirchen „Ein Dorf hilft“ e.V. ein Projekt zur „Mobilität für Flüchtlinge, Senioren und Jugend im ländlichen Raum, die zur besseren und schnelleren Integration beiträgt, sowie für eine intakte Dorfgemeinschaft“.

 

 Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/dorn-im-fleisch-der-verwaltung/

#Migration

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Mira Wallis vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin analysiert, was Willkommensinitiativen mit der Krise sozialer Infrastruktur zu tun haben.

WelcomeCamp 2017 / Foto: Andi Weiland / CC BY SA

  • #Migration

„Bis unsere Arbeit nicht mehr nötig ist, braucht es viele weitere Schritte“

Mai 2017

Foto: Medibüro Berlin / facebook.com/medibuero.berlin.kampagne

Foto: Medibüro Berlin / facebook.com/medibuero.berlin.kampagne

Anti-Rassismus, Migration, Alternativen, Organisierung#Anti-Rassismus #Migration #Alternativen #Organisierung

Als Medibüro organisiert ihr nicht nur konkrete Unterstützung für Menschen ohne Papiere, sondern seid auch eine politische Initiative, die universalen Zugang zu Gesundheitsleistungen fordert. Inwiefern haben sich die Bedingungen dafür mit dem Regierungswechsel in Berlin geändert ?

Wir begrüßen es zunächst einmal, dass eine unserer Forderungen Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat: die Umsetzung eines anonymisierten Krankenscheins. Gemeinsam mit vielen anderen Organisationen fordern wir Medibüros schon seit langem, die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus zu verbessern. In Berlin haben wir bereits 2007/2008 das Konzept der Vergabe eines solchen Krankenscheins entwickelt, der die Betroffenen in die entsprechende Regelversorgung integriert, ohne dass ihre Daten über das Sozialamt an die Ausländerbehörden weitergegeben werden. Im rot-roten Senat der vorletzten Legislaturperiode ist das Projekt aber am Widerstand des SPD-geführten Innensenats gescheitert. Die schwarz-rote Koalition hat es dann bereits im Koalitionsvertrag ausgeschlossen. Das Thema war von der politischen Agenda verschwunden. Es ist also gut, dass es jetzt endlich in Angriff genommen wird. Das hat auch damit zu tun, dass das Bewusstsein für die Problematik gewachsen ist. Die Proteste und Forderungen zahlreicher Initiativen und Geflüchteter sind nicht mehr so einfach zu ignorieren. Andere Bundesländer sind mittlerweile auch schon an Berlin vorbei gezogen: In Niedersachsen wurde der anonymisierte Krankenschein auf Initiative der Medinetze in Göttingen und Hannover als dreijähriges Pilotprojekt eingeführt. In Hamburg und Düsseldorf wurden vergleichbare Modelle umgesetzt. Allerdings muss man dazu sagen, dass bei keinem dieser Modelle ein wirklicher Krankenschein ausgegeben wird, der ein individuelles Recht auf Gesundheitsversorgung umsetzt. Die Modelle basieren auf Fondsgelder. Wenn die aufgebraucht sind, können keine weiteren Behandlungen mehr finanziert werden. Auch in Berlin wird es eine solche Begrenzung geben. Wie hoch diese sein wird, steht noch nicht fest.

Wie weit ist denn dieses Ziel bis jetzt umgesetzt worden in Berlin?

Das Medibüro beteiligt sich aktuell intensiv an einer Konzeptentwicklung für Berlin zusammen mit der Senatsverwaltung für Gesundheit sowie anderen Initiativen und Einrichtungen. Inwieweit es tatsächlich gelingt, auf diese Weise den Zugang zu medizinischer Versorgung für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Berlin zu verbessern, hängt maßgeblich von der konkreten Ausgestaltung ab. Hier sind noch viele Punkte offen und umstritten. Es ist aber schon jetzt klar, dass mit dem Modell nicht alle Probleme gelöst werden. Zum einen aufgrund des beschränkten Budgets des Fonds. Zum anderen wegen der Frage des Zugangs: wer wird den Schein wirklich nutzen können, wer bleibt ausgeschlossen? Das hängt auch von den Vergabemodalitäten ab und von der alltagstauglichen Gestaltung des Zugangs. Wahrscheinlich wird das Ergebnis nicht all unseren Idealvorstellungen entsprechen.

Was wäre denn aus eurer Sicht entscheidend in der Umsetzung?

Eine eingeschränkte oder fehlende Versorgung trifft nicht nur Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus, sondern auch Menschen aus anderen EU-Staaten. Darunter sind zum Beispiel auch sogenannte Drittstaatsangehörige, die einen Aufenthaltstitel in anderen EU-Ländern haben, aber in Berlin leben, weil die Lebensbedingungen z.B. in Auffanglagern in Italien nicht tragbar sind. Es ist noch offen, inwiefern für diese genannten Gruppen im Rahmen des Konzepts eine Lösung gefunden werden kann. Klar ist aber, dass es zumindest ein vertieftes Beratungsangebot geben soll, um bestehende Rechtsansprüche der Personen zu verwirklichen. Was die Versorgung von EU-Bürgerinnen anbelangt, ist hier sicherlich nicht nur der Gesundheits-, sondern auch der Sozialsenat gefragt.

Natürlich ist klar: Nicht alle Probleme können auf Länderebene gelöst werden. Unsere Forderungen zielen auf gleiche soziale und politische Rechte für alle und somit eine gleiche Gesundheitsversorgung aller Menschen, die hier leben. Vom Berliner Senat fordern wir aber, dass die Grenzen des Möglichen ausgelotet werden und alles für die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus und ohne Krankenversicherung getan wird. In anderen Bereichen kritisieren wie außerdem neue Einschränkungen im Vergleich zu bisherigen Regelungen. So ist gerade erst die seit über sechs Jahren bestehende erweiterte Duldungsregelung für Schwangere verschärft worden, eine Maßnahme, die noch vom rot-schwarzen Senat initiiert wurde. Wir haben die Hoffnung und fordern vom Senat, dass das wieder rückgängig gemacht wird.

Ihr seid ja nun selbst in die Kommunikation mit dem Senat eingebunden. Wir erlebt ihr die Zusammenarbeit?

Auf Basis des Runden Tischs und im Rahmen der Konzeptausarbeitung des anonymisierten Krankenscheins kommunizieren wir intensiv mit dem Senat, bislang nur mit dem Gesundheitssenat. Das Gesprächsklima erleben wir dabei als respektvoll und interessiert. Gespräche mit selbstorganisierten Initiativen von Geflüchteten hat es zu der Thematik unseres Wissens aber bislang nicht gegeben. Um praktische Probleme und Bedürfnisse im Lebensalltag der Menschen zu erfahren, fordern wir, auch auf selbstorganisierte Gruppen Geflüchteter und anderer Migrantinnen zuzugehen und Menschen einzubeziehen, die selbst Fluchterfahrungen oder Erfahrung mit unsicherem Aufenthaltsstatus haben.

Verändert die neue politische Konstellation auch eure Arbeit und eure Strategie als Initiative?

Prinzipiell hat sich die Arbeit des Medibüros dadurch nicht verändert. Unsere Strategie verbindet ja die praktische Unterstützungsarbeit mit politischer Arbeit, die Regierungsstellen und Öffentlichkeit adressiert. Das ist leider auch weiterhin notwendig. Die sachbezogene Gremien- und Lobbyarbeit führen wir fort. Voraussichtlich werden zunächst mühsame Kompromisse erzielt werden, die nicht unseren Anspruch einlösen werden, allen hier lebenden Menschen einen gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Wir werden dies also auch weiterhin fordern und an den Senat bzw. die Öffentlichkeit herantragen. Bis unsere Arbeit nicht mehr nötig sein wird, braucht es noch viele weitere Schritte.

 

Das Medibüro Berlin (Netzwerk für das Recht auf Gesundheitsversorgung aller Migrantinnen) existiert seit 1996 als selbstorganisiertes Projekt, das Menschen ohne Aufenthaltsstatus und ohne Krankenversicherung anonyme und kostenlose medizinische Behandlung vermittelt. Seit der Gründung verfolgt die antirassistische Initiative das Ziel, die Gesundheitsversorgung von illegalisierten Geflüchteten und Migrant_innnen auf politischem und pragmatischem Wege zu verbessern.

Hanna Schuh ist Psychologin und wirkt seit 2011 im Medibüro Berlin – Netzwerk für das Recht auf Gesundheitsversorgung aller Migrantinnen mit.

Burkhard Bartholome ist Arzt und seit 2001 beim Medibüro Berlin

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/medibuero-viele-weitere-schritte/

Foto: Foto: Medibüro Berlin / facebook.com/medibuero.berlin.kampagne

#Anti-Rassismus #Migration #Alternativen #Organisierung

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Interview mit Hanna Schuh und Burkhard Bartholome vom Medibüro Berlin über die Realität und die politischen Forderungen beim Zugang zu medizinischer Versorgung für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Berlin.

Foto: Medibüro Berlin / facebook.com/medibuero.berlin.kampagne

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IIn Europa wachsen die Bewegungen der Städte des Willkommens, der Zuflucht und Solidarität. Zivilgesellschaftliche Gruppen, städtische Politiker*innen und Stadtverwaltungen widersetzen sich so den wachsenden Restriktionen europäischer und nationaler Grenz- und Migrationspolitiken. Zugleich entwickeln sie konkrete kommunale Politiken zum Schutz oder zur sozialen Inklusion von Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus. Nicht zuletzt bilden sie diskursive Gegenpole zum europaweiten Aufstieg rechter Parteien, welche die Abschottung der Grenzen sowie die Kriminalisierung von Migrant*innen vorantreiben.

Umschlag: Henning Heine

  • #Migration
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»Meine ›Heimat‹ ist dort, wo ich bleiben will«

Palermo als »Willkommensstadt«

Mai 2017 • Leoluca Orlando

Foto: Cristina Gottardi / Unsplash

Foto: Cristina Gottardi / Unsplash

Migration, Mobilität, Alternativen, Anti-Rassismus#Migration #Mobilität #Alternativen #Anti-Rassismus

Wenn wir über das epochale Phänomen der Migration sprechen: Lohnt es, mit Palermo anzufangen?

Ja. Palermo ist eigentlich keine europäische Stadt, sondern eine Metropole des Nahen Ostens in Europa. Es ist als »Stadt der Migrant*innen« entstanden. Kürzlich hat die UNESCO Palermo wegen seiner arabisch-normannischen Traditionen zum Weltkulturerbe erklärt. Die Araber und die Normannen haben sich bis aufs Messer bekriegt – hier jedoch sind ihre Kulturen miteinander verschmolzen. Außerdem ist die hiesige Geschichte eng mit dem Jahr 1492 verbunden. Es markiert die Eroberung Amerikas, die Vertreibung der Jüd*innen und Muslim*innen aus Spanien, den Tod des florentiner Stadtherrn Lorenzo il Magnificos und das Ende der Renaissance. Aus dem ›Weltmeer‹ Mittelmeer wurde ein Binnensee mit Randlage. All das spiegelt sich in unserer Architektur und unserem Lebensstil wider.Zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert sind viele Palermitaner*innen nach Amerika oder Nordeuropa ausgewandert, und in den letzten hundert Jahren hat die Mafia verhindert, dass wir zum Anlaufpunkt für die Migration von anderen werden konnten. Lange Zeit hat die Mafia Sizilien und Palermo direkt regiert. Als 1980 der Politiker Mattarella von einer Clique aus Mafia und Teilen der Christdemokratischen Partei Italiens ermordet wurde, haben einige von uns den Kampf aufgenommen. Damals galt es als subversiv, die Gültigkeit des Gesetzes gegen die herrschende Macht starkzumachen, und so erklärten wir Palermo zur »Stadt des Rechts«. Klar, die Mafia ist nicht gänzlich verschwunden, aber im Gegensatz zu damals sitzt sie nicht mehr in der Regierung.Heute, angesichts der epochalen Herausforderung der Migration, wäre es subversiv, die geltenden Gesetze zu unterlaufen. Nun sind wir die »Stadt der Rechte«. Wir streiten für die konkrete Verwirklichung von Rechten. Wir organisieren die größte Gay Pride Parade Südeuropas: 300 000 Leute, Familien und Kinder nehmen daran teil und von den Balkonen applaudieren die Anwohner*innen. Letztlich verdanken wir es den Migrant*innen, dass wir an unsere Geschichte anknüpfen können und wieder »eine nahöstliche Stadt in Europa« sind.

Was ist die »Charta von Palermo«, die du im März 2015 lanciert hast?

Mein Leben und meine Haltung haben sich verändert, als ich die Migrant*innen persönlich kennengelernt habe. In der aktuellen Situation müsste man die Staaten Europas eigentlich rechtlich zur Verantwortung ziehen. Sie sind dabei, einen Völkermord loszutreten, der nicht gegen die Gesetze begangen, sondern von diesen verursacht wird. Die Wanderung von Millionen von Menschen lässt sich nicht verhindern, sie hat etwas mit der Globalisierung sowie mit langjährigen politischen und wirtschaftlichen Krisen zu tun. Was es zu verhindern gilt, ist, dass der Ausnahmezustand zum Dauerzustand wird. Eine veränderte Herangehensweise muss damit beginnen, die Migrant*innen als Menschen zu sehen. Dazu müssen wir zwei gängige Sichtweisen revidieren, die Migration nur unter dem Aspekt des »Leidens« oder des »Schutzes« begreifen. Stattdessen gilt es »Bewegungsfreiheit« als neues unveräußerliches Menschenrecht anzuerkennen. Kein Mensch hat sich ausgesucht, wo er geboren wird. Für alle muss aber das Recht anerkannt werden, selber zu entscheiden, wo sie leben, besser leben oder nicht sterben wollen.Ein zentrales Problem ist derzeit die Logik der Aufenthaltsgenehmigung. Sie ist ein Stück Papier, das Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt. Die Unterscheidung zwischen »Asylbewerber*in« und »Wirtschaftsflüchtling«, auf der die Politik der europäischen Staaten beruht, lässt mich schaudern: Welchen Unterschied macht es, ob das Leben eines Menschen bedroht ist, weil sich sein Land im Krieg befindet, oder weil er Gefahr läuft, zu verhungern? Aber selbst wenn wir dieser kriminellen Logik folgen: Wenn ich ein Recht auf Asyl besitze, wieso kann ich mir dann nicht ein Flugticket kaufen, regulär nach Europa einreisen und einen Antrag stellen? Es ist völlig inakzeptabel, diese Verfahren in afrikanische Länder oder die Türkei auszulagern und dort Auffanglager zu errichten. Stattdessen müssen sichere Zugangswege geschaffen werden. Mit der Charta von Palermo treten wir für eine grundsätzliche Bewegungsfreiheit ein, für die Abschaffung von Einreisebestimmungen und Aufenthaltsgenehmigungen. Es kann nicht sein, dass der einzige, der noch über eine solide internationalistische Vision verfügt, der Papst ist, nur weil es darum geht, hier eine kulturelle und zivilisatorische Grundsatzentscheidung zu treffen.

Wie versucht Palermo diese Prinzipien in der Lokalpolitik umzusetzen? Oder geht es eher um symbolische Gesten?

Immer wenn ein Schiff mit Flüchtlingen im Hafen von Palermo anlegt, bin ich vor Ort, um sie zu empfangen. Der Hafen wird dann zu einem Ort der gesellschaftlichen Organisierung, Initiativen und Behörden arbeiten Hand in Hand. Ich habe beim Polizeipräsidenten die Entmilitarisierung der Ankunftszone durchgesetzt, damit die Geflüchteten im Moment ihrer Ausschiffung keine Uniform sehen müssen. Die Schwierigkeiten fangen aber danach an: Alle brauchen Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum und Arbeit. Migrant*innen und einheimische Palermitaner*innen befinden sich oft in einer ähnlich prekären Lage. Mit dieser Situation umzugehen ist nur möglich dank der engen Zusammenarbeit mit dem lokalen Netz von Initiativen und Vereinen. Wir verfolgen die Idee einer neuen Bürgerschaft, in der das Recht auf aktive politische Teilhabe und kultureller Vielfalt zentral ist. Wir haben einen Rat der Kulturen ins Leben gerufen, der ein solches Modell ausarbeiten soll, bei dem die Bürgerechte allein an den Wohnsitz und nicht an die Nationalität gebunden sind.

Kürzlich hast du an einem Treffen von Bürgermeister*innen aus ganz Europa teilgenommen, das auf Initiative von Papst Franziskus organisiert wurde. Zu welchen Schlussfolgerungen seid ihr gelangt?

Es war ein wichtiges Treffen, und die Rolle, die dieser Papst spielt, ist herausragend. Für uns war es sehr wichtig, uns mit anderen Kommunalverwaltungen aus ganz Europa auszutauschen, vor allem mit Madrid und Barcelona, die sich wie wir darum bemühen, sich als »Zufluchtsstädte« zu qualifizieren (vgl. Heuser in diesem Heft). Sie sind dabei mit dem Widerstand und der Abschottungspolitik ihrer nationalen Regierungen konfrontiert, die nicht einmal die im EU-Rat eingegangenen Verpflichtungen zur Verteilung der Flüchtlinge einhalten. Deshalb setzen wir uns dafür ein, ein Netzwerk von »Rebel Cities« zu gründen, das in der Lage ist, eine andere Aufnahmepolitik gegen die Politik der Nationalstaaten und der Europäischen Union auszuarbeiten und umzusetzen. Diesem Netzwerk sollten auch Städte und Bürgermeister*innen aus den Ländern Afrikas und des Nahen Ostens angehören, jenseits der formalen Grenzen der EU.EU-Verordnungen wie die Frontex- und die Dublin-Verordnung müssen grundlegend verändert werden: Das Recht auf Bewegungsfreiheit muss auch für diejenigen garantiert werden, die nicht aus der EU stammen. Auch das Aufnahmesystem muss umgestaltet werden: Das bestehende System hat eine eigene Ökonomie hervorgebracht, von der manche massiv profitieren. Außerdem stellt die hohe Konzentration von Flüchtlingen an einzelnen Orten ein Problem dar, und zwar sowohl für die Migrant*innen als auch für die Gemeinden.Deshalb müssen wir vor Ort, in den Städten anfangen. Unsere zentralen Werte erhalten hier ihre praktische Bedeutung. Für die jüngere Generation existieren eigentlich nur das Wohnviertel und die Welt. Die Europäische Union funktioniert auch deshalb nicht, weil sie zu einem Ort der Legitimation nationaler Egoismen geworden ist. Die Migrant*innen können uns helfen, den Nationalstaat als ersten und einzigen Bezugspunkt zu relativieren. Als Schüler von Hans-Georg Gadamer denke ich, dass die Wahl der eigenen Identität die größte Freiheitsbekundung ist. Meine ›Heimat‹ ist dort, wo ich entscheide, dass sie sein soll.Wir müssen die Angst vieler Bürgermeister*innen überwinden, die teils stärker an ihre Parteien gebunden sind als ich. Wir müssen uns von politischen und materiellen Hindernissen befreien. Vor vier Jahren war der Haushalt der Stadt Palermo wegen der nationalen Sparpolitik und wegen schlechter Haushaltsführung dem Bankrott nahe. Wir haben ihn ohne eine einzige Entlassung saniert und dabei die volle Kontrolle über zentrale Dienstleistungen und Infrastrukturen behalten. Direkte Beziehungen zwischen den Städten und ihre Fähigkeit, Allianzen zu bilden, kann Brüche mit dem herrschenden System befördern und konkrete Alternativen aufzeigen.

Aus dem Italienischen von Andreas Förster

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/meine-heimat-ist-dort-wo-ich-bleiben-will

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Leoluca Orlando war von 1985 bis 2000 Bürgermeister von Palermo, der Hauptstadt Siziliens. Über die Landesgrenzen hinweg bekannt wurde er, als er mit der Gründung der Reformpartei »La Rete« 1991 der Mafia den Kampf ansagte. Inzwischen führt er eine neue Auseinandersetzung: Inmitten der wachsenden Lager- und Abschiebeökonomie sowie des hochgerüsteten Grenzregimes der EU versucht Leoluca Orlando, Palermo als »Willkommensstadt« zu etablieren – als Ort einer solidarischen Flüchtlingspolitik und gelebten Transkulturalität. 2015 hat er die „Charta von Palermo“ auf den Weg gebracht, die unter anderem die Bewegungsfreiheit zu einem Menschenrecht erklärt und die Abschaffung der Aufenthaltserlaubnis vorschlägt. Beppe Caccia sprach mit ihm über Stadtbürgerschaft und inklusive Flüchtlingspolitik in Palermo.

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»So funktioniert das hier nun mal« – Gespräch über Rassismus und Segregation an Berliner Schulen

Mai 2017 • Gespräch mit Juliane Karakayali und Birgit Zur Nieden

Foto: Neonbrand / Unsplash

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Migration, Anti-Rassismus, Berlin#Migration #Anti-Rassismus #Berlin

Im Sommer 2012 löste eine Meldung im Tagesspiegel heftige Diskussionen in Berlin aus. Türkische Eltern hatten an einer Berliner Grundschule gegen die Trennung der Kinder nach Herkunft protestiert. Euer Forschungsprojekt setzt an diesen Protesten an. Was sind die zentralen Ergebnisse?

Juliane Karakayali: Es gibt Berliner Schulen, an denen Kinder nach Herkunft getrennt unterrichtet werden. Meistens berichten uns Eltern davon. An den Schulen ihrer Kinder seien so gut wie keine herkunftsdeutschen Kinder, obwohl viele im Einzugsgebiet wohnten. Andere beobachten, wie sich in ihrer Schule ›Deutschenklassen‹ bilden.

Wir fragen in unserer Forschung, wie solche Trennungen institutionell verankert sind, wie sie von den Schulen vorgenommen und legitimiert werden. In diesen Prozessen spielen verschiedene Akteure und Faktoren eine Rolle: Lehrer*innen, Eltern, Schulleitung und Verwaltung sowie Einzugsgebiete und Finanzierungsfragen. Allerdings gibt es in den Schulen ein allgemeines Deutungswissen, das Kinder nach bestimmten Kriterien, eben auch Herkunftskriterien, unterscheidet. Es beinhaltet Einschätzungen etwa darüber, welche Kinder von ihren Eltern unterstützt werden, welche gute Performer und welche mögliche Störenfriede sind. Uns interessiert, ob und wie sich dieses Deutungswissen bei der Anmeldung in der Schule und der Einteilung der Klassen auswirkt. Die Berliner Schulstatistik unterteilt Schüler*innen in solche »nicht deutscher Herkunftssprache« (ndH) und nicht kategorisierte, also Kinder deutscher Herkunftssprache.

Birgit zur Nieden: In einigen Bezirken war es bis Mitte der 1990er Jahre üblich, Kinder in sogenannten Ausländerregelklassen zu beschulen. Das aktuelle Berliner Schulgesetz schreibt vor, dass nicht nach Herkunft(ssprache) getrennt unterrichtet werden soll. Eine Ausnahme gilt für Kinder, die kein oder sehr wenig Deutsch sprechen. Für sie kann eine spezielle Lerngruppe eingerichtet werden.

Mit der Abschaffung der Ausländerregelklassen wurde das Merkmal ›ndH‹ eingeführt. Wie aber die Kategorie ›ndH‹ genau definiert wird, ist oft unklar und wird von Schule zu Schule unterschiedlich gehandhabt. Zumeist werden die Eltern bei der Anmeldung ihrer Kinder an einer Grundschule aufgefordert anzugeben, ob in der Familie noch eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wird. Viele Eltern haben uns gegenüber geäußert, dass sie den Begriff ›ndH‹ gar nicht kennen – da stellt sich die Frage, wie dieses Merkmal in der jeweiligen Schule vergeben wurde. Wir versuchen gerade herauszufinden, nach welchen Kriterien dies erfolgt. Je nach ndH-Anteil erhalten die Schulen spezifische Gelder für die Sprachförderung. Die Schulen haben also möglicherweise ein Interesse, den Anteil hoch zu halten. Andererseits wird dieser auf den Internetseiten der Senatsverwaltung für Bildung veröffentlicht. Eine Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) von 2012 stellt fest, dass diese Information am häufigsten abgerufen wird. Auch andere Studien sowie die Interviews, die wir mit Eltern geführt haben, legen nahe, dass der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund entscheidend für den guten oder schlechten Ruf einer Schule ist.

Gibt es Unterschiede, wie die Schulen mit dieser Situation umgehen?

JK: Ja, einige stehen offenbar unter dem Druck, die ›Mischung‹ der Kinder mit und ohne ndH an ihrer Einrichtung zu kontrollieren, etwa dann, wenn ihre ursprüngliche Klientel durch Gentrifizierung verdrängt wird und sie auch für die neu Hinzugezogenen und diejenigen, die sich die Miete noch leisten können, attraktiv sein müssen. Es gibt auch Schulen, die diesem Druck nicht ausgesetzt sind und einfach Unterricht mit den Schüler*innen machen, die da sind. Da gibt es dann sehr gute und weniger gute Beispiele. Andere wiederum arbeiten am Profil und an den Angeboten, um eine heterogene Eltern- und Schülerschaft anzuziehen. Wieder andere schließlich reagieren mit spezifischen Angeboten für bestimmte Kinder oder eher Eltern. Hier kommt es dann häufiger zu Trennungen nach Herkunft, gegen die sich die Eltern allerdings mehr und mehr zur Wehr setzen. Die Schulen versuchen, auf die Wünsche bestimmter Eltern einzugehen, die ihre Kinder in Gruppen anmelden und zusammen in einer Klasse sehen wollen. Manchmal darf sich eine solche Gruppe sogar noch die Lehrperson aussuchen. Die Schule argumentiert, dass diese Eltern beziehungsweise deren Kinder die Mischung an der Schule positiv verändern. Die Schulen versuchen also gewissermaßen der Segregation auf Ebene der Schulen mit einer Segregation auf der Ebene von Klassen zu begegnen.

Und was sagen die Eltern dazu?

BN: Es gibt viele, die diese Segregation aufgrund ihrer Herkunft – ihres ›Ausländerseins‹, wie sie es ausdrücken – erleben, obwohl sie selbst schon in Deutschland zur Schule gegangen sind. Sie sind irritiert und fühlen sich stigmatisiert. Eine Mutter schilderte uns beispielsweise, dass eine von ihr als deutsch wahrgenommene Familie, die ihr Kind an der Schule anmelden wollte, auf die auch ihre Kinder gehen, von der Schulleiterin mehrmals gewarnt wurde: Sie sollten das lieber nicht tun, denn in diese Schule gingen nur türkische und arabische Kinder. Auch andere Eltern bestätigten ähnliche Einschätzungen. Sie beobachteten etwa bei der Einschulungsfeier eine eindeutige Verteilung der Kinder auf die Klassen nach Herkunft. Solche Erlebnisse reihen sich oft in eine ganze Serie von diskriminierenden Erfahrungen ein, die sie in Institutionen in Deutschland gemacht haben. Alle befragten Eltern schilderten uns auch, dass sie das Leistungsniveau ihrer Kinder im Gegensatz zu anderen Schulen oder sogar anderen Klassen der gleichen Schule als deutlich niedriger wahrnehmen.

Können wir bei alldem von institutionellem Rassismus sprechen? Und wenn ja, in welchen Bereichen der schulischen Bildung wird Rassismus über die räumliche Segregation hinaus sichtbar?

BN: Wir verstehen unter Rassismus die Unterscheidung von Menschen entlang von (zugeschriebener) Herkunft, körperlichen Merkmalen oder Religion und eine daraus folgende diskriminierende Ungleichbehandlung. Das Bildungssystem in Deutschland ist nach wie vor sehr stark an der Vorstellung eines oder einer ›Normalschüler*in‹ ausgerichtet, welche*r der Mittelschicht angehört, in deutschen Bildungseinrichtungen sozialisiert ist und Deutsch auf einem hochsprachlichen Niveau beherrscht. Allein die Bezeichnung ›ndH‹ betont das Defizit – im Unterschied etwa zu ›mehrsprachig‹. Außerdem stellt sich die Frage, wie sinnvoll diese Unterscheidung überhaupt ist. Heterogenität wird zumeist als Herausforderung, wenn nicht sogar als etwas Störendes betrachtet. Der seit Jahrzehnten nachgewiesene geringere Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund hat etwas mit diesen Strukturen zu tun und ja, diese Strukturen können wir mit dem Begriff des institutionellen Rassismus beschreiben.

Zwar haben einzelne Schulen gute Konzepte und Umgangsweisen entwickelt. Auch die Berliner Schulpolitik hat immer wieder Maßnahmen gegen Segregation und für Inklusion angestoßen, aber das hat an den grundsätzlichen Verhältnissen bisher nichts geändert.

JK: In unserer Forschung wurden solche ausschließenden Strukturen immer wieder sichtbar und auch, wie sie in Institutionen und Organisationen produziert und reproduziert werden. Die Eltern, die wir interviewt haben, berichten auch davon, dass ihre Kinder vielfältige Erfahrungen mit Kulturalisierungen machen. Wenn Kinder oder Familien Bedürfnisse oder Interessen formulieren, dann werden diese teils abgewehrt mit der Begründung, das störe sonst den Regelablauf, nach dem Motto »so funktioniert das hier nun mal«. Schüler*innen werden oft gar nicht als Individuen wahr und ernst genommen, sondern nur als Teil einer Gruppe, beispielsweise der Muslim*innen oder der Ausländer*innen. Konflikte, die aus dem Verhältnis von Lehrer*innen und Schüler*innen resultieren, werden als Kulturkonflikte interpretiert. Viele Eltern nehmen das so wahr, dass ihre Kinder vor allem diszipliniert werden, statt guten Unterricht zu erhalten. Eigentlich aber sollten Schulen migrationspädagogisch wirken, statt Spaltungen selbst hervorzurufen oder zu zementieren.

In einer jüngeren Forschung habt ihr auch sogenannte Willkommensklassen untersucht. Zu welchen Ergebnissen seid ihr hier gekommen?

JK: Der Unterricht für die neu zugewanderten Kinder ist sehr unterschiedlich. Die Form reicht von integrativ bis parallel, auch die Unterrichtsinhalte unterscheiden sich von Schule zu Schule. Ein Grund liegt darin, dass unzureichend ausgearbeitet ist, worin Ziele und Maßstäbe für die Beschulung der Neuzugewanderten eigentlich liegen. Dies zeigt sich auch in uneinheitlichen Zugangsbedingungen zu den Klassen: Hier gibt es verschiedene Wege der Zuweisung, je nach Bezirk, sowie unterschiedliche Feststellungsverfahren des Sprachstandards. Es existieren keine festgelegten Lehrmaterialien, die Praktiken der Leistungsdokumentation sind nicht geregelt und die Verfahren zum Übergang in die Regelklassen sind unklar.

Oftmals wird den Lehrkräften der Willkommensklassen die alleinige Verantwortung für diese zentralen Fragen überlassen. Eine transparente und schulübergreifende Planung und Absprache aller Lehrkräfte mit Schulleitungen, Erzieher*innen und gegebenenfalls den Eltern findet kaum statt. Häufig sind die Lehrkräfte der Willkommensklassen Quereinsteiger*innen und gehören nicht zum regulären Lehrkörper der jeweiligen Schule.

Zudem erhalten die Willkommensklassen oft nur einen Raum in einem abgelegenen Teil des Schulgebäudes oder gar in Horträumen. So entsteht an vielen der Schulen eine Art Parallelstruktur. Sie werden auch bei Planungen, Strukturabläufen oder besonderen Veranstaltungen und Ereignissen häufiger einfach ›vergessen‹. Die von uns Befragten sehen es als problematisch an, wenn die Kinder der Willkommensklassen weitgehend ohne Kontakt zu den anderen Schüler*innen der Schule bleiben: Ihnen fehle die Möglichkeit zu Austausch und gemeinsamen Aktivitäten. Nicht zuletzt werden die Kinder durch die gesonderten Klassen stärker als vermeintlich homogene und besondere Gruppe in der Schule sichtbar. Teilweise werden sie deshalb auch stigmatisiert und ihr Verhalten wird häufig kulturalisiert. Die Lehrkräfte bemühen sich oft sehr, diese Mängel auszugleichen und einen guten Unterricht zu machen. Sie scheitern aber häufig an den strukturellen Bedingungen.

BN: Unsere Untersuchung zeigt aber auch alternative Praxen. So haben sich einige Schulen entschlossen, die neu zugewanderten Kinder in Regelklassen unterzubringen und ihnen zusätzlich täglich Deutschunterricht anzubieten. An einer dieser integrativen Schulen werden die Lehrkräfte der Deutschlerngruppen zusätzlich im Regelunterricht eingesetzt. Sie unterstützen damit zum einen die neuen Schüler*innen bei Verständnis- und Verständigungsproblemen. Zum anderen gibt es dadurch eine zusätzliche Lehrkraft, von der die gesamte Klasse profitiert. Die integrativ arbeitenden Schulen haben deutlich weniger organisatorische Probleme. Die Kinder werden hier zumeist von ausgebildeten Grundschullehrer*innen unterrichtet, die gesamte Regelklasse erhält Unterstützung durch Lehrkräfte, die eine Zusatzausbildung in Deutsch als Zweitsprache haben. Die direkte Eingliederung der neu eingewanderten Kinder und Jugendlichen in die Regelklassen macht diese zudem weniger als gesonderte Gruppe sichtbar. Dies wirkt Stigmatisierungen und Kulturalisierungen entgegen.

Inwiefern lassen sich die Ergebnisse auf die gesamtdeutsche Situation übertragen?

JK: Insgesamt kann man sagen, dass die Beschulung neu zugewanderter Kinder kurzfristig und kurzsichtig geplant ist – das ist nicht nur in Berlin so. Ein historischer Blick auf den Umgang mit migrantischen Kindern im deutschen Schulsystem zeigt, dass dieser immer wieder von Vorläufigkeit, Konzeptlosigkeit und Separation geprägt war. So kann das Regelschulsystem in der bestehenden Form erhalten und vor Veränderung ›geschützt‹ werden. Anstatt die Realität der Migration und einer heterogenen Schüler- und Elternschaft in eine Gesamtstrategie der Bildungsplanung einzubeziehen, hat die deutsche Bildungspolitik immer wieder mit administrativ-organisatorischen Ad-hoc-Lösungen reagiert. Diese Ad-hoc-Lösungen bestanden meist darin, Ressourcen für die Beschulung migrantischer Kinder nur vorübergehend zu gewähren oder eben Sonderklassen einzurichten. Auch in Berlin sind diese Praktiken seit den 1970er Jahren nicht durchgehend abgeschafft worden, wie sich heute noch zeigt. Das deutsche Bildungssystem ist offenbar nicht in der Lage, Kinder flexibel zu integrieren und gemäß ihrer spezifischen Bedarfe zu fördern.

Wie würdet ihr Ansätze einer inklusiveren Beschulungspolitik skizzieren, die der post-migrantischen Realität in diesem Land gerecht würde?

BN: Es gibt inklusive Modelle und sehr gute Ideen. Migrationspädagogische Ansätze gehen von einer heterogenen, mehrsprachigen Schüler- und Elternschaft aus – wie sie in der postmigrantischen Gesellschaft real sind. In dieser Perspektive würden Kinder nicht mehr ›besondert‹, die den Normalitätsannahmen nicht entsprechen.

JK: Generell braucht es mehr Offenheit und Sensibilität gegenüber unterschiedlichen Lebenswelten und ein dynamisches Verständnis von Lernprozessen und institutionellen Gefügen. Organisatorisch bedeutet dies, dass unterschiedliche Kinder, auch Kinder mit Kriegs- und Fluchterfahrungen nicht als defizitäre Wesen wahrgenommen und kategorisiert werden, weil sie bestimmte Dinge nicht können. Vielmehr sollten sie mit ihren Potenzialen und Fähigkeiten ins Schulgeschehen eingebunden und gezielt gefördert werden.

Das sind aber letztlich Fragen, die weit über bildungs- oder schulpolitische Debatten hinausgehen und im Zentrum einer öffentlichen Debatte darum stehen müssten, wie wir eine solidarische und demokratische Migrationsgesellschaft gestalten wollen. Schule ist ja schließlich ein Ort, an dem sich übergreifende gesellschaftliche Entscheidungen niederschlagen.

Das Interview führte Stefanie Kron.

Juliane Karakayali ist Soziologin und arbeitet als Professorin an der Evangelischen Hochschule Berlin.

Birgit Zur Nieden ist Soziologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für empirische Integrations-¬ und Migrationsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/so-funktioniert-das-hier-nun-mal

#Migration #Anti-Rassismus #Berlin

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Im Interview erklären die Soziologinnen Juliane Karakayali und Birgit Zur Nieden anhand ihrer Forschung, dass die Beschulung neu zugewanderter Kinder kurzfristig und kurzsichtig geplant ist. Ein historischer Blick auf den Umgang mit migrantischen Kindern im deutschen Schulsystem zeigt, dass dieser immer wieder von Vorläufigkeit, Konzeptlosigkeit und Separation geprägt war. So kann das Regelschulsystem in der bestehenden Form erhalten werden. Anstatt die Realität der Migration und einer heterogenen Schüler- und Elternschaft in eine Gesamtstrategie der Bildungsplanung einzubeziehen, hat die deutsche Bildungspolitik immer wieder mit administrativ-organisatorischen Ad-hoc-Lösungen reagiert. Diese Ad-hoc-Lösungen bestanden meist darin, Ressourcen für die Beschulung migrantischer Kinder nur vorübergehend zu gewähren oder eben Sonderklassen einzurichten. Auch in Berlin sind diese Praktiken seit den 1970er Jahren nicht durchgehend abgeschafft worden, wie sich heute noch zeigt.

Foto: Neonbrand / Unsplash

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«Sanctuary Cities sind in Deutschland nicht utopisch.»

April 2017 • Helene Heuser

Foto: Chris Devers / Flickr

Foto: Chris Devers / Flickr

Migration, Organisierung#Migration #Organisierung

Die Begriffe stammen aus dem Alten Testament. Moses fordert die Israeliten auf, Städte einzurichten, die Flüchtlinge schützen. Je nach Übersetzung werden diese als Städte der Zuflucht, Asylstädte oder auch Freie Städte bezeichnet, auf Englisch als Sanctuary Cities, Cities of Refuge oder Asylum Cities. In der Bibel geht es darum, allen, die wegen privater Blutrache um ihr Leben fürchten, eine sichere Zuflucht zu ermöglichen, heute beleben kirchliche und säkulare soziale Bewegungen diese alte Tradition gemeinsam wieder. Sanctuary City betont, dass die Stadt ein sicherer Ort sein soll, dass keine Gefahr der Auslieferung besteht und die Versorgung mit Kleidung und Nahrung gesichert ist. In Stadt der Zuflucht schwingt mit, dass auch der Weg vom Ort der Verfolgung dorthin sicher sein soll. Genau so werden die beiden Begriffe auch heute verwendet. Sanctuary Cities nennen sich Städte, die Undokumentierte, die schon vor Ort leben, vor Deportation schützen wollen. Präsident Trump hat ihnen in den USA gerade den Kampf angesagt (vgl. Lebuhn 2016). Städte der Zuflucht hingegen setzen sich für die Aufnahme von Asylsuchenden aus dem Ausland in ihre Stadt oder Kommune ein, versuchen also legale Fluchtwege bereitzustellen. Beispiele dafür finden sich in Europa, Lateinamerika und Kanada.

Helene Heuser ist Juristin und Philosophin und‭ promoviert zum Thema‭ »‬Städte der Zuflucht‭«‬.‭ ‬Sie‭ hat die Refugee Law Clinic Hamburg mit aufgebaut,‭ die Studierende dazu ausbildet,‭ ‬Geflüchteten eine‭ kostenfreie Rechtsberatung anzubieten.‭

Ursprünglich veröffentlicht auf: »sanctuary cities sind in Deutschland nicht utopisch« | Zeitschrift Luxemburg (zeitschrift-luxemburg.de)

Foto: “We Are One Somerville: Sanctuary City Rally” | Chris Devers | Flickr

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Seit einigen Jahren sammeln sich weltweit migrationspolitische Initiativen unter der Überschrift »Städte der Zuflucht« oder auch «Sanctuary Cities». Was genau ist damit gemeint?

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»Wir sind doch keine Sklavinnen!«

(Selbst-)Organisierung von polnischen Care-Arbeiterinnen in der Schweiz

Oktober 2015 • Sarah Schillinger

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung via flickr / Fotografin: Nate Pischner / CC BY 2.0

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung via flickr / Fotografin: Nate Pischner / CC BY 2.0

Hausarbeiterinnen, Migration, Pflege, Organisierung, Gewerkschaft#Hausarbeiterinnen #Migration #Pflege #Organisierung #Gewerkschaft

Unsichtbare machen sich sichtbar

Plötzlich waren sie da, hatten ein Gesicht und eine Stimme: Care-Arbeiterinnen aus Polen, die in der Schweiz rund um die Uhr alte Menschen pflegen und betreuen. Auf der 1.-Mai-Demonstration 2014 in Basel stahlen sie den etablierten Gewerkschaften die «Show»: Geschmückt mit selbst genähten Foulards in den Farben der polnischen Flagge reihten sie sich hinter einem Transparent ein, das den Slogan trug: «Schluss mit der Ausbeutung – Wir fordern Rechte und Respekt!» Auf ihren Bannern war zu lesen: «24 Stunden Arbeit, 6 Stunden Lohn?! Nicht mit uns!» Als der Demonstrationszug vor dem Parlamentsgebäude ankam, betrat Bozena Domanska die Bühne. Sie begrüßte die versammelten DemonstrantInnen auf Polnisch und Deutsch und begann, von ihrer Arbeit zu erzählen:

«Ich habe wie Tausende Frauen aus Osteuropa erlebt, was es heißt, 24 Stunden am Tag ältere Menschen zu betreuen. Es ist nicht die Arbeit selber, die schlimm ist, sondern dass wir Frauen isoliert in einem Privathaushalt sind – ohne soziale Kontakte, ohne Privatleben, Tag und Nacht verantwortlich für einen kranken Menschen. Ein Leben im Rhythmus von anderen: vom Essen über das Fernsehprogramm bis hin zu den Nächten ohne Schlaf. Und dies zu Löhnen zwischen 1.200 und 3.000 Franken brutto. Das ist pure Ausbeutung!»

Mit deutlichen Worten prangerte sie die Praktiken ihrer Arbeitgeber an: privatwirtschaftliche Care-Unternehmen, die mit ihrem Geschäftsmodell des Personalverleihs viel Geld auf dem Rücken der Frauen verdienen, die für sie arbeiten.[1]

«Es ist ein Skandal, dass wir Frauen für eine Arbeit rund um die Uhr nur einen Lohn erhalten, mit dem wir nicht leben können. Viele Leute in der Schweiz denken, das ist genug für uns, weil wir aus Polen oder Ungarn kommen. Aber auch wir haben das Recht, dass die Gesetze der Schweiz für uns gelten. Die Arbeitgeber meinen immer noch, es liege in unserer Natur als Frauen, dass wir ein Teil der Betreuungsarbeit gratis machen. Damit ist jetzt Schluss! Wir haben das Netzwerk Respekt gegründet, um den Care-Arbeiterinnen eine Stimme zu geben im Kampf gegen die Ausbeutung und das Lohndumping. Wir Frauen fordern europaweit die Anerkennung der Care-Arbeit[2] als eine gesellschaftlich höchst wichtige Arbeit und kämpfen für faire Löhne durch eine bessere öffentliche Finanzierung!»

Polnische Community als Ausgangspunkt der Organisierung

Care-Arbeiterinnen in privaten Haushalten gewerkschaftlich zu organisieren ist eine Herausforderung: Oft befinden sie sich in keinem klaren Arbeitsverhältnis, sind geografisch über verschiedene Orte verstreut und arbeiten in der Privatheit von Haushalten, in denen die Beziehung zu ihren Arbeitgebern stark personalisiert ist. In der 24-h-Betreuung sind viele Migrantinnen tätig, die ihren Wohnsitz nur temporär in der Schweiz haben und im ein- bis dreimonatigen Rhythmus zwischen ihrer Familie in Osteuropa und dem Arbeitsplatz in einem Schweizer Haushalt hin- und herpendeln. Als sogenannte live-ins[3] sind ihre Arbeitszeiten entgrenzt, einen echten Feierabend haben sie nicht und nur wenige verfügen über einen kompletten freien Tag in der Woche, um sich außer Haus bewegen zu können. Außerdem ist die Abhängigkeit vom Arbeitgeber groß. Nicht nur muss häufig eine ganze (erweiterte) Familie im Herkunftsland ernährt werden, auch der Kündigungsschutz ist schlecht, und beim Verlust der Stelle verlieren sie nicht bloß ihr Einkommen, sondern sprichwörtlich das Dach über dem Kopf.

Diese Situation ruft nach unkonventionellen Formen der kollektiven Organisierung. Häufig organisieren sich Hausarbeiterinnen jenseits von bestehenden Strukturen und Institutionen wie traditionellen Gewerkschaften in eigenen politischen und sozialen Netzwerken, meist innerhalb ethnischer Communitys. Viele Beispiele aus unterschiedlichen Regionen der Welt zeigen, dass Hausarbeiterinnen bereits über eigene Strukturen verfügen, bevor sie mit einer Gewerkschaft in Kontakt kommen.[4] Dies hat oft damit zu tun, dass Care-Arbeiterinnen als Migrantinnen und Frauen, die Reproduktionsarbeit im Privaten verrichten, häufig nicht die primäre Zielgruppe männlich dominierter Gewerkschaften sind. Für die Schweiz trifft dies nicht unbedingt zu: Hier sind sowohl die Gewerkschaft der Lohnabhängigen in der Privatwirtschaft (UNIA) als auch der VPOD offen und interessiert, die Anliegen von Care-Arbeiterinnen zu unterstützen.[5] Allerdings identifizieren sich Care-Arbeiterinnen kaum mit ihrem beruflichen Status. Die Beschäftigung in Privathaushalten geht meist mit einer erheblichen Dequalifizierung einher. Sie sehen ihre berufliche Stellung deshalb als Übergangssituation, der frau möglichst rasch entfliehen möchte. Oft fällt es ihnen deshalb schwer, sich auf eine gewerkschaftliche Identität als Pflegerin einzulassen. Einfacher ist es, sich mit ihrem migrationspolitischen Status und der eigenen Community von Landsleuten zu identifizieren.

Auch für die polnischen Care-Arbeiterinnen in Basel war ihre Community Ausgangspunkt der kollektiven Aktion. Die polnische Kirchengemeinde spielt dabei eine wichtige Rolle. Sie ist eine Begegnungsstätte, in der die Frauen ein soziales Netz aufbauen konnten. Damit ist die Kirche ein Ort, der für sehr viel mehr steht als für Glauben und Religiosität. Hierhin können sie sich zurückziehen und temporär der Kontrolle und Inanspruchnahme im Haushalt entkommen, die tägliche Routine durchbrechen. Die Kirche ist für sie ein Stück Heimat, was den Ort zu einem transnationalen Zwischenraum macht. Auch können die Care-Arbeiterinnen für den sonntäglichen Gang zur Messe am ehesten freie Zeit aushandeln. Nach dem Gottesdienst treffen sie sich im Kirchgemeindehaus zu Kaffee und Kuchen. In der vertrauten Runde werden nicht nur Alltagssorgen geteilt, sondern auch individuelle Erfahrungen mit Agenturen und Familien ausgetauscht.

Mutiger Gang vors Arbeitsgericht

In diesem Kreis fasste Bozena Domanska vor rund drei Jahren den Mut, mit ihrer Kritik an der prekären Arbeitssituation von 24-h-Betreuerinnen an die Öffentlichkeit zu gehen. Zuvor hatte sie im Alleingang ihren ehemaligen Arbeitgeber verklagt. Bis dahin habe sie sich meist «gebückt» und «nicht so die Rebellin gespielt», sagt sie.[6]Einmal habe sie den Mund aufgemacht und sich bei ihrem Chef – dem Firmenleiter einer privaten Spitex-Firma[7] – über den niedrigen Lohn beklagt. «Der Chef meinte, er stelle sonst eine Ukrainerin an, die den Job für vier Franken die Stunde mache.»

Als Bozena Domanska kurze Zeit später entlassen wurde, weil sie sich wegen falscher Versprechungen zur Wehr setzte, beschloss sie, als erste 24-h-Betreuerin in der Schweiz die Schlichtungsstelle anzurufen und die vielen unbezahlten Überstunden einzuklagen. «Ich kann doch nicht wieder den Kopf runtermachen! Es ging mir um Gerechtigkeit. Er behandelt ja alle Polen wie Dreck. Mit unserer Arbeit verdient er ein Vermögen. Ich brauchte letztlich 20 Jahre, um zu realisieren, dass wir Frauen, die aus Osteuropa hierherkommen, uns nicht immer nach unten orientieren, uns nicht erniedrigen und ausnutzen lassen sollten. Wir sind doch keine Sklavinnen, sondern Menschen mit Gefühlen.» Mit ihrer Klage habe sie anderen Frauen Mut machen wollen: «Wir sind die Aschenputtel aus dem Osten. Und wir getrauen uns nicht, uns zu wehren, weil wir Angst haben.»

Bozena Domanska bekam ohne anwaltliche Unterstützung vor der Schlichtungsstelle Recht und konnte eine Lohnnachzahlung von 7.000 Franken erwirken. Kurz darauf beschloss sie, zusammen mit ihrer Kollegin Agata Jaworska Hilfe bei einem Basler Anwalt zu suchen, um eine Lohnklage von Agata gegen dieselbe Firma vorzubereiten. In dieser Zeit lernte ich die beiden Frauen im Rahmen meiner Forschung[8] kennen.

Wir diskutierten, wie dieser Kampf unterstützt werden könnte, um breitere Aufmerksamkeit zu erreichen. Schließlich kam der Kontakt mit dem VPOD zustande, der sich bereit erklärte, Agata Jaworskas Klage zu unterstützen. Marianne Meyer, die als Gewerkschaftssekretärin beim VPOD in Basel für den Gesundheitsbereich zuständig ist, begleitete fortan unermüdlich den juristischen Prozess. Der gewerkschaftsnahe Anwalt bemühte sich, die komplexe Gesetzeslage aufzuarbeiten und zusammen mit den beiden polnischen Care-Arbeiterinnen alle Details zu ihrem Arbeitsverhältnis zusammenzutragen, um die Beweislage für die vielen unbezahlten Überstunden zu garantieren. Erleichtert wurde dies dadurch, dass sich der von Agata Jaworska betreute pflegebedürftige Mann hinter seine Betreuerin stellte: Er war selbst verärgert über die Geschäftspraktiken des angeklagten Unternehmens und den Umstand, dass er für seine Rundumbetreuung monatlich über 10.000 Franken bezahlte, jedoch nur ein Bruchteil als Lohn an seine Betreuerin weitergegeben wurde.

Es geht um Respekt

Parallel dazu begann Bozena Domanska in der polnischen Kirche mit verschiedenen Frauen über die Lohnklage zu diskutieren. Nicht alle Frauen ließen sich sofort überzeugen, dass es wichtig sei, die ausstehende Bezahlung einzufordern. Einige betonten, dass sie mit ihrem Lohn (zwischen 1.200 und 2.000 Franken pro Monat) zufrieden seien und ihre Anstellung nicht riskieren wollten. Bozena Domanska wies nachdrücklich darauf hin, dass sie Anrecht auf den Schweizer Mindestlohn von rund 18 Franken pro Stunde hätten. «Es geht um Respekt», sagte sie immer wieder und betonte, dass sie als Polinnen die gleichen Rechte hätten wie Schweizerinnen. «Wir leisten unsere Arbeit gern, aber wir sind nicht mehr bereit, uns ausnutzen zu lassen, wir wollen faire Löhne und Arbeitsbedingungen nach den hier geltenden Gesetzen.»

Mit dieser Botschaft gingen die beiden Frauen im Frühling 2013 schließlich an eine breitere Öffentlichkeit. Im Schweizer Fernsehen lief sogar ein Dokumentarfilm, in dem Bozena Domanska porträtiert wurde.[9]Das Echo war groß und positiv. Polnische Care-Arbeiterinnen bekamen dadurch nicht nur ein Gesicht, sondern gewannen viel Sympathie in der Bevölkerung. Bozena Domanska wurde zu einer Art Identifikationsfigur und einer landesweit gehörten Stimme. So konnten weitere Care-Arbeiterinnen angesprochen und das Netzwerk verbreitert werden. Einige fanden per Facebook den Kontakt zu Bozena Domanska und ihren polnischen Kolleginnen in Basel und tauschten sich mittels sozialer Medien über ihre Arbeit aus.

Gleichzeitig traten einige Frauen aus der polnischen Community auf der 1.-Mai-Demonstration in Basel zum ersten Mal öffentlich als Gruppe auf. Ein paar Wochen später gründeten 18 Care-Arbeiterinnen das Netzwerk Respekt@vpod. Sie zeigten sich entschlossen, gemeinsam den Gerichtsprozess von Agata Jaworska zu begleiten und eine politische Bewegung für bessere Arbeitsbedingungen in der 24-h-Betreuung anzustoßen. Den Namen Respekt hatte die Gruppe nicht deshalb gewählt, weil es schon ein gleichnamiges internationales Netzwerk von Hausarbeiterinnen gibt – dies war ihnen gar nicht bekannt –, sondern weil es ihnen genau darum ging: um Respekt – für sich, für ihre Arbeit und im alltäglichen Umgang.

Kein Liebesdienst, sondern Arbeit

Das Respekt-Netzwerk fordert nicht nur die Einhaltung des Mindestlohns. Es geht den Frauen auch darum, die vielen unbezahlten Stunden, in denen die Care-Arbeiterinnen im Haushalt präsent sein müssen, sichtbar zu machen und zu entlohnen. Sie fordern die Zahlung von Zuschlägen für Überstunden, für die Rufbereitschaft in der Nacht und für Sonntagsarbeit. Viele Care-Unternehmen betrachten lediglich fünf bis sieben Stunden pro Tag als lohnrelevante Arbeitszeit.[10]

Gerade die emotionalen Anteile der Care-Arbeit werden häufig von den Angehörigen wie auch von den Agenturen nicht als Teil der Arbeit wahrgenommen. Das stundenlange Sitzen am Bettrand, die empathischen Berührungen, das gemeinsame Singen, der Versuch, eine gute Atmosphäre zu schaffen, aber auch die Bereitschaft, während der ganzen Nacht im Zimmer nebenan abrufbar zu sein – all dies wird nicht als Leistung erkannt und als selbstverständlich vorausgesetzt. «All die Liebe, die du gibst, dafür wirst du nicht bezahlt, das wird nicht gesehen», sagt Bozena Domanska. Damit wehren sich die Aktivistinnen von Respekt auch gegen ein Bild, nach dem die häusliche Sphäre als natürliches Betätigungsfeld von Frauen gilt, die hier Arbeit aus Liebe leisten.[11]

Diese Vorstellung spiegelt sich in den Darstellungen der Agenturen, die 24-h-Betreuerinnen als «aufopfernde Helferinnen», «gute Wesen» oder «Pflegefeen» bezeichnen und damit den Arbeitscharakter dieser Tätigkeit ausblenden.[12]

In Bezug auf die entgrenzten Arbeitszeiten fordern die Aktivistinnen vom Respekt-Netzwerk jedoch nicht nur eine angemessene materielle Entschädigung. Es geht auch darum, Freizeit und Zeit für Erholung zu erstreiten: Dazu gehört ein ganzer freier Tag pro Woche – inklusive einer Nacht, in der die Care-Arbeiterinnen ohne permanente Einsatzbereitschaft durchschlafen können.[13]

Hier geht es ihnen nicht nur um physische und psychische Regeneration, sondern darum, aus der räumlichen und der damit verbundenen sozialen Isolation im Haushalt ausbrechen zu können. Nur wenn die Care-Arbeiterinnen Freizeit haben, können sie mit anderen Menschen außerhalb des Haushalts in Kontakt treten – sei es mit FreundInnen aus der polnischen Community oder mit der lokalen Bevölkerung. Hinzu kommt, dass Care-Arbeiterinnen erst durch den Austritt aus dem Haushalt – also beim Verlassen des Arbeitsplatzes – eine wirkliche Privatsphäre in Anspruch nehmen können. Ist der Eintritt in ein Arbeitsverhältnis normalerweise mit dem Betreten der öffentlichen Sphäre verknüpft, ist hier das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit umgekehrt: Das Verlassen der Wohnung und der Besuch öffentlicher Orte bedeuten für Care-Arbeiterinnen häufig mehr Privatheit, als ihnen in den Wohnungen der Arbeitgeber gewährt wird. Schließlich ist freie Zeit auch eine wichtige Voraussetzung, um sich überhaupt gewerkschaftlich organisieren zu können.

Eine unkonventionelle gewerkschaftliche Organisierungspraxis

Die Praxis der Organisierung des Respekt-Netzwerkes ist unkonventionell, jedoch für migrantische Gewerkschaften im Niedriglohnsektor nicht untypisch.[14] Genauso wichtig wie die unmittelbare politische Selbstorganisierung gegen Ausbeutung und für soziale Rechte sind für die Mitglieder von Respekt@vpod die praktische Solidarität, die soziale Teilhabe und die Selbstermächtigung innerhalb des Kollektivs. Die Organisierung ist dabei nicht allein auf die Situation am Arbeitsplatz fokussiert, häufig geht es bei den Versammlungen um Fragen des Alltags und der sozialen Reproduktion – zum Beispiel um Gesundheit, um Krankenkassenprämien, um Wohnverhältnisse, um die Aufenthaltsbewilligung oder um die transnationale Lebenspraxis, also die Beziehung zur Familie im Herkunftsland und die Organisation des Lebens zwischen hier und dort. Es werden Informationen über ganz alltägliche Dinge wie Handy-Abos oder billige Reisemöglichkeiten ausgetauscht, aber auch Diskussionen geführt über die Art und Weise, wie die Sorgearbeit in der eigenen Familie organisiert und umverteilt wird, beispielsweise zwischen Ehepartnern. Die politischen Subjektivitäten der Care-Arbeiterinnen sind kaum durch die Interessen des eigenen Berufsstandes geprägt, denn viele haben in Polen ganz andere, oft hoch qualifizierte, teils akademische Berufe erlernt. Vielmehr verbindet sie die gemeinsame Situation des Lebens als Pendelmigrantinnen, die prekäre Abhängigkeit von den Agenturen und den privaten Arbeitgebern sowie die Erfahrung, kollektiv aus der Vereinzelung im Haushalt ein stückweit heraustreten zu können.

Die Aktivistinnen von Respekt sind reguläre Mitglieder der Gewerkschaft VPOD, sie wählen Delegierte in nationale Kommissionen und nehmen an den gesamtgewerkschaftlichen Aktivitäten teil. Auch stehen ihnen alle gewerkschaftlichen Dienstleistungen sowie die Rechts- und Sozialberatung offen, obwohl ihre Beiträge niedrig sind. Gleichzeitig verfügt das Respekt-Netzwerk über eine gewisse Autonomie und ist stark basisgewerkschaftlich organisiert. Bei der Gründung hatten die Aktiven des Netzwerkes beispielsweise beschlossen, eine solidarische Form der finanziellen Unterstützung weiterer Lohnklagen zu schaffen: Die Care-Arbeiterinnen zahlen jeweils 30 Prozent der Summe, die sie bei erfolgreichen Klagen erzielen, in einen Solidaritätsfonds, mit dem die Anwaltskosten für weitere Klagen im Netzwerk finanziert werden können.

Seit Juni 2013 ist – zusätzlich zur regionalen Gewerkschaftssekretärin – Bozena Domanska mit 20 Prozent ihrer Arbeitszeit beim VPOD beschäftigt und speziell für die Arbeit innerhalb des Respekt-Netzwerkes zuständig. Hauptsächlich arbeitet sie weiterhin als Betreuerin in der ambulanten Pflege. Sie verfügt damit nicht nur über ein hohes professionelles Verständnis und geteilte Alltagserfahrungen mit den Respekt-Aktivistinnen, sondern spricht auch deren Muttersprache, was für die Kontaktaufnahme und die Vertrauensbildung von großer Bedeutung ist. Ihr breites soziales Netzwerk kann sie außerdem produktiv für die Mobilisierung und die Verbreiterung der Reichweite von Respekt@vpod nutzen.

Vielfältige Strategien der Selbstermächtigung

Zwei Jahre nach der Gründung sind mittlerweile über 50 Care-Arbeiterinnen Mitglied von Respekt@vpod. Zentrales Moment des Netzwerkes sind die monatlichen Treffen, die jeweils an einem Sonntag im Anschluss an die polnische Messe im Basler Gewerkschaftshaus stattfinden. Bei den Treffen geht es insbesondere um einen Austausch über die spezifischen Arbeitsbedingungen und um die Aufklärung über die ihnen zustehenden Rechte. Dies geschieht in Form von «Know-your-Rights-Workshops», in denen sozial- und arbeitsrechtliches Wissen von kundigen Care-Arbeiterinnen – unterstützt durch die lokalen Gewerkschaftssekretärinnen – weitergegeben wird. Häufig ergeben sich dabei Diskussionen über spezifische Probleme einzelner Frauen, die in Einzelberatungen weiter geklärt werden. Ein wichtiger Bestandteil der Versammlungen ist auch die gemeinsame Planung und Diskussion von politischen Aktionen in der Öffentlichkeit. Bedeutend war in der Anfangsphase des Netzwerkes die kollektive Begleitung des Gerichtsprozesses von Agata Jaworska. Aber auch die gemeinsame Teilnahme an verschiedenen Demonstrationen gegen Sozialabbau im Gesundheitssektor, gegen die Einschränkung der Personenfreizügigkeit im Zuge der Annahme der «Volksinitiative gegen Masseneinwanderung» der Schweizerischen Volkspartei (SVP) oder Mobilisierungen anlässlich des Internationalen Frauentages spielten eine Rolle. Zudem wurden Aktionen vor den Geschäftssitzen lokaler Care-Unternehmen organisiert, die schlechte Arbeitsbedingungen bieten und ihren Mitarbeitenden Rechte vorenthalten.

Die politische Praxis des Respekt-Netzwerkes besteht jedoch nicht nur in juristischen und politisch sichtbaren Kämpfen um Arbeitsrechte. Wichtig sind auch Strategien des Empowerments, durch die sich die Care-Arbeiterinnen erst in die Lage versetzen, unmittelbar im Haushalt ihre Rechte einfordern und ihre Situation verbessern zu können – zum Beispiel, indem klare Vereinbarungen über die Arbeits- und Freizeit und über angemessene Entlohnung ausgehandelt werden. Meistens fühlen sich die Betroffenen aufgrund des personalisierten Arbeitsverhältnisses gegenüber ihren direkten Arbeitgebern moralisch verpflichtet und spüren eine hohe Verantwortung – sie sind, mit der feministischen Ökonomin Nancy Folbre gesprochen: prisoners of love.[15]

Wehren sie sich gegen hohe Arbeitsbelastungen oder fehlende Ruhezeiten und formulieren eigene Ansprüche, riskieren sie, die «guten Beziehungen» zur Familie zu verspielen und als «schlechte Betreuerin» disqualifiziert oder gar ausgewechselt zu werden. Dieses Dilemma kommt in den Diskussionen immer wieder zur Sprache. Die Care-Arbeiterinnen versuchen dabei, mittels Erfahrungsaustausch und Rollenspielen Strategien zu entwickeln, wie sie in ihrem Alltag selbstbewusst auf ihre eigenen Bedürfnisse aufmerksam machen und das Recht auf Selbst-Sorge und Respekt für ihre emotionalen und körperlichen Grenzen einfordern können.

Ein essenzielles Hilfsmittel dazu ist nicht zuletzt die Verbesserung der Deutschkenntnisse, die unter den Care-Arbeiterinnen sehr unterschiedlich sind. Im Respekt-Netzwerk wurden Deutschkurse initiiert, bei denen Frauen mit sehr guten Sprachkenntnissen ihre Kolleginnen unterrichten und ihnen damit wichtige Kommunikationsfähigkeiten vermitteln. Praktische Solidarität wird auch insofern geübt, als Wissen über offene Stellen weitergegeben wird. Für den Fall, dass Care-Arbeiterinnen ihre Stelle verlieren, bemüht sich das Netzwerk darum, eine temporäre Wohngelegenheit bei solidarischen Gewerkschaftsmitgliedern des VPOD vermitteln zu können.

Diese vielfältigen Praktiken der solidarischen Unterstützung stärken die Handlungsmacht der Mitglieder und führen dazu, dass sich die Care-Arbeiterinnen inzwischen als selbstbewusste Akteurinnen sehen, die ihre Stimme erheben und stolz sind auf die wichtige Arbeit, die sie zwar meistens im Verborgenen verrichten, die aber für die Gesellschaft von großer Bedeutung ist.

Politisch bewegt sich (langsam) etwas

Zurück zur juristischen Klage von Agata Jaworska, die als Musterklage darüber entscheiden sollte, wie die 24-Stunden-Betreuungsarbeit in privaten Haushalten entlohnt werden muss. Die RichterInnen vom Basler Zivilgericht kamen in ihrem Urteil vom März 2015 zu der Überzeugung, dass die Arbeit im Privathaushalt bei einer Anstellung durch private Firmen dem Arbeitsgesetz unterliegt. Folglich müssen sämtliche Stunden – auch die der Rufbereitschaft – angemessen entlohnt werden. Im Fall von Agata Jaworska mit dem halben regulären Stundenlohn. Die Klägerin erhielt deshalb für einen dreimonatigen Arbeitseinsatz eine Nachzahlung von rund 17.000 Franken. Das Respekt-Netzwerk fasst dies als einen «bahnbrechenden Erfolg für Agata und für alle anderen Care-Arbeiterinnen». Während der diesjährigen 8.-März-Demonstration feierten die Netzwerk-Frauen ihren gewonnenen Kampf, der sich über zwei Jahre erstreckt hatte. Sie skandierten «Wszyscy jesteśmy Agatą!» – «Wir sind alle Agata!» – und kündigten eine Klagewelle an, bei der sich weitere Respekt-Mitglieder auf diesen Präzedenzfall beziehen werden.

Wie sich dieser Erfolg auf die rechtliche Regulierung des Arbeitssektors Privathaushalt und spezifisch auf den Bereich der 24-h-Betreuung auswirken wird, bleibt abzuwarten. Ende April 2015 publizierte der Bundesrat den lange angekündigten Bericht «Rechtliche Rahmenbedingungen für Pendelmigration zur Alterspflege». Darin wird festgehalten, dass in der privaten Seniorenbetreuung zu Hause oft unhaltbare Arbeitsbedingungen herrschen und «dass es gesetzlichen Handlungsbedarf gibt, um den betroffenen Arbeitnehmerinnen einen angemessenen Schutz zu gewährleisten».[16]

Der Bericht skizziert verschiedene Lösungen: Denkbar wäre der Erlass eines nationalen Normalarbeitsvertrages oder die Stärkung der kantonalen Normalarbeitsverträge, in denen die Bestimmungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen als bindend erklärt würden. Eine weitere Möglichkeit ist die Schaffung einer neuen Verordnung für diese Arbeitsverhältnisse, wofür jedoch erst die Grundlage im Arbeitsgesetz geschaffen werden müsste.

Statt rasch Maßnahmen zu ergreifen, will der Bundesrat zunächst weitere Klärungen vornehmen: Bis Mitte 2016 sollen die Folgekosten dieser Regulierungsvorschläge für das Sozial- und Gesundheitswesen abgeschätzt und erst dann dem Bundesrat konkrete Lösungsvorschläge unterbreitet werden. Problematisch ist, dass diese dringend nötigen Regulierungen von möglichen Folgekosten abhängig gemacht werden sollen: Das Recht auf die Anerkennung von in der Schweiz üblichen Arbeitsbedingungen darf keine Kostenfrage sein.

Ausblick

Durch die kreativen und vielfältigen gewerkschaftlichen Strategien haben die Care-Arbeiterinnen des Respekt-Netzwerkes eine Öffentlichkeit für ihre Anliegen geschaffen und anderen Betreuerinnen Mut gemacht, sich ebenfalls gegen prekäre Bedingungen zu wehren. Anders als beispielsweise in Österreich, wo im politischen und medialen Diskurs bisher praktisch nur die Bedürfnisse der nachfragenden Familien präsent sind, haben sich die Care-Arbeiterinnen in der Schweiz eine Stimme verschafft. Sie haben damit nicht nur ihre eigenen Bedürfnisse auf die politische Agenda gesetzt, sondern eine gesellschaftliche Diskussion über eine andere Organisation von Pflege und Betreuung angestoßen. Sie haben klar gemacht, dass gute Pflege für die steigende Zahl an pflegebedürftigen Menschen nur unter fairen Arbeitsbedingungen möglich ist.

Gleichzeitig wurde deutlich, dass 24-h-Betreuerinnen längst nicht mehr nur aus Polen in die Schweiz pendeln. Es muss also dringend darüber nachgedacht werden, wie ArbeitnehmerInnen aus anderen Ländern (Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Slowakei, aber auch Sans-Papiers, z. B. aus Lateinamerika) erreicht und über Sprachgrenzen hinweg organisiert werden können. Auch zeigt sich, dass die verschiedenen Rechtsformen und Geschäftspraktiken, mittels derer die Care-Unternehmen agieren und damit häufig unerkannt am geltenden Recht vorbei ihre Geschäfte betreiben, ein ernstes Problem darstellen. Die ungleiche Situation zwischen Care-Arbeiterinnen, die formal in der Schweiz angemeldet und sozialversichert sind, und jenen, die mittels irregulärer Firmen ohne Absicherungen arbeiten müssen, erschwert die Organisierung – und führt nicht zuletzt zu einer verschärften Konkurrenz unter den Care-Arbeiterinnen.

Die immensen Widersprüchlichkeiten und Ungerechtigkeiten in live-in-Arbeitsverhältnissen bleiben bestehen, insbesondere hinsichtlich der grundsätzlichen Frage nach der gesellschaftlichen Organisation, der globalen und geschlechtsspezifischen Verteilung und dem Wert von Care-Arbeit. Eine weitere Politisierung dieser sonst häufig im Verborgenen geleisteten Arbeit in Privathaushalten, die noch immer überwiegend unbezahlt von Familienangehörigen (meistens Frauen) verrichtet wird, steht weiterhin auf der Agenda. Die rechtlichen Bedingungen müssen verbessert werden – dafür sind inzwischen mögliche Wege skizziert. Entscheidend ist letztlich aber der Ausbau einer öffentlichen Care-Infrastruktur, mittels derer die ganze Bevölkerung Zugang zu qualitativ guten Diensten in der ambulanten Pflege, Betreuung und Haushaltshilfe bekommt.[17]

In Bezug auf diese breit zu führende gesellschaftliche Debatte um Care weisen Organisierungsinitiativen wie die von Respekt darauf hin, wie wichtig es ist, von den aktuellen alltäglichen Kämpfen prekär Beschäftigter auszugehen und Kooperationen über Grenzen hinweg zu suchen. Sie fordern auch die Gewerkschaften heraus, sich zu öffnen, an migrantische Netzwerke anzuknüpfen und neue Ressourcen aufzubauen, um einen transnationalen Bezugsrahmen herzustellen.

Literatur

[1] Die Unternehmensformen im Bereich der 24-h-Betreuung sind unterschiedlich. Es gibt a) auf 24h-Betreuung spezialisierte Schweizer Personalverleih-Unternehmen; b) private Spitex-Organisationen, die neben ambulanter Betreuung auch 24h-Betreuung als zweites Standbein betreiben; c) hauptsächlich über das Internet arbeitende Vermittlungsagenturen, die mit Entsendung aus osteuropäischen Ländern operieren, was in der Schweiz für den Haushaltssektor nicht erlaubt ist. Der Markt für 24h-Betreuung ist in den letzten fünf Jahren in der Schweiz expandiert und hat sich stark ausdifferenziert. Vgl. dazu Schilliger, Sarah: Pflegen ohne Grenzen? Polnische Pendelmigrantinnen in der 24h-Betreuung. Eine Ethnographie des Privathaushalts als globalisiertem Arbeitsplatz, Dissertation, Basel 2014, S. 137–200.

[2] Interessant ist, wie sich der Begriff der Care-Arbeit im Selbstverständnis der Aktivistinnen des Respekt-Netzwerkes durch die politische Organisierung immer mehr etabliert. Dies insbesondere, nachdem einige Respekt-Aktivistinnen im März 2014 an der Care-Revolution Konferenz in Berlin teilgenommen hatten und dort mit den politischen Debatten um Care vertraut wurden.

[3] Live-ins werden Hausarbeiterinnen genannt, die im Haushalt der arbeitgebenden Familie leben – im Gegensatz zu live-outs, die eine eigene Wohngelegenheit außerhalb des Haushalts haben.

[4] Vgl. Schwenken, Helen: Transnationale und lokale Organisierungsprozesse für eine ILO-Konvention «Decent Work for Domestic Workers», in: Apitzsch, Ursula/Schmidbaur, Marianne (Hrsg.): Care und Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen, Opladen/Farmington Hills 2010, S. 200.

[5] Der VPOD sieht die 24-h-Betreuung insofern als wichtiges gewerkschaftliches Interventionsfeld, als dort private Akteure auf dem Pflegemarkt neue, prekäre Standards etablieren. Durch Organisierung in diesem Bereich wollen sie der Ausweitung eines prekären Arbeitsmarktes innerhalb der Pflege und Betreuung entgegenwirken. Auch die UNIA hat in den letzten Jahren verschiedene Organizing-Kampagnen im Pflegesektor initiiert, der zunehmend nach privatwirtschaftlichen Prinzipien strukturiert ist. Sie hat mit lokalen Organisierungsinitiativen im Tessin und jüngst im Kanton Zürich dafür gesorgt, dass neben Basel auch in anderen Regionen 24h-Betreuerinnen gewerkschaftlich unterstützt werden. Die UNIA hat zudem mit den Arbeitgebern einen Normalarbeitsvertrag ausgehandelt, der seit 2011 schweizweit gesetzliche Mindestlöhne im Privathaushalt festschreibt. Auch wenn die beiden Gewerkschaften um Mitglieder und öffentliche Aufmerksamkeit konkurrieren, arbeiten sie oft zusammen. Schon seit 2007 gibt es im Rahmen der Denknetz-Fachgruppe Prekarität in Privathaushalten einen regelmäßigen Austausch zwischen den UNIA-, VPOD-, NGO-VertreterInnen und kritischen WissenschaftlerInnen. Durch verschiedene Tagungen, die diese Gruppe in den letzten Jahren organisiert hat, konnte eine kritische Öffentlichkeit geschaffen werden. Auch die Verabschiedung der ILO-Konvention 189 für die Rechte von Hausarbeiterinnen hat politischen Druck zur Verbesserung von deren Arbeits- und Lebenssituation aufgebaut.

[6] Die Zitate stammen aus Interviews im Rahmen meiner Forschung. Bozena Domanska tritt öffentlich mit ihrem Namen auf, weshalb diese Zitate nicht anonymisiert sind. An dieser Stelle danke ich ihr herzlich dafür, mir unzählige Einblicke in ihre Arbeit als Betreuerin gewährt zu haben.

[7] Spitex ist in der Schweiz die Bezeichnung für ambulante Pflege und Betreuung (SPITal-EXtern).

[8] Im Rahmen meiner Dissertation (Schilliger: Pflegen ohne Grenzen?) unternahm ich eine ethnografische Forschung zur Pendelmigration polnischer Care-Arbeiterinnen. Die Untersuchung war zu Beginn nicht als aktivistische Forschung angelegt, entwickelte sich jedoch durch den intensiven Austausch mit den Care-Arbeiterinnen und durch meine eigene Involvierung bei der Gründung des Respekt-Netzwerkes zu einer partizipativen Aktionsforschung.

[9] «Hilfe aus dem Osten. Pflegemigrantinnen in der Schweiz», Film von Béla Batthyany, unter www.srf.ch/sendungen/dok/hilfe-aus-dem-osten-pflegemigrantinnen-in-der-schweiz-2.

[10] Vgl. Schilliger: Pflegen ohne Grenzen?, S. 152 f.

[11] Dies knüpft an die in der zweiten Frauenbewegung geübte Kritik der Gratisarbeit von Hausfrauen an, die häufig als Liebesdienst gesehen wird. Vgl. Bock, Gisela/Duden, Barbara: Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hrsg.): Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Berlin 1977, S. 118–199.

[12] Vgl. Schilliger, Sarah: Globalisierte Care-Arrangements in Schweizer Privathaushalten, in: Nadai, Eva/Nollert, Michael (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse im Post-Wohlfahrtsstaat, Weinheim/Basel 2015, S. 161 f.

[13] Da das Arbeitsgesetz auf private Haushaltungen keine Anwendung findet und von den kantonalen Normalarbeitsverträgen durch schriftliche Vereinbarung abgewichen werden kann, gibt es für Arbeitsverhältnisse in der 24-h-Betreuung hinsichtlich der Arbeits- und Ruhezeiten bisher keine rechtlich verbindlichen Vorgaben.

[14] Vgl. Beispiele aus den USA in: Benz, Martina: Zwischen Migration und Arbeit. Worker Centers und die Organisierung prekär und informell Beschäftigter in den USA, Münster 2014.

[15] Folbre, Nancy: The Invisible Heart: Economics and Family Values, New York 2001.

[16] Schweizer Eidgenossenschaft/Department für Wirtschaft, Bildung und Forschung: Rechtliche Rahmenbedingungen für Pendelmigration zur Alterspflege, 16.3.2012, unter: www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/39176.pdf.

[17] Vgl. Aust u. a.in diesem Heft

Sarah Schilliger ist Soziologin und Oberassistentin am Lehrstuhl für Soziale Ungleichheit, Konflikt- und Kooperationsforschung an der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migrations- und Grenzregime-Forschung, Arbeitssoziologie und Care-Ökonomie. Sie ist u.a. aktiv bei Kritnet - Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-sind-doch-keine-sklavinnen

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung via flickr / Fotografin: Nate Pischner / CC BY 2.0

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Im Sommer 2013 gründeten polnische Care-Arbeiterinnen mit Unterstützung der Dienstleistungsgewerkschaft Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) in Basel das Netzwerk Respekt@vpod. Sie hatten sich zusammengefunden, um auf ihre prekären Arbeitsverhältnisse aufmerksam zu machen und für Arbeitsrechte, Respekt und ein Leben in Würde einzustehen. Diese Form lokaler Selbstorganisierung von Hausarbeiterinnen hat für den deutschsprachigen Raum Vorbildcharakter: Die Aktivistinnen von Respekt@vpod betreten neue Wege der Organisierung in einem Arbeitsfeld, das meist unsichtbar bleibt und als unorganisierbar gilt, gleichzeitig aber für die gesellschaftliche Organisation von Sorge- und Pflegearbeit zentrale Bedeutung hat. Die Frauen in Basel haben es geschafft, aus ihrem Status als «Objekte», über die politisch verhandelt wird, herauszutreten und eigene Artikulationsformen zu entwickeln. Damit haben sie auch den Gewerkschaften gezeigt, wie neue Formen und Strategien der Organisierung von prekär Beschäftigten aussehen könnten.

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Ziemlich beste Freunde? Bündnisse zwischen Pflegenden und Gepflegten in den USA

Juni 2013

Bild: Raychan / Unsplash

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Pflege, Hausarbeiterinnen, Organisierung, Gewerkschaft, Migration#Pflege #Hausarbeiterinnen #Organisierung #Gewerkschaft #Migration

Auf einer Versammlung im Februar in New York wurden zunächst persönliche Geschichten erzählt. Jede dieser Geschichten rief Erinnerungen wach: an die Pflege des Großvaters, der einen Schlaganfall erlitten hatte, oder an das Kindermädchen, das es der Mutter ermöglichte zu studieren. Wir alle haben solche Geschichten. Was wir aber in der Regel nicht haben, sind genaue Vorstellungen davon, was wir eigentlich tun würden, sollte eine geliebte Person pflegebedürftig werden oder gar uns selbst etwas zustoßen. Wir haben keinen Plan – aber unsere Regierung hat auch keinen. Und das, wo wir ganz offensichtlich auf eine Krise zusteuern. Die Generation der Baby-Boomer altert, 2010 wurde in den USA alle acht Sekunden jemand 65. Diese so genannte Alterswelle entpuppt sich eher als Tsunami.

In dem Maße, wie die ökononomische Situation für viele Familien schwierig wird, steigt die Zahl derjenigen, die auf langfristige Pflege angewiesen sind, geradezu sprunghaft an: Waren es im Jahr 2000 noch 13 Millionen, so sollen es im Jahr 2050 bereits 27 Millionen sein. Die meisten von uns wollen zuhause gepflegt werden, was auch günstiger ist. Laut dem Nationalverband für Ambulante Pflege und Palliativmedizin, der National Association for Home Care & Hospice, ist ein Tag in einem Pflegeheim viermal so teuer wie zwölf Stunden Pflege im häuslichen Umfeld. Doch die derzeit im Bereich häuslicher Pflege tätigen Arbeitskräfte – etwa zwei Millionen Menschen – können diesen Bedarf bei Weitem nicht decken.

PflegerInnen, die langfristig und gut arbeiten, sind rar. Die Gründe liegen auf der Hand: Häusliche Pflege ist ein von Frauen dominierter Sektor ohne arbeitsrechtlichen Schutz, ohne Regelungen zu Mindestlöhnen und Überstunden. Vor allem MigrantInnen und BerufseinsteigerInnen sind hier tätig. Als 1938 der Fair Labor Standards Act (FLSA) verabschiedet wurde, galt Pflege als familiäre Aufgabe oder bestenfalls als Möglichkeit, Erwerbslose zu beschäftigen und die Kosten der Arbeitslosenunterstützung zu senken. Im Jahr 2010 betrug der durchschnittliche Stundenlohn für ambulante Pflege 9,40 US-Dollar. Das durchschnittliche Jahreseinkommen dieser Beschäftigtengruppe belief sich laut einer Umfrage des Paraprofessional Healthcare Institute (PHI) im Jahr 2009 auf 15 611 US-Dollar. Mehr als die Hälfte dieser Pflegekräfte lebt in einem Haushalt, der auf staatliche Transferleistung angewiesen ist. Häusliche Pflege ist zwar zu einem profitorientierten Wirtschaftszweig geworden, in dem jährlich 84 Milliarden US-Dollar umgesetzt werden – die Pflegekräfte sind jedoch weitgehend schutzlos.

»Organisiert Euch!«, könnte man sagen. Und genau das hat Caring Across Generations vor. Ai-jen Poo, Kodirektorin der Kampagne und Leiterin der National Domestic Workers Alliance, begann sich angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise mit Pflegefragen zu beschäftigen: »Wir haben uns Folgendes gedacht: Es gibt eine Beschäftigungskrise und es gibt eine Pflegekrise. Lasst uns also Millionen hochwertiger Arbeitsplätze im Bereich häuslicher Pflege schaffen. Davon profitieren nicht nur die PflegerInnen, sondern auch die Pflegebedürftigen. Und: Das Thema betrifft uns alle.« Es gibt da nur ein Problem. In manchen Bundesstaaten wurden zwar einige Lohn- und Arbeitszeitregelungen auf häusliche Pflegekräfte ausgeweitet, doch auf Bundesebene gibt es kein Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder Tarifverhandlungen zu führen. Es gibt nicht einmal ein richtiges Kollektiv, das solche Verhandlungen führen könnte: Die Pflegekräfte sind im Haushalt isoliert, an einem Arbeitsplatz, an dem ­Frauen – wie Friedrich Engels es einmal ausgedrückt hat – im Namen der ›Sorge‹ entweder offen oder verdeckt ›versklavt‹ werden. Poo und ihre GenossInnen lassen sich davon nicht entmutigen. Sie gehen zunächst gegen die Isolation vor, die die Organisierung einer so fragmentierten Arbeiterschaft schwer macht. Sie versuchen Netzwerke aufzubauen und so einen Erfolg überhaupt erst möglich zu machen.

Im vergangenen Juli organisierte Poo gemeinsam mit Sarita Gupta, der Geschäftsführerin von Jobs With Justice, im Washingtoner Hilton eine landesweit beworbene Veranstaltung, um die Caring-Across-Generations-Kampagne zu lancieren. Auf der Bühne saßen dicht gedrängt Pflegekräfte, RentnerInnen und Menschen mit Behinderung – überwiegend Frauen. Fast alle von der Pflegekrise betroffenen Bevölkerungsgruppen waren dort, entschlossen, das Problem in Angriff zu nehmen. Das Bündnis umfasste das gesamte Spektrum von Stadtteilinitiativen und Arbeiterorganisationen, von den Dienstleistungsgewerkschaften AFSCME und SEIU über 9 to 5, den Bund Pensionierter Amerikaner (Alliance of Retired Americans) und das National Day Laborer Organizing Network bis hin zum Christlichen Verein Junger Frauen (YWCA).

Arbeitsministerin Hilda Solis, Tochter einer Hausangestellten, sprach zu den 700 Anwesenden: »Amerika muss ein Land sein, in dem Pflegende und Pflegebedürftige gleichermaßen ein Recht auf Würde und Respekt haben.« Außer Solis sprachen die Schatzmeisterin des Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO, die Rabbinerin Felicia Sol von der jüdischen Organisation Bend The Arc und Jessica Lehman vom Verband Hand in Hand, in dem sich HausarbeiterInnen gemeinsam mit ihren Arbeitgebern für verbesserte Arbeitsbedingungen einsetzen.

Wie bereits in der Kampagne der National Domestic Workers Alliance versucht Caring Across Generations, Bündnisse zu schließen zwischen ArbeiterInnen und denen, für die diese Arbeit geleistet wird. Es geht darum, dass sich die ArbeiterInnen selbst organisieren, entsprechend wird streng darauf geachtet, dass Wort- und Textbeiträge in mehrere Sprachen übersetzt werden, also alle mitreden können, und dass es bei allen Veranstaltungen eine Kinderbetreuung gibt. Die Kampagne basiert außerdem auf enger Zusammenarbeit der mehr als zweihundert beteiligten Organisationen – keine Gruppe kann sich nur um den für sie besonders wichtigen Teil des Gesamtvorhabens kümmern.

Es geht um ein bundesweites politisches Programm, zwei Millionen neue Arbeitsplätze im Bereich der häuslichen Pflege zu schaffen und arbeitsrechtliche Mindeststandards für die Beschäftigten durchzusetzen: geregelte Arbeitszeiten, Mindestlöhne und ein Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Diese Arbeitsplätze sollen mit Ausbildungs- und Zertifizierungsmöglichkeiten einhergehen, um die Qualität der Pflege anzuheben und um denen, die an den Ausbildungsprogrammen teilnehmen, den Zugang zur Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Poo zufolge sind die Kosten insofern zu bewältigen, als Pflege im häuslichen Bereich ja günstiger ist als im stationären. Poo schlägt außerdem vor, Militärausgaben zu kürzen, Finanztransaktionssteuern einzuführen und die Besteuerung von Unternehmen auszuweiten. »Es kann nicht sein, dass wir unseren Haushalt auf Kosten der Pflegenden und Gepflegten ausgleichen.«

Caring Across Generations setzt sich für die Ausweitung von Medicaid und Medicare[1] ein sowie gegen Kürzungen im Sozial- und Gesundheitswesen. Immer wieder kommt Poo auf Grundsätzliches zu sprechen: auf die Arbeiterbewegung, die Bürgerrechtsbewegung und die Bewegungen für Frauenrechte sowie für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen: »Es geht um Respekt und Würde, nicht bloß für eine Gruppe, sondern für uns alle, als Menschen.« Setzt man die verschiedenen Themenbereiche wieder zueinander ins Verhältnis, stellen sich auch wieder Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Bewegungen her, glaubt Poo. Darin liege ein Potenzial, Machtverhältnisse spürbar zu verändern.

Einen kleinen Erfolg kann Caring Across Generations bereits verbuchen: Teile des Bündnisses hatten einen wichtigen Anteil daran, dass Präsident Obama im Dezember 2011 eine Ausweitung der Überstunden- und Mindestlohnregelungen auf einige zehntausend Hausangestellte ankündigte. Seit dem Sommer 2011 gründen sich im ganzen Land örtliche Care Councils (Pflegeräte). Dort treffen Menschen aus allen Bereichen der Pflege zusammen, um gegen Kürzungen und Angriffe auf Gewerkschaftsrechte zu kämpfen, aber auch für eine bessere Finanzierung der häuslichen Pflege. Die Care Councils bereiten öffentliche Pflegekongresse in wichtigen Städten wie Los Angeles, San Francisco, Dayton, Seattle, San Antonio und New York vor. »Sie gehen auf sehr unterschiedliche Gruppen zu, die oft gegeneinander ausgespielt werden, und sagen: Wir gehen von dem Grundsatz aus, dass wir uns gemeinsam wehren müssen«, sagt Ellen Bravo von Family Values @ Work, einem in mehreren Bundesstaaten tätigen Bündnis, das sich für eine finanzierte Elternzeitregelung sowie für das Recht auf Krankentage einsetzt.

Auf die Frage, warum die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, die landesweit mehr als 500 000 ambulante GesundheitspflegerInnen vertritt, mit Caring Across Generations zusammenarbeitet und sogar zu dem für Februar geplanten Pflegekongress in Seattle aufruft, sagt die Leiterin des Rats für ambulante Pflege (Home Care Council) der SEIU, Abigail Solomon: »Wir haben uns in der Vergangenheit an Initiativen zu Fragen der Migration, der Gesundheitspflege und der ambulanten Pflege beteiligt, aber dabei immer nur zu einem der Punkte gearbeitet. Dieses Bündnis versucht, all diese Aspekte zusammenzudenken und den Gesamtzusammenhang in den Blick zu nehmen. Außerdem erreicht es auch Bundesstaaten wie Texas, in denen ambulante Pflegekräfte dringend mehr Mitbestimmung benötigen. So werden auch lokale und landesweite Bemühungen um gewerkschaftliches Organizing gestärkt.«

Die traditionellen Arbeiterorganisationen scheinen verstanden zu haben, worum es hier geht: Wenn sie in unserer postindustriellen Ökonomie aus ihrer weitgehenden Bedeutungslosigkeit wieder heraus wollen, müssen sie diese ArbeiterInnen organisieren. Ambulante Pflegekräfte sind, nach den EinzelhändlerInnen und den stationären KrankenpflegerInnen, die am drittschnellsten wachsende Beschäftigtengruppe in den USA. Aber die Organizing-Bemühungen kommen nur langsam in Gang und sind oft wenig solidarisch unternommen worden, sodass die Isolation der Gewerkschaften eher noch verstärkt wurde. Ambulante PflegerInnen sind in ein Gespinst aus sozialstaatlichen, gesundheitspolitischen und sozialarbeiterischen Bürokratien verstrickt. Sie werden oft als Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes aufgefasst (vom Staat beschäftigt und über Medicaid bezahlt), zuweilen aber auch als selbständige Honorarkräfte (die für private Agenturen arbeiten), oder aber sie werden vom Kunden direkt angeheuert. Es gibt keine klaren Abgrenzungen, kein Regelwerk, kein Namensverzeichnis, keine als allgemein üblich geltenden Arbeitszeiten, keine Möglichkeit, sich auszutauschen und zu organisieren.

Diese Situation befördert auch Konflikte zwischen den Gewerkschaften. Als 74 000 ambulante Pflegekräfte aus Los Angeles, die meisten von ihnen Latinas, 1999 für den Beitritt zur SEIU stimmten, war dies für die Gewerkschaftsbewegung zunächst ein Grund zum Feiern. Dann aber folgten heftige Grabenkämpfe zwischen der SEIU und der Gewerkschaft der im Öffentlichen Dienst Beschäftigten, der AFSCME; es ging um die Frage, wer die noch unorganisierten PflegerInnen Kaliforniens anwerben und vertreten sollte. Die Frauen von Caring Across Generations haben zuvor genau jene Netzwerke aufgebaut, die traditionelle Gewerkschaften benötigen, wollen sie in diesem Bereich tätig werden. Bevor Sarita Gupta bei Caring Across Generations anfing, koordinierte sie jahrelang die landesweiten Aktivitäten von Jobs With Justice. Es gelang ihr, Bündnisse zu schmieden zwischen selbstorganisierten ArbeiterInnen und traditionellen Gewerkschaften und somit Tarifrechte, die Rechte migrantischer ArbeiterInnen und den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu verteidigen.

Poo wurde zum Organizing-Star, als es der Gruppe Domestic Workers United 2010 gelang, so viele HaushaltsarbeiterInnen, Tagesmütter und UnterstützerInnen zu mobilisieren, dass in New York eine Charta der Rechte von Haushaltsangestellten verabschiedet wurde, die Domestic Workers Bill of Rights (vgl. Poo in LuXemburg 4/2011, 72ff).

Wie Gupta hat Poo immer im Bereich intersektionaler Politik gearbeitet, also dort, wo sich die ›nicht-traditionellen‹ ArbeiterInnen befinden und alle anderen sich hinbewegen. Im Gegensatz zu den großen Gewerkschaften geht es ihnen darum, den langfristigen Aufbau von Verhandlungsmacht ins Zentrum zu stellen. Die National Domestic Workers Alliance ging 2007 aus dem ersten US-amerikanischen Sozialforum in Atlanta hervor. 2010 organisierte das Forum in Detroit ein bahnbrechendes, dreitägiges Treffen von 400 ›marginalisierten‹ ArbeiterInnen – also denen, die nicht unter die Lohn- und Arbeitszeitregelungen des Fair Labor Standards Act fallen: Dazu gehörten TagelöhnerInnen, Haushaltskräfte, TaxifahrerInnen, ehemals inhaftierte ArbeiterInnen und ArbeiterInnen aus jenen Bundesstaaten, von denen die OrganisatorInnen sagen, dass es dort ein »Recht auf schlecht bezahlte Arbeit« gebe. Die damals geführten Diskussionen waren historisch: Es schien, als hätten ArbeiterInnen, die in der old economy randständig waren, begriffen, dass sie mittlerweile zu denen gehören, auf die es in der new economy ankommt. Von ihren KollegInnen ­abgeschnitten, ohne feste Arbeitsstätte, mit willkürlichen Arbeitszeiten und ohne Möglichkeit, kollektive Verhandlungsmacht zu entwickeln, gelang es ihnen nichtsdestotrotz, kreative Bündnisse zu schmieden, die Pioniercharakter aufweisen und spürbare Wirkung entfalten.

Caring Across Generations kann als Prüfstein für das auf den Sozialforen entwickelte Modell angesehen werden, demzufolge die Personen im Mittelpunkt stehen sollten, die von einer bestimmten Situation am stärksten betroffen sind. Sie wissen, wie man sich in diesen Situationen am besten verhält. Auf die Frage, wie auch nur einige der von ihrer Gruppe formulierten Ziele erreicht werden sollen, antwortet Poo in ihrer entwaffnend selbstbewussten und ruhigen Art, dass sie an die unerschütterliche Macht der Liebe glaube. PflegerInnen sind, im Guten wie im Schlechten, Familienangehörige, und damit ist Liebe hier immer auch ein Thema. Dies unterscheidet die Pflege-Problematik vom herkömmlichen Konflikt zwischen ArbeiterIn und ChefIn.

Das Nachdenken über Pflege macht unsere Verletzbarkeit deutlich. Marxistische FeministInnen haben sich heiser geredet darüber, dass hinter jedem rüstigen Helden eine unbezahlte Ehefrau oder eine versklavte Person steht. Doch individuelle Rechte, wie das freie Wahlrecht, waren in den USA stets einfacher durchzusetzen als kollektive, wie das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die Globalisierung, die Automatisierung und ein drei Jahrzehnte währender Angriff der Konzerne auf die Gewerkschaften haben dieses Problem nur verschärft. Mehr AmerikanerInnen als je zuvor sind an ihrem Arbeitsplatz allein und auf sich gestellt – ­ohne Zugang zu einer Gewerkschaft.

Heidi Hartmann vom Caring-Across-Generations-Führungskomitee und dem Institute for Women’s Policy Research stellt fest: »Frauen waren immer Pioniere, diejenigen, die Dinge auf sich nahmen, die niemand auf sich nehmen wollte. Das sind die Jobs, die Frauen bekommen können.« Es gebe keinen Grund, warum Dienstleistungsarbeit wie Pflege nicht auch gute Arbeit werden könne. Die ersten Fließbandjobs waren Frauenjobs, weil Männer sie nicht wollten. Überschüssige landwirtschaftliche Arbeitskräfte zogen in die Textilfabriken, und dank gewerkschaftlicher Organisierung wurden diese Arbeitsplätze eine Zeitlang zu guten Arbeitsplätzen. Unterm Strich werden dafür zwei Dinge nötig sein: eine kulturelle Wende und eine Menge Druck.

Während eines Besuchs in Connecticut lernte ich Erika kennen. Sie ist 56 und leidet an Muskelatrophie. Erika ist eine große Frau, die in einer kleinen Wohnung lebt, und mit ihr lebt Mel, ihre Pflegerin aus Liberia. Eingepfercht und frustriert, ist Erika alles andere als der still vor sich hin leidende Typ. Mel ist also 24 Stunden am Tag an sieben Tagen in der Woche im Einsatz – obwohl sie nur 21 Wochenstunden bezahlt bekommt. Erika lebt von Sozialhilfe. Sie »liebe« ihren »Engel« Mel, könne sich aber keine Vollzeit-Pflegerin leisten. Theoretisch hätte Mel die Möglichkeit, auch noch für andere KundInnen zu arbeiten, doch bei einem Stundenlohn von 12,30 US-Dollar für 21 Wochenstunden kann sie es sich schlicht nicht leisten, Hausbesuche bei anderen Pflegebedürftigen zu machen – es gibt keine Erstattung von Fahrtkosten. Außerdem hat sie nicht die geringste Ahnung, wie sie in der Nähe weitere KundInnen finden könnte. Mel und Erika zogen gemeinsam zum Staatskapitol von Connecticut, um für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung einzutreten. Als ich sie nach ihrer Perspektive frage, fängt die erschöpfte Mel an zu weinen. »Ich unterstütze die Gewerkschaft«, sagt sie. »Aber ich sehe nicht, wie sie mir helfen kann. Ich sitze in der Falle.«

Was kann die Gewerkschaft Mel bieten? In mehreren Bundesstaaten haben Gewerkschaften beispielsweise ein Verzeichnis potenzieller KundInnen angelegt – Menschen wie Mel (und Erika) brauchen aber noch mehr. Sie brauchen alles, von kostenloser, qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung über bezahlbaren, gesundheitsverträglichen Wohnraum bis hin zu verlässlichem öffentlichen Nahverkehr. Und wie wäre es mit günstigen, robusten Smartphones, damit ArbeiterInnen den Kontakt zu ihren Anwälten und zueinander halten können? Mel hat eine Stimme, und sie hat eine Geschichte zu erzählen, aber sie braucht Macht, um die Bedingungen, unter denen sie lebt, zu ändern. Wird Caring Across Generations ausreichend Macht entwickeln, um einen weitreichenden Wandel voranzutreiben? »Gewerkschaften und Bewegungen haben so etwas wie einen Lebenszyklus«, sagt Poo. »Und diese Bewegung steckt noch in den Kinderschuhen. Ich glaube, dass wir unbegrenzte Möglichkeiten haben, weil wir tatsächlich die 99 Prozent vertreten – vielleicht sogar die 100 Prozent.«

Der Text erschien zuerst in The Nation, 30.4.2012. Aus dem Amerikanischen von Max Henninger.

Anmerkungen

[1] Medicaid ist ein 1965 eingeführtes Gesundheitsfürsorgeprogramm in den USA. Anspruchsberechtigt sind Menschen mit geringem Einkommen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Medicare ist die öffentliche Krankenversicherung in den USA. Sie gilt einzig für Bürger ab dem 65. Lebensjahr und Behinderte. Anm. d. Red.

Laura Flanders hat in ihrem Leben viele Radio und TV-Shows moderiert. Ihre Artikel – häufig zu feministischen Themen – erscheinen in The Nation und anderswo. In ihrem Buch »Bei der Tea-Party« wird klar, warum die Rechte in den USA zwar ernstzunehmen ist, die eigentliche Bedrohung aber von der Schwäche der Linken ausgeht. Anlässlich der One-Billion-Rising-Kampagne gegen geschlechtsspezifische Gewalt rief sie auf, nun auch das Schweigen über die alltägliche Gewalt neoliberaler Arbeitsverhältnisse zu brechen.

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/ziemlich-beste-freunde-buendnisse-zwischen-pflegenden-und-gepflegten-in-den-usa

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Die Kampagne Caring Across Generations zielt auf eine völlige Umkehr der Art und Weise, wie – US-AmerikanerInnen über sich selbst und andere, über Arbeit und Ökonomie denken. Es geht darum, zwei Millionen hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen und uns allen einen glücklichen und gesunden Lebensabend zu bescheren. Wie das gehen soll, lässt sich nur verstehen, wenn wir zunächst über Pflege sprechen – und zwar laut und deutlich.

Bild: Raychan / Unsplash

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