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#Selbstverwaltung #Feminismus
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Im Stadtteil Pikine Est der senegalischen Hauptstadt Dakar konnten Frauen mit Unterstützung des kommunalen Bürgermeisters ein Haus der Frauen gründen. In einer Stadt, wo es nur wenig Wohnraum gibt, bleibt für Frauen kaum Platz. Das bedeutet auch, dass Frauen keinen Ort haben, um Seifen herzustellen, zu schneidern oder andere Jobs zu verrichten, die sie brauchen, um ihr täglich Brot zu finanzieren. Das „Maison de femme“ bietet den Frauen des Stadtteils genau so einen Ort. Schnell wurden weitere Bedarfe erkannt und so kamen mit der Zeit eine Kita, Rechtsberatung und eine selbstorganisierte Gesundheitsversicherung hinzu. Auch wenn es an Geld und Material mangelt, ist das Haus der Frauen doch ein wichtiger Ort, wo Frauen sich organisieren und ihren Bedürfnissen nachgehen können.

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LUX.local: Rekommunalisierung

Podcast

Dezember 2021

Rekommunalisierung, Krankenhaus, Wohnen, Krise, Selbstverwaltung, Gewerkschaft#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

Auf der RLS-Webseite hören: rosalux.de/mediathek/media/element/1698

Auf Soundcloud hören: soundcloud.com/rosaluxstiftung/luxlocal-2-rekommunalisierung

Der Podcast beginnt zuerst mit einem Blick auf die politischen Entwicklungen in Österreich: Ende September 2021 wurde die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) die stärkste Partei bei den Gemeinderatswahlen in Graz und stellt nun mit Elke Kahr auch die Bürgermeisterin. Hanno Wisiak aus Graz berichtet über den Weg zu diesem Erfolg, die Themen der KPÖ vor Ort und über ihre Rolle in der Kommunalpolitik Österreichs. Im Anschluss dreht sich alles um Rekommunalisierung

Dr. Vera Weghmann verrät, ob sie insgesamt einen Trend zur Rekommunalisierung sieht und was die wichtigsten Erkenntnisse aus ihrer Arbeit an der neuen Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung» sind.

Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand von zwei ganz konkreten Beispielen: In den Kliniken in Nürnberg und Ingolstadt wurden Teile des Personals in privatrechtlich organisierte Servicegesellschaften (aber in öffentlicher Hand) ausgelagert und seitdem noch unterhalb der üblichen Pflegetarife in Krankenhäusern bezahlt. Die beiden Kommunalpolitiker*innen erzählen vom gemeinsamen Kampf von Personal und Gewerkschaften und davon, wie es gelingen kann, dass auch das Servicepersonal wieder tariflich bezahlt wird.

Die Gäste:

Hanno Wisiak arbeitet in der Öffentlichkeitsarbeit der KPÖ im Grazer Rathaus. Er ist Büroleiter des kommunistischen Gesundheitsstadtrats Robert Krotzer und ist derzeit stellv. Bezirksvorsteher des dritten Grazer Bezirks Geidorf. Er ist außerdem Mitglied des Landesvorstands und der Programmkommission der KPÖ Steiermark in Österreich.

Vera Weghmann ist die Autorin der neuen Broschüre „Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung“ der RLS. Sie arbeitet für Public Services International Research Unit (PSIRU) an der University of Greenwich in London. Die Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind öffentliche Dienstleistungen, Privatisierung und Rekommunalisierung sowie Arbeitspolitik und Gewerkschaften. Vera ist Co-Gründerin der unabhängigen Gewerkschaft United Voices of the World.

Kathrin Flach-Gomez ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Nürnberg und außerdem Landessprecherin der Partei DIE LINKE in Bayern.

Eva Bulling Schröter ist Stadträtin der Partei DIE LINKE in Ingolstadt und war zuvor Bundestagsabgeordnete für die PDS und DIE LINKE sowie bis 2020 Landessprecherin der Partei in Bayern.

Links und Hinweise zur Sendung:

Rekommunalisierung

Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung. Broschüre von Dr. Vera Weghmann

Rekommunalisierungen in Thüringen — Chancen und Risiken. Von Frank Kuschel für DIE THÜRINGENGESTALTER - Kommunalpolitisches Forum Thüringen e.V.

Klinikum zurück in die öffentliche Hand? Rechtsgutachten zu den rechtlichen Möglichkeiten einer Rücküberführung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg in öffentliches Eigentum. Von Joachim Wieland

Für starke Kommunen mit leistungsfähigen Betrieben in öffentlicher Hand. - Ein Leitfaden zur Rekommunalisierung  

Darüber hinaus

 Linke Akteure in den Städten und Gemeinden Zum Zustand der Demokratie und zur Rolle der Partei auf kommunaler Ebene. Von Katrin Nicke

Sammlung einführender Literatur und Websites zu Rekommunalisierung

Krise der Privatisierung – Rückkehr des Öffentlichen, Mario Candeias, Rainer Rilling, Katharina Weise (Hrsg.)

Von R wie Rettungspakete zu R wie Rekommunalisierung. Von Julia Dück

Es gibt viel zu tun – packen wir´s an - Der Erfolg von «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» ist erst der Anfang. Von Stefan Thimmel und Armin Kuhn

#Rekommunalisierung #Krankenhaus #Wohnen #Krise #Selbstverwaltung #Gewerkschaft

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«Lux.local» ist der Kommunalpodcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Katharina Weise. In dieser Folge von «Lux.local» dreht sich alles um das Thema Rekommunalisierung. Dazu wird zuerst erklärt, was Rekommunalisierung, Daseinsvorsorge und Privatisierung bedeutet. Im Anschluss sind folgende Interviewgäste zu hören: Dr. Vera Weghmann, Autorin der Broschüre «Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung», sowie Kathrin Flach-Gomez und Eva Bulling Schröter. Die beiden Stadträtinnen erklären die Möglichkeiten von Rekommunalisierung anhand konkreter Beispiele.

  • #Rekommunalisierung
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Welchen Beitrag leisten Genossenschaften zur gesellschaftlichen Transformation? Sind sie ein Baustein im Prozess hin zur Überwindung kapitalistischer Verhältnisse? Ein «dritter Weg» zwischen Privateigentum und Vergesellschaftung? Oder sind sie Wohlfühlinseln, die die Verhältnisse stabilisieren, anstatt sie zu verändern?

Der erste Teil (Kapitel 1 bis 3) der Broschüre beschreibt, welche Prozesse in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen haben, dass sich viele Genossenschaften von ihrer Ursprungsidee entfernt haben. Im zweiten Teil (Kapitel 4 bis 6) wird beleuchtet, worin trotz alledem die Potenziale der Genossenschaften bestehen und welche Rahmenbedingungen nötig sind, damit ihre gemeinwirtschaftliche Funktion wieder zum Tragen kommen kann. Eines ist dabei klar: Diese Veränderungen können nicht «von oben» verordnet werden, sondern müssen durch aktive Mitglieder in den Genossenschaften und auf der Straße – gemeinsam mit den stadtpolitischen Initiativen – erkämpft werden. Darum gibt der abschließende Teil Hilfestellungen, wie Mitglieder in Genossenschaften aktiv werden können (Kapitel 7).

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Reichtum des Öffentlichen

Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht

August 2020

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

Foto: Mariel Reiser / Unsplash

Rekommunalisierung, Krise, Wohnen, Krankenhaus, Mobilität, Migration, Pflege, Feminismus, Alternativen, Selbstverwaltung, Organisierung#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen beinharte Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor. Die Unternehmen versuchen, ihre Verluste zu sozialisieren. Nach den öffentlichen Schulden drohen eine Neuauflage von Austeritätspolitiken ebenso wie neue Angriffe der Arbeitgeberseite.

Die Verteidigung des Sozialstaats geht also in eine neue Runde. Doch sie sollte nicht als Abwehrkampf geführt werden, als ein Versuch, das Bedrohte zu konservieren. Stattdessen ist es Zeit, den Sozialstaat gründlich zu erneuern und seine alten Fehler zu beheben. Doch wie sieht ein Sozialstaat aus, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist? Wie lässt sich verhindern, dass sich die Spaltung der Subalternen weiter vertieft? In Krisen drohen die Kapitalfraktionen ihre Spielräume auf Kosten der Lohnabhängigen zu erweitern. Wie kann eine Alternative dazu aussehen? Und wo wird jetzt schon dafür gekämpft?

Krise an zwei Fronten

Bisher war die Finanzierung des Sozialstaates an wirtschaftliches Wachstum gebunden. In einem hart erkämpften historischen Klassenkompromiss wurden Sozialleistungen auf der Grundlage stetigen Wachstums finanziert und schrittweise ausgebaut. Dies war ein Kompromiss, der lange nicht zulasten der Profite ging. Als die Profitrate zu fallen begann, wurde er mit der neoliberalen Offensive seit Beginn der 1980er Jahre einseitig aufgekündigt. Der Sozialstaat geriet mehr und mehr unter Druck. Angesichts von Globalisierung und Transnationalisierung galt ein starker Sozialstaat als Negativfaktor im internationalen Wettbewerb (auch wenn inzwischen im Sinne des „social investment state“ eine produktivistische Neuorientierung erfolgt ist; vgl. Dowling 2016). Die Begründung: Unter dem Kostendruck der Konkurrenz könnten eben nicht alle Wohltaten finanziert werden. Nach und nach wurden die Systeme sozialer Sicherung ausgehebelt und neoliberal umgebaut. Mit dem sogenannten New Public Management gerieten betriebswirtschaftliche Kriterien zum Maßstab des Handelns auf sämtlichen Feldern des Sozialsystems (vgl. Wohlfahrt 2015).

Seitdem kriselt der Sozialstaat an zwei Fronten: Einerseits haben Jahrzehnte der neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik den Bereich sozialer Infrastrukturen und öffentlicher Dienste finanziell und personell ausgezehrt – vom Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Bereich über die Wohnraumversorgung bis hin zu Kultur und Mobilität. Es fehlt an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, aber auch an Verwaltungspersonal, Steuerprüfer*innen oder Planer*innen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beziffert die Lücke schon jetzt auf über eine Millionen Arbeitskräfte und bei weiter dynamisch wachsendem Bedarf auf bis zu vier Millionen (Ötsch u.a. 2020).

Andererseits führte die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu einem längst überwunden geglaubten Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut.[1] Die Ursachen sind vielfältig und hängen doch zusammen: Deregulierung der Arbeitsmärkte und endemische Ausbreitung von Niedriglöhnen und unfreiwilliger Teilzeit, Privatisierung und Ausdünnung der sozialen Infrastrukturen, steigende Mieten sowie eine ungerechte Besteuerungspolitik, die hohe Einkommen sowie große Vermögen begünstigt. In der Folge sehen sich Millionen Menschen mit unsicheren Zukunftsaussichten konfrontiert: Aufgrund von Arbeitslosigkeit, aufgrund von Soloselbständigkeit oder Mini- und Midi-Jobs erwerben immer weniger Menschen ausreichende Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen – unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen. Aber selbst dann, wenn Ansprüche bestehen, reicht das Leistungsniveau oftmals nicht länger für ein Leben ohne Armut. Mit Niedriglöhnen oder erzwungener Teilzeit lässt sich keine vernünftige Rente erwirtschaften oder gar privat vorsorgen. Für große Teile der Bevölkerung bieten die bestehenden Sicherungssysteme keine Perspektive mehr – das Sicherungsversprechen des Sozialstaates verliert an Glaubwürdigkeit und muss grundlegend erneuert werden.

Kein Zurück zum „alten“ Sozialstaat

Wer den Sozialstaat erhalten will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sich seine Gestalt wandeln muss. Um für die neu zusammengesetzte Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts attraktiv zu sein, muss das Konzept von Sozialstaatlichkeit erweitert und verändert werden. Dazu gilt es, linke Kritiken an seiner bisherigen Verfasstheit aufzunehmen.

Der Sozialstaat war immer gekoppelt an spezifische Produktions- und Lebensweisen, an ein bestimmtes Geschlechterregime und an das damit verbundene Modell von Erwerbsarbeit und Reproduktion. Feminist*innen haben die Norm des männlichen Alleinverdieners im fordistischen Wohlfahrtsstaat kritisiert. Soziale Absicherung ist darin an (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit und an eine weitgehend lückenlose Erwerbsbiografie gebunden. Gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, die historisch an Frauen delegiert und in den Verantwortungsbereich der privaten Haushalte verlagert wurde, erfährt weder Anerkennung noch soziale Absicherung. Damit ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit systematisch in das fordistische Wohlfahrtssystem eingeschrieben. Es verstärkt zudem mit seinem patriarchalen Familienmodell die Abhängigkeit von Frauen und benachteiligt queere Menschen. Obgleich sich die Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse inzwischen deutlich gewandelt haben, bleiben die Verkopplung von sozialer Absicherung und Erwerbstätigkeit sowie die Privilegierung eines heteronormativen Ehe- und Familienmodells bestehen. Deswegen: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Erneuerung des Sozialstaates.

Die meisten Leistungen des Sozialstaates sind außerdem an nationale Zugehörigkeit gebunden. Es profitieren von ihnen nur diejenigen, die über eine bestimmte Staatsbürgerschaft verfügen oder über die offizielle Lohnarbeit sozialversichert sind. Geflüchtete, Personen im Asylverfahren und insbesondere Illegalisierte haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, obwohl Letztere in Sektoren wie Hausarbeit, Pflege, Bau, Landwirtschaft, Sexarbeit, Hotellerie, Gastgewerbe oder Reinigungsgewerbe einen elementaren Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung leisten (vgl. Behr 2010). Über das Aufenthaltsrecht wird migrantische Arbeit abgewertet, viele sind gezwungen, besonders schlechte Löhne und unsichere Bedingungen zu akzeptieren, was sich nicht nur in geminderten Leistungsansprüchen niederschlägt, sondern außerdem eine gesellschaftliche Aufwertung der genannten Arbeiten (Hausarbeit, Pflege etc.) erschwert. Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse werden dadurch verschärft.

Aber auch auf Migrant*innen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wirkt sich der bestehende Sozialstaat diskriminierend aus. Sie leiden besonders häufig unter unterbrochenen Erwerbsbiografien und Phasen informeller, schlechter bezahlter oder generell prekärer Beschäftigung, was geringere Anwartschaften zur Folge hat. Nicht erst angesichts wachsender Migrationsbewegungen muss diese Selektivität des Sozialstaats in Bezug auf die nationale Herkunft überwunden werden. Es bedarf hier einer grundlegenden Erneuerung, um ihn für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Eine große Aufgabe.

Die linke Kritik am fordistischen Sozialstaat hat schließlich deutlich gemacht, dass er – trotz seiner zweifellos positiven Funktion der Absicherung und Umverteilung – auch paternalistische Züge trägt und zur Passivität anhält. Das bürokratische, starre und auf Kontrolle orientierte Hilfesystem ist nicht nur an bestimmte Erwerbsmodelle und Lebensformen gebunden, sondern wirkt an vielen Stellen entmündigend. Der Ausschluss vieler Leistungsempfänger*innen von gesellschaftlicher Teilhabe wird so – trotz sozialer Abfederung – letztlich fortgeschrieben.

Zwar sind etliche, von Luc Boltanksi und Ève Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnete Einwände der neuen Linken später vonseiten neoliberaler Gegner*innen des Sozialstaats aufgenommen und entsprechend enteignet worden. Dennoch steckt hier ein für linke Zukunftsentwürfe unhintergehbarer Impuls: Ein Zurück zu den korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats des 20. Jahrhunderts ist keine Alternative, nicht nur wegen gewandelter Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse, sondern auch wegen seines ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Mit einer Erneuerung sozialer Sicherungssysteme ist darum auch die Aufgabe ihrer grundlegenden Demokratisierung verbunden.

Wo die Herausforderungen liegen

Die sozialen Sicherungssysteme stehen vor mehreren neuen Herausforderungen, die mit alten Konzepten nicht gelöst werden können.Sozial "abgehängte" Räume: Die Folgen der Erosion des Sozialstaates zeigen sich besonders prägnant auf der sozialräumlichen Ebene. Soziale Ungleichheit verschärft sich und dokumentiert sich zunehmend in Postleitzahlen, teils entstehen „abgehängte" Räume mit extrem lückenhafter Infrastruktur in benachteiligten Vierteln der Städte und in peripheren Zonen jenseits der Städte. Das trifft am stärksten marginalisierte Gruppen und erzeugt Konkurrenz um bereits knappe Ressourcen. Rechte Sicherheits- und Ordnungsdiskurse, die die Bedrohung einer vermeintlich homogenen Lebensweise der Einheimischen heraufbeschwören, können hieran anschließen. Da ein Großteil der Sozialleistungen von den Kommunen erbracht wird, wachsen zudem die sozialräumlichen Disparitäten zwischen Städten und Regionen.

Krise der Reproduktion: Das fordistische Geschlechter-, Reproduktions- und Familienmodell hat sich stark verändert – ohne dass jedoch Geschlechteregalität oder soziale Rechte für alle erreicht wurden. Heute dominiert nicht länger das Alleinernährer-, sondern das sogenannten Adult-Worker-Modell. Der Zwang, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, trifft nun alle gleichermaßen und verändert auch das Sorgeregime. Zwar werden immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die früher fast ausschließlich privat und unentgeltlich geleistet wurden, heute auch als Erwerbsarbeit erbracht – dies gilt etwa für Pflege und Erziehungsarbeit. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge werden die öffentlichen Angebote jedoch massiv ausgedünnt, was Überlastung, Stress und Erschöpfung zur Folge hat. Care-Arbeit ist auch als Lohnarbeit immer noch mehrheitlich eine Domäne von Frauen und Migrant*innen und wird somit deutlich schlechter bezahlt als andere Tätigkeiten. Ohne Geschlechtergerechtigkeit und ohne ein Ende der Abwertung von migrantischer Arbeit kann es also keine Erneuerung des Sozialstaates geben.

Die Zunahme bezahlter Sorgearbeit und ihre zunehmend privatwirtschaftliche Organisierung wirft auch die Frage neu auf, wo die Grenzen einer kapitalistischen Inwertsetzung von Fürsorge liegen. Ausgehend hiervon ist auch zu klären, ob nicht wichtige gesellschaftliche Aufgaben dem Markt gänzlich entzogen werden müssen, ob und inwieweit also eine Vergesellschaftung oder auch Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge notwendig ist.

Migration: Mit der Zunahme weltweiter Migration stellt sich die alte Frage nach dem Zugang zu bis dato vor allem nationalstaatlich organisierten Sicherungssystemen neu. Die Gesellschaften des Nordens sind noch stärker als bisher zu Einwanderungsgesellschaften geworden. Eine Abschottung gelingt nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche wie dem Anspruch nach Solidarität und Antirassismus. Ein in erster Linie als Versicherungssystem konzipierter Sozialstaat setzt allerdings jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anwartschaften voraus, die mit einer gestiegenen Bewegungsfreiheit und globaler Migration kaum kompatibel sind. Der Ausschluss vieler migrantischer Arbeitskräfte von sozialen Sicherungsleistungen ermöglicht die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sozialstaatliche Rechte müssen deswegen neu gedacht und von einem restriktiv regulierten Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht sukzessive gelöst werden.

Globale Ungleichheit: Das Einkommensgefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern hat zwar über die letzten Jahrzehnte abgenommen. Dies liegt aber vor allem am Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren wie China oder Südkorea oder von sogenannten Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Indien. Andere Länder sind im Prozess neoliberaler Globalisierung weiter zurückgefallen. Krieg und Zerstörung, Ressourcenausbeutung, unfaire Handelsabkommen, ungerechte weltwirtschaftliche Beziehungen und eine Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung in globalen Produktionsketten zerstören die Lebensperspektiven von Millionen. Die dadurch verursachte Ausbeutungsdynamik zwischen Nord und Süd wirft die Frage nach der Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen in den reichen Ländern mit besonderer Schärfe auf. Gleichzeitig hat die Schere zwischen Arm und Reich auch in den wohlhabenderen Gesellschaften ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung selbst. Die wachsende Ungleich unterminiert damit die Fundamente des sozialen Gewebes.

Klimakrise: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme klassenspezifischer Ungleichheiten und einem drastisch steigenden CO2-Ausstoß. Der Anteil, den die Reichen an den weltweiten Emissionen haben, wächst überproportional stark, während der Anteil der Ärmsten rückläufig ist. Dieses Missverhältnis gilt generell auch für die einzelnen Gesellschaften (Kleinhückelkotten u.a. 2016). Mehr Gleichheit ist also nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen notwendig.Die Folgen kapitalistischen Wachstums haben zu einer planetarischen ökologischen Krise geführt, die weitere soziale Verwerfungen sowie eine Zuspitzung der Reproduktionskrise und zunehmende Migrationsbewegungen nach sich zieht und immer mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Damit sind diese Entwicklungen zu nicht mehr hintergehbaren Herausforderungen auch für unser Verständnis von Sozialstaat geworden. Zugleich wird deutlich: „Der Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet“ (Urban). Wenn solidarische Formen der Krisenbearbeitung nicht durchgesetzt werden können und es nicht zu einer Umverteilung von Ressourcen sowie zu einer Verallgemeinerung sozialer Rechte kommt, sind eine Zunahme von Verteilungskonflikten und eine Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse absehbar.

Damit geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Sie betrifft die kommunale, nationale und transnationale Ebene. Doch um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss der Sozialstaat auch finanziert werden. Angesichts der ökologischen Krise kann dabei nicht umstandslos an die Tradition des sozialstaatlichen Kompromisses auf Basis von noch mehr Wachstum angeknüpft werden. Einerseits müssen Unternehmen und Vermögende deutlich stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Andererseits muss das Verhältnis von Steuern und Beiträgen neu austariert werden, um die Abhängigkeit einer sozialen Absicherung von der Erwerbsarbeit zu überwinden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden.

Soziale Infrastrukturen: kostenfrei und demokratisch

Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können. Das zeigt sich auch in den Diskussionen um die Zukunft sozialer Absicherung und die Perspektiven des Sozialstaats im 21. Jahrhundert. Was also wären positive Entwürfe, die die Anliegen der vielfältigen Bewegungen des Protests bündeln könnten? Von den zunehmenden Arbeitskämpfen insbesondere im Bereich Pflege und Erziehung über die Mietenproteste, die Anti-Privatisierungs-Bündnisse bis hin zu den neuen antirassistischen Protesten und der Klimabewegung: Wie könnten gemeinsame Forderungen aussehen, die die unterschiedlichen Anliegen einer pluralen Linken und verschiedenen Teilen der Subalternen aufnehmen und sinnvoll miteinander verbinden?Seit einigen Jahren dreht sich die Debatte – angestoßen von einem Diskussionszusammenhang rund um Joachim Hirsch (2003) und das Frankfurter links-netz (2012) – verstärkt um die Bedeutung sozialer Infrastrukturen als Teil einer postneoliberalen Sozialpolitik. Der Ansatz stellt die sozialen Dienstleistungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Transformation. Nach vielen Jahren neoliberaler Politiken ist hier zum einen der Mangel besonders offensichtlich, zum anderen ist dies der einzige Sektor, der in den Industrieländern ein beträchtliches (klima- und ressourcenneutrales) Beschäftigungspotenzial verspricht.

Statt also Sozialleistungen wie bisher nur über einen Mix aus Versicherungsmodellen und steuerfinanzierten Ansprüchen jeweils individuell abzusichern, besteht die Idee, „soziale Infrastrukturen“ zum Kern eines neuen Sozialstaats zu machen darin, soziale Dienstleistungen konsequent auszubauen und für alle frei – also auch entgeltfrei – zugänglich zu machen. Das betrifft die Gesundheitsversorgung genauso wie den Bereich der (Weiter-)Bildung, der Erziehung und Betreuung, das Recht auf bezahlbares Wohnen und auf Mobilität genauso wie den Zugang zu Energie, Trinkwasser oder zum Internet. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt also – anders als etwa bei einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht primär auf der monetären Absicherung des individuellen Konsums, sondern auf dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, also auf dem kollektiven Konsum.[2]

Alles entgeltfrei? Ja und nein. Vorstellbar wäre beispielsweise, auf allen genannten Feldern eine entgeltfreie Grundversorgung zu ermöglichen und für die Befriedigung darüber hinaus gehender individueller Bedürfnisse, Vorlieben oder Leidenschaften die Menschen ganz oder teilweise bezahlen zu lassen. Für den Bereich der Energieversorgung, die ein modernes menschliches Grundbedürfnis darstellt, würde das Folgendes bedeuten: Die Grundversorgung ist im Rahmen sozialer Infrastrukturen abgedeckt. Wer mehr Energie verbraucht, zahlt dafür, und Vielverbraucher zahlen deutlich mehr, der Preis steigt also progressiv an. Dieses Prinzip ist auf unterschiedliche Bereiche anwendbar (vgl. Schachtschneider/Candeias 2013): Zur Kasse gebeten wird, wer viel verbraucht. Das hieße ein entgeltfreies Pro-Kopf-Trinkwasserkontingent, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen und Luxusautos; entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, die Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle gebührenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, (dauerhaftem) sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums, Vergesellschaftung großen Immobilienbesitzes und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.

Ein solches Konzept wäre nicht nur ein Beitrag zum Abbau von sozialen Ungleichheiten, sondern auch ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise. Investitionen in soziale Dienstleistungen sind ökologisch sinnvoll, da die Arbeit mit Menschen kaum Umweltzerstörung mit sich bringt und deren Ausweitung neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet auch als Ausgleich für die Jobs, die in den rückzubauenden Bereichen klimaschädlicher Industrien verloren gehen werden. Dieser Ansatz hilft nicht nur bei der Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit, sondern auch bei der der (unbezahlten) Reproduktion. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen wird professionelle Care-Arbeit aufgewertet und erhält zusätzliche Ressourcen. Zugleich lässt der Erwerbsdruck nach, da die Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse garantiert ist. Damit steht mehr Zeit für Sorge und Selbstsorge sowie für die Arbeit am Gemeinwesen und politisches Engagement bereit. Nicht zuletzt bietet sich hier auch eine Chance, die für die emanzipative Gestaltung von Geschlechterverhältnissen genutzt werden kann: Der Blick wird stärker auf die reproduktiven Funktionen und Tätigkeiten gerichtet: Was erhält und sichert unser gemeinsames Leben? Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die stärkere Entkopplung der sozialen Teilhabe vom Erwerbsstatus und von der Lebens- oder Familienform – also individuelle Ansprüche für jede und jeden, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft.

Der Ausbau sozialer Infrastrukturen stärkt auch eine solidarische und demokratische Gesellschaft, denn Angst und Unsicherheit vor den notwendigen gesellschaftlichen Umbrüchen werden gemindert. Zugleich erscheinen die diskriminierenden Sozialstaatskonzepte der Rechten weniger attraktiv, wenn Marginalisierung, Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit bekämpft werden. Das Konzept sozialer Infrastrukturen erlaubt es also nicht nur, linke Sozialpolitik jenseits des fordistischen Wohlfahrtstaates neu zu denken. Die Forderung nach einer entgeltfreien, sozialökologischen Grundversorgung für alle, die hier leben (unabhängig von Pass, Geschlecht, Postleitzahl oder sonstigem Status), kann als verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe und eines gesellschaftlichen linken, sozialökologischen solidarischen Pols in der Gesellschaft dienen.

Soziale Infrastrukturen zielen darauf, weite Teile der Daseinsvorsorge dem Markt (wieder) zu entziehen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das bedeutet konkret, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen. Mit der Rekommunalisierung beispielsweise von privatisierten Krankenhäusern, Altenheimen, Kindertagesstätten, Wohnraum oder privaten Mobilitätsdienstleistungen ist nicht zuletzt die Frage der Eigentumsform gestellt – wie insbesondere die Kampagnen gegen überhöhte Mieten zuletzt deutlich gemacht haben. Hier können Umverteilung und soziale Gerechtigkeit mit Forderungen nach Demokratisierung und Emanzipation verbunden werden. Denn jenseits der Eigentumsfrage gilt es, neue Formen der Beteiligung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Soziale Infrastrukturen in öffentlicher Hand bedeutet auch, diese umfassend zu demokratisieren, sie in die Hände der Produzent*innen und Nutzer*innen zu legen. An vielen Stellen wird bereits über Gesundheits- oder Care-Räte diskutiert. Auch regionale Mobilitäts- und Transformationsräte stehen auf der Tagesordnung. Wir könnten so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen und erste Schritt in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus gehen (vgl. Redaktion prager frühling 2009).

Ein strategischer Vorschlag zur richtigen Zeit

Wie lässt sich so ein Umbau öffentlicher Dienstleistungen durchsetzen? Fest steht, das Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn unterschiedliche Akteure darin ihre Interessen wiederfinden. Die Idee kostenfreier, demokratischer Infrastrukturen kann unserer Ansicht nach Spielräume für linke Politik eröffnen: Soziale Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, Spaltungen zu überwinden und solidarisch zu bearbeiten, weil sie egalitäre Zugänge für unterschiedliche Teile der Subalternen bieten. In funktionierenden sozialen Infrastrukturen kommt die Idee eines anderen kollektiven Wohlstands zum Ausdruck, die imstande ist, gemeinsame Interessen an einem öffentlichen Reichtum überhaupt erst zu artikulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. Candeias 2019, 6). Außerdem bietet sich die Chance, aus fruchtlosen, von Gegensätzen geprägten linken Debatten herauszukommen, und zwar hinsichtlich mehrerer Streitfragen:

Das bedingungslose Grundeinkommen: Von diesem Grundeinkommen erhoffen sich beispielsweise Erwerbslose, Soloselbstständige und prekär Beschäftigte mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten dagegen weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Die Idee „sozialer Infrastrukturen“, verbunden mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, kann hier neue Perspektiven aufzeigen und neue Bündnisse ermöglichen.

Die Wachstumsfrage: Auch an diesem Punkt steckt die linke Debatte fest: zwischen Positionen von Degrowth-Anhänger*innen und denen keynesianisch inspirierter Vertreter*innen qualitativen Wachstums. Dabei streitet niemand ab, dass bestimmte Bereiche schrumpfen müssen, etwa die mit hohem Stoffumsatz verbundene industrielle Produktion, und andere zunächst wachsen müssen, wie die gesamte Care-Ökonomie und eben die sozialen Infrastrukturen, bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Ein solches qualitatives Wachstum ist übergangsweise notwendig, nicht zuletzt aufgrund der Lücken in vielen Bereichen der Reproduktion. Auch alternative industrielle Produktion ist notwendig – dies gilt vor allem für Länder des globalen Südens, aber auch hier für ressourcen- und klimaschonende Innovationen. Ein simpler Gegensatz von Wachstums- versus Postwachstumspositionen ist daher kontraproduktiv. Es muss um ein Einschwenken auf einen mittelfristigen Kurs einer „Reproduktionsökonomie“ (Candeias 2011) gehen, in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr stofflich wachsen. Soziale Infrastrukturen stünden im Zentrum einer solchen Reproduktionsökonomie.

Sie wären damit auch die wichtigste Säule für eine neue öffentliche Ökonomie, ohne die eine sozialökologische Transformation kaum möglich sein wird. Es gibt nur wenig Ansätze, die einer öffentlichen Produktionsweise eine eigene ökonomische Qualität zugestehen. Ausnahmen sind zum Beispiel die Ansätze eines "Public Value" (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder einer "Sozialwirtschaft" (Müller 2005 u. 2010). Dafür notwendig wäre eine andere gesellschaftliche Buchführung, die vorhandene wie benötigte Ressourcen gebrauchs- und bedarfsorientiert ins Verhältnis setzt und die die Frage ins Zentrum stellt, zu welchem Zweck und wie wir diese Ressourcen eigentlich einsetzen wollen. Eine solche gesellschaftliche Buchführung könnte eine von kapitalistischen Werttransfers unabhängige Grundlage für eine öffentliche Produktionsweise bieten. Der Sozialstaat wäre dann nicht nur kompensatorisch für den Ausgleich sozialer Verwerfungen und als Stabilisator in Zeiten von Krise zu denken, sondern wäre selbst Element einer solchen öffentlichen Ökonomie. Er wäre die Grundlage einer anderen Form des Produzierens und Reproduzierens, die mit dem Begriff grüner Infrastruktursozialismus umschrieben werden kann.

Verbindende Klassenpolitik für den grünen Infrastruktursozialismus…

Für anstehende sozialökologische Transformationskonflikte ist eine ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur ein Sicherheitsversprechen, das notwendig gewordenen Veränderungen das Bedrohliche nimmt und eine positive Zukunft denkbar werden lässt. Viele Bewegungen und die LINKE haben sich in den letzten Jahren bereits am Konzept der sozialen Infrastrukturen orientiert und es zu einem verbindenden Projekt werden lassen. Hier treffen sich Fragen der Umverteilung mit denen nach Freiheitsrechten und Demokratie, Fragen der Klassenpolitik mit Fragen der Anerkennung und Ermöglichung von Diversität und verschiedenen Lebensweisen.

Auch von anderer Seite wird der Frage sozialer Infrastrukturen (endlich) neue Bedeutung zugemessen: Eine neue "Fundamentalökonomie", wie Wolfgang Streeck es im Anschluss an eine englische Autorengruppe nennt (Foundational Economy Collective 2019), ist ein Bezugspunkt auch für sozialdemokratische Intellektuelle (vgl. u.a. SPW 2019), für Gewerkschaften wie die IG Metall, ver.di, die Eisenbahn- & Verkehrsgewerkschaft oder die GEW, aber auch für Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch für die Umweltbewegung und -verbände.

Die Bedingungen für große progressive Entwürfe sind gerade nicht gut, es stehen beinharte Auseinandersetzungen um die immensen Kosten der Krise bevor. Zugleich hat die Corona-Krise viele vermeintlich feststehende Wahrheiten infrage gestellt und aufgezeigt, dass politische Reaktionsmuster ins Wanken geraten können. Innerhalb kürzester Zeit war es nicht nur möglich, im Sinne der Pandemieprävention die Wirtschafts- und Konsumkreisläufe ganzer Gesellschaften herunterzufahren und damit – zumindest vorübergehend – das Primat der Politik vor das der Ökonomie zu setzen. Es ist im Zuge der Krisenbekämpfung auch möglich geworden, große staatliche Finanzvolumina zur Stützung von Unternehmen, Erwerbstätigen und öffentlichen Infrastrukturen sowie zur Ankurbelung der Konjunktur zu mobilisieren und dafür die "schwarze Null" von heute auf morgen über Bord zu werfen. Auf der Ebene der europäischen Regierungen wurde zudem das Verbot der gemeinsamen Verschuldung geschliffen. Das alles bedeutet für den weiteren Fortgang der Krise noch gar nichts, wie erwähnt stehen beinharte Verteilungskämpfe bevor. Es zeigt aber doch, dass das bisher scheinbar so fest verankerte marktliberale TINA-Prinzip[3] in einer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung aufgeweicht wurde. Unter der Wucht der Pandemie gewannen nicht nur eine andere Finanz- und Schuldenpolitik, sondern allgemein eine vorausschauendere, staatliche Steuerung und Intervention an Attraktivität. An solchen Tabubrüchen gilt es anzusetzen. Es sind kleine erweiterte Spielräume für eine gesellschaftliche Linke, die es zu nutzen gilt, um neue, um andere Pfade denkbar zu machen und zu erkämpfen (vgl. IfG & Friends 2020).

…und wo sie heute schon stattfindet

Um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen wird von vielen Akteuren bereits konkret gekämpft. Am sichtbarsten ist dies momentan wohl im Gesundheitswesen der Fall. In der ab September anlaufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (ÖD) wird es um eine Aufwertung der Pflege gehen. Bund und Länder haben angekündigt, dass es angesichts der Krise nichts zu verteilen gibt. Trotz des größten Rettungspakets der Geschichte soll es für die „systemrelevanten“ Berufe also bei einer symbolischen Anerkennung bleiben. Für höhere Löhne in der Pflege, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Personalquoten wird schon seit Langem gestreikt und gekämpft. Die Forderung nach einer bedarfsorientierten Finanzierung und nach mehr Personal in diesem wichtigen Bereich des Gesundheitswesens könnte zu einem Kristallisationspunkt von Kämpfen sowohl von Beschäftigten als auch von Nutzer*innen sozialer Infrastrukturen werden. Im Sinne eines Infrastruktursozialismus geht es außerdem darum, diese wichtigen Funktionen in gesellschaftliche Verantwortung zurückzuholen – also um eine Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Ähnlich steht es um Bildung und Erziehung, auch hier wird im Rahmen der Tarifrunde ÖD für eine Aufwertung und für bessere Angebote gestritten. Und auch hier hat die Pandemie schonungslos offengelegt, wie schlecht dieser elementare Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausgestattet ist – und zwar sowohl was das qualifizierte Personal angeht als auch die physische und digitale Hardware. Um in den Bereichen Bildung, Erziehung und soziale Arbeit verlässliche soziale Infrastrukturen für alle durchzusetzen, bedarf es neben einer besseren tariflichen Entlohnung des Personals des Ausbaus von Kitaplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten. Zudem wird vonseiten der Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, der Partei DIE LINKE und anderen schon seit Längerem für die bundesweite Abschaffung von Kitagebühren gestritten. Mit diesen Maßnahmen könnte die in Deutschland besonders dramatisch ausgeprägte Bildungsungleichheit verringert und mehr Teilhabe und Demokratie möglich werden.

Parallel zur Tarifrunde im ÖD werden erstmals bundesweit die Tarife im öffentlichen Nahverkehr verhandelt. Neben einer Entlastung durch mehr Personal geht es um einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Angesichts der zugespitzten Klimakrise ist das Letztere ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Fridays for Future, ver.di, die LINKE und andere wollen diese Auseinandersetzungen als gemeinsames Projekt angehen. Konkrete Schritte, um „Mobilität für alle“ als soziale Infrastruktur zu entwickeln, gibt es in einigen Städten schon: Der Einstieg in einen generellen Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist ein kostenloses Jahresabo für Schüler*innen, Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, kombiniert mit der Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle anderen. Dies soll den notwendigen Umstieg vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel erleichtern. Damit der steigende Bedarf an öffentlichen Nah- und Fernverkehrsmitteln überhaupt gedeckt werden kann, muss das Schienennetz ausgebaut und muss eine alternative Produktion von Straßenbahnen, E-Bussen, Zügen, U-Bahnwaggons etc. angeschoben werden. Zumindest Teile davon könnten in öffentlichen Unternehmen realisiert werden und wären damit ein weiterer Baustein der oben skizzierten öffentlichen Ökonomie.

Im Bereich Wohnen & Miete ist die Auseinandersetzung schon weiter. Hier geht es um die Verteidigung eines gesetzlichen Mietendeckels, wie er bisher in Berlin beschlossen wurde, und darum, ihn auf andere Bundesländer auszuweiten. Auch hier wird konkret über Vergesellschaftung diskutiert. Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co hat dies zum Ziel. Um die Menge an bezahlbarem Wohnraum zu erhöhen, wird der Bau von Sozialwohnungen in großer Zahl über eine „neue Gemeinnützigkeit“ ins Auge gefasst. Auch die Gründung einer öffentlichen Bauhütte, also eines Verbunds von Gewerken in öffentlicher Hand, wäre nützlich, um sich von der Bauindustrie unabhängig zu machen.

Auch in feministischen Debatten und Kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit spielt der Ausbau sozialer Infrastrukturen seit Jahren eine wichtige Rolle. Die internationale Bewegung für einen feministischen Streik und Debatten um eine feministische Klassenpolitik stellen die Aufwertung und Entlastung entlohnter wie unbezahlter Sorgearbeit ins Zentrum. Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit zielt auf eine Ausweitung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen, genauso wie hierzulande das queer-feministische Netzwerk Care Revolution. Dort organisieren sich unentlohnt Sorgende zusammen mit professionellen Care-Arbeiter*innen und denjenigen, die als Patient*innen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Gute Arbeitsbedingungen und Ausstattung in Kitas, Ganztagsschulen, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz reduzieren die Überlastung insbesondere von Frauen und ermöglichen eine Aufwertung wie eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit (vgl. Fried/Schurian 2016).

Kämpfe um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren in der weltweiten Bewegung für solidarische Städte gebündelt (vgl. Christoph/Kron 2019). Städte und Kommunen werden hier als Terrain gesehen, um eine demokratische Teilhabe und den Zugang zu lebenswichtigen Leistungen und Infrastrukturen für Geflüchtete und Illegalisierte lokal zu ermöglichen. New York City hat als erste Stadt eine “City Card” eingeführt, eine Art kommunales Personaldokument, das den Zugang zu städtischen Leistungen wie Gesundheit und Bildung ermöglicht sowie den Besuch von Bibliotheken und Museen, aber auch die Eröffnung eines Bankkontos und Abschluss eines Mietvertrags. Darüber hinaus bietet die "City Card" Schutz vor racial profiling, Polizeigewalt und Abschiebung – sie wird von der lokalen Polizeibehörde anerkannt und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Papiere. Auch in Europa wird an vielen Orten über eine "City Card" diskutiert. Zürich und Bern gehen hier voran,[4] aber auch in Berlin denkt die LINKE über die Einführung eines solchen Ausweisdokumentes nach (vgl. Frank 2019).

In Sachen Finanzierung braucht es Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen. Absehbar ist bereits jetzt, dass die Argumente und Konzepte der Austerität spätestens nach der nächsten Bundestagswahl mit Wucht durchschlagen werden. Spätestens dann wird genauer darüber verhandelt werden, wie und von wem die zur Pandemiebekämpfung aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden sollen. Das alles findet unter anderem vor dem Hintergrund der weiterhin ungelösten Altschuldenproblematik der Kommunen in Höhe von derzeit geschätzt rund 45 Milliarden Euro statt.Die Kommunen aber sind die Orte, an denen die Menschen ganz maßgeblich ihre Alltagserfahrungen sammeln und ihre Leben gestalten. Weitere Einschränkungen in weiten Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge werden der Entdemokratisierung, dem Frust und der Akzeptanz destruktiver Konzepte der Rechten sowie weiteren Klassenspaltungen Vorschub leisten. Umgekehrt kann der Ausbau sozialer Infrastrukturen, wie beschrieben, nicht nur Ungleichheiten bekämpfen, sondern eben auch mehr Demokratie und Teilhabe (auch vormals in der Öffentlichkeit unterrepräsentierter Gruppen) ermöglichen.

Für all das braucht es starke Initiativen von unten, die für eine solche Perspektive weitere kampagnenfähige und öffentlichkeitswirksame Kristallisationspunkte identifizieren, an denen es sich lohnt, auf verschiedenen Ebenen (kommunal, national, europäisch etc.) gleichzeitig produktive Konflikte aufzumachen und voranzutreiben. Dafür müssen auch und vor allem diejenigen gewonnen werden, die unter den derzeitigen Mängeln der sozialen Infrastrukturen am stärksten leiden.

Es wird entscheidend sein, ob es bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr gelingen wird, einen sozialökologischen Block zu formen, der Aufwertung und Ausbau sozialer Infrastrukturen zum Fluchtpunkt eines gemeinsamen Projekts macht (das auch nach der Wahl noch Bestand hat). Denn nur mit massivem gesellschaftlichen Druck und einer Bündelung von Kräften lassen sich konsequente Schritte in diese Richtung durchsetzen – Schritte in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus.

Fußnoten

[1] Die soziale Ungleichheit fällt nach neuesten Zahlen noch drastischer aus, als bislang angenommen: Demnach besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland rund 35 Prozent statt, wie bislang angenommen, 22 Prozent des Nettovermögens, die oberen zehn Prozent 67,3 statt 58,9 Prozent (Bartels u.a. 2020).

[2] Dies bedeutet nicht, die Bedeutung und Errungenschaft des klassischen Sozialversicherungsmodells zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Eine demokratischere, solidarischere Gesellschaft muss auch das Sozialversicherungswesen in den Blick nehmen, ausbauen und universalisieren, um die individuellen Risiken und Brüche im Lebenslauf besser abzusichern. Das heißt unter anderem, dass Elemente einer Mindestsicherung (etwa eine Mindestrente, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, oder eine Kindergrundsicherung etc.) gegenüber leistungsbezogenen Anwartschaften verstärkt werden und die Versicherungspflichten ausgeweitet werden müssen. Denkbar wären hier eine umfassende Erwerbstätigenversicherung (unter Einbeziehung auch von Beamt*innen, Freiberufler*innen, Selbstständigen etc.) im Rentensystem sowie eine Bürgerversicherung aller im Gesundheitswesen und eine solidarische Pflegevollversicherung.

[3] TINA: There Is No Alternative.

[4] Vgl. www.zuericitycard.ch/ und https://wirallesindbern.ch/city-card/.

Literatur

AG links-netz, 2012: Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur, http://wp.links-netz.de/?p=23

Bartels, Charlotte/Göbler, Konstantin/Grabka, Markus/König, Johannes/Schröder, Carsten, 2020: MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, DIW-Wochenbericht 29/2020

Behr, Dieter A., 2010: Crossing Borders, in: Kulturrisse, März 2010

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

Candeias, Mario, 2004: Erziehung der Arbeitskräfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat, in: UTOPIE kreativ, Heft 165/166, 589–601

Ders., 2011: Konversion – Einstieg in eine öko-sozialistische Reproduktionsökonomie, in: ders., 2019: Was tun und wo anfangen? 11-Punkte-Plan für einen neuen Sozialismus, in: LuXemburg 3-2019, www.zeitschrift-luxemburg.de/was-tun-und-wo-anfangen

Christoph, Wenke/Kron, Stefanie (Hg.), 2019: Solidarische Städte in Europa. Urbane Politik zwischen Charity und Citizenship, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

Dowling, Emma, 2016: Soziale Wende des Kapitals?, in: LuXemburg-Online, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-wende-des-kapitals

Facundo, Alvaredo u.a. (Hg.), 2018: Die weltweite Ungleichheit. Der World Inequality Report 2018, München

Foundational Economy Collective, 2019: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M.

Frank, Marie, 2019: Eine Karte für alle Fälle. Die Berliner Linkspartei will mehr Teilhabe für Illegalisierte durch einen Ausweis, in: neues deutschland, 13.4.2019

Fried, Barbara/Hannah Schurian, 2016: Nicht im Gleichschritt, aber Hand in Hand. Verbindende Care-Politiken in Pflege und Gesundheit, in: LuXemburg 1/2016, https://www.zeitschrift-luxemburg.de/nicht-im-gleichschritt-aber-hand-in-hand-verbindende-care-politiken-in-pflege-und-gesundheit

Gehrig, Thomas, 2013: Soziale Infrastruktur statt Grundeinkommen, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/soziale-infrastruktur-statt-grundeinkommen

Hirsch, Joachim, 2003: Eine andere Gesellschaft ist nötig: Zum Konzept einer Sozialpolitik als soziale Infrastruktur, in: Linksnetz, http://wp.links-netz.de/?p=21

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Schachtschneider, Ulrich/Candeias, Mario, 2013: Kontrovers: Ökologisches Grundeinkommen vs. soziale Infrastruktur und kollektiver Konsum, in: LuXemburg 2/2013, www.zeitschrift-luxemburg.de/kontrovers-oekologisches-grundeinkommen-2/

SPW – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 2019: Von der Kapitallogik zur gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie, Heft 235, www.spw.de/xd/public/content/index.html?sid=heftarchiv&year=2019&bookletid=176

Streeck, Wolfgang, 2019: Vorwort, in: Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt a.M., 7–32

Wohlfahrt, Norbert, 2015: Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen – Die Ökonomisierung sozialer Dienste, in: LuXemburg 1/2015, www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-geschaeft-mit-grundbeduerfnissen/

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.

Moritz Warnke ist Referent für Soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur dieser Zeitschrift. Er ist im Landesvorstand der Berliner LINKEN und vertritt den Landesverband in der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«.

Eva Völpel arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für Wirtschaftspolitik.

Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist im Netzwerk Care Revolution aktiv und arbeitet zu Fragen von Sorgearbeit und Feminismus.

Hannah Schurian ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg. Sie ist Redakteurin dieser Zeitschrift.

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/reichtum-des-oeffentlichen

#Rekommunalisierung #Krise #Wohnen #Krankenhaus #Mobilität #Migration #Pflege #Feminismus #Alternativen #Selbstverwaltung #Organisierung

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Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor, so dass weitere Einschränkungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu befürchten sind. Zeit, den Sozialstaat und seine Finanzierung gründlich zu erneuern, schreiben die Autor:innen. Dabei geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Der Artikel zeigt, vor welchen Herausforderungen die sozialen Sicherungssysteme stehen, wie ein Sozialstaat aussehen kann, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist und wo schon jetzt ganz konkret um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen gekämpft wird.

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Wohnungsbaugenossenschaften, insbesondere die teils über 100 Jahre alten Traditionsgenossenschaften, werden in progressiven wohnungspolitischen Debatten oft zu wenig beachtet. Dabei zeigt sich, dass sie dank ihres solidarischen Eigentumsmodells, ihrer Erfahrung und ihres Know-hows in der Lage sind, günstigen Wohnraum bereitzustellen. Sie gehören damit zu den wenigen verbliebenen nicht-profitorientierten Akteuren und zu potenziell wichtigen Bündnispartnern einer progressiven Wohnungspolitik. Es gilt, sie als Akteure einer auf das Gemeinwohl orientierten Stadtpolitik ernst zu nehmen und stärker einzubeziehen, plädieren Bernd Belina und Maximilian Pechstein in diesem Standpunkt.

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In den großen Städten explodieren die Mieten, bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Das birgt sozialen Sprengstoff. Dass es problematische Folgen hat, Wohnraum marktförmig zu organisieren, ist eine alte linke Erkenntnis. In der aktuellen Wohnungskrise ist sie vielen neu bewusst geworden.

Stadtpolitik ist aber auch ein Feld der politischen Hoffnung und des solidarischen Widerstands. In Hausgemeinschaften und Nachbarschaften, mit Kampagnen und Demonstrationen machen immer mehr Menschen gegen den Mietenwahnsinn mobil. Die Forderung nach Enteignung großer Immobilienkonzerne gewinnt ungeahnte Zustimmung. Diese Proteste haben die Wohnungsfrage wieder auf die politische Agenda gesetzt.

Wie kann eine Wohnungspolitik aussehen, die sich am Gemeinwohl orientiert, die Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausspielt, die inklusiv und zugänglich für alle ist? Dies beleuchtet diese Ausgabe der Zeitschrift «LuXemburg» 2/2019 zu Wohnungskrise und Stadtpolitik.

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»Mehr als Abwesenheit von Krankheit...«

Über Lokale Gesundheitszentren als Orte politischer Praxis

April 2016 • Hannah Schurian im Gespräch mit dem Gesundheitskolletiv

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0

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Krankenhaus, Alternativen, Selbstverwaltung, Berlin#Krankenhaus #Alternativen #Selbstverwaltung #Berlin

Wie ist eure Idee für ein Gesundheitskollektiv entstanden? Was war die Kritik am laufenden Versorgungssystem?

Wir sind eine Gruppe von Menschen in Gesundheits- und sozialen Berufen – u.a. ÄrztInnen, TherapeutInnen, Pflegekräfte, Pädagogen, Sozialarbeiter – aus Hamburg und Berlin, die sich seit zirka fünf Jahren für das Projekt engagieren. Der Ausgangspunkt war die Kritik an der unzureichenden ambulanten Versorgung von Menschen ohne Papiere. Das brachte einige Aktive aus dem Medibüro Hamburg dazu, sich mit weitergehenden Fragen zu beschäftigen: Wie sieht eine gute Gesundheitsversorgung für alle Menschen, unabhängig vom Versicherungsstatus aus? Wie müssen sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Gesundheit verändern? Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und aus dem Public Health-Bereich haben längst gezeigt, dass Lebens- und Arbeitsbedingungen langfristig entscheidender für die Gesundheit sind als die medizinische Versorgung – und das Gesundheit wesentlich mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit.

Im herrschenden System wird das aber völlig ausgeblendet. Hier sieht man oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. Es gibt eine starke Orientierung auf ‚Krankheit’: der Mensch wird aus seinem sozialen Zusammenhang gelöst und in Einzeldiagnosen zergliedert. Fatal ist die ökonomische und sogar profitorientierte Ausrichtung der medizinischen Versorgung. Das führt nicht nur dazu, dass beispielsweise medizinische Studien pharmafinanziert und folglich nicht unabhängig sind; auch Pflege und medizinische Behandlung werden zunehmend der Effizienzlogik und dem Ziel der Kostensenkung unterworfen. In der ambulanten Versorgung ist die Zersplitterung ein Problem: statt einer interdisziplinären Zusammenarbeit herrscht das unternehmerische Kalkül der einzelnen Fachärzte vor.

Vor diesem Hintergrund hat sich in Hamburg das Projekt Poliklinik gebildet. In enger Anlehnung an dieses Projekt haben wir vor zwei Jahren dann das Gesundheitskollektiv Berlin gegründet. Wir wollten die Gesamtheit der sozialen Determinanten der Gesundheit in den Blick nehmen und konkrete Alternativen aufzeigen.

Inwiefern lassen sich denn diese sozialen Determinanten in einem Projekt wie eurem beeinflussen?

Vorneweg: Der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geprägte Begriff »Soziale Determinanten der Gesundheit« ist ziemlich sperrig. Damit gemeint sind ganz einfach alle Bedingungen, in die ein Mensch hineingeboren wird und die das Leben ausmachen: die Stadt, die sozialen Netzwerke, die Kultur- Bildungsmöglichkeiten, die Arbeits- und Umweltbedingungen und die Existenzsicherheit. Entsprechend sind die sogenannten »Gesundheitschancen« bei sozial ausgegrenzten Menschen besonders niedrig. Das zu ändern, ist kompliziert: die Gesamtheit der gesellschaftlichen Strukturen lässt sich von uns nicht so einfach umkrempeln. Lokale Verhältnisse wie Verkehrsbeeinträchtigungen oder Mietsteigerungen können wir aber sehr wohl konkret aufgreifen. Hier kann die politische Arbeit im Stadtteil ein Anfang sein, um sich über die Kommune hinaus zu vernetzen und langfristig die Bedingungen für Gesundheit zu verbessern. Wir können zudem die Ressourcen der Menschen stärken, indem wir ihre sozialen Netzwerke, ihre Möglichkeiten von Selbstorganisierung und Widerstand fördern.

Und wie soll die Arbeit des Gesundheitszentrums konkret aussehen?

Unser zentrales Anliegen ist es die Menschen im Stadtteil – neben einer sehr guten medizinischen Versorgung – auch durch politische und soziale Arbeit sowie durch Beratung und partizipative Forschung zu begleiten. Die Krankenversorgung und Pflege soll sich an den Interessen der Nutzer_innen orientieren und für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein – unabhängig davon, ob sie privat, gesetzlich, oder nicht versichert, ob sie illegalisiert oder asylsuchend sind. Wir begreifen die Menschen als Teil ihres sozialen Netzes und ihrer Umwelt und wollen sie dementsprechend beraten.

Wichtige Impulse liefern uns gut funktionierende Gesundheitszentren in Österreich, Belgien, Kanada oder Finnland, aber auch die spendenbasierten solidarischen Kliniken in Griechenland. Wir denken, dass politische Teilhabe und Selbstorganisierung im Gesundheitswesen möglich und notwendig sind. Konkret würde das bedeuten, dass unser Zentrum ein selbstverständlicher Teil des Stadtteils ist, eine Anlaufstelle, wo die Menschen gerne hingehen: um die Rechtsberatung oder die Behandlungsangebote aufzusuchen, um sich in selbstorganisierten Gruppen zu treffen oder einfach nur Kaffee zu trinken. Die Bedürfnisse der NutzerInnen und StadtteilbewohnerInnen sind der Ausgangspunkt, um gemeinsam ihre Lebensumstände zu verbessern.

Wie soll das Zentrum intern organisiert sein: was sind Beteiligungsmöglichkeiten von PatientInnen und AnwohnerInnen?

Wie haben uns eine kollektive Struktur gegeben, um gleichberechtigt im Team zu entscheiden, ohne Chef oder Chefin. Die PatientInnen sollen sich aktiv einbringen und das Gesundheitskollektiv als Beraterin wahrnehmen, die Optionen eröffnet und Möglichkeiten darlegt. Dafür gibt es zum Beispiel regelmäßige gemeinsame Fallbesprechungen, nicht nur zu medizinischen Fragestellungen, sondern auch zu sozialen Themen. Darüber hinaus wollen wir die Menschen aus dem Stadtteil durch ein offenes Plenum einbeziehen und die Entscheidungen des Zentrums gemeinsam mit ihnen treffen. Das betrifft auch schon den Planungsprozess: Wir wünschen uns einen »bottom-up«-Prozess und wollen die Menschen in die Entwicklung des Konzepts einbinden, u.a. durch eine Sozialraumanalyse, Ideenwerkstätten und öffentliche Veranstaltungen. Sie sollen das Projekt als ihr eigenes begreifen und mitgestalten – es geht darum, das Gesundheitssystem als Gemeingut, als common, zu entwickeln. Das wird sicher nicht einfach: echte Beteiligung zu organisieren wird eine der größten Herausforderungen. Das wird nur gehen, wenn wir alle das Zentrum als Lernprozess und Lernort verstehen. Damit das gelingt, braucht es viel Zeit und selbstverständlich auch eine stabile Finanzierung.

Und wie weit seid ihr in der Planung? Wo findet ihr politisch oder finanziell Unterstützung?

Der Schritt von der Theorie zur Praxis steht sowohl in Berlin als auch in Hamburg noch bevor. Wir sind mitten in der Konzeptentwicklung, und müssen viele offene Fragen klären. Für einige Aufgaben, die die Kräfte ehrenamtlicher Arbeit deutlich übersteigen, konnten wir finanzielle Mittel von einer Stiftung einwerben und eine feste Stelle einrichten. Politisch suchen wir die Verbindung zu Gruppen im Kiez, aber auch zu wissenschaftlichen und sozialen Akteuren, die uns in diesem Prozess begleiten wollen. Das ist uns wichtig, um die weitergehenden politischen Perspektiven im Blick zu behalten.

Das wäre die nächste Frage: So ein Zentrum ist ja gewissermaßen eine Parallelwelt im bestehenden System. Unter welchen Bedingungen ließen sich solche Zentren verallgemeinern?

Es besteht theoretisch die Gefahr, dass wir zu einer kleinen ‚Insel’ im Gesundheitswesen werden. Das passiert, wenn wir mit der konkreten Arbeit so ausgelastet sind, dass wir den Blick über den eigenen Tellerrand nicht mehr schaffen. Hier wollen wir bewusst gegensteuern, indem wir uns von Anfang an als Teil eines politischen Netzwerks verstehen – als eine Art »Poliklinik-Syndikat«. Was das genau bedeuten kann, müssen wir noch weiter entwickeln. Wir sind verwurzelt in verschiedenen linken Gruppen sowie dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää), aber auch in internationalen sozialen Bewegungen wie dem People's Health Movement. Zudem haben wir uns über die letzten Jahre ein Netzwerk mit anderen Projekten in Europa aufgebaut, die zum Teil schon seit Jahrzehnten vergleichbare Arbeit leisten. Wir denken, das sind gute Voraussetzungen, um wirkliche Veränderungen anzustoßen und Gesundheit neu zu denken: als ein Teil des guten Lebens für Alle.

Diskutiert ihr schon über konkrete Standorte? Die Auswahl des Stadtteils wird ja einen großen Einfluss darauf haben, mit welchen Menschen und Anliegen ihr zu tun habt.

Es geht uns darum, gezielt benachteiligte Stadtteile zu unterstützen. Prekäre Lebensumstände und Probleme bei der Gesundheitsversorgung sind ausschlaggebend. So wollen wir in Berlin die Standortfrage idealerweise daran ausrichten, welche Regionen laut Sozialstrukturatlas unterversorgt sind. Allerdings ist es im Moment bekanntlich sehr zermürbend, Häuser und Wohnungen in der Großstadt zu finden. So sind wir schon von Beginn an gezwungen, die Planung auch mit Themen und Aktionen rund um ein »Recht auf Stadt« zu verknüpfen. Wir wollen auf keinen Fall wie ein Ufo in einem Kiez landen und den Menschen ihre begrenzten Freiräume wegnehmen. Stattdessen wollen wir Räume und Infrastrukturen schaffen, die für alle nutzbar sind und die NachbarInnen solidarisch in ihren Kämpfen, etwa um Wohnraum, unterstützen. In Berlin wird es erfreulicherweise immer wahrscheinlicher, dass wir unser Projekt im Rollbergkiez in Neukölln starten können. Unsere Utopie nimmt also langsam Form an!

Weitere Informationen zum Projekt:

Schubert, Kirsten und Renia Vagkopoulou, 2015: Futuring Health Care – Gesundheitszentren als Orte gesellschaftlicher Transformation, in: Fried, Barbara/Schurian, Hannah (Hg.), UmCare – Gesundheit und Pflege neu organisieren, Rosa-Luxemburg-Stiftung Materialien 13/2015, 41-53.

Webseite des Projekts: www.geko-berlin.de

Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/interview-mehr-als-abwesenheit-von-krankheit

#Krankenhaus #Alternativen #Selbstverwaltung #Berlin

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Das Gesundheitskollektiv ist Teil eines Netzwerks, das in Berlin und Hamburg alternative Gesundheits- und Sozialzentren aufbaut. Sie sollen im Stadtteil eine gesundheitliche Versorgung frei von Profitinteressen ermöglichen, die berufsübergreifend und basisdemokratisch organisiert ist. Nicht nur die medizinische Versorgung und individuelle Verhaltensweisen stehen hier im Mittelpunkt, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit – von der lokalen bis zur globalen Ebene.

Im Interview mit Hannah Schurian erzählt das Kollektiv, was ihre Motivation ist, wie die Arbeit im Gesundheitszentrum aussehen soll und wie die Umsetzungspläne sind.

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung / flickr / CC BY 2.0

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Eine soziale Wohnungsversorgung muss fast immer gegen private Gewinninteressen durchgesetzt werden. Diese Broschüre soll all jene mit Informationen und Argumenten ausstatten, die sich im Alltag oder in ihrer professionellen bzw. politischen Funktion für eine sozialere Wohnungspolitik einsetzen. Können es Private wirklich besser? Muss Neubau immer teuer sein? Schützt das Mietrecht vor Verdrängung? Gängige Behauptungen gegenwärtiger wohnungspolitischer Auseinandersetzungen werden auf den Prüfstand gestellt. Sie soll dabei helfen, die üblichen Argumente für den sogenannten freien Wohnungsmarkt kritisch zu hinterfragen und den Blick für bedürfnisgerechtere Formen der Wohnungsversorgung zu öffnen. Konzepte für eine andere Wohnungspolitik liegen längst vor. Insbesondere die vielen Mieterinitiativen und selbstverwalteten Wohnprojekte haben für zahlreiche Fragen und Probleme bereits sehr konkrete Antworten und Lösungen entwickelt und Vorschläge formuliert, wie diese umgesetzt werden könnten.

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Kommunal und selbstverwaltet.

Modellprojekt am Kottbusser Tor

Juli 2019 • Jannis Willim

Alternativen, Organisierung, Selbstverwaltung, Wohnen#Alternativen #Organisierung #Selbstverwaltung #Wohnen

Als 2011 am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg der Unmut gegen zu hohe Mieten hochkochte und eine kraftvolle, heterogene Nachbarschaft ihren Protest artikulierte, entstand unsere Initiative Kotti & Co. Viele der Wohnungen dort wurden im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus errichtet. Bei einem näheren Blick wurde deutlich, dass die hohen Mieten die Folgen eines Fördersystems sind, in das die Interessen von privaten Immobilieninvestoren und ihren kreditgebenden Banken eingeschrieben sind und das nur nachgeordnet der Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum für einkommensarme Haushalte dient (vgl. Holm in diesem Heft). Das führt dazu, dass Sozialmieter*innen, die Hartz IV beziehen, einen viel zu hohen Anteil ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen. Eine Reform des sozialen Wohnungsbaus zugunsten einer Mietsenkung wird momentan in der rot-rot-grünen Regierungskoalition blockiert.

Seit 2012 fordern wir daher als langfristige Lösung die (Re-)Kommunalisierung der Sozialwohnungen. Die ersten Ideen für die Selbstverwaltung ganzer Sozialwohnungsbestände haben wir in einer Konferenz 2012 entwickelt. (Hamann/Kaltenborn 2014) nachzulesen sind. Die Kämpfe der letzten Jahre um die Sozialwohnungen – nicht nur am Kottbusser Tor – haben eine andere Ausgangslage geschaffen. So wurde aufgrund der Forderung nach Rekommunalisierung und Selbstverwaltung im Koalitionsvertrag der Berliner rot-rot-grünen Landesregierung von 2016 eine Klausel aufgenommen, auf deren Grundlage diese Forderung zumindest am Kottbusser Tor Realität werden könnte, wenn der politische Wille dazu bestehen bleibt. Die Klausel lautet:

»Die Koalition will den Bestand der Sozialwohnungen zur Wohnraumversorgung bedürftiger Haushalte erhalten. Deshalb sollen sich die städtischen Wohnungsbaugesellschaften bei den geplanten Zukäufen verstärkt um den Erwerb von Sozialwohnungen bemühen, insbesondere in Stadtteilen mit einem Mangel an preiswertem Wohnraum. Die Koalition unterstützt stadtweit Modellprojekte, wie am Falkenhagener Feld und am Kottbusser Tor angedacht, für selbstverwaltete Mietergenossenschaften.«

Mittlerweile wurde das Neue Kreuzberger Zentrum (NKZ) nach massivem öffentlichem Druck insbesondere durch den Mieterrat des NKZ von der Landesregierung kommunalisiert. Auf dieser Grundlage und der im Koalitionsvertrag verankerten Klausel sind Fragen nach einer stärkeren Mieterselbstverwaltung und deren Umsetzung ganz praktische geworden. In diesem Zusammenhang haben wir die Bedarfe der Mieter*innen in einer Studie mit dem Titel »Rekommunalisierung Plus« erhoben. Dabei haben wir auch untersucht, was für Vorstellungen von Mitbestimmung existieren und welche Bereitschaft in einer so benachteiligten Nachbarschaft wie am Kottbusser Tor unter den Mieter*innen besteht, sich aktiv an einer Selbstverwaltung ihrer Wohnungen und Häuser zu beteiligen. Das Plus steht für die größtmögliche Mitbestimmung. Denn unmittelbar in Anschluss an eine Rekommunalisierung – ob über Rückkauf oder Vergesellschaftung mit Entschädigung – stellen sich weitere Fragen: Was ist gewonnen, wenn die Bestände in die öffentliche Hand überführt sind? Schließlich wissen wir, dass öffentliche Wohnungsbauunternehmen seit der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit nach unternehmerischen Prinzipien funktionieren. Hinzu kommt, dass sie große bürokratische Apparate sind, denen die Auseinandersetzung mit lokalen Problemlagen zum Teil mit sehr viel Geduld und Durchhaltevermögen fast schon aufgezwungen werden muss. Ist die politische Mitsprache durch die Mieter*innen automatisch verbessert, wenn die Wohnungen kommunales Eigentum sind? In welchen Bereichen wollen Mieter*innen mitbestimmen? Was ist gemeint, wenn wir etwa die Forderung »kommunal und selbstverwaltet« für Häuser erheben, die von der sozialen Zusammensetzung der Bewohner*innen her nicht unbedingt klassischen Hausprojekten gleichen, sondern deren Bewohnerschaft viel heterogener ist und stärker durch Migrations- und Rassismuserfahrung, Armut und Ausgrenzung geprägt?

Ergebnisse der Studie

An der Erstellung der Studie waren überwiegend Menschen beteiligt, die selbst Sozialmieter*innen am Kottbusser Tor sind. Die Studie soll auch ausloten, wie sich die gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung ausweiten lässt und welche unterschiedlichen Perspektiven auf ein solches Engagement dabei zu berücksichtigen sind. Methodisch haben wir verschiedene Ansätze miteinander verknüpft. Die Palette reichte von Recherchen und einem Community Mapping über Interviews mit wichtigen Akteuren im Kiez, eine quantitative Erhebung, bei der an die 1 255 betroffenen Haushalte des Untersuchungsgebiets Fragebögen verteilt wurden (Antwortquote von 12,9 Prozent, 162 ausgewertete Fragebögen), bis hin zu einer Qualifizierung des Beteiligungspotenzials. Diese Qualifizierung geht von der Forderung von Kotti & Co. und des Mieterrats im NKZ aus, dass die zu entwickelnde Mitbestimmungsformen in Bezug auf das Wohnen und die Nachbarschaft an den realen Ressourcen und Interessen der Nachbarschaft auszurichten sind. Kernziel der Studie war also die Ermittlung handlungsorientierter Mietertypen, die hinsichtlich ihrer Ansprechbarkeit sowie ihrer Einsatz- und Mitwirkungsbereitschaft unterschiedlich sind.

Ein Ergebnis der Studie ist, dass es bei der Bewertung der Wohnzufriedenheit im Vergleich zwischen staatlichen und privaten Vermietern in einem Punkt zu deutlich unterschiedlichen Einschätzungen kommt: nämlich in der Miethöhe. Dass diese bei staatlichen Vermietern besser bewertet wird als bei privaten, ist wenig überraschend. So liegt die Warmmietbelastung bei letzteren durchschnittlich bei 41 Prozent, im Kreuzberger Zentrum hingegen, wo die landeseigene Gewobag die Vermieterin ist, lediglich bei 30 Prozent. Auch in Bezug auf »klassische Themen« der Mitverwaltung zeigt sich, dass die Unzufriedenheit bei Mieter*innen der Deutschen Wohnen – mit Ausnahme des Themas Sicherheit – höher ist als bei Mieter*innen der Gewobag (eines von derzeit sechs kommunalen Wohnungsunternehmen in Berlin).

Dabei lassen sich zwei wichtige Anliegen der Mieter*innen als Ergebnis der Studie feststellen, die zukünftig berücksichtigt werden sollten: Zum einen wurdedie Ansprechbarkeit bei Reparaturen bzw. Hausverwaltungsthemen kritisiert und zum anderen Probleme bei der Müllentsorgung. Überraschenderweise gaben 59 Prozent der befragten Mieter*innen in Gewobag-Häusern an, dass sich seit der Kommunalisierung des NKZ im Januar 2016 die Ansprechbarkeitbei Reparaturen verschlechtert habe. Bei Mieter*innen der Deutschen Wohnen (DW) waren es nur 19 Prozent der Befragten, diein diesem Zeitraum eine Verschlechterung beklagten. Das schlechte Abschneiden der kommunalen Wohnungsunternehmen in diesem Punkt gegenüber dem für seine schlechte Ansprechbarkeit stadtweit bekannten Immobilienaktienunternehmen Deutsche Wohnen, ist unter anderem damit zu erklären, dass sich die Frage nach einer Verschlechterung nur auf die letzten zwei Jahre bezog. Dazu muss man wissen, dass die Privatisierung der GSW (jetzt Deutsche Wohnen) zum Zeitpunkt der Befragung schon 15 Jahre zurücklag und die Mieter*innen seit langer Zeit mit einem schlechten Service der Hausverwaltung konfrontiert waren. Das kürzlich kommunalisierte Gebäude des NKZ mit 300 Wohnungen hatte jedoch bis zum Kauf durch die Gewobag eine private lokale Hausverwaltung, die sehr gut ansprechbar war und einen engen Kontakt zu den Mieter*innen pflegte. Dass es seit Jahren am Kottbusser Tor immer wieder Beschwerden über Vermüllung gibt, ist darauf zurückzuführen, dass für die Abfallentsorgung ein privates Unternehmen, die B&O Berlin Service GmbH, zuständigist, deren Geschäftsmodell auf geringen Personalkosten der vor Ort Beschäftigten beruht. Einige Mieter*innen vermuten auch eine bewusste »Verslumungsstrategie« der Deutsche Wohnen, denn andere Wohnblöcke mit einer ähnlichen Bewohnerstruktur, aber einen anderen Hausverwaltung, haben keine vergleichbaren Probleme.

Diese beiden Teilergebnisse unserer Studie zeigen, wie wichtig es ist, in einer Übergangsphase nach der Rekommunalisierung – in welcher Verwaltungsform auch immer – auf die Bedürfnisse und Vorschläge der Bewohner*innen einzugehen und gemeinsam mit der Nachbarschaft einen »Fahrplan« für die Zukunft zu entwickeln. So gilt es auch zu berücksichtigen, welches die Bereiche sind, bei denen die Mieter*innen mehr Mitsprache einfordern und wo sie sich engagieren wollen. Ein für uns zentrales und motivierendes Ergebnis der Studie ist, dass ein Viertel der befragten Anwohner*innen angab, bereits aktiv zu sein, etwa in einer lokalen Initiative. Die Hälfte der Befragten möchte sich in Zukunft an solchen Aktivitäten beteiligen und nurein Viertel der Bewohner*innen zeigte kein Interesse an einer gegenseitigen Unterstützung in der Nachbarschaft.

Insgesamt ergibt sich ein differenziertes Bild. Deutlich wird, dass sowohl die vorhandenen Strukturen, beispielsweise die Eigentumsverhältnisse und auch die konkreten Eigentümer*innen der Häuser, als auch die jeweiligen finanziellen und zeitlichen Ressourcen der Nachbar*innen am Kotti Einfluss darauf haben, wie und wie stark die Bewohner*innen bereit sind, sich einzubringen. So wird etwa die Sinnhaftigkeit des eigenen Engagements klar an die Besitzverhältnisse der bewohnten Immobilie gekoppelt: »Wieso sollten wir das selbst machen? Der Deutschen Wohnen Geld sparen helfen?« (Clausen et.al. 2018, 41) Reale Möglichkeiten der Mitbestimmung werden zudem als Voraussetzung benannt,um Mieter*innen zu aktivieren:

»Das habe ich damals zum Hausmeister auch gesagt, wenn da Sitzungen stattfinden würden, einmal in der Woche Hausversammlungen [...] einfach, dass man zusammenkommt. Wo der Hausverwalter auch dabei ist und sagt: ‚So, was für Sorgen habt ihr, was für Probleme gibt es, was können wir besser machen?‘ Dass da Gespräche stattfinden und Ideen umgesetzt werden, dann reagieren auch Mieter ganz anders.« (Ebd.)

Bemerkenswert sind zudem die durchaus realistischen Vorstellungen, was die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung und bestimmter persönlicher Voraussetzungen (z.B. die Aneignung von Kompetenzen) bei der Selbstverwaltung von Wohnhäusern angeht: »Nicht alle Mieter können mitverwalten, weil da braucht man schon ein bisschen Erfahrung, bisschen Organisationstalent auch, auch mit der Gesetzeslage sich auseinandersetzen, dass man das mitberücksichtigt. Aber jeder Mieter kann auch mitgestalten, das ist machbar.« (Ebd.) Die für eine Mitbestimmung erforderlichen Zeitressourcen werden ebenfalls angesprochen, was letztlich auch die Frage nach der Bezahlung solchen Engagements in der Selbstverwaltung aufwirft: »Man bekommt bestimmt jetzt nicht viele dazu, sich Vollzeit zu engagieren. Deswegen ist es gut, ein Gremium zu haben oder einen Vorstand und eine Mieterversammlung einmal im Jahr.« (Ebd.)

Perspektiven für eine »Rekommunalisierung plus«

Ziel der Studie war, die Ergebnisse für die Gestaltung der Zukunft der Bewohner*innen im Untersuchungsgebiet nutzbar zu machen. Für diesen Zweck wurden mit den Fragebögen auch Informationen zu Einkommen, Wohndauer und Haushaltsgröße abgefragt, um aus diesem Wissen über die sozioökonomische Lage sowie aus den Positionen der Mieter*innen modellhafte Handlungsansätze für zukünftige Formen der nachbarschaftlichen Unterstützung ableiten zu können. Die Voraussetzungen und das Interesse der Menschen, an nachbarschaftlichen Projekten mitzuwirken, sind sehr unterschiedlich. Dieses Wissen ist für uns zentral, um geeignete Formate und Orte für die gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung zu finden. Wir betrachten die Selbstorganisierung und das Vorhandensein nachbarschaftlicher Netzwerke als Grundlage für die erfolgreiche Mitbestimmung von Mieter*innen im kommunalem Wohnungsbestand.

Wie unsere Studie zeigt, sind diese nachbarschaftlichen Netzwerke am Kottbusser Tor auch immer migrantische Netzwerke. Einerseits zeigt die hohe Anzahl der türkisch- und arabischsprachigen Haushalte die Bedeutung der Migrationsgeschichte im untersuchten Gebiet. Dabei ist auch interessant, dass diese Gruppen überdurchschnittlich lange (12,5 Jahre) am Kottbusser Tor wohnen und ihr Einkommen im Vergleich zum Durchschnitt niedriger ist (913 Euro im Verhältnis zum Berliner Durchschnitt von 1250 Euro). Insgesamt beträgt das Durchschnittseinkommen im Untersuchungsgebiet nur 77 Prozent des Durchschnittseinkommens in der Umgebung. (ebd., 38) Daraus ist zu schließen, dass der Verdrängungsdruck, der auf der ansässigen Bewohnerschaft lastet, besonders groß ist. Dies gilt umso mehr für die türkisch- und arabischsprachigen Haushalte und Familien. Andererseits ist interessant, dass in jüngerer Zeit deutlich mehr Französisch, Italienisch, Hebräisch und Spanisch am Kottbusser Tor gesprochen wird. Dies lässt sich auf jüngere Migrationsbewegungen von gut ausgebildeten Fachkräften und Studierenden zurückführen (ebd., 40). Sie sind Ausdruck der europäischen Krise, die sich auch hier räumlich niederschlägt. Denn es ist anzunehmen, dass diese junge Generation für eine bessere Lebensperspektive nach Deutschland migriert ist. Tatsächlich liegt das Durchschnittsalter dieser Personengruppen mit 31,6 Jahren deutlich unter dem Gesamtdurchschnitt von 54,4 Jahren.

Die Heterogenität unserer Nachbarschaft verstehen wir dabei als Vorteil. Unser gemeinsamer Kampf um bezahlbaren Wohnraum ist von gegenseitigem Interesse an unseren Unterschiedlichkeiten geprägt. Das hat sich als sehr bereichernd erwiesen, für das Wohnen und Zusammenleben im Alltag, aber auch für die politische Zusammenarbeit. Wir haben zum Teil selbst erlebt, was es bedeutet, in einem Kiez anzukommen und sich dort eine (neue) Heimat zu schaffen. Wir sind stolz darauf, wie wir gemeinsam unser Viertel zu dem gemacht haben, was es heute ist – auch wenn die Gentrifizierung uns die Möglichkeiten nimmt, unsere Vorstellungen vom Zusammenleben in einer postmigrantischen Stadt und von einem solidarischen Miteinander im Alltag umzusetzen. Genauso werden wir nie aufhören darüber zu reden, dass Rassismus ein beständiger Begleiter von vielen von ist, sei es auf der Straße, bei der Wohnungssuche oder beim Jobcenter.

Wir wollen am Kottbusser Tor mit »Rekommunalisierung Plus« nun einen nächsten Schritt gehen. Dazu soll nicht nur die vielfältige nachbarschaftliche Unterstützung sichtbarer werden, sondern wir wollen erstmals diese Ansprüche auch in selbstverwalteten Mieterstrukturen in landeseigenen Wohnungsbeständen umsetzen. Wichtig ist dabei:

1 | Selbstverwaltung bedeutet Ressourcenaufwand – damit sie von einer breiten, diversen nachbarschaftlichen Mischung getragen wird, muss sie vor allem Auswirkungen auf die Miete haben und der Sicherung einer guten Wohnqualität dienen.

2 | Für die Mitbestimmung bei voraussetzungsvollen Themen wie Instandhaltung, Gewerbeentwicklung, Modernisierung, Planungsprozesse etc. kann es kein allgemeingültiges Rezept geben. Vielmehr schlagen wir ein Bausteinsystem vor, welches die Ausgangsbedingungen des jeweiligen Organisationsgrades der Mieter*innen berücksichtigt. Mehr dazu unter: https://kommunal-selbstverwaltet-wohnen.de

3 | Die Reprivatisierung rekommunalisierter Wohnungsbestände muss dauerhaft unterbunden werden. 

Letzten Endes geht es darum, dass in Zukunft mehr Menschen in unserem Viertel darüber mitentscheiden können, was mitden Häusern, in denen wir leben, passiert.Es lohnt sich, in Richtung größtmöglicher Mitbestimmung von Sozialmieter*innen weiterzudenken. Die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften werden diesen Prozess von sich heraus weder anstoßen noch meistern – »Insellösungen« von einzelnen Hausprojekten sind dagegen zu klein dimensioniert. Beidem »Modellprojekt Kottbusser Tor« gehtes deshalb darum, auszuprobieren, wie eine Rekommunalisierung mit realer Demokratisierung und Teilhabe der postmigrantischen Gesellschaft verbunden werden kann.

Literatur

Holm, Andrej/Hamann, Ulrike/Kaltenborn, Sandy, 2016: Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau, Berlin

Clausen, Matthias et al., 2018: Rekommunalisierung Plus: Modellprojekt am Kottbusser Tor, Berlin

Hamann, Ulrike/Kaltenborn, Sandy (Hg.), 2014: Nichts läufthier richtig. Informationsbroschüre zum sozialen Wohnungsbau in Berlin, http://www.nichts-laeuft-hier-richtig.de/

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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/modellprojekt-kottbusser-tor

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Als 2011 am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg der Unmut gegen zu hohe Mieten hochkochte und eine kraftvolle, heterogene Nachbarschaft ihren Protest artikulierte, entstand die Initiative Kotti & Co, die die Rekommunalisierung des Neuen Kreuzberger Zentrums erreichte. Bei dem »Modellprojekt Kottbusser Tor« geht es darum, auszuprobieren, wie eine solche Rekommunalisierung mit realer Demokratisierung und Teilhabe der postmigrantischen Gesellschaft verbunden werden kann.

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