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Selbstorganisation als Grundfeste Sorgender Städte

April 2022 • Ana María Vásquez Duplat

Adi Goldstein / unsplash

Adi Goldstein / unsplash

Wohnen, Organisierung, SorgendeStadt#Wohnen #Organisierung #SorgendeStadt

Eine der größten Herausforderungen, die uns die Corona-Pandemie hinterlässt, ist die Notwendigkeit, unsere Städte anders zu gestalten. Das derzeitige Modell muss dringend überdacht werden, denn es hat sich gezeigt, dass die Art und Weise, wie unsere Städte konzipiert und bewohnt werden, zu anfällig dafür ist, zu einem Brennpunkt der Expansion und der Verschärfung jeglicher Art von Krise zu werden. Die anhaltende soziale, wirtschaftliche und territoriale Ungerechtigkeit und Ungleichheit lassen keinen Zweifel an der Notwendigkeit, unsere Territorien umzugestalten und andere Formen der Nutzung und der symbolischen Bedeutung zurückzugewinnen. Die Städte müssen ihren Bewohner*innen in jedem erdenklichen Sinn zurückgegeben werden. Wir wissen heute, dass: geeigneter Wohnraum retten kann; auf das eigene Zuhause begrenzt zu sein ein Risiko für Frauen und LGBTIQ+-Personen ist; dass lokale Infrastruktur, Auffangsorte und Ökonomien als Motor für die Produktion und Reproduktion städtischen Lebens verstanden werden müssen; dass das Kollektive ist wesentlich für den Erhalt von Leben; u.a.

80 Prozent der Menschen auf diesem Planeten leben in Städten. Es ist daher unmöglich, einen Ausweg aus der jetzigen multidimensionalen (sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, gesundheitlichen, politischen, Sorge-, etc.) Krise zu finden, wenn wir es uns nicht zur Aufgabe machen, Ideen und konkrete Maßnahmen zu entwerfen, um die Städte aus dem Sog der reinen Profitlogik zu retten. Wenn wir eine gleichberechtigte, gerechte und gewaltfreie Gesellschaft wollen, dann müssen wir den städtischen Raum umgestalten und mit dem Bau von Städten beginnen, in denen die Nachhaltigkeit des Lebens im Mittelpunkt aller Entscheidungsprozesse steht. Dies würde bedeuten, den Weg für Sorgende Städte zu ebnen.

Heute sind wir, wie es Gabriela Massuh formuliert, auf dem Weg hin zu Städten, die „als leerer Signifikant bewegungslos in einem Haufen falscher Wahlversprechen glänzen und die reale Dimension des unwiederbringlichen Verlustes darstellt: des öffentlichen Raums. Jener Raum, durch den wir in unserer Vielfalt an einem gemeinsamen Projekt teilhaben, und zwar als politische Wesen, die fühlen, denken, überlegen, bewahren und die Wurzeln eines sozialen Bandes teilen. Das macht uns zu einer Gemeinschaft“. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, die Stadt zu dekonstruieren, wieder neu zu aufzubauen, als öffentlichen Raum zurückzugewinnen und sie auf diese Weise wieder mit Sinn zu erfüllen.

Um in diesem Prozess von Dekonstruktion und Wiederaufbau der Stadt voranzukommen, ist es wesentlich zu verstehen, wie wir überhaupt bis zu diesem Punkt gekommen sind; zu verstehen, wie das bisherige Modell städtischer Entwicklung immense Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Gewalt etabliert hat. Nur so können wir diesem Modell entgegentreten. Das Konzept des städtischen Extraktivismus wird hier zu einem Schlüssel, da es ermöglicht, konkrete Phänomene zu untersuchen und sie durch die Lupe des wirtschaftlichen Modells zu betrachten, das diese Phänomene hervorruft. Der Begriff des städtischen Extraktivismus ermöglicht Untersuchungen, durch die institutionelle Gerüste,  Marktmechanismen,  Typologien der durchgeführten politischen Maßnahmen, Strategien zur Stigmatisierung und Kriminalisierung gewaltsam ausgestoßener und ausgeschlossener „Anderer“ ergründet werden können; ebenso können so materielle und symbolische Konstrukte untersucht werden, die es ermöglicht haben, dass der globale Neoliberalismus städtischen Raum gewaltsam vereinnahmt und die Türen unserer Häuser und die Grenzen unseres Lebens überschreitet.

Städte haben sich räumlich, funktional und symbolisch von jenem Binarismus her entwickelt, der dem Kapitalismus eigen ist: ein Prinzip, das Raum in Funktion zweier Kernideen trennt und organisiert: Wohnraum und Arbeit. Der Wohnraum stellt hier das Herz des Privaten und die Arbeit den Mittelpunkt des Öffentlichen dar. Die zutiefst patriarchale Gestaltung der Städte hat den Bereich des Privaten (den Wohnraum) als Entwicklungsraum von Frauen und den Rest (das Öffentliche, die Arbeit) als Betätigungsfeld beruflich aktiver Männer gekennzeichnet. Eine der Folgen, städtischen Raum auf diese Weise zu gestalten, ist die Tatsache, dass andere städtische Funktionen und Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit und Erholung fast als Ornamente der städtischen Organisation erscheinen. Sorge in den Mittelpunkt der Stadtplanung zu stellen heißt also, mit diesem Binarismus zu brechen, die Bedeutungen des Privaten und des Öffentlichen zu erweitern und die Prioritäten bezüglich der Funktionen von Städten neu zu ordnen. Die feministische Stadtplanung hat diesbezüglich eine strategische Reihe von Diskussionen und konkreten Vorschlägen entwickelt.

Um eine Sorgende Stadt zu gestalten, die die Reproduktion des Lebens in Gleichberechtigung und Würde in den Mittelpunkt stellt, braucht es sowohl Veränderungen bei der Verteilung und der Vergütung von Sorgearbeit als auch bei dem ihr zugeschriebenen Wert: Sorgearbeit muss die Grenzen der Privatssphäre überschreiten, darf nicht weiter ausschließlich weiblich gelesenen Körpern zugeschrieben werden und muss zu einer Leitlinie werden für gesellschaftliche Beziehungen, für politisches Handeln und für neue Formen, unsere Beziehungen mit der Natur und den Gemeingütern zu verstehen.

Im Hinblick auf die Stadtplanung bedeutet dies, dem Gemeinschaftlichen, dem Kollektiven, den Begegnungsräumen, der Gesundheit, der Stadtteilkultur und dem Aufbau von Räumen der echten Vergesellschaftung einen zentralen Wert zuzuweisen. Sorgearbeit zu vergemeinschaftlichen und gemeinsame Verantwortung aufzubauen bedeutet außerdem, Mobilität und öffentlichen Verkehr neu zu planen sowie neue Infrastruktur und lokale und zugängliche Dienstleistungen und Einrichtungen zu schaffen, die die Grenzen und Trennung zwischen Wohnraum und Arbeit, zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten verwischen und die Dekonstruktion von Geschlechterrollen begünstigen.

Die Bewegung für genossenschaftliches und selbstorganisiertes Wohnen hat Schritte in diese Richtung unternommen und Schlüssel bereitgestellt. Nicht nur wurden Debatten und Grundlagen entwickelt, sondern durch die genossenschaftliche Praxis, die Selbstorganisation und gegenseitige Hilfe zum Bau von Wohnraum wurde eine „Alternative [aufgezeigt], die den ausgeschlossenen Mehrheiten einen Horizont gibt, in dem sie eine andere Wirtschaft und andere Werte aufbaut“ (Rodríguez, 2021).

FUCVAM (Federación Uruguaya de Cooperativas de Vivienda por Ayuda Mutua, dt.: Bund der Wohnbaugenossenschaften durch Gegenseitige Hilfe Uruguay) ist zu einem weltweiten Symbol geworden. Seine Geschichte ist ein Beispiel für das Potential der Selbstorganisation von sozialem Wohnraum und den strategischen Wert desselben beim Bau neuer Städte. Wie es in der Grundsatzerklärung der Kooperative zu lesen ist, ist „die Genossenschaftliche Bewegung für Wohnraum durch Gegenseitige Hilfe im Herzen der Arbeiterklasse entstanden, mit dem Ziel, das Wohnraumproblem zu lösen. Von diesem konkreten Bedürfnis ausgehend wurden Stadtteile gestaltet, die ihren Bewohnern ein würdiges und anständiges Leben ermöglichen sollen. Die Wohnbaugenossenschaften waren ursprünglich aufs Engste mit der Gewerkschaftsbewegung in Uruguay verbunden und von dort ausgehend trafen sie eine Reihe strategischer und zutiefst klassenbewusster Entscheidungen. Sich global als Klasse zu verstehen ermöglichte es, eine Reihe von Forderungen und Bedürfnissen zu umfassen, die zu einer integralen Definition des Projekts führten. Die Genossenschaft beschränkt sich nicht allein auf den Wohnraum, sondern integriert, vom Klassenverständnis ausgehend, alle Bedürfnisse, die der Begriff Klasse – im Gegensatz zur Vorstellung als gesellschaftlicher Teilbereich - mit sich bringt“.

Zwei der bahnbrechenden Bauprojekte von FUCVAM sind Beispiele für diese Prozesse: der Komplex José Pedro Varela Zone 3 und das Viertel General Artigas. Zwei Orte, an denen Gemeinschaft entstand. Abgesehen von den 1200 Wohneinheiten, aus denen die beiden Komplexe bestehen, haben die Genossenschaften Kindergärten gebaut, die später zu staatlich geführten Kindergärten wurden, frei zugängliche Polikliniken, Gemeinschaftsbibliotheken, Fußballplätze, Sportplätze und -hallen, Geschäfte, Supermärkte und Gemeinschaftsräume, die nicht nur als Orte für Kultur- und Freizeitaktivitäten dienen, sondern auch für Begegnungen und Entscheidungsprozesse der Einwohner*innen.

Die Genossenschaften in Uruguay haben Lebensraum, ja, sie haben Sorgende Städte geschaffen. Sie sind ein Beispiel für eine Gestaltung von Städten, die Binarismen aufbricht, Gemeinschaft bildet und eine Vergemeinschaftlichung der Sorgearbeit ermöglicht; und dies nicht nur durch den Bau von Infrastruktur und Raum für Spiel, Erholung und Bildung für Kinder, sondern weil sie als Stadtteil die Möglichkeiten von Nähe und Nachbarschaftlichkeit nutzen und mit vielen Augen und vielen Armen kollektiv und mitverantwortlich Sorge tragen.

Auf beiden Seiten des Río de la Plata (in Uruguay und Argentinien) wurden bedeutende Initiativen zur selbstorganisierten Gestaltung von Lebensraum durchgeführt; Erfahrungen, die andere, sorgende Städte erahnen lassen. Die genossenschaftlich gebauten Komplexe sind wahre Beispiele eines Modells sozialer Wohnraumverwaltung, die es schafft, im Einklang mit einer tiefgreifenden Klassenperspektive zentrale Debatten zum Umsturz der kapitalistischen Stadtplanung anzuregen, wie z.B. die Verteidigung von Kollektiveigentum. Ebenso werden Werte für neue soziale Beziehungen verbreitet, die sich auf Solidarität durch gegenseitige Hilfe stützen und die mit einer enormen Partizipation von Frauen zählt, was dazu geführt hat, dass die im Rahmen dieser Bewegungen gebauten Stadtteile zu tatsächlichen Sorgenden Städten wurden. Dort müssen wir hinschauen, denn in diesen Bewegungen wird, so wie es in Argentinien MOI (Movimiento de Ocupantes e Inquilinos, dt.: Bewegung von Besetzern und Mietern) bekräftigt, mit und ohne Ziegel eine neue Gesellschaft aufgebaut.

Ana María Vásquez Duplat ist Projektmanagerin im Regionalbüro ConoSur der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Literatur:

Rodríguez, María Carla (Leiterin), 2021. Hábitat, autogestión y horizonte socialista. Construyendo con y sin ladrillos la nueva sociedad (dt. Lebensraum, Selbstorganisation und sozialistischer Horizont. Mit und ohne Ziegel eine neue Gesellschaft aufbauen). Buenos Aires, El Colectivo.

Interview mit Isabel Zerboni von FUCVAM

Foto: Adi Goldstein / unsplash

#Wohnen #Organisierung #SorgendeStadt

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80 Prozent der Menschen auf diesem Planeten leben in Städten. Es ist daher unmöglich, einen Ausweg aus der jetzigen multidimensionalen (sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, gesundheitlichen, politischen, Sorge-, etc.) Krise zu finden, wenn wir es uns nicht zur Aufgabe machen, Ideen und konkrete Maßnahmen zu entwerfen, um die Städte aus dem Sog der reinen Profitlogik zu retten

Wenn wir eine gleichberechtigte, gerechte und gewaltfreie Gesellschaft wollen, dann müssen wir den städtischen Raum umgestalten und mit dem Bau von Städten beginnen, in denen die Nachhaltigkeit des Lebens im Mittelpunkt aller Entscheidungsprozesse steht. Im Hinblick auf die Stadtplanung bedeutet dies, dem Gemeinschaftlichen, dem Kollektiven, den Begegnungsräumen, der Gesundheit, der Stadtteilkultur und dem Aufbau von Räumen der echten Vergesellschaftung einen zentralen Wert zuzuweisen.

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Die linke Stadtregierung von Barcelona en Comú hat 2017 ein Programm für eine „Sorgende Stadt“ aufgelegt. In dieser Studie werden Hintergründe und praktische Erfahrungen dargestellt. Die Autorinnen zeigen, dass es möglich ist, Erkenntnisse einer feministischen Ökonomiekritik auf kommunaler Ebene in konkrete Politiken zu übersetzen. Sie werten die in Barcelona gemachten Erfahrungen aus und stellen Werkzeuge und Überlegungen vor, die die Entwicklung ähnlicher Strategien in anderen Kontexten erleichtern können.

  • #Rekommunalisierung
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Die vorliegende Studie zum Nationalen Integralen Care-Systems Uruguays (SNIC) blickt auf die konzeptionellen Grundlagen des Programms, die darin entworfenen Ziele, der institutionelle Aufbau und die angebotenen Dienstleistungen. Sie analysiert den Entstehungsprozess des SNIC mit Fokus auf die beteiligten Akteure – insbesondere aus der feministischen Bewegung – und diejenigen Elemente, die sich in der Umsetzung als innovativ und/oder als Herausforderungen erwiesen haben. Dabei stellt sich als eine zentrale Frage, ob und wie weit das SNIC dazu beigetragen hat, Geschlechterungleichheiten zu beseitigen.

Anhand abschließender Empfehlungen soll versucht werden, erste Schritte bei der Schaffung politischer Maßnahmen zur Care-Arbeit zu skizzieren und die Notwendigkeit darzulegen, diese mit anderen Politikbereichen zu verknüpfen, um eine feministische Ökonomie erreichen zu können.

  • #SorgendeStadt
  • #Feminismus

«Jedes Stadtviertel muss eine Einheit der Fürsorge bilden»

Die Kraft der vielen Frauen ermöglicht, bahnbrechende Projekte anzuschieben

März 2022 • Laura Pérez Castaño

8M in Barcelona / Foto:  Fotomovimiento via flickr

8M in Barcelona / Foto: Fotomovimiento via flickr

Feminismus, Rekommunalisierung, SorgendeStadt#Feminismus #Rekommunalisierung #SorgendeStadt

Laura Pérez Castaño ist stellvertretende Bürgermeisterin von Barcelona und Stadträtin für soziale Rechte, globale Gerechtigkeit, Feminismus und LGBTI. Sie hat viele verschiedene Initiativen gestartet, um neue Wege politischen Handelns zu gehen und transformative feministische Ansätze in allen politischen Bereichen zu implementieren. María del Vigo sprach mit ihr über Erfolge, Gelerntes und Herausforderungen auf diesem Weg.

Bei den jüngsten Wahlumfragen in Barcelona im Dezember 2021 lag Barcelona en Comú zum ersten Mal vor der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC). Was hat zu dieser Unterstützung geführt und wie lässt sich dieser Erfolg aufrechterhalten?

Die Umfragen müssen mit einer gewissen Distanz betrachtet werden, aber eine positive Tendenz ist weiterhin erkennbar. Die politischen Ziele von Barcelona en Comú scheinen bis zu einem gewissen Grad mit den Bedürfnissen der Menschen vor Ort übereinzustimmen.

Ich glaube, dass es uns im Stadtrat gelungen ist, Forderungen der Bevölkerung Barcelonas aufzugreifen, etwa beim Thema Mobilität. Wir haben uns klar fürs Fahrrad, für Fußgänger*innen sowie für verkehrsberuhigte Bereiche im Umfeld von Schulen ausgesprochen. Das sind zum Teil kontroverse Themensetzungen, die zu Ablehnung hätten führen können. Die Wahlumfragen bestätigen jedoch, dass die Mehrheit und wir den gleichen Weg verfolgen.

In ökonomischer Hinsicht geht es Barcelona etwas besser als anderen großen Städten. Und ich glaube, dass das soziale Engagement des Stadtrats von den Bürger*innen sehr geschätzt wird.

Sie haben Initiativen gestartet, die städtische Politik betreffen, aber auch solche, mit denen die Präsenz von Frauen in den internen Strukturen von Barcelona en Comú gestärkt werden soll. Was von beidem hat Ihnen mehr Kopfzerbrechen bereitet?

Ohne Zweifel die städtische Politik. Ich möchte nicht behaupten, dass die interne Stärkung der Position von Frauen nicht schwierig ist. Aber Barcelona en Comú ist eine Organisation, in der es sehr viele aktive und engagierte Bündnisse gibt, die dafür sorgen, dass Feminismus in den Grundfesten der Politik verankert ist.

Die Ausgangslage bei der Verwaltung städtischer Belange ist eine ganz andere. Du magst über Bündnisse innerhalb und außerhalb des Stadtrates verfügen, aber der Apparat an sich ist schwerfällig, patriarchal und unglaublich hierarchisch aufgestellt. Gegen diese Dynamiken anzukämpfen, ist sehr viel komplexer.

Ich muss auch gestehen, dass es bei unserem Amtsantritt 2015 für andere nicht einfach war, sich gegen eine feministische Politik zu stellen. Wenn du auf den Rathausplatz hinausgegangen bist, hast du den enormen gesellschaftlichen Druck und die Kraft der vielen Frauen gespürt. Die haben klar gemacht, dass dies deine Priorität sein muss. Wir haben bahnbrechende Projekte angeschoben, und es gab schon Leute, die nicht mitgemacht haben oder wenig Interesse daran hatten. Aber wir mussten keine verschlossenen Türen aufbrechen.

Ciudad Cuidadora (Fürsorgliche Stadt) ist eine sehr ambitionierte Initiative, angeleitet von Ihrem Stadtratsamt. Was ist das für ein Projekt?

Eine der großen Herausforderungen für den Feminismus liegt heute im Bereich der Wirtschaft, denn das herrschende Wirtschaftsmodell basiert maßgeblich auf strukturellen Geschlechterunterschieden, die wir beseitigen müssen. Im Zentrum des Projekts «Barcelona Cuidadora» steht die CareArbeit, einer der Bereiche mit dem größten Anteil an Frauen und mit sehr prekären Arbeitsbedingungen.

Das Projekt verfolgt zwei Ansätze: Zum einen geht es darum, Frauen zu entlasten, die unbezahlte Pflegearbeit leisten. Zum anderen werden Frauen unterstützt, die einer bezahlten Pflegearbeit nachgehen. Das sind meist Migrantinnen, die es anderen Frauen ermöglichen, beruflich voranzukommen – auf Kosten ihrer eigenen Arbeitsbedingungen.

Das Projekt startete 2017. Wie hat sich die Pandemie auf Ciudad Cuidadora ausgewirkt? Gibt es größeren Bedarf an Care-Arbeit oder haben wir bloß verstanden, was es heißt, sie zu leisten, weil wir zu Hause geblieben sind und damit konfrontiert waren?

Die Lehren, die wir daraus ziehen, sind nachhaltig. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Sobald strikte Ausgangssperren aufgehoben werden, geben die, die es können, Care-Arbeit wieder an andere ab. Das ist so, weil Pflegearbeit kaum gesellschaftlichen oder ökonomischen Wert hat. Wir müssen Lehren aus der Pandemie ziehen und darüber nachdenken, wie wir der Pflegearbeit auf politischem Wege zu mehr Wertschätzung verhelfen.

Neben der Ausweitung der Online-Betreuung und der Anpassung unserer Angebote an die Bedürfnisse der Bevölkerung – berücksichtigend, dass nicht alle auf gleiche Weise von der Pandemie betroffen sind – haben wir dieses Jahr ein weiteres Projekt gestartet: die «Supermanzanas» (Quartiersfürsorgesysteme). Ziel des Projektes ist es, dass jegliche Pflegedienstleistungen innerhalb von zehn Minuten erreichbar sind. Deine häusliche Pflegekraft sollte beispielsweise nicht morgens am einen Ende der Stadt und abends am anderen arbeiten, sondern immer in deinem Viertel, also auch immer dieselbe sein. Dank der Lehren, die wir aus der Pandemie gezogen haben, als benachbarte Stadtviertel nicht besucht werden konnten, organisieren wir die Pflegearbeit heute ganz neu. Die unmittelbare räumliche Nähe von Pflegekräften ist sehr wichtig und jedes Viertel muss eine Einheit der Fürsorge bilden.

Ein weiterer großer Kampf der europäischen Linken ist der Zugang zu Wohnraum. Dieses Recht zu gewährleisten, ist nach wie vor eines der Ziele des Stadtrates. Wo überschneiden sich Wohnungs- und Geschlechterpolitik?

Es gibt keine feministische Politik, wenn wir nicht über die Wohnungspolitik sprechen. Das Recht auf Stadt geht Hand in Hand mit dem Recht auf Wohnen. Leider ist das heute in Barcelona nicht der Fall. Wenn wir den Etat im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gesichtspunkte analysieren, zeigt sich allerdings, dass Wohnraumpolitik mit am besten abschneidet.

Zurzeit baut Barcelona 2.300 Wohnungen. Zudem haben wir Wohnraum erworben, saniert und auf den Markt gebracht. Außerdem haben wir im Rahmen eines Programms für zeitlich begrenztes Wohnen in unmittelbarer Nähe eine ganze Reihe von APROPs errichtet. Das sind modulare Gebäude, die in acht Monaten aus Schiffscontainern hergestellt werden können. Von den nächsten beispielsweise wird die Hälfte an alleinerziehende Mütter gehen, weil die Mieten für sie zu teuer sind. Momentan betragen die Ausgaben für Wohnraum in Barcelona im Schnitt 23 Prozent des Einkommens, bei alleinerziehenden Müttern sind es 64 Prozent. Wohnungspolitik muss insbesondere die Situation von Frauen berücksichtigen und entsprechende Unterstützung bereitstellen.

Feministische Bewegungen und recht viele Institutionen reden von der Notwendigkeit, eine feministische Perspektive in allen Bereichen der Politik mitzudenken. Das ist ja eines Ihrer Hauptanliegen. Wie weit sind Sie gekommen?

Wenn wir über Jugend, Gesundheit oder Sport sprechen, sollten geschlechtsspezifische Fragen nicht losgelöst davon behandelt werden. Abgesehen davon gibt es viele interne Instrumente, die sich bewährt haben, um feministische Werte in den Institutionen zu verankern. Sie sind nicht besonders sichtbar, wie die Steuerberichte, die wir anfertigen lassen, aber sie helfen uns sehr. Die Berichte über Einkommensunterschiede im Stadtrat von Barcelona haben uns zum Beispiel geholfen, viele Verbesserungen zu erreichen, die sonst nicht möglich gewesen wären. Es ist richtig, dass ich mich mit diesem Bericht selbst stark unter Druck gesetzt habe, weil ich der Opposition damit ein Werkzeug an die Hand gegeben habe, aber ich habe auch erreicht, dass sich die Arbeitsbedingungen von Frauen verbessert haben.

Was die Struktur betrifft, so arbeiten 12 Personen im Gender-Mainstreaming-Team. Wir haben außerdem Gender-Referate in allen Abteilungen des Stadtrats. Und es wird sie in allen Bezirken geben. Solche Maßnahmen sind kaum sichtbar, aber sie sind unbedingt erforderlich, um Gender-Mainstreaming wirksam zu machen.

Foto:  Fotomovimiento via flickr

#Feminismus #Rekommunalisierung #SorgendeStadt

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Laura Pérez Castaño ist stellvertretende Bürgermeisterin von Barcelona und Stadträtin für soziale Rechte, globale Gerechtigkeit, Feminismus und LGBTI. Sie hat viele verschiedene Initiativen gestartet, um neue Wege politischen Handelns zu gehen und transformative feministische Ansätze in allen politischen Bereichen zu implementieren. María del Vigo sprach mit ihr über Erfolge, Gelerntes und Herausforderungen auf diesem Weg.

8M in Barcelona / Foto: Fotomovimiento via flickr

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„Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt aussehen?“

März 2022 • Martha Wegewitz

Die fem*MAP BERLIN 2049 – Ergebnis eines kollektiven Mappingprozesses“ - CUD, TU Berlin

Die fem*MAP BERLIN 2049 – Ergebnis eines kollektiven Mappingprozesses“ - CUD, TU Berlin

Alternativen, SorgendeStadt#Alternativen #SorgendeStadt

Diese Frage haben sich Stadtplanerinnen am Lehrstuhl für Städtebau und Urbanisierung der Technischen Universität Berlin in Kooperation mit der alpha nova & galerie futura aufbauend auf einen Text von Felicita Reuschling gestellt. In einem Mapping-Projekt im Sommer 2020 haben sie sich zusammen mit Studierenden und Künstler*innen verschiedenen Aspekten dieses Themas gewidmet. Ein Gespräch mit Martha Wegewitz, neben Julia Köpper und Dagmar Pelger eine der Initiatorinnen des Projekts, über die stadtplanerischen Komponenten einer Sorgenden Stadt.

Leben wir denn in einer sexistischen Stadt?

Ja, man kann sich das in der konkreten Architektur vielleicht garnicht so vorstellen, aber Geschlechterverhältnisse spielen ja überall in der Gesellschaft eine Rolle und sind deshalb natürlich auch in die städtischen Strukturen eingeschrieben. Die meisten Planungen von Städten wurden natürlich von Männern durchgeführt und sind auch auf die Bedürfnisse von Männern ausgelegt. Schon historisch, aber auch in der neueren Geschichte, wenn man sich zum Beispiel überlegt, wie das in den 50ern und 60ern mit der "autogerechten Stadt" und dem Verhältnis von Arbeiten und Wohnen war. Da war die Planung auf den Alltag der arbeitenden Männer ausgelegt. Im ganz Konkreten sind es auch schon Wohnungsgrundrisse, die eine patriarchale familiäre Struktur widerspiegeln und die Abwertung reproduktiver Arbeit zementieren.  So setzt sich das in allen möglichen Bereichen der Planung fort, also dass eigentlich immer dieses Geschlechterverhältnisses überall zum Tragen kommt. Das findet heute in der Architekturlehre oder auch in der Stadtplanung nicht so viel Beachtung, da fehlt es an gesellschaftlichen und politischen Analysen und Positionierungen.

Ein wichtiges feministisches Thema ist die Sorgearbeit, was im Projekt ja auch eine Rolle gespielt hat. Was hat Care mit Stadtplanung zu tun?

Im Rahmen des Projekts hat sich eine Studierendengruppe über ein Mapping im Stadtteil Wedding mit Räumen und Formen des Sorgetragens auf der Kiez-Ebene beschäftigt. Da wird eigentlich klar, dass Raum, das Verfügen und die Gestaltung von Raum, natürlich viel damit zu tun hat, wie Sorgearbeit durchgeführt werden kann. Jetzt rein infrastrukturell, aber natürlich auch bestimmt durch die Eigentumsverhältnisse und eben die Gestaltung. In der Recherche ging es viel um selbstorganisierte Sorge, die dort in diesem Kiez die unvollständigen Strukturen von staatlicher und auch von privatwirtschaftlicher Versorgung mit Betreuungs- und Sorgeangeboten ergänzt. Dabei wurde klar, dass vor allem diese vergemeinschaftliche Sorgearbeit vor allem im Planungsdiskurs keine Rolle spielt. Es ist ganz interessant, dass eigentlich kaum Räume bereitstehen, um gemeinsam Sorge tragen zu können. Das kommt daher, dass sowieso kaum Räume für nicht-kommerzielle Zwecke zur Verfügung stehen, und es durch die erhöhten Preise vor allem für Gewerberäume ja immer weniger werden. Die meisten Menschen haben natürlich auch in den teuren kleinen Wohnungen keinen Platz, um gemeinsames Sorgetragen zu organisieren. Da wird ein starker Zusammenhang deutlich, zwischen Stadtplanung oder der Steuerrung von Raumversorgung und der Möglichkeit überhaupt andere Formen der Sorgearbeit möglich zu machen.

Sind im Mapping-Prozess auch Orte oder Momente sichtbar geworden, die bereits auf solche anderen Formen verweisen?

In dem Mapping-Prozess und der damit verbundenen Recherche, die wir über längere Zeit durchgeführt haben, kommen immer wieder solche Orte auf. Wir haben das feministische Raumsysteme genannt, die es innerhalb der sexistischen Stadt gibt, die aber auf etwas anderes schon hinausweisen. Ein Stück weit zumindest.

Eine Gruppe von Studierenden hat sich mit Vernetzungen von queeren Orten beschäftigt und da wurde eigentlich deutlich, dass es schon ein großes Netzwerk gibt, das sich auch gegenseitig unterstützt, auch gegenseitig ökonomisch oder durch Material und Werbung, aber eben auch über verschiedene Angebote und konkrete Räume so ein anderes Raumsystem schafft, das eine andere Lebensweise außerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie und die damit notwendig werdenden anderen Formen des Sorgetragens beispielsweise für Kinder oder queere ältere Menschen ermöglicht.

Natürlich sind diese Orte dann auch immer bedroht, gerade in der aktuellen Situation durch den Immobilienmarkt und die steigenden Mietpreise. Das sind ja oft keine kommerziellen Orte. Und da ist die Frage, ob es da überhaupt eine Vorwärtsbewegung gibt. Es ist ein kleiner Einblick in das Andere, was möglich ist, aber auch das ist fragil.

Kommen wir über solche Räume zu einer Sorgenden Stadt?

Über Räume oder einen planerischen Blick werden wir die Verhältnisse natürlich nicht komplett verändern, vor allem nicht ohne die Eigentumsfrage zu stellen. Auch das grundsätzliche Problem der unbezahlten Sorgearbeit können wir nicht allein darüber lösen. Aber es muss überhaupt mal eine Möglichkeit zur Veränderung geben, zur anderen Organisierung, einer Vergemeinschaftung von Sorgearbeit. In der aktuellen Stadt ist sowas nur denkbar, wenn man Infrastrukturen und Räume dafür hat, sich überhaupt anders zu organisieren und zu strukturieren für so eine andere Form des Sorgetragens. Räume, die auch nicht-kommerziell bereit gestellt werden. Solange es solche Möglichkeitsräume überhaupt nicht gibt, wird erst recht keine Veränderung passieren. Selbstverständlich hat das dann immer sehr viel mit der gesellschaftlichen und der staatlichen Struktur zu tun, aber was man zumindest in einer kleinen Andeutung in den Communities sieht, ist dass es durch die Bereitstellung von Raum, von Infrastrukturen eine Verbesserung geben kann oder zumindest eine Möglichkeit, etwas anders zu machen.

 

Am kollektiven Arbeitsprozess des Mappings waren beteiligt:

Juliana Garcia Leon, Jörn Gertenbach, Maximilian Hinz, Tildem Kirtak, Katrina Neelands Malinski, Natasha Nurul Annisa, Jessica Voth (TU Berlin), Peter Máthé, Anna Rodriguez Bisbicus, Lara Stöhlmacher (UDK Berlin).

Julia Köpper, Dagmar Pelger, Martha Wegewitz, Prof. Jörg Stollmann (Chair for Urban Design and Urbanisation, TU Berlin).

In Kooperation mit Katharina Koch and Sylvia Sadzinski (alpha nova & galerie futura).

 

Martha Wegewitz ist Stadtforscherin und Urban Designerin. Sie arbeitet zu den Schwerpunkten kooperative Prozesse in der Stadtentwicklung, räumliche Selbstorganisationsprozesse und gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung. Sie beschäftigt sie sich im Rahmen von Lehre, Forschung und Aktivismus mit Obdach- und Wohnungslosigkeit sowie feministischen Analysen von Stadt, Raum und Planung.

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„Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt aussehen?“ Diese Frage haben sich Stadtplanerinnen am Lehrstuhl für Städtebau und Urbanisierung der Technischen Universität Berlin in Kooperation mit der alpha nova & galerie futura aufbauend auf einen Text von Felicita Reuschling gestellt. In einem Mapping-Projekt im Sommer 2020 haben sie sich zusammen mit Studierenden und Künstler*innen verschiedenen Aspekten dieses Themas gewidmet. Ein Gespräch mit Martha Wegewitz, neben Julia Köpper und Dagmar Pelger eine der Initiatorinnen des Projekts, über die stadtplanerischen Komponenten einer Sorgenden Stadt.

Die fem*MAP BERLIN 2049 – Ergebnis eines kollektiven Mappingprozesses“ - CUD, TU Berlin

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Sorgende Städte

Ein Plädoyer für eine kommunale Sorgepolitik.

Februar 2022 • Barbara Fried • Alex Wischnewski

Phil Hearing / unsplash

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Rekommunalisierung, Feminismus, SorgendeStadt#Rekommunalisierung #Feminismus #SorgendeStadt

Die erfolgreiche Kampagne von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« strahlt über Berlin hinaus. An vielen Orten formieren sich Bündnisse, um wichtige Teile der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand zurückzuholen. Denn nach Jahren zerstörerischer Privatisierungspolitik ist offensichtlich, dass diese nicht länger dem Markt überlassen werden können. Nicht zufällig finden viele dieser Kämpfe im Bereich sozialer Reproduktion statt. Geht es bei Wohnraum, Krankenhäusern, Energieversorgung oder Nahverkehr doch um Infrastrukturen, die zum einen unverzichtbar sind und zum anderen nur lokal genutzt werden können. Das sich dort verwertende Kapital kann den Standort nicht einfach verlagern – entsprechend sind die Bedingungen für Kämpfe um Rekommunalisierung oder Vergesellschaftung tendenziell günstiger (vgl. Hoffrogge 2021).

Gleichzeitig hat die Pandemie einmal mehr ins Bewusstsein gerufen, welche gesellschaftlichen Arbeiten im engen Sinne »systemrelevant« sind und folglich als »sozialisierungsreif« gelten müssen. Neben den genannten sind das vor allem Pflege, Erziehung, Ernährung, Reinigung und Betreuung, all jene Tätigkeiten also, die typischerweise von Frauen und zu großen Teilen im privaten Haushalt erledigt werden.

Das gesamte Feld der Sorgearbeiten zu vergesellschaften, steht jedoch bisher nicht auf der Agenda von Anti-Privatisierungs-Bündnissen. Warum ist das so? Warum wäre es nötig? Und wie könnten Projekte oder Kampagnen für eine »Sorgende Stadt« entstehen, die eine Vergesellschaftung aller Care-Arbeiten vorantreiben?

 

Sorgen mit der Sorge

Care-Arbeit gilt unter kapitalistischen Verhältnissen als privat und als »Frauensache«. Historische Kämpfe für eine Professionalisierung waren zwar durchaus erfolgreich, dennoch liegt der riesige Bereich unentlohnter, häuslicher Sorge-Arbeiten weiterhin in der Verantwortung der Einzelnen.[1] Hinzu kommt, dass mit den neoliberalen Politiken die Löhne, Arbeits- und Reproduktionsbedingungen der Haushalte unter Druck geraten sind. Professionelle Angebote können den Bedarf, der dadurch entsteht, dass Frauen inzwischen mehrheitlich erwerbstätig sein müssen, kaum mehr decken. Denn auch hier haben Marktsteuerung und Ökonomisierung die Bedingungen verschlechtert: Es fehlt eigentlich in allen Bereichen sozialer Dienstleistungen an qualifiziertem Personal und an bedarfsdeckenden Angeboten. In der Konsequenz wird Sorge erneut und zwar doppelt ins Private verschoben. Manche Lücken können dadurch gestopft werden, dass Babysitting, Nachhilfe, Reinigungsdienste oder 24-Stunden-Pflege formell oder informell und häufig zu schlechten Bedingungen eingekauft werden. Wer sich das nicht leisten kann, muss sich auf Familienangehörige oder soziale Netzwerke verlassen. Die finanziellen und die emotionalen Kosten werden in beiden Fällen individualisiert. Während der Corona-Krise war dies täglich zu beobachten: Alleinerziehende verloren ihre Jobs, alte Menschen vereinsamten und vor allem Frauen erledigten Bildung, Erziehung und Erwerbsarbeit vom heimischen Küchentisch aus. Die Krise im Bereich sozialer Reproduktion spitzt sich zu und sie betrifft wachsende Bevölkerungsteile (Winker 2015). Bisherige Notlösungen kommen an ihre Grenzen.

 

Das Private ist (noch nicht) politisch

Die Tatsache, dass Care-Arbeit in privater Verantwortung liegt und in der scheinbar natürlichen Zuständigkeit von Frauen, macht Veränderungen in diesem Bereich seit jeher kompliziert. Räumliche Vereinzelung, mangelnde Organisierungserfahrung und fehlende Produktionsmacht machen es denen, die unbezahlt oder prekär Sorgearbeit leisten, oft schwer, sich zu wehren und bessere Bedingungen einzufordern – sei es mehr Geld oder eine Umverteilung der Arbeit.

Hinzu kommt, dass der Gegner in diesem Kampf weniger leicht auszumachen ist als etwa in der Mietenpolitik, wo finanzialisierte Wohnungsunternehmen eine klarere politische Angriffsfläche bieten. Vielmehr verläuft eine Spaltungslinie durch die Klasse hindurch. Die herrschenden Geschlechterverhältnisse sowie Unterschiede im Aufenthaltsstatus und beim Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren die Bildung eines handlungsfähigen Kollektivsubjekts. Denn Teile der Klasse profitieren durchaus von den aktuellen Arrangements oder haben zumindest ein weniger dringliches Veränderungsinteresse: Die schlecht bezahlte oder unbezahlte Care-Arbeit von anderen macht es ihnen im bestehenden System leichter, ihre eigene Reproduktion zu organisieren.

Dabei läge eine echte Chance darin, Anti-Privatisierungskämpfe auf das gesamte Feld der Sorge auszuweiten und dies als strategischen Ansatzpunkt verbindender Klassenpolitiken zu entwickeln. Auseinandersetzungen in der professionellen Sorge-Arbeit – vor allem in der Pflege – konnten in den letzten Jahren beachtliche Erfolge erzielen. Warum nicht hier gemeinsam nächste Schritte gehen? Feministische und antirassistische Anliegen sowie Kämpfe um gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit können sich dabei gegenseitig verstärken – und zwar mit einer klaren Transformationsperspektive: Ein Infrastruktursozialismus (vgl. Candeias u. a. 2020), der nicht nur professionelle, sondern auch private Sorge in gesellschaftliche Verantwortung nimmt, entzieht dem profitgetriebenen und heteronormativ-patriarchalen System die Grundlage. Er stellt ihm die Orientierung auf ein gutes Leben für alle entgegen.

Eigentumsordnung stürzen – Geschlechterverhältnisse aufheben

Eine Sozialisierung des Care-Bereichs wirkt in einem doppelten Sinne: Vergesellschaftung zielt darauf, wichtige gesellschaftliche Sektoren gemeinwirtschaftlich zu organisieren und die Eigentumsordnung als ein zentrales Moment von Klassenverhältnissen umzuwälzen. Im Fall der Sorgearbeit bedeutet es, nicht nur das Privateigentum an Krankenhäusern etc. und die marktförmige Organisation von Altenpflege, Kinderbetreuung oder haushaltsnahen Dienstleistungen aufzuheben, sondern auch und insbesondere Care-Arbeit aus der privaten Regulierung innerhalb der Haushalte sowie aus der damit historisch eng verschränkten geschlechtlichen Zuweisung zu befreien.

Die Vergesellschaftung von Sorge zielt also auch darauf, eine geschlechtliche Arbeitsteilung hinter sich zu lassen, die eine binäre Anordnung von Geschlecht erst nach sich zieht und damit eine wesentliche Grundlage hierarchischer und heteronormativer Geschlechterverhältnisse bildet. Der Sorgebereich muss also auch in diesem Sinne sozialisiert werden: Care-Tätigkeiten können nicht länger Frauen (unentloht und im Privaten) überantwortet werden, da ihnen dadurch häufig (ökonomische) Unabhängigkeit und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten genommen werden. Was ansteht, ist in Anlehnung an Janine Brodie also eine »doppelte Ent-Privatisierung«.

 

Care in gesellschaftlicher Verantwortung

Aber was genau würde es heißen, Sorge in gesellschaftliche Verantwortung zu nehmen und sie damit demokratisch zu reorganisieren? Zunächst muss es darum gehen, neue öffentliche Infrastrukturen auf- und auszubauen. Wir brauchen mehr Kitas, Stadttteil-, Familien- und Gesundheitszentren, Pflegestützpunkte, Großküchen, Jugend- und Obdachlosentreffs. Diese sind so einzurichten, dass sie ganz unterschiedliche und sich über den Lebenslauf verändernde Bedürfnislagen berücksichtigen. Eine One-Fits-All-Sozialpolitik war gestern. Wir brauchen Arrangements, die auch auf besondere Bedürfnisse und lokale Bedingungen eingehen und die einen Zugang für bislang häufig vergessene Bevölkerungsgruppen ermöglichen. Das betrifft etwa queere oder Mehr-Eltern-Familien oder Care-Communities sowie eine umfassende Krankenversorgung für Menschen ohne Papiere oder für Transpersonen. Entsprechend ist es zentral, auch Selbstorganisierung und kollektive Lösungen mit öffentlichen Geldern praktisch zu unterstützen, ohne sie – wie aktuell durch die Förderung von »Ehrenamt« – als Lückenfüller für mangelhafte öffentliche Angebote zu instrumentalisieren (Haubner 2017).

Die Vergesellschaftung von Sorge bedeutet also längst nicht nur einen Eigentumswechsel von privat zu öffentlich, nicht »Verstaatlichung« allein (vgl. Candeias u. a. in diesem Heft). Vielmehr geht es um die gesellschaftliche Verfügung der Vielen über die Bedingungen sozialer Reproduktion. Das setzt voraus, dass der tatsächliche gesellschaftliche Bedarf ermittelt wird – zum Beispiel in Form einer demokratischen Planung unter Beteiligung aller, die davon betroffen sind. Geeignete Beratungs- und Entscheidungsstrukturen etwa in Form lokaler Care-Räte, in denen diejenigen sitzen, die mitentscheiden sollen, müssten erst entwickelt werden (vgl. Buckmiller in diesem Heft). All das kann schließlich nur gelingen, wenn es auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung insgesamt gibt. Nur durch eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeit kann Sorgearbeit geleistet werden, ohne Erschöpfung zu produzieren.

 

»Sorgende Stadt« – Warum nicht?

Gute Sorgestrukturen müssen vor Ort verfügbar sein. Auch wenn sie kollektiv oder gemeinwirtschaftlich organisiert werden, sollen sie im sozialen Nahraum bleiben. Für all jene, die sich gegen Privatisierungen auf lokaler Ebene einsetzen, kann die »Sorgende Stadt« eine Vision, ein produktives Leitbild sein, das verschiedene Ansätze, Ansprüche und Akteur*innen zusammenbringt. Es ist zu klären: Wie können kommunale und freigemeinnützige Träger, Beschäftigte, Nachbar*innen und lokale Politik zusammenarbeiten und wohnortnahe Sorgestrukturen entwickeln? Wie können die vorhandenen Infrastrukturen demokratisch umgebaut und unter kollektive Kontrolle gebracht werden? Wie muss eine Stadt konkret aussehen, die sich an den Bedürfnissen aller ihrer Bewohner*innen ausrichtet? Wie können wir vor Ort ansetzen, um die Logik der Privatisierung zu brechen und Einstiege in ein feministisches und sozialistisches Transformationsprojekt zu finden?

 

Vorkämpfer*innen aus der ganzen Welt

Die gute Nachricht ist: Es gibt bereits Ansätze und Erfahrungen, von denen sich lernen lässt und die für hiesige Projekte fruchtbar gemacht werden können. Die interessantesten Beispiele stammen aus den munizipalistischen Bewegungen im spanischen Staat.

 

Barcelona

Die linke Stadtregierung von Barcelona en Comú legte 2017 als eine wesentliche Säule ihres »rebellischen Regierens« ein »Maßnahmenpaket für eine Demokratisierung der Sorge in der Stadt Barcelona« vor.[2] Es stützt sich auf Erkenntnisse eines marxistischen Feminismus, der auch die ökonomische Bedeutung von Care-Arbeit für Volkswirtschaften betont. Entsprechend zielt das Maßnahmenpaket darauf, Sorgearbeit ins Zentrum einer kommunalen Wirtschaftspolitik zu stellen, statt sie entweder als Privatangelegenheit oder lediglich als Aspekt einer paternalistischen und tendenziell passivierenden Sozialpolitik zu behandeln. Wirtschaftspolische Maßnahmen sollten entsprechend über Fragen der Unternehmens- und Arbeitsmarktpolitik hinausgehen, auf den gesamten (auch unentlohnten) Care-Sektor ausgeweitet werden und Ansätze einer solidarischen Ökonomie, der Selbstorganisierung und von Genossenschaften privilegieren. So lasse sich auch einer zunehmenden Feminisierung von Armut entgegentreten.

Um einen echten Paradigmenwechsel auch mit Blick auf das Verwaltungshandeln zu ermöglichen, siedelte Bürgermeisterin Ada Colau die Ausarbeitung des Maßnahmenpakets strategisch nicht im Bereich Feminismus an, sondern übertrug sie dem Dezernat für »Gemein-, Sozial- und Solidarwirtschaft«, das eng mit dem Bereich »Arbeit- und Wirschaftspolitik« kooperierte. Unter Beteilung aller anderen betroffenen Ressorts sollte ein »Präzedenzfall für eine öffentliche Sorgepolitik« (Ezquerra/Keller 2022, 4) geschaffen werden, die alle Care-Bereiche einschließt und vorsieht, sie auf die verschiedenen Akteure – also Staat, Markt, Privathaushalte und gemeinwirtschaftliche Strukturen – neu zu verteilen. Im Kern ging es darum, konkrete Verbesserungen im Alltag mit dem Fernziel einer geschlechtergerechten Sorgeökonomie zu verbinden.

Die meisten Projekte des 68 Einzelmaßnahmen umfassenden Plans betreffen eine »Sozialisierung der Sorgearbeit« (ebd., 16) und sind darauf gerichtet, neue öffentliche Infrastrukturen wie Familienzentren und Krippen zu schaffen, bestehende auszubauen und den Zugang für vulnerable Gruppen zu erweitern. Eine neu eingeführte »Care-Karte« (tarjeta cuidadora) entlastet beispielsweise Menschen mit besonderer häuslicher Sorgeverantwortung durch einen privilegierten Zugang zu städtischen Sorge-Infrastrukturen und sozialen Diensten. Ein weiteres Maßnahmenbündel zielt darauf ab, gemeinwirtschaftliche Projekte sowie Initiativen der Selbstorganisierung logistisch und finanziell zu unterstützen, etwa Mehrgenerationenhäuser. Schließlich soll über veränderte Vergaberichtlinien auch auf private Träger insbesondere in der Altenpflege eingewirkt werden, um die dortige Qualität der Pflege und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Um diesen Umbau konkret anzuleiten und entsprechend durch Öffentlichkeitsarbeit zu begleiten, wurde in jedem Stadtbezirk eine Stelle für eine*n Fachreferent*in für Care-Ökonomie geschaffen.

Als Manko wird betrachtet, dass keine der Maßnahmen explizit eine Rekommunalisierung der derzeit profitwirtschaftlich organisierten Unternehmen, insbesondere in der Altenpflege, vorsah.

 

Madrid

Ähnliche Ansätze verfolgten andere munizipalistische Stadtregierungen im spanischen Staat. So verabschiedete in Madrid die von dem Parteienbündnis Ahora Madrid angeführte Linksregierung in ihrer Amtszeit (2015 bis 2019) einen ähnlichen Aktionsplan mit dem Titel »Stadt der Sorge« (»Ciudad del Cuidado« 2015).[3] Mit dem Ziel, Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, setzte er ebenfalls darauf, die gesellschaftliche und kommunale Verantwortung für Sorgearbeit zu stärken. Neben einer Umverteilung von Sorgearbeit und einer Verbesserung der Angebote fokussierte der Plan insbesondere auf Fragen demokratischer Teilhabe und in diesem Sinne auch auf die Unterstützung lokaler Selbstorganisierung. Bereits bestehende soziale Praxen und Initiativen geteilter Sorgearbeit erhielten praktische Hilfe, um ihre Arbeit weiterzuentwickeln. Beispielhaft steht dafür ein Modellprojekt gegen »nicht selbst gewählte Einsamkeit«. Um die soziale Isolation von Menschen zu überwinden, wurden gezielt nachbarschaftliche Beziehungen und soziale Netzwerke im Stadtteil gefördert. Damit soll das gesamte soziale Gefüge gestärkt werden, ausgehend von der Annahme, dass (basis-)demokratische Entscheidungsprozesse und eine partizipative Bedarfsplanung als Momente einer »Sorgenden Stadt« ohne ein solches nicht funktionieren können.

Der Madrider Aktionsplan umfasste außerdem verschiedene Projekte und Initiativen einer feministischen Stadtplanung. Eine geschlechter- und sorgesensible Gestaltung der Stadt transformiert auch die Nutzung des öffentlichen Raums, was wiederum Veränderungen im Alltag der Menschen und in ihren sozialen Beziehungen ermöglicht: Eltern lernen sich etwa auf dem Spielplatz kennen. Wenn dieser nicht in einem abgegrenzten Eck versteckt ist, sondern integraler Teil eines Stadtplatzes oder Parks, in dem es auch Angebote für andere Generationen und Gruppen gibt, kommen die Eltern auch mit Nachbar*innen und älteren Menschen in Kontakt. Breite und ausgeleuchtete Wege mit einsehbarer Begrünung geben insbesondere Frauen und queeren Menschen ein besseres Sicherheitsgefühl. So können sie sich freier bewegen und den öffentlichen Raum für sich nutzen. Eine feministische Stadt- und Verkehrsplanung (vgl. Alljets 2020) kann nicht nur die Lebensqualität von marginalisierten oder vulnerablen Gruppen verbessern, sondern auch andere soziale Beziehungen möglich machen. Sie kann eine Basis sowohl für geteilte Sorgearbeit jenseits öffentlicher Infrastruktur als auch für direktdemokratische Mitbestimmung und Planung bilden.

 

Lateinamerika

Auch in Lateinamerika finden im Anschluss an die feministischen Mobilisierungen der letzten Jahre verstärkt Debatten um Sorgeverhältnisse und die Bedingungen sozialer Reproduktion statt – zuletzt auch unter dem Begriff »Sorgende Städte«. Sie schlagen sich teils in kommunalen, teils in bundesstaatlichen Politiken nieder. So haben sich Initiativen mit unterschiedlichen Schwerpunkten gegründet, die auf eine Wiederaneignung der zum Leben notwendigen sozialen Infrastrukturen zielen: In Valparaíso wie auch in anderen Städten Chiles konnten durch die Selbstorganisierung von Nachbar*innen in Zusammenarbeit mit der linken Stadtverwaltung Apotheken eingerichtet werden, in denen wichtige Medikamente weit unterhalb des Marktwerts angeboten werden.[4] In einem ähnlichen Zusammenspiel von Initiativen von unten und linker Politik wird im argentinischen Rosario derzeit eine ehemals informelle und von Räumung bedrohte Siedlung zu einem voll angebundenen Stadtteil mit Wasseranschluss, Kanalisation und Internet sowie sozialer Infrastruktur (wie Schulen, Parks und Sportplätzen) ausgebaut. Finanziert wird dies aus Mitteln des Bundes, die aus einer einmaligen Abgabe auf große Vermögen stammen, die die neue Mitte-links-Regierung erhoben hat. Entworfen, geplant und begleitet wird das Projekt von den Bewohner*innen in Kooperation mit der dezidiert feministischen Bewegungspartei Ciudad Futura (Stadt der Zukunft), die im Stadt- und Landesparlament vertreten ist.

An vielen Orten entsteht ein Zusammenwirken von Selbstermächtigung, Organisierung, Mitbestimmung, Infrastrukturen und staatlichen Programmen, die die Inititaiven unterstützen und finanzieren. Es geht darum, Ressourcen umzuverteilen statt Selbstverwaltung, wie so oft, lediglich mit dem Ziel zu initiieren, staatliches Versagen oder Lücken über kostengünstige Alternativen zu kompensieren. So können auch andere Ebenen staatlicher Politik einbezogen werden, sei es bei Initiativen zur Verkürzung von Erwerbsarbeitszeit oder bei Transfer- oder Rentenleistungen, die auf unterschiedliche Art die Möglichkeiten für Sorgetätigkeiten beeinflussen.

In Ländern wie Uruguay oder Argentinien wurde und wird daher von den Mitte-links-Regierungen auch auf Bundesebene an »integrierten Sorgestrukturen« (Sistemas integrales de Cuidados) gearbeitet. Bestehende Angebote werden ausgebaut und besser verzahnt. Indem unbezahlte Sorgearbeit mitberücksichtigt wird, können einerseits die Angebote passgenauer gestaltet und andererseits Defizite ausgeglichen werden. In Uruguay wurden in diesem Zusammenhang etwa eine Zeitverwendungsstudie in Auftrag gegeben, die häusliche Care-Arbeit einschließt, eine Kampagne zur geschlechtlichen Arbeitsteilung initiiert und die unbezahlte Sorgearbeit in ein erweitertes Bruttoinlandsprodukt eingerechnet, um zunächst öffentliche Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, wie wichtig Sorgearbeit für die Gesellschaft und wie sehr diese als »Frauenarbeit« abgewertet ist. In beiden Ländern sind staatliche Pläne in enger Kooperation mit lokalen Akteur*innen entstanden und mit entsprechenden Bedarfsermittlungen verbunden.

 

Ist das Gras woanders grüner?

Erste Erfahrungen mit kollektiver Mitbestimmung im Bereich der Daseinsvorsorge gibt es auch in Deutschland. Ansätze für Care-Räte stecken zwar noch in den Kinderschuhen, entwickeln aber – wie beispielsweise in Freiburg[5] – ausbaufähige Ideen, wie sich Organisierungsansätze und demokratische Bedarfsplanung verbinden lassen. Im Unterschied dazu haben zivilgesellschaftliche Ernährungs- und Klimaräte in einigen Städten und Gemeinden bereits eine institutionalisierte Kooperation mit Politik und Verwaltung in Form eines Beirats erreicht. Eine Orientierung für die Demokratisierung von Sorgestrukturen bietet das IniForum in Berlin[6] – ein unabhängiger Zusammenschluss von mietenpolitischen Initiativen, der von der Senatsverwaltung finanziell gefördert wurde.[7] Ziel war es, unabhängige Strukturen aufzubauen, die dennoch institutionalisierten Einfluss auf parlamentarische Politik nehmen können, etwa im Rahmen von regelmäßigen Hearings.

Alle diese Strukturen verfügen jedoch nicht über verbriefte Entscheidungskompetenzen. Wie der erfolgreiche, aber immer noch folgenlose Berliner Volksentscheid »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« erst jüngst in Erinnerung gerufen hat, muss die Verbindlichkeit direktdemokratischer Elemente gestärkt werden. 

 

Aktionsplan

Politisch trifft das Projekt einer »Sorgenden Stadt« in Deutschland also nicht auf unbeackertes Terrain. Seit einigen Jahren mehren sich Proteste und Selbstorganisierungen rund um das Care-Thema: von gewerkschaftlichen Streiks in der Pflege oder Sozial- und Erziehungsdiensten über Aktionsbündnisse für bessere Bedingungen in der Altenpflege bis zu Medi-Büros, die Illegalisierten Zugang zu medizinischer Versorgung verschaffen, von Stadtteil-Gesundheitszentren (Polikliniken), die auch die sozialen Faktoren von Gesundheit berüchsichtigen, bis hin zum feministischen Streik, der auch Privathaushalte einschließt. Viele von ihnen hatten sich bereits 2014 zur Aktionskonferenz »Care Revolution« zusammengefunden und ein Netzwerk gegründet, in dem lokale Aktionen verbunden und überregionale Kampagnen angestoßen werden.[8]

Auch hierzulande können konkrete Ansätze und Ideen zu einer Vergesellschaftung der Daseinsvorsorge jeweils lokal in einem Aktionsplan »Sorgende Stadt« gebündelt werden: ein Maßnahmenpaket, das kurz- wie langfristig umzusetzende Projekte umfasst, und solche, die gesellschaftsverändernden Charakter haben. Dazu gehören als »Einstiegsprojekte« etwa die Forderung nach einer Rekommunalisierung privater Dienstleister in der Altenpflege oder der Ausbau von Gesundheits- und Nachbarschaftszentren. Diese könnten Unterstützungsangebote etwa für ältere Menschen und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche bieten, ebenso wie Räume für geteilte Sorgearbeit in Elterngruppen oder Gemeinschaftsküchen. Dazu gehören Maßnahmen, die eine Stadt für alle zugänglich machen, wie etwa ein kostenfreier öffentlicher Personennahverkehr oder ein Krankenschein, der auch Menschen ohne Papiere einen Zugang zur Krankenversicherung ermöglicht. Es geht aber auch um eine Stadt, in der sich alle wohlfühlen, mit Grünflächen und breiten Wegen, mit Beleuchtungen in der Nacht und weiteren Maßnahmen gegen sexualisierte Belästigung im öffentlichen Raum und dem Verbot anlassloser Polizeikontrollen. Und dazu gehört der Anspruch, die öffentliche Verwaltung so umzubauen, dass Geschlechtergerechtigkeit und die Gewährleistung guter Sorgeverhältnisse zu zentralen Kriterien ihres Handelns werden und kontinuierlich überprüft wird, ob öffentliche Angebote tatsächlich auch für alle zugänglich sind.

Welche Ideen für die jeweilige »Sorgende Stadt« im Vordergrund stehen, muss vor Ort diskutiert und entschieden werden. Mag dies zu Beginn gänzlich selbstorganisiert passieren, zeigt die Erfahrung, dass mittelfristig eine institutionelle und finanzielle Absicherung notwendig ist. Sie ermöglicht, einen gemeinsamen Wirkungsraum für unterschiedliche Interessens- und Anspruchsgruppen der Sorgearbeit zu schaffen – für Care-Beschäftigte, privat Sorgende und Care-Empfänger*innen. Hier liegt eine Aufgabe, aber auch Chance für die LINKE in Stadt- und Landesparlamenten, insbesondere dort, wo sie Teil der Regierung ist. Sie könnte nicht nur Infrastrukturen und materielle Ressourcen bereitstellen, sondern für die Durchsetzung der Forderungen streiten und Projekte mit transformatorischer Strahlkraft entwickeln, die überregional sichtbare Akzente in Regierungsbeteiligungen setzen, wie etwa der Mietendeckel in Berlin.

Perspektivisch müsste es um die Gründung eines Care-Rates gehen, der die gemeinsame Ermittlung von Bedarfen und das Aushandeln von Interessen dauerhaft absichert. Er müsste organisierten Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, also auch eine demokratische Vermittlung zwischen Bewegungen und Parlamenten herstellen.

 

Der Sozialismus ist feministisch, oder ... 

Für eine »Sorgende Stadt« könnten also nicht nur Initiativen aus dem Care-Bereich zusammen mit stadtpolitischen und antirassistischen Akteur*innen streiten. Mit der »Sorgenden Stadt« würde außerdem eine intersektionale Perspektive in die aktuellen Vergesellschaftungsdebatten und Anti-Privatisierungskämpfe einziehen. Feministischen Bewegungen wiederum fehlte in den letzten Jahren ein »Projekt«, anhand dessen sich konkrete Verbesserungen mit dem Anspruch auf grundlegende Gesellschaftsveränderung verbinden ließen. Kommunale Sorgepolitiken könnten ein solcher Einstieg in die schrittweise Vergesellschaftung von Sorgeverhältnissen sein. So würde ein klassenpolitischer Feminismus praktische Gestalt annehmen, für den sich – unterstützt von der LINKEN in Parlamenten und Regierungen – breite Mehrheiten organisieren ließen.

 

Literatur

Alljets, Janna, 2020: Raum nehmen! Warum wir eine feministische Verkehrsplanung brauchen, in: LuXemburg 1/2020

Candeias, Mario/Fried, Barbara/Schurian, Hannah/Völpel, Eva/Warnke, Moritz, 2020: Reichtum des Öffentlichen. Infrastruktursozialismus oder: Warum kollektiver Konsum glücklich macht, in: LuXemburg-Online, August 2020

Ezquerra, Sandra/Keller, Christel, 2022: Die Regierungsstrategie zur Demokratisierung der Sorgearbeit der Stadtverwaltung von Barcelona: Erfahrungen mit einer feministisch inspirierten lokalen Care-Politik.

Haubner, Tine, 2017: Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft, Frankfurt a. M./New York

Hoffrogge, Ralf, 2021: Stahlwerk jetzt!, in: analyse & kritik, 674, 21.9.2021

Jiménez, Sofía/Moreno, Esther, 2022: Das Projekt »Saragossa als Sorgende Stadt«. Eine umfassende feministische Vision (im Erscheinen)

Salobral, Nieves, 2022: Madrid als Sorgende Stadt. Eine feministische Bilanz, (im Erscheinen)

Statistisches Bundesamt, 2015: Wie die Zeit vergeht. Analysen zur Zeitverwendung in Deutschland 2012/2013, Wiesbaden

Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld

Fußnoten:

[1] Gemäß der letzten Zeitverwendungsstudie der Bundesregierung von 2012/13 sind das bei Frauen in Deutschland rund 30 Stunden und bei Männern 20 Stunden pro Woche.[2] Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat eine evaluierende Studie zu diesem Projekt in Auftrag gegeben, die im März 2022 erscheinen wird (Ezquerra/Keller 2022). [3] Auch zu diesem Projekt, wie zu vergleichbaren Initiativen in Saragossa, wurden evaluierende Studien erstellt: Salobral 2022 sowie Jiménez/Moreno 2022 (beide im Erscheinen).[4] Vgl. https://www.latercera.com/nacional/noticia/valparaiso-se-convierte-la-primera-comuna-chile-constituir-una-red-farmacias-populares/744238/ https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3821885[5] Vgl. https://careratfr.wordpress.com/[6] Vgl. https://iniforum-berlin.de/struktur/konzept/[7] Leider ist derzeit unklar, ob das IniForum unter der neuen Berliner Landesregierung weitergeführt werden kann.[8] Vgl. https://care-revolution.org/kampagne-platz-fuer-sorge/

Foto: Phil Hearing / unsplash

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Die erfolgreiche Kampagne von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« strahlt über Berlin hinaus. An vielen Orten formieren sich Bündnisse, um wichtige Teile der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand zurückzuholen. Während die zerstörerische Privatisierungspolitik der letzten Jahre die Krise der sozialen Reproduktion immer weiter zugespitzt hat, hat die Pandemie einmal mehr ins Bewusstsein gerufen, welche gesellschaftlichen Arbeiten im engen Sinne »systemrelevant« sind und folglich als »sozialisierungsreif« gelten müssen.

Das gesamte Feld der Sorgearbeiten zu vergesellschaften, steht jedoch bisher nicht auf der Agenda von Anti-Privatisierungs-Bündnissen. Warum ist das so? Warum wäre es nötig? Und wie könnten Projekte oder Kampagnen für eine »Sorgende Stadt« entstehen, die eine Vergesellschaftung aller Care-Arbeiten vorantreiben?

Phil Hearing / unsplash

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