Die Flüchtlingskrise bringt für viele Kommunen eine dreifache Belastung:
Sie sind hoch verschuldet, müssen einen ausgeglichenen Haushalt erreichen und
dann auch noch die Flüchtlinge unterbringen. […] Man muss die Bevölkerung
vorsichtig darauf vorbereiten, dass bestimmte Dinge [zusätzliche
Sozialleistungen] zwar schön sind, wir sie uns in Zukunft aber nicht mehr
leisten können.“ (zit.
nach Welt, 27.1.16).
Mit diesen Worten warnte der Geschäftsführer des Deutschen Städte- und
Gemeindebundes Gerd Landsberg im Januar 2016 im Vorfeld eines Treffens der
Spitzenvertreter der Kommunen mit der Bundeskanzlerin vor massiven
Einschränkungen in der kommunalen Infrastruktur, wenn die Zahl der Geflüchteten
nicht reduziert würde. Das Zitat verdeutlicht, inwiefern das, was gemeinhin als
„Flüchtlingskrise“ tituliert wird, der Zivilgesellschaft jenseits medialer
Debatten vor allem auf lokaler Ebene begegnet. Fragen der Versorgung und der
gesellschaftlichen Teilhabe von Geflüchteten stellen sich in erster Linie auf
der Ebene des „lokalen Staates“, wie Felix Wiegand in LuXemburg 1/2016
argumentiert.
Nach Jahrzehnten neoliberaler Deregulierung, kommunaler Austerität und der
daraus resultierenden strukturellen Unterfinanzierung der Kommunen war dieser
lokale Staat allerdings schon lange vor der Ankunft einer großen Anzahl von
Geflüchteten ‚belastet’. Die Hilflosigkeit vieler Kommunen im Sommer 2015
lenkte lediglich neue Aufmerksamkeit auf die massiven Einschnitte in
öffentlichen und sozialen Einrichtungen wie Kitas, Krankenhäusern,
Schwimmbädern oder Beratungsstellen, von denen die lokale Bevölkerung bereits
seit Jahren betroffen war. Die „Flüchtlingskrise“ brachte also die Krise der
öffentlichen Daseinsvorsorge nur erneut zum Vorschein.
Diese Überforderung der Kommunen wurde jedoch schnell zum Politikum: Sie wurde
nicht nur von rechter Seite ausgenutzt, „um alte und neue Bewohnerinnen
gegeneinander auszuspielen und Geflüchtete für eine real vorhandene Misere
verantwortlich zu machen“ (Wiegand 2016), sondern – so zeigt das obige Zeit –
auch von Politik und Verwaltung. In dieser Gemengelage kam den zahlreichen
Willkommensinitiativen, die zum Teil schon ab 2011 entstanden waren, die aber
insbesondere nach dem Sommer der Migration großen Zulauf erfahren hatten
(Karakayali/Kleist 2015 u. 2016), eine höchst ambivalente Rolle zu: Nicht
selten wurden die Freiwilligen ins Feld geführt, um genau diese Überforderung
zu betonen und im Zweifel als Argument für die Einführung von Obergrenzen oder
für eine verschärfte Abschiebepraxis in Anschlag zu bringen. So verkündete
beispielsweise Finanzminister Schäuble Ende letzten Jahres:
„In der Flüchtlingskrise hat Deutschland enorme Hilfsbereitschaft gezeigt.
Noch auf Jahrzehnte wird man im Ausland mit uns die Bilder vom Münchener
Hauptbahnhof verbinden. Aber wenn wir diese Hilfsbereitschaft erhalten wollen,
müssen diejenigen wieder gehen, die kein Recht haben zu bleiben.“ (zit.
nach Zeit, 3.12.16)
Laura Graf weist auf die widersprüchliche Rolle des Freiwilligenengagements in
der Transformation des Asylregimes hin, wenn sie schreibt, dass „die
öffentliche Wahrnehmung von Hilfe und Engagement […] von Beginn an mit den
Narrativen der Überforderung und der Krise verschränkt“ war und „mit Blick auf
seine antizipierte Erschöpfung verhandelt“ wurde (Graf 2016). Viele Freiwillige
sind jedoch gar nicht ‚überfordert’ oder ‚erschöpft’, sondern vor allem
frustriert von einer unterfinanzierten, oft wenig kooperativen,
undurchsichtigen bis repressiven Verwaltung. Außerdem sind einige Engagierte
wütend auf eine Politik, die die politischen Dimensionen des freiwilligen
Engagements nicht anerkennt und/oder diesem Engagement zuwiderlaufende Ziele
verfolgt.
Anhand von qualitativen Interviews und Online-Umfragen mit freiwillig
Engagierten, die am Berliner Institut für empirische Integrations- und
Migrationsforschung (BIM) durchgeführt wurden, soll diese Gemengelage genauer
in den Blick genommen werden. Der Artikel will sowohl das Narrativ der
„Überforderung“ der Freiwilligen kritisch beleuchten, also auch den im Sommer
der Migration entstandene Diskurs um die vermeintlichen „Chancen“ des Zuzugs
von Geflüchteten für Kommunen in der Infrastrukturkrise.
Insbesondere im von
demographischem Wandel und Abwanderung in die Städte betroffenen ländlichen
Raum könne der Rückbau von Infrastrukturen (z.B. Kitas und Schulen) abgemildert
oder sogar die Ausstattung an Gemeinbedarfseinrichtungen[1] verbessert werden, so die Argumentation (vgl.
Keller 2016).[2]
Auch in diesem Kontext spielen
die Willkommensinitiativen eine wichtige Rolle: Sie sind es, die Geflüchteten
den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen (z.B. zu Ärztinnen,
Beratungsangeboten, Behörden) erleichtern, die mitunter kaputtgesparte
Infrastrukturen vor dem Zusammenbruch bewahren (z.B. durch den Betrieb von
Stadtteilbibliotheken) und sich teils für die Schaffung neuer Infrastrukturen
einsetzen, welche nicht nur den neu Ankommenden, sondern allen Bürgerinnen der
Kommune zu Gute kommen (z.B. in Form von Busverbindungen zu abgelegenen
Unterkünften oder durch Begegnungscafés). Gleichzeitig laufen sie Gefahr, auch
in diesem Diskurs über die Chancen des Zuzugs von Geflüchteten von staatlicher
Seite instrumentalisiert zu werden. Denn spätestens seit der Jahrtausendwende
handelt es sich bei der Aktivierung von „Engagementpotenzialen“ um eine
staatliche Strategie zur Entlastung kommunaler Haushalte im Kontext der
neoliberalen Transformation des Sozialstaates.
Der Text geht dieser doppelten Instrumentalisierung der Freiwilligen nach: für
den Diskurs der Überforderung und den der Chancen für die Kommunen. In einem
zweiten Schritt soll die Frage aufgeworfen werden, welche Perspektiven und
Anknüpfungspunkte sich in dieser Konstellation für eine linke Politik ergeben.
Inwiefern sind die Erfahrungen der Freiwilligen anschlussfähig an eine breitere
Bewegung und ein gemeinsames Eintreten für soziale Infrastrukturen „für alle“?
Die Konfrontation der Freiwilligen mit dem (lokalen) Staat
Ein
wichtiger Teil der Freiwilligenarbeit besteht darin, die Geflüchteten bei
Behördengängen zu begleiten. Dort begegnen sie dem (lokalen) Staat, machen
Erfahrungen mit undurchsichtigen bürokratischen Prozessen. Einige großteils aus
der Mittelschicht stammende Engagierte werden so zum ersten Mal mit den
strukturellen Ausschlüssen des deutschen Sozialstaats und mit institutionellem
Rassismus konfrontiert (Hamann/Karakayalı 2016: 80). Dabei nehmen sie gegenüber
den Behörden nicht selten die Funktion von ‚Anwältinnen’ der Geflüchteten ein,
wenn sie beispielsweise auf bestehende Handlungsspielräume von
Mitarbeiterinnen verweisen und darauf pochen, dass diese auch genutzt werden.
So berichtete ein ehrenamtlicher Koordinator aus Berlin, dass er eine syrische
Familie zum Jobcenter begleitete, um dort die Kostenübernahme für eine
Mietwohnung durchzusetzen. Während die Zuständige dies zunächst mit dem
Argument verweigerte, die Miete liege oberhalb der rechtlich zulässigen Grenze,
stimmte sie in dem Moment zu, als der Freiwillige sie auf eine Regelung
aufmerksam machte, nach der die Miete im vorliegenden Fall durchaus um 20
Prozent höher liegen könne. Die Mitarbeiterin gestand später ein, der
Kostenübernahme nur zugestimmt zu haben, weil der Freiwillige von dieser Ausnahmeregelung
wusste (ebd.).
Viele Initiativen haben sich so mittlerweile einen starken Standpunkt gegenüber
lokalen Behörden erarbeitet, oft sogar einen Wissensvorsprung bei aktuellen
Asyl- und Sozialrechtsfragen:
„Wir sind der Dorn im Fleisch der Verwaltung. Die Behörden wissen das
natürlich, deswegen werden die Erfahrungen der Freiwilligen zwangsläufig in das
Verwaltungshandeln mitaufgenommen. Unsere Mitarbeiter, ganz besonders die in
der Beratung, sind über gewisse Sachen deutlich besser informiert als
behördliche Angestellte. Die berichtigen dann oftmals und die Behörden müssen
zurückrudern. Von daher werden die Freiwilligen schon gehört und da sind wir
auch ein Stück weit stolz drauf. Wir werden gehört – mit einem Augenrollen. Wir
sehen also bei jedem Besuch in einer Behörde das Weiße in den Augen.“ (Interview
mit Akzeptanz! e.V. Gera, Thüringen, 03/2017)
Doch in der Konsequenz verhelfen Freiwillige nicht nur Geflüchteten dazu, ihre
Rechte durchzusetzen, sondern übernehmen oftmals auch Aufgaben und Leistungen,
für die eigentlich staatliche Stellen zuständig wären (Karakayalı/Kleist 2015;
van Dyk/Misbach 2016). Das folgende Zitat des Thüringer Vereins Akzeptanz e.V.
verdeutlicht, dass die Übernahme staatlicher Aufgaben angesichts der
personellen Unterbesetzung kommunaler Behörden und des akuten Bedarfs auf
Seiten der Geflüchteten oftmals alternativlos erscheint:
„Ich habe vor 14 Tagen bei der Ausländerbehörde angerufen. Erst mal hat es
mich fünf Anrufe gedauert, bis ich überhaupt jemand am Telefon hatte. Dann
hatte ich eine Frau am Telefon, die selber eigentlich krank war, die ich kaum
verstanden habe, weil sie keine Stimme hatte, die flüsterte also mit mir. Und
die hat mir dann erklärt, sie ist die Einzige in der ganzen Ausländerbehörde,
die noch arbeitsfähig ist. Das ist nicht ihr Aufgabenbereich, die macht
eigentlich sonst was ganz Anderes und keiner konnte mir helfen. Da war aber
eine Fristsache zu wahren, von daher ist das wahnsinnig schwierig. Wenn bei uns
jemand krank wird, versuchen wir mit Ehrenamtlichen und freiwilligen Kräften
die Lücke zu stopfen. […] Wir können [auch] nicht sagen, es ist Feierabend in
den Behörden, kommt am Montag wieder. Wir müssen eine Lösung finden.“ (Interview
mit Akzeptanz! e.V. Gera, Thüringen, 03/2017)
Sowohl Verwaltungsmitarbeiterinnen als auch Hauptamtliche bei etablierten
Trägern der Flüchtlingshilfe, wie beispielsweise Wohlfahrtsverbänden, verfügen
über Routinen und Standards, um eine gewisse Abgrenzung von der häufig auch
emotional sehr belastenden Lohnarbeit zu ermöglichen. Im Gegensatz dazu sind
freiwillig Engagierte oft rund um die Uhr privat erreichbar.
Die
Grenze zwischen Ehren- und Hauptamt spielt hier eine zentrale Rolle. Wie diese
interpretiert wird, variiert jedoch bei den unterschiedlichen Initiativen.
Besonderen Wert auf eine klare Trennung legt beispielsweise der Berliner Verein
Moabit hilft e.V.:
„Das ist genau der Punkt, wo wir sagen, wir machen viele Dinge nicht, die
andere Initiativen ohne mit der Wimper zu zucken machen. Wir fordern halt diese
Dinge ein. Das ist ein Hauptmerkmal unserer Arbeit, dass wir bei Politik, ob es
lokale oder Bundespolitik ist, Druck aufbauen. Entweder für Gesetzesänderungen
oder hinsichtlich dessen, dass es um die exekutive Arbeit hier vor Ort geht.
Zum Beispiel wenn das Jobcenter die Zahlung in einer unmittelbaren Bedrohung
durch Mittellosigkeit verweigert […]. (Interview mit Moabit Hilft, Berlin,
03/17)
Hier wird die Abgrenzung von der Rolle Lückenbüßer sozialstaatlicher Missstände
zu sein als wichtiges Moment des eigenen politischen Selbstverständnisses
interpretiert (vgl. Interview mit Diana Henniges, auf LuXemburg-Online, Mai
2017).
Vereinzelt gibt es Versuche der Freiwilligen, aus einer gemeinsamen Position
der Willkommensinitiativen heraus politischen Druck aufzubauen. So schlossen
sich beispielsweise in Bayern im Herbst letzten Jahres Freiwillige zusammen und
riefen einen 24-stündigen Warnstreik aus:
Die einzig wirkliche Macht über die wir Ehrenamtliche selbst verfügen ist
unsere freiwillige Arbeitskraft und Zeit. Wir sind nicht in der Unterzahl, wir
haben uns lediglich bisher noch nicht organisiert.[3]
Die Trennung in Geflüchtete mit
„guter“ und „schlechter“ Bleibeperspektive, aus der sich beispielsweise der
Zugang zu kostenlosen Sprachkursen ableitet, läuft dem Engagement eines
Großteils der Initiativen, die ihre Angebote für alle Geflüchteten konzipieren,
zuwider. Insbesondere die jüngsten Abschiebungen nach Afghanistan führten bei
vielen Freiwilligen zu einer wachsenden politischen Mobilisierung:
„Wir haben jetzt auch beschlossen, dass wir uns das nicht gefallen lassen
wollen mit den Afghanen, weil wir eben acht Afghanen hier haben, die alle
eigentlich, nicht nur alle, die sind einfach nur integriert. Und wenn die
abgeschoben werden sollen, werden wir uns richtig wehren. Wir wissen noch nicht
wie, aber wir lassen sie uns nicht nehmen.“ (Interview mit einer Flüchtlingsinitiative
aus Niedersachsen, 03/2017)
Wie eingangs bereits skizziert, entspricht die Diagnose einer „Überforderung“
der Engagierten durch die Anzahl der aufgenommenen Geflüchteten in den Kommunen
nicht deren Selbstwahrnehmung. Vielmehr herrschen Frust und Wut unter den
Freiwilligen über eine personell unterbesetzte, intransparente, unkooperative
bis repressive Verwaltung sowie über eine Politik, die die Willkommenskultur in
eine Abschiebekultur umzuwandeln versucht.
Doch längst nicht alle Initiativen nehmen in dieser Situation ein grundlegend
kritisches Verhältnis zum Staatsapparat ein. Vielen ist an einer guten
Zusammenarbeit mit Behörden und staatlichen Stellen gelegen, um für jeden
Einzelfall die bestmögliche Unterstützung zu erzielen. Sie befürchten nicht,
einer Privatisierung staatlicher Aufgaben Vorschub zu leisten. In einer
Online-Umfrage vom November 2015 gab die Hälfte der Befragten unabhängig von
der Dauer ihres Engagements und ihrer Aufgaben an, dass ihre Tätigkeiten teils
als zivilgesellschaftliche und teils als staatliche anzusehen seien, während
nur jeweils unter 10 Prozent meinten, es seien klar zivilgesellschaftliche oder
staatliche Aufgaben (Karakayalı/Kleist 2016: 28f).
Die „Chancen“ des Engagements im Verhältnis zum aktivierenden Sozialstaat
Die Gefahr einer Indienstnahme
der freiwilligen Arbeit durch den Staat besteht keineswegs nur im Bereich der
Flüchtlingshilfe. Wie Neumann (2016) umfassend beschreibt, avancierte das
Ehrenamt spätestens unter der rot-grünen Bundesregierung (1998-2005) zu einem
„politische[n] Hoffnungsträger angesichts sozialstaatlicher Finanzierungs- und
Versorgungsengpässe“ (10) und „das Konzept der Bürgergesellschaft [wurde] zum
Leitbild des aktivierenden Sozialstaats“ (431). Die staatliche
Engagementförderung wurde ausgebaut und Engagementpolitik als eigenständiges
Feld etabliert. Auf kommunaler Ebene gingen die massiven Steuersenkungen der
Regierung Schröder, die den Kommunen die finanzielle Basis öffentlicher
Infrastrukturen und freiwilliger Leistungen entzogen sowohl mit einer
Privatisierung von ehemaligen öffentlichen Aufgaben als auch mit einer
Kommodifizierung ehrenamtlicher Leistungen einher (Pinl 2015). Um der Krise der
sozialen Infrastruktur auf lokaler Ebene zu begegnen, wurden Bürgerbusse zum
Ersatz für den öffentlichen Nahverkehr organisiert, Nachbarschaftshilfe
institutionalisiert und Freiwillige betrieben fortan Schwimmbäder oder
Büchereien.[5]
Gleichzeitig führten die
Hartz-Reformen 2003 zu einer massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors (Dörre
2009: 65f), der sich ebenfalls auf den Bereich des Ehrenamts auswirkte. Jakob
problematisiert beispielsweise, dass Minijobs nicht selten durch ehrenamtlichen
Tätigkeiten, für die Aufwandsentschädigungen gezahlt werden, aufgestockt
werden. Dies gibt es häufig im Bereich der Pflege und beim Ausbau von
Ganztagsschulen (Jakob 2016: 2f). Dadurch würde „‘durch die Hintertür‘ ein
Niedriglohnsektor etabliert, der weder gesetzlich noch tarifpolitisch geregelt
[sei] und sozialversicherungsrechtliche Regelungen [unterlaufe]“ (ebd: 7). In
der Zivilgesellschafts- und Engagementforschung werden diese verschwimmenden
Grenzen zwischen Ehren- und Hauptamt und die Ambivalenzen einer finanziellen
Engagementförderung unter den Stichworten einer „Monetarisierung“ und
„Ökonomisierung“ des Ehrenamts verhandelt (vgl. z.B. Jakob 2016; Klein 2016;
van Dyk/Misbach 2016).
Im Bereich der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe lässt sich nach dem Sommer der
Migration ein weiterer Ausbau der Engagementförderung feststellen, der aus der
schieren Unverzichtbarkeit der freiwilligen Arbeit für die Versorgung der
Geflüchteten resultiert und gleichzeitig oftmals als Zeichen der Anerkennung
dieser Arbeit gehandelt wird. Die staatliche Förderung wurde mit zahlreichen
Landes- und Bundesprogrammen zur Unterstützung des Engagements für Geflüchtete
ausgebaut und auch viele privatwirtschaftliche Akteure wie Stiftungen und
Unternehmen richten ihre Förderprogramme im Bereich Integration und Migration
neu aus. Einige der Förderprogramme knüpfen in ihrer inhaltlichen Ausrichtung
an den Diskurs um die Chancen des Zuzugs von Geflüchteten für Kommunen in der
Infrastrukturkrise an. So fördert zum Beispiel das Bundesministerium für
Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aktuell „500 LandInitiativen“ im Rahmen des
Bundesprogrammes Ländliche Entwicklung. Finanziell unterstützt werden
ehrenamtliche Initiativen im ländlichen Raum, deren Ziel der „gemeinsamen
Ausbau/ Erhalt von Gemeindeeigentum“ (z.B. durch die Renovierung eines
Dorfgemeinschaftshauses oder den Bau eines Spielplatzes) ist.[6]
Blickt man aber insgesamt auf die
Engagementförderung im Bereich der Flüchtlingshilfe, sieht man eine zum Teil
paradoxe Situation: Zum einen fließt zwar mehr Geld, doch an der strukturellen
Unterfinanzierung der Kommunen hat sich nicht viel geändert. Auch kommt das
Geld nicht zwangsläufig auf der lokalen Ebene an. So geht beispielsweise der
Großteil öffentlicher Fördergelder nach wie vor an etablierte Träger wie
Wohlfahrtsverbände. Die meisten Willkommensinitiativen finanzieren sich
überwiegend aus Privatspenden (Karakayalı et al. 2017). Zum anderen wollen
viele Fördermittelgeber die ehrenamtliche Arbeit „an sich“ fördern (z.B.
Begegnungs-Projekte oder Weiterbildungen), während die Freiwilligen einen nicht
unerheblichen Teil ihres Budgets für die direkte finanzielle Unterstützung der
Geflüchteten verwenden, beispielsweise für Transportkosten, Anwaltskosten,
Erstausstattungen von Wohnungen oder die Überbrückung finanzieller Engpässe bei
zu geringen oder ausbleibenden Sozialleistungen (ebd.). Einige Förderprogramme
versuchen genau diese direkte Finanzierung staatlicher Pflichtleistungen zu
verhindern, um nicht Gefahr zu laufen, diese zu ersetzen.[7]
Im Effekt wird die
infrastrukturelle Förderung der freiwilligen Arbeit für Geflüchtete ausgebaut,
während die strukturelle und nachhaltige Absicherung dysfunktionaler
Infrastrukturen, die die Förderung des Engagements zum Teil überhaupt erst
nötig macht, ausbleibt. In der Tendenz werden dadurch aus Rechtsansprüchen
optionale Dienstleistungen.
Jenseits eines „zurück“ zum fordistischen Sozialstaat – Perspektiven für
eine linke Politik
Warum sollte sich die
organisierte Linke mit dem Verhältnis von Willkommensinitiativen und der Krise
sozialer Infrastruktur auseinandersetzen? Nach einer kurzen Phase der Euphorie
betrachten einige linkspolitische Akteure die Willkommensinitiativen kaum noch
als potenzielle politische Bündnispartner. Dafür gibt es viele Gründe, unter
anderem die Kritik an einem paternalistischen Verhältnis vieler Initiativen
gegenüber den Geflüchteten, das diese auf Empfängerinnen von Hilfeleistungen
reduziert. Die daran anschließende, vor allem von
Geflüchteten-Selbstorganisationen vorgebrachte Forderung nach Rechten statt
Almosen, bleibt nach wie vor zentral.
Doch Versuche, längerfristige Brücken zu schlagen und gemeinsame Perspektiven
zu entwickeln, scheitern auch daran, dass teils eine umfassende Kritik am
kapitalistischen Staat erwartet und bereits zur Voraussetzung für einen
gemeinsamen Kampf gemacht wird. Für eine Linke, der es um eine breitere
gesellschaftliche Verankerung ihrer Politik geht und die Fragen der sozialen
Reproduktion oben auf die Tagesordnung setzen möchte, bleiben die
Willkommensinitiativen aber wichtige Bündnispartnerinnen. Die Funktionen und
Perspektiven, die die neuen und alten freiwillig Engagierten in der Krise der
öffentlichen Daseinsvorsorge einnehmen, zeigen eine politische Perspektive an
und sollten Ausgangspunkt gemeinsamen Handelns sein.
Mit Blick auf den Diskurs um eine Überforderung des Engagements und die
Forderungen nach einer Begrenzung der Fluchtmigration befinden sich die
Initiativen in einer schwierigen Position. Sie versuchen mit ihrer Arbeit nicht
nur reale Versorgungslücken des Staates zu schließen. Angesichts des von Rechts
inszenierten Verteilungskampf um knappe Ressourcen gerade auf lokaler Ebene
sind sie dabei auch noch permanenten Anfeindungen ausgesetzt und müssen ihr
eigenes Handeln verteidigen. So berichtet beispielsweise der bereits zitierte
Verein Akzeptanz e.V. aus Gera von zunehmenden rechten Angriffen im Vorfeld des
Bundestagswahlkampfs in Form von Vandalismus, fast wöchentlichen verbalen
Angriffen und monatlichen „Auftritten beim Staatsschutz und der Polizei“.
Die Willkommensinitiativen insofern lediglich als willige Lückenfüller im Umbau
des Sozialstaats zu verstehen greift viel zu kurz. Es verkennt nicht nur die
Heterogenität der freiwillig Engagierten und ihre sehr unterschiedlichen
Haltungen gegenüber den Staatsapparaten und staatlicher Migrationspolitik.
Sondern auch, dass diese Haltungen – und das ist zentral – keineswegs
festgeschrieben sind, sondern sich gerade durch Erfahrungen mit
undurchsichtigen bis repressiven Verwaltungsstrukturen und strukturellen
Ausschlüssen verändern können (siehe obiges Beispiel der Begleitung von
Geflüchteten zu Behörden). Hamann und Karakayalı argumentieren, dass die
Erfahrungen, die Freiwillige mit struktureller Gewalt machen, der viele
Geflüchtete im deutschen Sozialsystem ausgesetzt sind, genau Räume für die
Reflektion über institutionellen Rassismus und damit „Möglichkeiten neuer
Allianzen der Solidarität“ eröffnen können (Hamann/Karakayalı 2016: 80).
Die Freiwilligen nur als Lückenfüller eines schwindenden Sozialstaats zu
begreifen, verkennt außerdem die der linken Sozialstaatsdebatte inhärenten
Ambivalenzen. Zweifelsohne laufen die Freiwilligen Gefahr, der Privatisierung
staatlicher Pflichtleistungen und dem Ersatz von Rechtsansprüchen durch Almosen
Vorschub zu leisten – oder diese zumindest abzustützen. Aber laufen wir nicht
wiederum Gefahr, als Reaktion auf diese Veränderungen lediglich ein ‚zurück’ zu
einem nationalen Wohlfahrtsstaat alter Prägung zu fordern? Und welchen Staat
rufen wir dabei eigentlich an? Worin liegt beispielsweise das emanzipatorische
Potenzial zu fordern, dass nicht Freiwillige, sondern staatliche Institutionen
Geflüchtete bei der Arbeitssuche unterstützen sollten, wenn es sich bei der
Arbeit, in die ‚integriert’ wird, zum Großteil um prekäre
Beschäftigungsverhältnisse handelt? Wie das obige Zitat der Thüringer
Initiative Akzeptanz e.V. gezeigt hat, sind die freiwillig Engagierten zum Teil
überzeugt, dass sie über besseres Wissen verfügen als staatliche Behörden, und
dass sie bestimmte Aufgaben besser übernehmen können als die
Verwaltungsmitarbeiterinnen, denen sie begegnen. Sie wünschen sich, dass ihre
Erfahrungen in das Verwaltungshandeln aufgenommen werden und eine
Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ erfolgt (vgl. Hamann et al. 2016). Darüber
hinaus zeigt das Beispiel des Gewerkschaftsbundes VETO, dass die Forderungen
eines Teils der Initiativen, nicht nur die Ausgestaltung ihrer eigenen Arbeit
gegenüber staatlichen Stellen berühren, sondern ihre Anerkennung und ihr
Mitspracherecht als politische Akteure. Diese Dimensionen des
Engagements verdeutlichen, dass eine linke Politik Perspektiven und Formen der
Zusammenarbeit mit den neuen Akteuren der Solidaritätsbewegung finden muss, die
darüber hinaus gehen, nur nach sozialstaatlicher Verantwortungsübernahme zu
rufen und die stattdessen die Erfahrungen der Selbstermächtigung, die viele der
freiwillig Engagierten in den letzten Jahren gemacht haben, systematisch
einbeziehen.
Der gemeinsame Kampf um kostenfreie und demokratisch organisierte soziale
Infrastrukturen „für alle“ ist eine wichtige Suchbewegung.[8]
Für linke Politik stellt sich
insbesondere die Frage, inwiefern das Anliegen der Willkommensinitiativen,
funktionsfähige Infrastrukturen für Geflüchtete zu schaffen, über die
Unterstützung für diese spezifische Gruppe hinausweisen kann. In Ansätzen
geschieht dies bereits vielerorts: Zum Beispiel in den zahlreichen
Begegnungscafés für Geflüchtete und schon länger Ansässige, die fester
Bestandteil vieler Initiativen sind;[9]
In Projekten, die brachliegende
Orte wie Gärten gemeinsam mit Geflüchteten wieder nutzbar machen; Im
Zurückdrangen rechtsextremer Tendenzen durch Willkommensinitiativen, die
beispielsweise bei der Einrichtung einer neuen Unterkunft Anwohnerinnen in
ihre Arbeit mit Geflüchteten einbinden und so ein ‚Kippen der Stimmung‘
verhindern können; In Initiativen im ländlichen Raum, die sich nicht nur für
eine verbesserte Mobilität von Geflüchtete einsetzen, sondern auch die Verkehrsinfrastruktur
für Seniorinnen und Jugendliche verbessern.[10]
Der Aufbau neuer Allianzen wird
allerdings stets mit dem Problem konfrontiert sein, dass viele
Willkommensinitiativen mit ihrer eigenen Arbeit schon so ausgelastet sind, dass
sie kaum Zeit haben für weitere politische Versammlungen. Auch sind viele in
erster Linie von dem Motiv getrieben, konkrete Hilfe zu leisten, die direkt bei
einer bestimmten Personengruppe ankommt. Eine Frage, der sich linke Politik
zuwenden müsste, wäre also, warum es unter vielen dieser Menschen, die vorher
kaum bis gar nicht in antirassistische Politik involviert waren, eine solche
Skepsis gibt, das eigene Tun auch als politisch zu verstehen? Wie können auch
linke Formen und Praxen verändert werden, um hier bestimmte Vorbehalte abzubauen,
oder Zugänge zu erleichtern? Und wie können die Erfahrungen der
Selbstwirksamkeit, die für viele Freiwillige in ihrer Arbeit mit Geflüchteten
so zentral zu sein scheinen, auch in der organisierten Linken aufgehoben
werden?
Fußnoten:
[1] Diese Infrastrukturmaßnahmen sollen unter anderem
durch eine Neuausrichtung der Bund-Länder-Städtebauförderung auf den Bereich
der sozialen Integration ermöglicht werden. So fördert beispielsweise das
NRW-Landesprogramm „Hilfen im Städtebau für Kommunen zur Integration von
Flüchtlingen“ in Kommunen, die „besonders von der Flüchtlingszuwanderung betroffen“
sind, Maßnahmen der Daseinsvorsorge und des sozialen Zusammenhalts. Siehe sessionnet.krz.de/detmold/bi/vo0050.asp?__kvonr=10073. Zuletzt aufgerufen am 10.06.2017.
[2] Die Debatte um „Zuwanderung als Chance“ für
kommunale Infrastrukturen ist oftmals eng verknüpft mit der Diskussion um die
potentiellen Arbeitskraftressourcen von Geflüchteten (vgl. z.B.
Weidinger/Kordel: 109).
[3] www.unserveto.de/ziviler-ungehorsam/
[4] Vgl. z.B. die „Asylgipfel“, Vernetzungstreffen
der Helfer- und Unterstützerkreise in Oberbayern: www.asyl.bayern/. In der „Tutzinger Resolution“ forderten
die Helferkreise im Januar 2017 unter anderem einen Abschiebestopp nach
Afghanistan: asyl.ruhr/bayern/pdf/Tutzinger-Resolution-2017.pdf.
[5] Für ein aktuelles Beispiel für eine Mobilisierung
von Freiwilligen für den Betrieb eines Schwimmbades zur Entlastung des
kommunalen Haushalts, siehe Zeit, 12.5.17.
[6] www.500landinitiativen.de/.
[7] Siehe z.B. die Förderkriterien des
Stiftungsbündnisses „Stiftungen helfen“ aus Niedersachsen: www.stiftungen-helfen.de/kriterien/.
[8] Die Debatten um eine „soziale Infrastruktur für
alle“ gehen unter anderem auf die AG links-netz zurück, die darunter die
demokratisch verwaltete und kostenlose „Bereitstellung öffentlicher, für alle
gleichermaßen zugängliche[] Güter und Dienstleistungen […] [versteht], die von
den einzelnen nicht selbst hergestellt werden können oder sollen“ und für
soziale Teilhabe notwendig sind. Darunter fallen nicht nur personenbezogene
Dienstleistungen, sondern auch Güter in den Bereichen der
Gesundheitsversorgung, des Verkehrs, des Wohnens, der Bildung und der Kultur
(AG links-netz 2012: 6).
[9] Geflüchteten-Selbstorganisationen könnten bei
dieser Suche eine wegweisende Funktion einnehmen, weil sich ihre Arbeit oft per
se nicht nur an Geflüchtete, sondern auch an andere Einwohner*innen der Stadt
richtet. Vgl. z.B. das Konzept der „No-Stress-Tour“: www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Projekte/2016/no_stressTour.pdf.
[10] Ein paar Beispiele hierzu finden sich in der
Darstellung der geförderten Projekte des bereits erwähnten Bundesprogramms „500
Landinitiativen“. So plant beispielsweise die Bürgerhilfe Anzenkirchen „Ein
Dorf hilft“ e.V. ein Projekt zur „Mobilität für Flüchtlinge, Senioren und
Jugend im ländlichen Raum, die zur besseren und schnelleren Integration
beiträgt, sowie für eine intakte Dorfgemeinschaft“.
Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/dorn-im-fleisch-der-verwaltung/